Hat man im künstlichen Koma Stuhlgang?

Tollwut, Schlaganfall, Schädeltrauma – bei immer mehr Krankheiten setzen Ärzte auf ein heilendes künstliches Koma. Jetzt wagen sie sich auch an mysteriöse Schmerzerkrankungen.

Als die Anästhesisten Thomas Kiefer und Peter Rohr das Mädchen 1989 erstmals trafen, war es tief verzweifelt. Die 16-Jährige war beim Rollerskaten gestürzt und hatte sich die Hand verstaucht – eine scheinbar harmlose Verletzung. Doch statt abzuklingen, waren die Schmerzen immer stärker geworden und hatten sich innerhalb eines halben Jahres bis zur Schulter ausgebreitet. Die Diagnose: CRPS, eine so rätselhafte wie qualvolle Erkrankung.

CRPS steht für „Complex Regional Pain Syndrom” und ist ein wenig verstandenes Phänomen, das bei schätzungsweise einer von hundert Verletzungen auftritt. Ein Knochenbruch, aber auch so etwas Simples wie ein aufgeschlagenes Knie, kann es auslösen. Die ursprüngliche Blessur heilt ab, doch der Schmerz bleibt und steigert sich zu brennender Intensität. Oft schwillt das betroffene Glied dauerhaft an und wird bisweilen so berührungsempfindlich, dass manche Patienten Löcher in ihre Bettdecke schneiden, weil selbst der leichte Kontakt mit dem Tuch unerträglich ist. Dieser Zustand kann Monate bis Jahre anhalten.

Ärzte vermuten, dass hinter CRPS eine Art Umprogrammierung des Nervensystems steckt, die bewirkt, dass die Synapsen in schmerzverarbeitenden Nerven grundlos zu feuern beginnen. „Das Schmerzsignal läuft ohne äußeren Reiz ab, es wird von diesem entkoppelt”, erklärt Kiefer, der am Universitätsklinikum Tübingen arbeitet und sich seit Jahren mit CRPS beschäftigt.

Warum es zur Entkopplung kommt, ist mysteriös, doch die Pein kann so groß werden, dass die Patienten eine Amputation des betroffenen Glieds oder sogar Selbstmord erwägen. Auch die 16-Jährige „war kurz davor, sehr unglücklich zu werden”, sagt Kiefer. Medikamente, Physiotherapie und die anderen Standardbehandlungen hatten ihr nicht geholfen. Und so wagten die beiden Anästhesisten einen ganz neuen Weg – sie versetzten das Mädchen in ein künstliches Koma.

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Das künstliche Koma ist eine seltsam anmutende Therapie der modernen Medizin. Auf Laien wirkt sie zunächst geradezu unlogisch. Man erwartet von einer ärztlichen Behandlung gewöhnlich, dass sie den Patienten möglichst schnell in den Zustand der Gesundheit zurückholt. Ein künstliches Koma aber scheint ihn just in die entgegengesetzte Richtung zu schieben. „ Ein Koma ist die niedrigste Bewusstseinsebene des Gehirns. Es stellt die letzte Stufe vor dem Tod dar”, schreibt Mihai Dimancescu, Vorsitzender der Coma Recovery Association in den USA. Stellt man sich das menschliche Bewusstsein als Schattierungen der Farbe Rot vor, dann wäre wache Konzentration – etwa beim Arbeiten – ein derart blasses Rosa, dass es fast weiß wirken würde. Ein Koma dagegen erschiene so dunkelrot, „dass man es gerade eben noch von Schwarz unterscheiden kann”, sagt Dimancescu.

Einen Patienten in einen solchen Zustand zu versetzen, kann selbst für Ärzte ehrfurchteinflößend sein. „Man bewegt sich im absoluten Grenzbereich”, sagt Joachim Hoyer, Spezialist für Nierenerkrankungen und Intensivmedizin an der Universitätsklinik Marburg. Er gehört zu den Ärzten, die 2005 um das Leben von drei Patienten kämpften – sie waren nach einer Organtransplantation an Tollwut erkrankt. Dafür versetzte Hoyers Team den Nierenempfänger, einen 45-jährigen Mann, in das tiefste aller möglichen Komata. Es erreichte auf der so genannten Glasgow-Skala, mit der Ärzte den Grad der Bewusstlosigkeit messen, den Wert Null. „Die Gehirnströme des Patienten waren gerade noch von denen eines Hirntoten zu unterscheiden” , erinnert sich der Intensivmediziner.

Die Ärzte hofften, das Gehirn des 45-Jährigen so vor dem Tollwutvirus zu schützen, dass speziell Nervenzellen attackiert. Gleichzeitig sollten Medikamente dem Körper des Mannes helfen, den Erreger zu besiegen. Vermutlich dank dieser Methode hatte 2004 eine 15-jährige Amerikanerin die Tollwut überlebt – das erste Mal, dass dies einem nicht geimpften Menschen gelungen war. Der Marburger Patient allerdings starb, ebenso wie die beiden anderen erkrankten Transplantationsempfänger – möglicherweise, weil die Mittel, die sie nehmen mussten, um die Immunabwehr gegen ihre neuen Organe zu unterdrücken, ihren Körpern die Chance nahm, das Virus effektiv zu bekämpfen.

Anders bei Rohrs und Kiefers Komatherapie: Fünf Tage lag ihre Patientin auf der Intensivstation, bis die Anästhesisten sie wieder ins Bewusstsein zurückdriften ließen. „Sie erwachte und war schmerzfrei”, sagt Kiefer. „Und sie ist es bis heute geblieben.”

Was aber ist ein Koma und was bewirkt es, um solch wundersam anmutende Heilungen erklären zu können?

Tollwut und CRPS sind nur die jüngsten in einer langen Reihe von Anwendungen für das künstliche Koma, die Ärzte im vergangenen Vierteljahrhundert entdeckt haben. Die Liste reicht von Schädelverletzungen über Malaria, Schlaganfälle und epileptische Attacken bis zu besonders schwerwiegenden Operationen.

Israels Ministerpräsident Ariel Sharon wurde nach seinem Hirnschlag ebenso ins Koma versetzt wie Randal McCloy, der Bergarbeiter, der als Einziger im vergangenen Winter die Explosion der Sago Mine in Pennsylvania überlebte. Auch Ruben Contreras, der mexikanische Fliegengewichtsboxer, der im Mai 2005 einen Kampf mit blutender Nase abbrach und kurz darauf unter Krämpfen zu Boden ging, wurde in die künstliche Bewusstlosigkeit geschickt, genau wie 2003 die am Kopf zusammengewachsenen Zwillingsbrüder aus Ägypten, die von einem Ärzteteam in einer 34-stündigen Operation getrennt wurden.

„Das künstliche Koma ist heute eine absolut gängige Behandlung” , sagt Stefan Schwab, Direktor der Neurologischen Klinik der Universität Erlangen. Er vermutet, dass in manchen Krankenhäusern allein jeder zwanzigste Schlaganfallpatient in eine solche Langzeitnarkose gelegt wird. Vereinzelt liest man sogar von Fällen, in denen ein Koma eingeleitet wurde, um den Drogenentzug oder das Abnehmen bei extremem Übergewicht zu erleichtern.

„Koma” kommt aus dem Griechischen und bedeutet „tiefer Schlaf” . Doch im Prinzip verbirgt sich dahinter eine schwere Störung der Großhirnfunktion. Das Großhirn ist mit rund 85 Prozent der Hirnmasse die Gewichtigste der drei Strukturen, aus denen sich unser Denkorgan zusammensetzt. Die beiden anderen sind:

• das Kleinhirn, wichtig für die Bewegungskoordination und

• der Hirnstamm, der die Verbindung zur Wirbelsäule herstellt und so zentrale Lebensfunktionen wie Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung steuert. Sie werden beim künstlichen Koma nicht außer Gefecht gesetzt.

Das Großhirn ist nicht nur zuständig für Intelligenz, Logik, Erinnerungen und Gefühle, es ist auch der Sitz des Bewusstseins. Was genau sich hinter diesem Begriff verbirgt, ist bislang nicht geklärt. Das Bewusstsein scheint auf einer komplexen Koordination von Nervenimpulsen aus mehreren Regionen zu beruhen, darunter aus dem Thalamus und der Hirnrinde. Je nachdem ob wir uns konzentrieren, tagträumen oder schlafen, verschiebt sich der sensible Tanz der Signale. Die Grenzen zwischen den Zuständen sind fließend.

Um bei Bewusstsein zu bleiben, müssen sich Druck, Temperatur, pH-Wert, Sauerstoffgehalt und Nährstoffversorgung des Gehirns innerhalb bestimmter Parameter bewegen. Negative Faktoren wie eine Hirnhautentzündung, ein Tumor, Sauerstoffmangel, starke Unter- oder Überzuckerung oder ein schweres Kopftrauma können die Balance durcheinander bringen – und das gesamte Netzwerk zusammenbrechen lassen wie ein Computer, der abstürzt. Das Koma, das dann folgt, kann lebensrettend sein.

Ein Schwerverletzter bei einem Verkehrsunfall etwa leidet oft unter so starken Schmerzen, dass allein die damit verbundenen Stress- und Angstreaktionen lebensbedrohlich sein könnten. Ein Koma schaltet das Bewusstsein ab, nimmt damit die Todesangst und erlaubt weiter zu atmen, selbst wenn dies Qualen verursacht. „Das Koma hat eine Schutzfunktion”, sagt Hoyer.

Hat es darüber hinaus einen Heileffekt? 1927 hatte ein junger polnischer Arzt namens Manfred Sakel, der damals in einem Hospital für Geisteskranke in Berlin arbeitete, beobachtet, dass Patienten, denen er Insulin spritzte, kurzzeitig ins Koma fielen und daraus mit deutlich klarerem Geist erwachten. Sakel spekulierte, dass der erzwungene „Winterschlaf” Energie in den Nervenzellen aufstaute, die genesend wirkte. Zusammen mit der ebenfalls neu entwickelten Elektroschocktherapie galt das Insulinkoma als großer Fortschritt bei der Behandlung von mental Kranken, die bis dahin meist ohne Aussicht auf Heilung in Anstalten weggesperrt worden waren. Bis zur Entdeckung der Psychopharmaka Jahrzehnte später wurden Tausende von Patienten – vor allem Schizophrene – für meist sechs bis zehn Stunden in ein Insulinkoma versetzt.

Verglichen mit der Bewusstlosigkeit, die Ärzte heute durch narkotisierende Mittel wie Barbiturate einleiten, waren die Insulinkomata allerdings recht flach. Mediziner bestimmen die Tiefe eines Komas anhand der Reaktion des Patienten auf äußere Reize. Bei einem Tiefstkoma, wie es Ärzte gelegentlich bei Epileptikern einsetzen, ziehen sich die Pupillen im Licht nicht mehr zusammen, der Patient zeigt keine Reaktion auf Schmerz und versucht auch nicht, ihn abzuwehren.

In einer solch tiefen Bewusstlosigkeit bestehen zwar noch fundamentale Körperfunktionen wie die Verdauung, doch der Patient wird künstlich beatmet und muss durch eine Magensonde oder intravenös ernährt werden. Gewöhnlich liegt er auf der Intensivstation, wo Maschinen seinen Herzschlag, den Blutdruck und andere Körperfunktionen rund um die Uhr überwachen. Ein EEG-Gerät misst seine Gehirnströme, sodass die Ärzte die Menge der Koma auslösenden Medikamente anpassen können. „Wenn die Wellen zu sehr wegsackten, reduzierten wir die Dosis – und man sah, wie die Wellen zurückkamen”, erinnert sich Hoyer an den Tollwutpatienten.

Die Theorien, warum ein künstliches Koma Patienten hilft, sind beinahe so vielfältig wie die Anwendungsgebiete:

• Bei Infekten wie Malaria soll der „Winterschlaf” dem Körper erlauben, sämtliche Energie in die Abwehr des Erregers zu stecken.

• Bei epileptischen Anfällen bietet ein Koma manchmal die einzige Möglichkeit, die krampfhaft feuernden Nervenzellen zu beruhigen.

• Bei Schlaganfällen und Schädeltraumata wiederum ist entscheidend, dass ein Koma den Stoffwechsel im Hirn um 50 bis 70 Prozent reduziert.

„Das Hauptproblem nach einem Schlaganfall sind Schwellungen”, sagt der Neurologe Schwab. Wie ein vertretener Knöchel wird auch das verletzte Gehirn „dick”, doch weil es rundherum von der Schädeldecke eingeschlossen ist, baut sich dadurch leicht ein gefährlicher Druck auf. Blutgefäße werden gequetscht und die Sauerstoffversorgung kann blockiert werden. Ohne Sauerstoff aber sterben Gehirnzellen nach kurzer Zeit ab – und oft sind die Folgeschäden, die so entstehen, gefährlicher als das Ursprungstrauma selbst. „Geht jedoch der Stoffwechsel im Gehirn herunter, reduziert sich auch der Metabolismus in der Zelle, das heißt ihr Sauerstoffbedarf sinkt”, sagt Schwab.

Ob das etwas bringt und wie viel, kann allerdings nicht effektiv getestet werden – wie vieles bei der Komatherapie. Denn weder wäre es ethisch vertretbar, gesunde Versuchspersonen in ein Koma zu schicken, noch Schwerstkranken eine potenziell lebensrettende Therapie vorzuenthalten – nur um zu sehen, ob dann tatsächlich mehr von ihnen sterben.

Die Forschung kommt oft zu zwiespältigen Ergebnissen. Manche Studien haben ergeben, dass ein Koma zwar den Druck im Schädel verringert, aber nicht unbedingt Schäden verhindert. Anders gesagt: Selbst wenn der Mensch überlebt, kann er schwerst behindert bleiben. Und wie der Fall Sharon demonstriert, ist der Ausgang oft bis zu dem Moment, in dem der Patient erwacht – oder erwachen soll –, nicht abzusehen, denn das Gehirn ist ja gewissermaßen abgeschaltet. „Das ist eine der Schwierigkeiten bei der Komatherapie. Man kämpft um ein Organ und kann nicht sehen, wie es ihm geht”, sagt Hoyer. Es ist, als wolle man prüfen, ob der Fernseher repariert ist, während der Stecker auf dem Boden liegt.

Die Therapie ist deshalb nicht unumstritten – zumal das lange Stillliegen neue Risiken mit sich bringt. Es begünstigt Thrombosen und Infektionen, etwa der Lunge. Wo es nur geht, beschränken die Ärzte das Koma deshalb auf maximal fünf Tage. „ Denn je länger es dauert, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen, die möglicherweise lebensbedrohlich sind”, sagt Anästhesist Thomas Kiefer.

Meist reservieren die Ärzte das künstliche Koma für Patienten, bei denen andere Therapien bereits versagt haben oder aussichtslos erscheinen. „Wir wenden es bei den ganz schweren Schlaganfällen an – bei Menschen, die man bis vor ein paar Jahren gar nicht behandelt hat, weil man davon ausgegangen ist, dass sie ohnehin nicht durchkommen”, sagt Schwab. Um den Stoffwechsel weiter zu verlangsamen und damit die Überlebenschancen zu erhöhen, wird der Körper solcher Patienten oft auf bis zu 33 Grad gekühlt. Allein dafür sei ein Koma nötig, meint Schwab: „Ohne Koma wäre das gar nicht zu ertragen.”

Die CRPS-Spezialisten Rohr und Kiefer setzen ihr Koma nur bei „ absoluten Therapieversagern” ein – Menschen, denen nichts anderes half. Bis heute hat das Team 30 CRPS-Patienten in ein fünftägiges Koma versetzt. Alle erwachten beschwerdefrei, doch bei fast jedem Zweiten kehrte der Schmerz nach einigen Monaten zumindest ansatzweise zurück. Warum das so ist, wissen die Anästhesisten nicht – ebenso wenig, warum die Therapie bei CRPS überhaupt hilft. Liegt es daran, dass das Koma durch eine Mammutdosis Ketamin herbeigeführt wird – ein Medikament, das in niedriger Dosierung als exzellentes Schmerzmittel bekannt ist? Oder gibt die tagelange Bewusstlosigkeit selber den Signalpfaden die Chance, sich neu zu programmieren? Ist das Koma eine Art „ Hardware-Neustart” für das Nervensystem? „Vermutlich ist es eine Mischung von alledem”, sagt Kiefer.

Angesichts der düsteren Prognosen der meisten Menschen, die in einem künstlichen Koma landen, muss bisweilen selbst ein letztlich schlechtes Ende als kleines Wunder gelten. Der Marburger Patient etwa starb zwar an seiner Tollwut-Infektion – doch erst nach 64 Tagen. „Ohne Impfung hat in Europa noch nie jemand so lange überlebt”, sagt Hoyer. „Insofern würde ich behaupten, dass die Therapie sinnvoll ist.” ■

Ute Eberle

Ohne Titel

• Für ein künstliches Koma werden Patienten in eine Langzeitnarkose versetzt.

• Im Tiefstkoma lässt sich die Körpertemperatur herunterfahren, um den Gehirnstoffwechsel lebensrettend zu verlangsamen.

Wie entleeren komapatienten ihren Darm?

Bei liegenden Patienten erfolgt die Darmentleerung vorzugsweise in linker Seitenlage; nur wenn dies nicht möglich ist, wird sie in rechter Seiten- bzw. Bauchlage durchgeführt. Keine Bettschüsseln verwenden, da die Gefahr von Druckstellen besteht.

Was passiert mit der Verdauung im Koma?

Ärzte und Apparate übernehmen die Kontrolle über die Grundfunktionen des Körpers wie Atmung und Verdauung. Das entlastet den Körper. Die Ernährung erfolgt durch eine Magensonde mit Spezialnahrung oder intravenös über die Blutbahn, zur Sauerstoffversorgung dient ein Beatmungsgerät.

Was merken Menschen im künstlichen Koma?

Klinische Belege für Reaktionen Komatöser "Inzwischen ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Komapatienten taktile und andere Reize wahrnehmen, verarbeiten und unter anderem mit einer Herzfrequenzänderung beantworten", sagt Zieger.

Was bekommt der Patient im künstlichen Koma mit?

Was passiert beim künstlichen Koma im Körper? Durch die Medikamente verlangsamt sich der Stoffwechsel, das Gehirn benötigt weniger Sauerstoff und der Blutdruck sowie die Körpertemperatur sinken. Die meisten Organe (beispielsweise Herz, Leber, Darm und Nieren) arbeiten selbstständig weiter.