Docu-d natascha kampusch - 3096 tage gefangenschaft

Natascha Kampusch war einverstanden mit diesem Film, vielleicht ist das das Wichtigste, was man über ihn wissen muss. Fast zwei Jahre lang hat sie darüber nachgedacht, aber dann hat sie beschlossen, bei der Dokumentation mitzuwirken, die ihren Namen und den Untertitel „3096 Tage Gefangenschaft“ trägt. Sie wollte „die Ereignisse ins rechte Licht rücken“, sagt sie. Das ist der Trumpf des Films – und zugleich sein größter Nachteil.

Ihre Wahl fiel auf den TV-Journalisten Peter Reichard, der als ehemaliger Polizist Kenntnisse von der Materie und als Deutscher größere Distanz zu dem Fall versprach, als sie nach fast zwölf Jahren Schlagzeilen über ihre Entführung in Österreich zu finden war. Die heute 21-Jährige ließ Reichard als Ersten im Haus von Wolfgang Priklopil filmen, sogar in dem Verlies, in dem der sie achteinhalb Jahre lang gequält hat. Und sie fasste diese Qualen in langen Interviews in Worte.

Ihre Aussagen sind das Herzstück des Films. Sie spricht stockend, so, als würde sie auswendig Gelerntes aufsagen; sobald es unangenehm wird, schließt sie die Augen. Sie schildert den Schimmel und die Enge im Verlies, das folternde Rattern des Ventilators und die Brutalität, mit der Wolfgang Priklopil versuchte, sie zu einem Teil seines spießigen Alltags über Tage zu machen: „Er hat mir das Weinen verboten, weil er Angst hatte, dass seine Fliesen von der Salzsäure der Tränen angegriffen würden.“ Wenn sie sich nicht daran hielt, presste er ihren Kopf so lange unter den laufenden Wasserhahn eines Waschbeckens, bis sie aufhörte.

Peter Reichard und seine Regisseurin Alina Teodorescu haben darauf verzichtet, Natascha Kampusch in ihrem Kerker zu filmen. Sie verlassen sich auf leise Bilder, auf die Details: die billigen Sperrholzmöbel, die zerschnitten werden mussten, damit sie in das Kellerloch passten, die Zeitungsausschnitte von Pferden auf grünen Wiesen, die darauf kleben, die braun geblümten Kacheln der Küche oben in der Wohnung, in der das Mädchen für ihren Peiniger kochen musste, während es selbst hungerte. Sie zeigen die Stillleben eines Martyriums.

Natascha Kampusch hingegen versucht auch zu erklären – und klingt dabei oft, als wolle sie sich rechtfertigen. Es sei immer alles zugesperrt gewesen, wenn sie oben in der Wohnung war. Sie hätte nicht einmal flüchten können, wenn sie mit ihm im Auto unterwegs war: „So, wie ich ausgesehen habe, blass, mager und geschwächt, hätte man mich für drogensüchtig oder verrückt gehalten.“ Zu mehreren gescheiterten Fluchten, von denen die Polizei in ihrem Abschlussbericht sprach, sagt sie nichts.

Stattdessen rechtfertigt sie sich sogar dafür, dass sie sich nicht das Leben genommen habe. Außer Kampusch selbst sprechen nur ihre Mutter und der einzige Freund des Entführers, wobei der Zuschauer nicht erfährt, dass der monatelang als möglicher Mittäter galt. Inzwischen hat er die Behörden zwar vom Gegenteil überzeugt, sich aber möglicherweise mit Schwarzgeschäften und Fluchthilfe für Wolfgang Priklopil strafbar gemacht. Experten kommen während des ganzen Filmes nicht zu Wort.

Natascha Kampusch behält die Interpretationshoheit über ihren Fall, selbst wenn es um Wolfgang Priklopil geht. „So eine Tat resultiert ja zumeist aus einer Art Krankheit oder Kränkung“, sagt sie. „Für die Krankheit, das Fehlgeleitetsein kann ein Mensch nichts.“ Über ihr Verhältnis zu ihm spricht sie nur kurz: „Ich denke, wenn ich ihm nicht verziehen hätte, wäre ich selbst so voll Hass, dass es wahrscheinlich nicht auszuhalten gewesen wäre, und ich wäre auch physisch zugrunde gegangen.“ Wer der Polizei glaubt, dass der Begriff Stockholm-Syndrom im Zusammenhang mit Geiselnahmen von einigen Tagen geprägt wurde und deshalb im Fall Kampusch unbrauchbar ist, wer also nach den psychologischen Folgen einer langjährigen Gefangenschaft in einer prägenden Entwicklungsphase mit dem Täter als einziger Bezugsperson fragt, der wird auch hier enttäuscht werden: Reichards Film schweigt dazu, vielleicht zu Recht.

Unverständlich bleibt jedoch, dass er auch die Bewertung der zwiespältigen Reaktion der Öffentlichkeit auf Natascha Kampusch komplett der Betroffenen überlässt. „Ich löse in vielen Menschen unbewusste Aggressionen aus“, sagt sie. „Vielleicht liegt das daran, dass die ganze Tat Aggressionen auslöst, und da ich die einzige Person bin, die noch greifbar ist, bin ich eben die, die das abkriegt.“

Nach achteinhalb Jahren Gefangenschaft und dreieinhalb weiteren unter medialer Belagerung hat Natascha Kampusch keine hohe Meinung von „den Menschen“. Die Gerüchte über Kinderpornoringe und Sadomasopraktiken, ja auch die Zweifel an der Einzeltätertheorie seien entstanden, weil den Menschen das Schreckliche nie schrecklich genug sei. Und weil sie jemanden, der einmal als Opfer galt, nicht mehr als normalen Menschen akzeptieren würden. „Bleib in deinem dreckigen Sumpf ganz tief unten – so sind die meisten Menschen“, sagt Natascha Kampusch. Warum sie jetzt den Kameras den Weg in den Sumpf gewiesen hat, verschweigt sie.

Natascha Kampusch – 3096 Tage Gefangenschaft, Mo., 25.1., 21.00 Uhr, ARD

Hat Natascha Kampusch psychische Probleme?

Auch mit psychischen Problemen hat die Österreicherin noch zu kämpfen und versucht, diese mithilfe einer Therapie zu bewältigen. Doch noch immer hat sie starke Vertrauensprobleme: "Komplett kann ich niemandem vertrauen. Weil niemand mich komplett verstehen kann.

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Wie geht es heute Natascha Kampusch?

Natascha Kampusch sorgte nach ihrer Flucht weltweit für Schlagzeilen, sie gab Interviews, schrieb Bücher über ihre Zeit in dem nur 1,60 Meter hohen Verlies und ihr Schicksal wurde verfilmt. Heute ist Natascha eine selbstbewusste junge Frau, sie lebt alleine in Wien, hat ein Pferd, ist Schmuckdesignerin.

Wer hielt Natascha Kampusch gefangen?

Der arbeitslose Nachrichtentechniker Wolfgang Přiklopil hatte sein Opfer als zehnjähriges Mädchen am 2. März 1998 in Wien entführt. Auf dem Weg zur Schule zerrte er die Schülerin in einen Kleintransporter und hielt sie in einem Kellerverlies in seinem Haus im niederösterreichischen Strasshof an der Nordbahn gefangen.