Wer an wunder glaubt ist ein realist

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist." Der Staatsgründer Israels David Ben Gurion soll diesen Satz gesagt haben. Mir fällt er immer wieder ein, wenn Menschen von Lourdes erzählen. Seit 150 Jahren zieht dieser Ort am Fuß der französischen Pyrenäen Menschen an, Gesunde und vor allem auch viele Kranke und Menschen, die die Kranken betreuen. Sie beten an der Grotte, in der Maria, die Mutter Jesu, dem Hirtenmädchen Bernadette erschienen sein soll - Bernadette selber nennt sie immer „Die schöne Dame" - , sie entzünden Kerzen, gehen am Abend in einer Lichterprozession singend durch den Ort, sie trinken von dem Wasser, dem heilende Kräfte zugeschrieben werden, oder waschen sich damit, baden auch darin. Die Wenigsten sind anschließend von ihrer Krankheit befreit. Dennoch übt Lourdes eine große Anziehungskraft aus, dennoch erzählen viele Menschen, dass sie verändert nach Hause kommen, getröstet, gestärkt, in gewissem Sinne auch geheilt. Es gibt ja nicht nur das Heilwerden, wenn der Körper wieder zum alten, gesunden Zustand zurückkehrt. Heilung geschieht auch, wenn wir leben lernen mit Einschränkungen, mit chronischen Erkrankungen oder mit dem Schwächerwerden insgesamt. Wenn jemand sich bei einer Krankheit früh im Leben oder im Alter neu orientiert, vielleicht sogar neu einen Sinn findet für das eigene Leben, unter veränderten Umständen. Manche sprechen auch noch von Heilung, wenn der Tod näherrückt. Heilen heißt dann: den Tod akzeptieren und akzeptieren, dass wir endliche Menschen sind. Dazu gehört zum Beispiel ein anderes Verhältnis zur Zeit: Leben im Augenblick, in kurzen Zeiträumen, schöne Momente genießen können; dazu gehört es, Trost und Pflege anzunehmen und Beziehungen vielleicht noch einmal neu zu sehen, die Beziehungen zu Menschen und vielleicht auch die Beziehung zu Gott. Offenbar ist Lourdes ein Ort, an dem für viele Menschen diese Art von Heilung möglich ist. Sie erleben sich ernst genommen und angenommen mit ihrer Krankheit. Sie erleben Menschen, die wie sie krank sind und hoffen und um Lebensqualität kämpfen. Sie begegnen in Maria der mütterlichen Seite Gottes, und in Jesus dem mitleidenden Gott. Nur für ganz wenige geschieht das Wunder, dass sie im medizinischen Sinn gesund werden. Mit Krankheit und Schwäche vertrauensvoll leben können ist aber vielleicht ein noch größeres Wunder. Ein Wunder für Realisten.


Biografie: David Ben-Gurion; hebräisch דוד בן גוריון ; gebürtig David Grün war der erste Premierminister Israels und einer der Gründer der sozialdemokratischen Arbeitspartei Israels. Er war Parteivorsitzender von 1948 bis 1963.

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“. So zitiert das ZEIT-MAGAZIN in seiner Weihnachtsausgabe den Physik-Nobelpreisträger Niels Bohr, und druckt anschließend sieben wunderbare Geschichten von Rettung und Heilung ab, die über das hinausgehen, was sich auf bloße Erklärungen reduzieren lässt. Man kann solche Berichte als Erinnerungen an Ausnahmeereignisse lesen, die für den Alltag der allermeisten Menschen bedeutungslos sind, oder man kann aus ihnen Zuversicht schöpfen für das eigene Leben, für das, was man im neuen Jahr auch erhoffen kann. Ich entscheide mich für das Letztere.

Es kommt nämlich durchaus auch auf den Blick an, mit dem man auf Ereignisse schaut. Wer keine Wunder sehen will, sieht auch keine. Daraus lässt sich zwar nicht schließen, dass Wunder deswegen geschehen, weil man sie sehen will. Aber wer ausschließt, dass sie geschehen, hat sich eben auch entschieden, sie nicht sehen zu wollen, wenn sie geschehen. Und da gilt dann durchaus die Umkehrung: Wunder geschehen nicht deswegen nicht, weil man sie nicht sehen will.

Das Wunder, dass ich für das kommende Jahr erhoffe, ist das Wunder der Überwindung von Spaltungen, das Wunder der Versöhnung.

In diesen Tagen ist Desmond Tutu gestorben, ein Zeuge der Versöhnung in dem von der Apartheid zerrissenen Südafrika, der letzte aus der Generation von Nelson Mandela und Frederik de Klerk. Ich lasse mich nicht ablenken und entmutigen von der Tatsache, dass Leute wie Jacob Zuma auf diese Generation der Versöhner folgten. Unvergessen ist der Tag, an dem Nelson Mandela auf dem Balkon des Rathauses von Kapstadt nach 36 Jahren Haft nicht von Vergeltung, sondern von Überwindung des Hasses und von Versöhnung sprach. Das konnte gelingen, weil hier ein Mensch sprach, der selbst jahrzehntelang Opfer von Rassenhass war.

Vergleichbares gilt für Personen wie den Journalisten Antoine Leiris, dessen Frau 2015 Opfer des Attentates auf den Pariser Club Bataclan wurde. Er schrieb einen Brief an die Täter mit dem Titel: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Oder ich denke an eine türkische Freundin, die sich hier in Deutschland aus politischen Gründen vor Erdogans Häschern verstecken muss. Sie sagte mir: „Wenn ich Erdogan zu hassen beginne, dann hat er gesiegt.“

Hass überwindet man nicht, indem man sich moralisch erhebt.

Das Wunder sehen

Klar, dem Hass muss die Stirn geboten werden. Wer wie in diesen Tagen Personen des öffentlichen Lebens mit Mord bedroht, darf kein freundliches Verstehen erwarten, sondern vielmehr eine klare Antwort des Rechtsstaates. Aber Hass ist gerade deswegen so gefährlich, weil er ansteckend ist. Mit Brecht wissen wir: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein.“

Deswegen hilft der Blick auf Personen wie Tutu, Mandela, Leiris oder die türkische Freundin, denen dies gelungen ist – freundlich bleiben als Voraussetzung dafür, den Boden für Freundlichkeit zu bereiten. Sie erfuhren Hass am eigenen Leibe, ließen sich von dem Hass aber nicht anstecken.

Das zu sehen bedeutet, Wunder zu sehen, mit heilenden Wirkungen für Seele und Körper, Realismus nicht nur im Sinne von Niels Bohr, sondern auch im Sinne des Evangeliums. Wer solche Geschichten im kommenden Jahr erlebt, möge sie uns melden, damit wir sie weiter erzählen können.