Was ist der unterschied zwischen einem kitzler und

Der Kitzel, eigentlich eine ganz basale, man möchte fast sagen banale, Empfindung, ist nichtsdestotrotz ein höchst sonderbares, bislang erstaunlich unerforschtes Phänomen, das sich nicht einfach kategorisieren lässt. Bis dato beschäftigten sich vor allem die Psychologie, die Biologie und Neurowissenschaft, die Medizin und Verhaltensforschung damit, weniger die Kulturwissenschaften – ein Manko, das Christian Metz erfolgreich beseitigt. Sein chronologischer Streifzug durch alle Jahrhunderte ist informativ, umfangreich, interdisziplinär und mit einem beeindruckenden Literatur- und Anmerkungsapparat versehen.

Aristoteles‘ Erfindung des Homo titillatus, der lacht, weil er gekitzelt wird, fungiert als Auftakt. Der Philosoph der Antike stellt anhand des Lachkitzels den Unterschied zwischen Tier und Mensch in den Fokus – dass er kitzlig ist, macht ihn zum Menschen. Wenig verwunderlich ist angesichts von Aristoteles‘ hinlänglich bekannter Misogynie die Tatsache, dass im Quellenmaterial „ein eklatantes Ungleichgewicht zugunsten der männlichen Seite“ vorliegt. Deutlich progressiver äußert sich Hippokrates, bei welchem der Kitzel eine conditio sine qua non ist, wenn es um die Zeugung geht. Nur im Falle männlicher und weiblicher Ejakulation klappt dieses Projekt; die Frauen seien sexuell sogar besonders kitzelaffin.

Ein besonders reizvolles Unterkapitel handelt unter anderem vom Mythos der Nymphe Kleitoris, die von Zeus (in Gestalt einer Ameise) verführt wird – ein „Masternarrativ des sexuellen Lustkitzels“. Am Ende des ersten großen Abschnitts lässt sich bereits resümieren: „Diese Kitzelerzählungen bilden den Fundus, auf den sich alle späteren Kitzelnarrative zurückbeziehen. Jede einzelne dieser Erzähleinheiten lässt sich in feiner Filiation durch das kulturelle Universum verfolgen.“

Das nächste lange Kapitel trägt den Titel Renaissance-Kitzel: Sakral und sanft und analysiert ikonographisch präzise Kitzeldarstellungen der Madonna und des Jesuskindes. Es manifestiert sich, dass die Kitzelerzählungen die eigenen Konstitutionsbedingungen widerspiegeln: „Sie betten die Kitzelempfindung ihrerseits (auf offener Bühne) in die Theorien der Kreativität (Geniediskurs), der Erfindungsgabe (inventio, Neugierde, Witz) und des Produktionsaktes (Berührung der Leinwand) ein.“ Natürlich denkt jede*r unweigerlich an Cavaradossis Arie aus Giacomo Puccinis Tosca: „Dammi i Colori“, wo noch der Ohrenkitzel des Publikums dazukommt, während der Maler in der römischen Kirche Sant’Andrea della Valle (s)eine Madonna verewigt.

Im folgenden Kapitel geht es zu Beginn um René Descartes‘ Klassifikation des Kitzels als angenehmste Empfindung; er „entmachtet das Herz, das bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts unangefochten als Zentrum der Wahrnehmung galt, und stellt ihm den Entwurf einer dreistelligen Interaktion zwischen Blut, Nerven und Seele im Gehirn entgegen.“ Aufgrund letzterer ist der Mensch auch das einzige kitzlige Wesen. Es gilt nun, darüber möglichst viel zu wissen, um etwaigen Anfechtungen trotzen zu können. Bei Spinoza wird der Kitzel direkt mit der Liebe identifiziert, während er bei Descartes deren mechanistische Basis ist.

Metz‘ Werk umfasst über 600 Seiten, weswegen nur ausgewählte Ausschnitte in diesem Rahmen besprochen werden können. Eine echte Klimax stellt das folgende Großkapitel dar: 1800 Der Kitzel des „ganzen Menschen“. Diverse Ästhetik-Theorien werden auf die Rolle des Kitzels befragt, der Antisemit Jean Paul wird untersucht, Goethes Dichterkitzel wird ausführlich vorgestellt. Kitzeln könne in Küssen umschlagen, Küssen in Beißen. Assoziationen an die vagina dentata drängen sich auf…

Mein persönliches Lieblings-Subkapitel ist das vierte und letzte in diesem Abschnitt – es trägt den vielsagenden Titel Hegel und der Kitzler als das „unthätige überhaupt“. In seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften wird der Kitzler als das „unthätige Gefühl überhaupt“ bezeichnet und die Hegel-Forschung einigte sich weitgehend darauf, dies als Zeichen dafür zu sehen, dass der Philosoph die weibliche Natur als passiv und lustlos beschreibt – im Gegensatz zur männlichen. Aber wie schon Derrida weist Metz darauf hin, dass „bei näherem Hinsehen der Phallozentrismus in Hegels Schrift in merkwürdiger Weise von einem verkappten Feminismus durchkreuzt wird. Denn die Frau, die in sich Verstand und Gefühl vereint, steht eindeutig näher am Ursprung des Subjekts als der Mann.“ Die scheinbar unumstößliche Geschlechterordnung wird ganz gezielt gestört, indem Kitzel und Kitzler als Chiffren für diese Irritationen stehen. Hegels „unthätiger Kitzler“, so könnte die Formulierung des immerhin für seine Sprachspiele bekannten Philosophen auch interpretiert werden, begeht eine Untat, vom Kitzel dazu angestiftet. „Das geht einher mit der Vorstellung von Lust, welche die Frau verspürt – ohne dass dieses Lustempfinden zur Zeugung führen muss. Würde man den Stereotypen aus Hegels Zeit folgen, so könnte man sagen: Der Kitzler vermännlicht die Frauen, er verleiht ihnen Eigenschaften, die (nicht nur) in Hegels Vorstellungshorizont Männern zugeschrieben werden.“ Kein Wunder, dass auch Größe und Reizbarkeit des Kitzlers immer relevanter werden. Auch Hegels „überhaupt“ lässt sich als Über-Haupt lesen und trägt so zur entschiedenen Aufwertung des Kitzlers bei. 

Bevor wir in der Gegenwart ankommen, reist Metz mit seiner Leserschaft natürlich noch in die Zeit um 1900 und untersucht den Kitzel des nervösen Menschen. Hier geht es nicht nur um Freud („Heteronormativer Fragesex“), sondern auch um Darwin und Havelock Ellis, der genderaffinen Menschen ohnehin ein Begriff ist. Von der Kitzligkeit aus bemüht er sich, das Feld der Sexualität zu ordnen. Wir begegnen Nietzsches Seiltänzer, Kafkas Über-Affe Rotpeter sowie Musils kitzligen Pferden.

Da es praktisch unmöglich ist, über 600 Seiten den Spannungsbogen zu halten, fallen die allzu langatmigen Schilderungen von Kitzelstudien, welche Neurowissenschaftler*innen an Kleinkindern durchführten, nicht so sehr ins Gewicht. Man kommt sich vor wie in Richard Wagners Parsifal, wenn gegen Ende des Bühnenweihfestspiels wieder einmal der Gurnemanz für einen gefühlt halbstündigen Monolog an die Rampe tritt. Schon deutlich fesselnder geraten Ausführungen zum Nervenkitzel qua Extremsport, Krimilektüre etc. Und vollends gefangen ist man dann wieder, wenn es um Elfriede Jelineks Lust geht und um die Frage, ob die Kritik am Begriff „Kitzler“ nachvollziehbar ist oder eher weniger. Von einem Autor, der feministische Konzepte zu goutieren scheint, hätte man sich trotz einigermaßen differenzierter Darstellung noch pornokritischere Töne gewünscht – dazu müsste man freilich die Ebene des Post-, Queer- oder oft leider fast schon Pseudo-Feminismus verlassen und sich des Radikalfeminismus beispielsweise einer Catharine MacKinnon besinnen.