Wann darf die Autoalarmanlage außerhalb des Stadtgebiets verwendet werden?

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Vollständige Taschenbuchausgabe der im Ehrenwirth Verlag erschienenen Hardcoverausgaben

Bastei Lübbe Stars und Ehrenwirth Verlag sind Imprints der Verlagsgruppe Lübbe Titel der englischen Originalausgaben; SCALPEL sowie COLD STEEL © 1997 und 1998 by Paul Carson Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach Einbandgestaltung: Atelier Versen, Bad Aibling Titelbild: Michael Prince / Corbis Satz; hanseatenSatz-bremen, Bremen Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck

Paul Carson

DAS SKALPELL 2

Thriller

Ins Deutsche übertragen von Lore und Hubert Straßl

BASTEI LÜBBE

Prolog

Montag, X Februar 1997, 8.45 Uhr 3

Öffentliche Telefonzelle, Molesworth Street, Dublin

»Hallo?« »Ich möchte mit John sprechen.« Pause. Vernehmliches Atmen am anderen Ende der Leitung. »John hier.« Wachsam. Argwöhnisch. »Hallo, John. Hier ist Bobby.« Bestätigendes Brummeln. »Hallo, Bobby-Boy, wie geht's? « Ölig. Schmierig. Aalglattes Cockney. »Ich komme am Freitag nach London. Am einundzwanzigsten. Elf Uhr fünfzehn.« »Wie schön, Bobby-Boy.« »Ich möchte etwas bestellen und am Freitag abholen. « »Die Gelegenheit ist günstig, Bobby-Boy. Im Augenblick ist vieles billiger zu haben. Soll's das Übliche sein? « »Ja.« »Kein Problem, Bobby-Boy.« »Ich werde Sie anrufen, wie gewohnt. « »Wie gewohnt.« Pause jetzt an diesem Ende. »Können Sie mir ein Mädchen besorgen? « Scharf eingezogener Atem, Zähneklicken, Unmut. »Oh, das wird schwierig, Bobby-Boy. Das letzte Mädchen hat getobt vor Wut. Sie wollte Schmerzensgeld. « Keine Reaktion. »Sie haben ihr übel mitgespielt, Bobby-Boy. Das wissen Sie doch noch, oder? « Pause. 4

Dann noch einmal: »Können Sie mir ein Mädchen besorgen? « Brummen. Neuerliches Zähneklicken. »Ich muss wahrscheinlich eine von außerhalb ranschaffen, Bobby-Boy. Da werden Sie aber tief in die Tasche greifen müssen. « «Wie viel?« »Fünfhundert. Pro Nacht. Aber wenn Sie die auch so zurichten, ist Sense. Dann läuft nie wieder was. Verstehen Sie? Wenn Sie bei dem Mädchen wieder durchdrehen, ist's aus mit unserer Verbindung. Kapiert?« Verärgert. Nicht mehr glatt. »In Ordnung. Hab's begriffen.« Ohne Pause. »Nichts für ungut, Bobby-Boy. Geschäft ist Geschäft.« Kein Zähneklicken mehr. Nur Geschäft. Wie gewohnt. »Sie rufen an wie üblich?« »Ich rufe an. Wie üblich.« »Dann bis bald, Bobby-Boy.« Gemächlich hängte er ein. Sein Atem kondensierte auf dem Apparat und dem Glas der Telefonzelle. Er schlug den Mantelkragen hoch und die Revers übereinander, ehe er hinaus in die kalte Nachtluft trat. Er blickte weder links noch rechts und entfernte sich mit entschlossenen Schritten vom Telefonhäuschen. Während er sich den belebten Straßen zuwandte, streifte er die Gummihandschuhe ab. Den linken schob er in eine Pommestüte von McDonalds, die er in seiner Manteltasche mitgebracht hatte, und warf die Tüte in einen Abfallkorb. Den rechten Handschuh behielt er noch fast zehn Minuten an, ehe er auch ihn in eine McDonald's-Tüte steckte und ebenfalls in einem Abfallkorb am Straßenrand verschwinden ließ. Wie alles in seinem Leben erledigte er auch das gründlich und 5

genau. Mit klinischer Präzision. Bei der Berichterstattung über die amtlichen Ermittlungen zu den im Folgenden geschilderten Ereignissen brachte eine Schlagzeile die öffentliche Stimmung auf einen Nenner:

»11 Tage, die das ganze Land erschütterten!* Es begann am Montag, dem 10. Februar 1997.

Erster Tag 1 Montag, 10. Februar 1997,10.45 Uhr Nordflügel, Zentrale Entbindungsklinik, Dublin

Die Herzfrequenz des Fetus verlangsamte sich erneut. June Morrison, die Stationsschwester der Entbindungsstation 3, runzelte die Stirn, schritt rasch zum Monitor und drückte auf einen Knopf. Die Wiedergabe der derzeitigen fetalen Herzfrequenz verschwand vom Monitor; das vorherige Drei-MinutenDiagramm erschien wieder. Die Frequenz war vollkommen regelmäßig gewesen. Morrison schaltete zum momentanen Dia6

gramm zurück und atmete erleichtert auf. Die Herzfrequenz lag wieder im normalen Bereich. »Ist alles in Ordnung, Schwester?« Morrison drehte sich um und lächelte der jungen Frau im Bett zu. »Ja, Schätzchen, keine Angst. Alles in bester Ordnung. Ihrem Baby geht's gut. Wie fühlen Sie sich?« Sandra O'Brien stützte sich mit den Händen im Bett ab und bemühte sich, eine bequemere Lage zu finden. Sie verzog das Gesicht, als sie mit der Zunge über die Lippen fuhr und den kalkigen Geschmack des eingetrockneten Antazidums spürte. Mit einem tiefen Seufzer legte sie sich zurück auf den Kissenberg und strich mit den Händen über den hochschwangeren Leib. »O Gott, bin ich froh, wenn das alles vorbei ist«, stöhnte sie. June Morrison lachte leise. »So weit ist es noch lange nicht. Sie werden schon noch eine Zeit lang hier hängen müssen.« Sie zog den Cardiotokographie-Gurt um Sandra zurecht, wo er sich gelockert hatte. »Sie müssen ruhig liegen, sonst löst der Gurt sich ganz.« Sandra stöhnte noch kläglicher. »Muss ich das Ding die ganze Zeit umbehalten?« »Ich fürchte ja. Es vermittelt uns ein verlässliches Bild von den Fortschritten O'Brien Juniors und davon, wie er sich auf seinen Eintritt in diese Welt vorbereitet.« Und was für ein Eintritt, dachte Schwester Morrison, als sie den Blick durchs Zimmer schweifen ließ. Gleich drei Fetusscanner gab es hier, einen neben dem anderen, auf einer eigens dafür bestimmten Konsole Harry O'Brien hatte auf den Einsatz von drei Scannern beharrt, für den Fall, dass einer oder vielleicht sogar zwei ausfallen könnten. 7

»Mr. O'Brien«, hatte Schwester Morrison ihm beinahe tadelnd erklärt, nachdem er endlich jenen Entbindungstrakt ausgewählt hatte, in dem sein Baby das Licht der Welt erblicken sollte, »wir mussten noch nie wahrend des Geburtsvorgangs einen Fetusscanner auswechseln. Die Geräte werden regelmäßig gewartet, um sicherzugehen, dass es zu keinem Ausfall kommt.« Sie war der Meinung gewesen, ihren Standpunkt damit unmissverständlich klar gemacht zu haben. Hier ist mein Spielfeld, Mr. Wichtigtuer. Hier gelten meine Regeln. Hier ist nicht der Sitzungssaal der O'Brien Corporation. Harry O'Brien hörte June Morrison höflich zu und registrierte jedes ihrer Worte, wahrend sie ihm das Privatzimmer und den angrenzenden Entbindungstrakt zeigte, wo O'Briens junge Frau liegen würde. Er betrachtete June mit rot geränderten Augen und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich bin sicher, Sie haben Recht, Schwester. Ich glaube Ihnen, dass es hier in Ihrem wundervollen Reich noch nie einen fehlerhaften Scanner gegeben hat. Aber ich will Ihnen etwas sagen, von dem Sie keine Ahnung haben.« June entzog sich seiner zu vertraulichen Geste und drehte sich so, dass sie einander direkt gegenüberstanden O'Briens Augen waren hart und kalt. »Die meisten Geräte, auf die Sie sich in diesem Krankenhaus verlassen, werden von meinem Unternehmen hergestellt, und ich

kenne

sowohl

die

Arbeitsmoral

wie

auch

die

Qualitätskrite-rien in einigen unserer Produktionsstätten Deshalb sage ich Ihnen jetzt: Ich will mindestens zwei Ersatzgeräte und verlange, dass ausschließlich neue Geräte benutzt werden, wenn es um meine Frau geht. Ebenso muss das hier«, abfällig wies er 8

auf eine mechanische Milchpumpe in der Zimmerecke, »und das«, er blickte auf den leicht verbogenen Ständer neben dem Bett, an dem der Infusionstropf hing, »gegen nagelneue Geräte ausgetauscht werden.« June hatte lange und erbittert protestiert, zuerst bei O'Brien selbst und schließlich bei Luke Conway, dem Chefarzt der Entbindungsklinik. Conway und June waren jahrelang enge Freunde gewesen, und sie hatte seinen Werdegang miterlebt. Vom Assistenz- zum Stationsarzt war Conway nach acht Jahren Spezialausbildung in Kanada zu einem der versiertesten Gynäkologen des Landes aufgestiegen. Luke Conway war vielleicht der Einzige in der Klinik, der mehr von Wehen und sicherer Entbindung verstand als June. Im Laufe der Zeit war er zum Chef sowohl des medizinischen wie des verwaltungstechnischen Bereichs der Klinik ernannt worden - eine angemessene Anerkennung seines Könnens und seiner Erfahrung. »Luke«, hatte June sich nach O'Briens Besuch wütend beklagt, »dieser Wichtigtuer führt sich auf, als würde diese Klinik zu seinem Konzern gehören. Er will hier tatsachlich - du lieber Himmel, kannst du dir das vorstellen? -, er will Zimmer drei und den Entbindungstrakt einen Monat ganz für sich allein! Er sagt, er wird das ganze Zimmer neu ausstatten und jedes verdammte Gerät durch ein nagelneues ersetzen!« So beherrscht sie sonst war, konnte sie ihren Zorn jetzt nicht mehr zurückhalten. »Also wirklich, Luke. Das wird keine Entbindung, das wird ein verdammter Medienzirkus!« Luke saß June Morrison an einem Tisch in seinem Büro gegenüber und hörte sich an, wie sie sich immer mehr in Wut redete. Er streifte einen nicht vorhandenen Fussel vom 9

Jackenärmel und zupfte seine Fliege zurecht, als Junes Redefluss endete. Conway war ein hoch gewachsener, eleganter Mann, der Zuversicht und Kraft ausstrahlte - kurzum, ein Mann, der mit sich und seiner Stellung im Leben zufrieden war. Er kleidete sich stets dezent, für gewöhnlich in Nadelstreifenanzug mit gestärktem weißen Hemd und Schleife. Wie die meisten Gynäkologen hatte er früh erkannt, dass die traditionellen langen Schlipse vor allem bei Untersuchungen des Intimbereichs im Weg waren. Nun streckte er den Arm über den Tisch aus, nahm Junes beide Hände in die seinen und hielt sie sanft fest. Eine Zeit lang schwieg er und blickte stumm auf die großen, eigentümlich rauen Hände, die schon so vielen Babys behutsam und fachkundig auf die Welt geholfen hatten. Dann schaute er auf und bemerkte, dass Schwester Morrison ihn verwundert anblickte. »June«, sagte er, ohne ihre Hände loszulassen. »June, jedes deiner Worte entspricht der Wahrheit, und es bedrückt mich, dass ich selbst das Krankenhaus in diese Situation gebracht habe. Aber du kennst den Hintergrund und unsere prekäre finanzielle Situation.« June seufzte und entzog ihm ihre Hände. »Zum Teufel mit dem Hintergrund und unserer ach so kritischen Finanzlage«, murrte sie. »Du hast leicht reden! Aber ich muss mit den tatsächlichen Gegebenheiten fertig werden. Sandra O'Brien wurde nur deshalb schwanger, weil unser neu entwickeltes IVF-Programm erfolgreich war. Harry O'Brien ist überglücklich. Du weißt so gut wie ich, was ihm die Schwangerschaft seiner Frau bedeutet.“ Verstohlen studierte er Junes Gesicht, um festzustellen, wie sie seine 10

Worte aufnahm. Er

wollte

sie

auf

keinen

Fall

kränken.

Der

Krankenhausvorstand hatte June Morrison ausgewählt, Sandra O'Brien wahrend der Schwangerschaft zu betreuen und sie auf die Geburt vorzubereiten. Wenn Harry O'Briens Sprössling gesund und munter entbunden war, würde das Krankenhaus eine großzügige Spende erhalten. Zwei Millionen Pfund, um genau zu sein.

Als bei den O'Briens nach einem Jahr Ehe noch immer kein Nachwuchs in Sicht war, hatte Sandra beschlossen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es stellte sich heraus, dass sie unter einer starken Eierstockentzündung gelitten hatte, als sie um die zwanzig gewesen war. Die Entzündung hatte zu einer Verstopfung beider Eileiter geführt. Trotz mehrerer Versuche, das Problem durch chirurgische Eingriffe zu beheben, blieb die Chance einer Befruchtung auf natürliche Weise gering. Also griff Harry O'Brien auf jene Art und Weise ein, die er am besten beherrschte: mit Geld. »Sorgen Sie dafür, dass meine Frau ein Baby bekommt, und ich versichere Ihnen, dass die O'Brien Corporation es Ihnen danken wird«, sagte er eines Morgens zu Luke Conway, nachdem dieser ihm die Möglichkeiten einer Schwangerschaft durch IVF - in-vi-tra-Fertilisation - erklärt hatte. Auf diese Weise konnten Sandra und Harry ihr Baby nicht im Mutterleib, sondern im Krankenhauslabor zeugen; der Embryo würde dann in Sandras Gebärmutter eingepflanzt werden. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. O'Brien«, erwiderte Conway, der sich fragte, was genau O'Brien damit meinte. »Aber 11

wir wollen nichts überstürzen. Vielleicht sollte Sandra lieber ein paar Monate warten, bevor sie sich entscheidet.« »Was halten Sie von zwei Millionen Pfund? Helfen Sie meiner Frau, ein gesundes Baby auf die Welt zu bringen, und ich sorge dafür, dass das Krankenhaus zwei Millionen Pfund erhält.« Luke Conway hatte nach dem Telefon gegriffen. »Wir fangen so bald wie möglich an.« Nach drei gescheiterten Versuchen entwickelte sich in einer Pe-trischale schließlich ein lebensfähiger Embryo, der erfolgreich in Sandra O'Briens Gebärmutter verpflanzt wurde und sich dort zu einem normalen Fetus entwickelte. Während der gesamten Schwangerschaft befasste sich Luke Conway persönlich mit diesem Fall, um den mächtigen Mann bei Laune zu halten und dafür zu sorgen, dass dem Krankenhaus die großzügige Spende nicht entging. »Es gibt niemanden, der tüchtiger oder erfahrener ist als June Morrison«, hatte er Harry O'Brien eines Tages versichert, als dieser sich nach den Fortschritten und Plänen erkundigte »In den vielen Jahren hier haben wir nie - nie - ein Baby verloren, das June anvertraut war. Und glauben Sie mir, sie hatte einige sehr schwierige Fälle.« Im Beisein seines privaten ärztlichen Beraters hatte O'Brien bedächtig zugehört. »Wenn Schwester Morrison so tüchtig ist, wie Sie sagen, dann sorgen Sie dafür, dass sie ausschließlich für meine Frau da ist. Befreien Sie Morrison von all ihren anderen Pflichten, und sorgen Sie dafür, dass sie ihren Urlaub verschiebt. Ich will nicht, dass Sandras Wehen einsetzen, während Miss Morrison ihren Hintern auf Teneriffa in der Sonne brät.« Conway lachte pflichtschuldig über O'Briens misslungenen 12

Versuch, sich wieder einmal witzig zu geben. »Bezahlen Sie ihr das doppelte Gehalt, und sagen Sie ihr, dass sie zusätzlich eine Prämie von tausend Pfund bekommt, wenn alles glücklich überstanden ist.“ Conway bemühte sich, das alles zu verdauen, ohne eine Miene zu verziehen. «Eine solche Geste ist unnötig, Mr. O'Brien«, entgegnete er scheinbar gleichmütig, während er dem großen Mann ins Gesicht blickte. »Das Personal hier tut sein Bestes, egal, ob es sich um Sozial- oder Privatpatienten handelt. Ich weiß, dass Schwester Morrison sich gut um Sandra kümmern wird.« O'Brien lehnte sich schwer zurück und stützte beide Hände auf die Schreibtischplatte. Seine massige Gestalt füllte den Sessel vollkommen aus. Er seufzte tief. Dann fuhr er durch sein volles, ergrautes Haar. »Dr. Conway, ich möchte nicht bloß, dass Schwester Morrison sich >gut< um meine Frau und mein Kind kümmert.» Abrupt beugte er sich vor. »Ich verlange, dass sie sich hervorragend und mit totaler Hingabe um sie kümmert!« Selbst Conway erschrak über die Heftigkeit, mit der O'Brien diese Worte ausspie. »Wenn die Verantwortlichen Wert darauf legen, dass dieses Krankenhaus wieder eine solide finanzielle Grundlage bekommt und der neue Flügel angebaut wird, dann sorgen Sie dafür, dass meine Frau die beste Betreuung bekommt. Die allerbeste!« Conway redete mit niemandem über die Einzelheiten dieses unerfreulichen Gesprächs, schon gar nicht mit June Morrison. Doch June musste bald feststellen, dass ihr Urlaub ohne Erklärung gestrichen und der Dienstplan so geändert worden war, dass ihr Name nicht mehr darauf erschien. Sie wurde von ihrem 13

Posten als Schwester der Entbindungsstation für Sozialpatienten im Ostflügel abgezogen und hatte rund um die Uhr für die Betreuung von Sandra O'Brien zur Verfügung zu stehen, unter der Oberaufsicht von Dr. Tom Morgan, dem von Sandra ausdrücklich gewünschten Gynäkologen und Geburtshelfer. Als diese Änderungen bekannt gegeben wurden, wusste June Morrison, dass sie den Kampf gegen Harry O'Brien verloren hatte.

»Schwester«, die Stimme klang gequält. »Schwester, können Sie mir bitte hochhelfen? Mein Rücken bringt mich um.« Sandra O'Brien plagte sich unbeholfen im Bett, um ein wenig Erleichterung von den zunehmenden Schmerzen zu finden. Morrison trat hinter sie, legte die Arme unter ihre Achseln und hob sie in eine aufrechtere Lage. »O Gott, was ist los ?« Instinktiv klammerten sich Sandras Hände an den geschwollenen Bauch. »Was geschieht da?« Die Bewegungen in ihrem Schoß waren deutlich zu sehen; der Anblick erinnerte an eine Katze in einem Sack. Es sah aus, als versuchte das Baby verzweifelt herauszukommen. Rasch legte Morrison ihre erfahrenen Hände auf den aufgetriebenen Leib, spürte die Bewegungen, das heftige Schlagen und Treten des Ungeborenen - ein ungewöhnlicher, Unheil verkündender wilder Ausbruch. Rasch wandte sie sich dem Fetusmonitor zu. Fassungslos vor Entsetzen bemerkte sie, dass die Herzfrequenz wieder gefallen war, diesmal auf sechzig Schläge in der Minute. Höchste Gefahr! Doch genauso plötzlich, wie der Ausbruch in Sandra O'Briens Schoß begonnen hatte, endete er wieder. Morrison spürte, wie sich die kleinen Gliedmaßen entspannten und 14

beruhigten. Aber die Herzfrequenz war noch immer bedrohlich niedrig. Morrison ließ den Blick keinen Augenblick vom Monitor und betete stumm, die Herzfrequenz des Ungeborenen möge sich schnellstens normalisieren. Und langsam aber stetig stieg sie wieder: sechzig Schläge, siebzig, achtzig ... wo sie eine qualvolle Minute verharrte. Dann, binnen weniger Sekunden, stieg sie auf hundertdreißig und blieb stabil. June atmete tief durch. Die Krise war überstanden. Sie drehte sich zu Sandra um und sah ihr verstörtes Gesicht. June lächelte ihr so beruhigend zu, wie sie konnte, und strich eine Haarsträhne aus der Stirn der jungen Frau. »Ist... ist alles in Ordnung, Schwester?« „Alles in Ordnung, Sandra«, log June. »Junior bereitet sich auf seinen großen Auftritt vor.« »Wann ist Dr. Morgan zurück?« Sandras Augen verrieten ihre Besorgnis. Schwester Morrison, schrie ihre Miene, ich bin sicher, dass Sie eine gute Schwester sind, aber ich möchte trotzdem Dr. Morgan bei mir haben. Sofort! June Morrison blickte ostentativ auf ihre Armbanduhr. »Er sagte, er würde um zwölf hereinschauen, um zu sehen, wie weit es ist. In den nächsten Stunden rechnen wir eigentlich noch nicht mit der Entbindung. Aber ich werde Dr. Morgan auf jeden Fall anrufen. Er ist irgendwo im Hause. Wahrscheinlich macht er Visite.« Mit seinem jungenhaft guten Aussehen und der gekonnt zur Schau getragenen strahlenden Zuversicht war Dr. Tom Morgan in Irland ein Medienstar - und der Traumgynäkologe jeder Frau. Er hatte seine eigene wöchentliche Fernsehsendung und eine 15

medizinische Fragestunde im Radio; außerdem schrieb er die Sonntagskolumne einer großen Zeitung. Stets waren »Frauenprobleme« das Thema. Es war ein offenes Geheimnis, dass Morgan der Abgott in Weiß jeder irischen Frau zwischen sechzehn und sechzig war. Sogar von den Lesern einer Schwulenillustrierte wurde er zum >Mann, mit dem Mann am liebsten ins Bett steigen würde<, gekürt. June Morrison strich Sandras Betttuch glatt und justierte noch einmal den CTG-Gurt. »Ich werde ihn suchen. Schwester Roche wird sich zu Ihnen setzen, bis ich zurück bin.« Wieder lächelte sie. »Keine Angst, Sandra, es wird alles gut gehen.« Mit dem Kopf deutete sie auf den Fetusmonitor. »Babys Herzfrequenz ist völlig normal. Alle Ampeln stehen auf Grün für eine ganz normale Entbindung.« Sandras Gesicht entspannte sich zunächst, bis ihre schönen Züge sich allmählich wieder zur Grimasse verzerrten. »O Gott!«, ächzte sie. »Schon wieder eine Wehe!« June beeilte sich, zum Schwesternzimmer zu kommen, und schloss die Tür. Aus dem angrenzenden Zimmer waren die Schreie einer anderen Gebärenden zu hören. Für jemanden mit Junes Erfahrung, der schon so viele Krisen souverän gemeistert hatte, fühlte sie sich unerwartet besorgt, ja verängstigt. Über die interne Telefonverbindung wählte sie die Zentrale an. »Pat, hier ist June Morrison von der Entbindungsstation drei, Nordflügel. Würden Sie bitte so nett sein und Dr. Morgan ausrufen? Sagen Sie ihm, er soll sofort heraufkommen.« Wieder legte sich eine eisige Hand um ihr Herz, als sie die Antwort vernahm. »Dr. Morgan hat vor etwa einer halben Stunde das Haus verlassen. Aber er sagte, dass er über sein Handy zu erreichen 16

sei. Möchten Sie, dass ich ihn anrufe?« Zum ersten Mal in fast fünfzehn Jahren als Hebamme zitterten June Morrisons Hände. »Nein, geben Sie mir bitte die Nummer. Ich rufe ihn selbst an.« June kritzelte die Zahlen auf einen Block, als Pat sie ihr vorlas. «Nur noch eines, Pat. Welcher Arzt hat Bereitschaft?« Im Hörer war das Rascheln von Papier zu hören. »Dr. Dean Lynch«, erfuhr June schließlich. Mit einem Ausdruck der Verzweiflung starrte sie den Hörer an, ehe sie auflegte. Ihr Mund war trocken, und sie spürte ihr Herz hämmern. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, murmelte sie, während sie wählte. Ein fernes Surren und Klicken war zu vernehmen, als die Zahlenfolge im Satelliten in elektronische Sendeimpulse umgewandelt wurden. Dann erklang eine mechanische Stimme: »Ihr Anruf wird weitergeleitet, bitte warten ... Ihr Anruf wird weitergeleitet, bitte warten.« Nach einer kurzen Pause war endlich das Freizeichen zu hören. Unerwartet meldete sich eine Frauenstimme. »Hallo?« Für einen Moment war June so verwirrt, dass sie nach Worten suchen musste. Schließlich fragte sie geradeheraus: »Ist Dr. Morgan da?« Sie ahnte, dass der Hörer weitergereicht wurde; dann erklang die vertraute Stimme. »Tom Morgan.« Du Hundesohn!, hätte June am liebsten gebrüllt. Du verdammter Hundesohn! Aber damit musste sie bis später warten. Morgan hätte sich gar nicht außerhalb des Krankenhauses aufhalten dürfen - und erst recht nicht in Gesellschaft der Frau, deren Stimme keineswegs die von Mrs. Morgan war. »Dr. Morgan, hier Schwester Morrison«, sagte June eisig und 17

konnte ihren Zorn nur mühsam im Zaum halten. »Ich schlage vor, Sie kommen sofort hierher. Wir haben Schwierigkeiten mit Sandra O'Brien. Möglicherweise wird ein Kaiserschnitt erforderlich.« Sie legte auf, bevor Morgan antworten konnte, und stellte sich die Panik vor, die nun am anderen Ende der Leitung ausbrach. Dann griff sie erneut nach dem Haustelefon und drückte drei Tasten. »Könnte ich bitte mit Schwester Mullan sprechen? Es ist dringend. Hier ist June Morrison von Station drei.« Am anderen Ende der Leitung wurde der Hörer auf den Tisch gelegt, und June konnte hören, wie Mullans Name gerufen wurde. Gedämpft vernahm sie eine lautstarke Antwort und das Tappen eiliger Füße auf dem Fliesenboden. Der Hörer wurde hochgerissen. »June? Hi, ich bin's, Breda. Was gibt's?« »Bereite mir schnellstmöglich einen Operationssaal vor, Breda, und sag dem Dienst habenden Anästhesisten Bescheid, dass er wahrscheinlich gebraucht wird.« Die Dringlichkeit in Junes Stimme war nicht zu überhören. »Und ruf Paddy Holland unten in der Pädiatrie an. Sag ihm, er soll sich sicherheitshalber bereithalten. Vielleicht muss ein Kaiserschnitt vorgenommen werden, um das Baby zu retten.« »Mach' ich.« Breda Mullan kannte June lange genug, um zu wissen, dass sie solche Anweisungen nicht leichtfertig erteilte. Junes Tonfall verriet Breda überdies, dass in der Klinik möglicherwei-se bald der Teufel los sein würde. »Ist schon so gut wie erledigt.« »Noch was, Breda. Es handelt sich um Mrs. 18

O'Brien.« June Morrison hörte gerade noch das bestürzte »O Gott!«, ehe der Hörer wieder auf der Gabel lag. Sie blickte durchs Fenster hinunter auf die Straßen und den kriechenden Verkehr. Es regnete. Der Wind stülpte Regenschirme um; Passanten drückten sich Zeitungen und Einkaufsbeutel über die Köpfe und suchten Schutz in Hauseingängen. Ständig ging June ein Wort durch den Sinn, und sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es auf diese Weise loswerden. Albtraum. Albtraum. Albtraum. Albtraum. Ja, genau das war es jetzt. Ein Albtraum. Tom Morgan hurte irgendwo mit seiner Geliebten herum, und seine Vertretung war ausgerechnet Dean Lynch. Genau der Arzt, von dem June wusste, dass er Schwierigkeiten machen würde, wenn sie ihn rufen müsste. Sie betete inständig, es möge einen Ausweg geben.

2 10:58 Uhr Poliklinik

Dr. Dean Lynch, Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, war von unscheinbarem Äußeren. Nur sein überdurchschnittliches Gewicht sorgte dafür, dass er bei seinen lediglich hundertdreiundsechzig Zentimetern nicht völlig übersehen wurde. Sein 19

ehemals schwarzes Haar war vom Stirnansatz straff nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem dünnen, strengen Schopf zusammengebunden, was seine hohe Stirn und die geraden dunklen Brauen hervorhob. Seine Kleidung war so dezent, dass sie beinahe schon farblos wirkte, was aber gut zu seinem gewohnt mürrischen Wesen passte. Das einzig Bemerkenswerte an Lynch waren seine Augen, die seine Mitarbeiter aus der Fassung bringen konnten, denn sie schienen sich bis auf den Grund der Seele zu bohren. Nur wenige hielten seinem Blick lange stand. Er saß an seinem Schreibtisch, spielte geistesabwesend mit Büroklammern und betrachtete seine Umgebung. Draußen, in einem großen Wartezimmer, saßen Reihen von Patientinnen. An einem etwa drei Meter entfernten Schreibtisch rechts von Lynch arbeitete Dr. Ali Sharif, sein ägyptischer Kollege und unmittelbarer Mitarbeiter; links, ein Stück näher, saß Dr. Donald Armstrong, sein Assistent. Hinter den Männern befanden sich drei Untersuchungskabinen, nur durch Vorhänge voneinander getrennt. Dr. Lynch befasste sich hauptsächlich mit den neuen Patientinnen; Dr. Sharif mit Nachbehandlungen, während der Assistenzarzt Blut abnahm, Formulare ausfüllte und darauf wartete, dass Lynch ihn bei interessanten Fällen hinzurief, was nicht oft vorkam. Niemand war erfreut, wenn er eingeteilt wurde, Dr. Lynch zu assistieren. Entgegen den Krankenhausvorschriften untersuchte Lynch jede Patientin allein, nicht im Beisein einer Schwester, und stellte seine eigenen Labortests und Röntgenanforderungen zusammen. Er war peinlich genau bei seinen Aufzeichnungen und pedantisch in der Wahl seiner chirurgischen Instrumente und Materialien. Dr. Sharif hatte es längst aufgegeben, Lynch daran zu erinnern, dass er laut Vorschrift bei 20

Fällen, die größere operative Eingriffe erforderlich machten, hinzugezogen werden müsste. Wenn Dean Lynch seine ambulante Behandlung vornahm, überlegte jeder es sich dreimal, bevor er ihn zu stören wagte. Bei den Sprechstunden der Poliklinik gab Lynch sich wie der Aufseher in einem Arbeitslager; er schien in dem menschlichen Elend zu schwelgen, das sich ihm dabei offenbarte, und sich am Anblick des leidenden weiblichen Fleisches zu ergötzen. Er konzentrierte sich ausschließlich auf die größeren Fälle, die einen operativen Eingriff versprachen; die geringfügigen Probleme lud er auf seine Kollegen ab. Dean Lynch wurde von allen eher als Chirurg angesehen, der sich in die Gynäkologie verirrt hatte. Und so sah er sich auch. Das Pflegepersonal war der Ansicht, dass er nicht das geringste Mitgefühl für seine Patientinnen zeigte. June Morrison hatte einmal privat bemerkt, dass Lynch nur dann zufrieden oder gar glücklich aussah, wenn er eine Operation vornahm. »Ich könnte schwören«, hatte sie ihrer Kollegin Breda Mullan anvertraut, »dass er es liebt, wenn seine Patientinnen ohne Bewusstsein sind.« Stets ermahnte June die anderen Mädchen, die mit Lynch arbeiten mussten: »Kommt dem Mann nie in die Quere! Haltet ihn bei Laune, auch wenn es euch noch so gegen den Strich geht. Und vor allen Dingen - bringt ihn auf gar keinen Fall während einer Operation auf die Palme.« Das war Junes Methode, das Personal des Ostflügels zu motivieren und dafür zu sorgen, dass der tägliche Arbeitsablauf in den Entbindungssälen und Wöchnerinnenzimmern reibungslos vonstatten ging. Doch Lynchs Ruf zum Trotz konnte niemand etwas an seiner Arbeit aussetzen. Er war verlässlich und pünktlich, sorgfältig und beherrscht. Ein langweiliger und unerfreulicher Zeitgenosse, o ja, aber bestimmt 21

kein unzuverlässiger.

»Rufen Sie die erste Patientin herein«, befahl Lynch, ohne der Schwester, die neben ihm stand, auch nur einen Blick zu gönnen. Er rieb sich den Hals, las das Überweisungsformular eines hiesigen Arztes und legte es auf die Schreibtischkante. »Dr. Sharif kann die Patientin übernehmen.« Er griff nach der nächsten Überweisung und überflog sie. »Die auch.« Dr. Sharif schaute die Schwester an; beide wechselten einen viel sagenden Blick. Schließlich entdeckte Lynch einen Fall, der ihn interessierte. »Hier, diese Patientin werde ich behandeln. Führen Sie die Frau in meine Kabine, Schwester. Sie soll sich schon mal frei machen.« Dann wandte er sich an seinen Assistenten. »Donald, in der Pathologie

sind

noch

einige

Berichte

der

gestrigen

Operationsliste. Sind Sie so nett, und holen Sie mir die Papiere, bevor wir auf die Stationen gehen?« Don Armstrong sprang fast vom Stuhl.

Er

eilte

über

den

Flur,

vorüber

an

der

Klinikbibliothek und in Richtung der Laboratorien. Alles war besser, als stundenlang in Dr. Lynchs Nähe auszuharren. »Gut, Schwester.« Lynch blickte endlich auf, und ein schmales Lächeln legte sich auf seine gewohnt mürrische Miene. »Dann wollen wir mal.« Er schob die Rechte in seine Hosentasche und tastete nach den Penicillintabletten, die er bei seiner Ankunft in der Klinik eingesteckt hatte. Kaum hatte die Schwester ihm den Rücken zugewandt, warf er zwei in den Mund und schluckte sie ohne Flüssigkeit. Sein Hals schmerzte bereits seit mehreren Tagen, und so hatte er schließlich ein Rezept für Antibiotika ausge22

stellt - auf den Namen einer Patientin, die es gar nicht gab. Erstaunlicherweise wirkten die Tabletten nicht so rasch, wie Lynch es eigentlich erwartet hatte.

3 11.17 Uhr Station 3, Nordflügel June Morrison kehrte zu Sandra O'Brien zurück. Ohne auch nur einen Blick auf die Patientin zu werfen, ließ sie sofort die Herzfrequenz des Fetus ausdrucken. Wieder war diese ein wenig gefallen - nicht bedrohlich tief, doch sie lag jetzt niedriger als die beruhigenden hundertdreißig Schläge in der Minute. June drückte auf den CTG-Drucker und studierte

die

Frequenzkurve

eingehend auf weitere bedenkliche Anzeichen. «Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich bei Schwester Roche, einem der tüchtigsten Mädchen, das June je ausgebildet hatte. »Ja, Schwester.« Doch irgendetwas im Blick der Jüngeren ließ June erkennen, dass durchaus nicht alles in Ordnung war. »Mrs. O'Briens Werte sind perfekt, Blutdruck hundertzwanzig zu siebzig, Puls vieruntachtzig konstant, Urin klar und ohne Anzeichen von Protein, Die Wehen kommen regelmäßig und kräftig alle drei Minuten. Starke Rückenschmerzen, doch die Blase ist noch nicht gesprungen.« Morrison senkte den Blick, schaute eingehend auf einen CTGAusdruck, den sie mit der Linken umkrampfte, und achtete darauf, dass sie der Schwangeren, die aufmerksam jedem Wort lauschte, den Rücken zugedreht hielt. Schwester Roches Gesicht 23

verriet Schrecken. June wandte sich nun Sandra zu. Sie brachte nicht einmal ein aufmunterndes Lächeln zu Stande. »Sandra, ich werde Sie noch einmal untersuchen, um festzustellen, wie weit Sie inzwischen sind. Dr. Morgan wird in Kürze hier sein, und ich möchte ihn über den neuesten Stand informieren können." Bei der Erwähnung Tom Morgans atmete Sandra O'Brien erleichtert auf und entspannte sieh merklich. Wieder strich sie über ihren Bauch. »Komm, Gordon«, murmelte sie, »nun mach schon.« Schwester Röche

schob

die

Kissen

im Rücken

der

Hochschwangeren zurecht. »Ist das der Name, den Sie für Ihr Baby gewählt haben?« Sandra blickte auf. Sie bemühte sich die Schmerzen zu unterdrücken, als eine neue Wehe kam. »Ja. Als die Ultraschalluntersuchung zeigte, dass es ein Junge ist, bestand Harry darauf, ihn Gordon zu nennen. So hieß sein kleiner Sohn, der bei dem Unfall ums Leben kam.« Sorgfältig wusch June sich die Hände am Becken; dann streifte sie klinisch sterile Gummihandschuhe über. Sie tauchte Zeigeund Mittelfinger in eine Dose antiseptischer Untersuchungssalbe auf dem Nachtkästchen und hob behutsam den weißen Entbindungskittel, der Sandra O'Briens Bauch und Oberschenkel lose bedeckte. »Nur ein vorsichtiges Betasten«, murmelte sie, während ihre Finger in den Leib der jungen Frau eindrangen. Sandra holte tief Luft. Schwester Roche nahm ihre Rechte zwischen die Hände. »Drücken Sie meine Hand, falls es wehtut. Es ist gleich vorbei.« 24

June Morrisons geübte Finger erforschten die Cervix. Sie hatte sich seit der letzten Untersuchung vor zwei Stunden ein wenig geweitet. June konnte das unverkennbare, sanfte Drücken der Fruchtblase an den Fingerspitzen spüren. Der Kopf des Babys bewegte sich leicht, als sie nach oben drückte. »Gebärmutterhals acht Zentimeter geweitet, Fruchtblase noch nicht geöffnet«, diktierte sie. Schwester Roche notierte es. »Gib mir bitte die Kocher-Klemme.« Roche legte die Karte auf die Ablage am Fußende des Bettes und öffnete eine sterile Schale auf dem edelstahlblitzenden Instrumententisch

neben

sich.

Sie

nahm

ein

kleines,

verschweißtes Päckchen heraus, das sie ebenfalls öffnete und aus dem sie ein Instrument in Junes freie Hand gleiten ließ, ohne es zu berühren. Sandra O'Brien begann mit konzentrierten Atemübungen. Sie drückte den Kopf fest in die Kissen und umklammerte mit beiden Händen das Bettgitter hinter sich. »Sie werden überhaupt nichts spüren, Sandra«, beruhigte June die Patientin, als sie mit der freien Hand behutsam die Zange in den Leib gleiten ließ. "Ich werde nur die Fruchtblase öffnen.« Wieder nahm Schwester Roche eine von Sandras Händen in die ihre. »Halten Sie ganz fest«, flüsterte sie ihr ins rechte Ohr. Da passierte es aufs Neue. Sandras schwangerer Leib blähte sich plötzlich und begann heftig zu wogen. Die um sich schlagenden Gliedmaßen des Babys drohten den Bauch zu sprengen. Ein, zwei, vielleicht sogar drei Minuten

spannte

und

dehnte

sich

der

Leib

mit

beänstigendem Ungestüm. June Morrison starrte auf den Monitor, während die Herzfrequenz des Ungeborenen kurz auf knapp einhundertvierzig pro Minute stieg und dann fiel, 25

gleichmäßig und langsam, jedoch unaufhaltsam. Entsetzen spiegelte sich auf Schwester Roches Gesicht. Sandra O'Brien begann zu schreien. »Was ist passiert? Um Gottes willen, was ist los?« Gerade als Morrison ihre forschenden Finger zurückziehen wollte, trat das Fruchtwasser aus. Die stark verfärbte Flüssigkeit quoll aus dem Leib der jungen Frau. Das Fruchtwasser war nicht klar und frei fließend, sondern dunkelgrün und voller Kindspech, ein Zeichen äußerster Gefährdung des Fetus. Sandra O'Briens Baby würde seine Geburt vielleicht nicht erleben. June handelte jetzt automatisch; ihre langjährige Erfahrung ließ sie jeden Handgriff tun, ohne dass sie darüber nachdenken musste. Sie drückte dreimal rasch hintereinander auf den roten Knopf der Alarmanlage über dem Kopfende des Bettes. Auch bei Schwester Roche war nun jeder Handgriff Routine. Sie löste die Bremsvorrichtung der Betträder und schwang das Bett erstaunlich genau herum, sodass das Ende zur Tür deutete. Ohne Sandras Flehen um Hilfe zu beachten, hatten die beiden Schwestern das Bett binnen Sekunden durch die Tür und auf den Flur geschoben und rollten es rasch zu einem Aufzug, der bereits in den dritten Stock hinaufgefahren war; die Türen standen offen und würden sich erst wieder schließen, wenn der Knopf im Inneren der Kabine gedrückt wurde. Die Zentralentbindungsklinik in Dublin konnte zu Recht stolz auf ihre Notfallmaßnahmen sein. Im Laufe der letzten Jahre waren sie automatisiert und immer wieder auf ihre Leistungsfähigkeit und Sicherheit geprüft worden. Sobald das Bett sich ganz im Aufzug befand, gab Roche den Kode für die Operationsetage im Nordflügel ein. Sofort 26

setzte der Aufzug sich in Bewegung, und Roche beobachtete, wie die Tür vor ihnen zuglitt. Sandra O'Brien starrte June Morrison angstvoll an. »Wird mein Baby leben?«, schluchzte sie. Morrison nahm die rechte Hand der jungen Frau und drückte sie leicht. «Ihr Sohn wird kerngesund zur Welt kommen, Sandra. Nur müssen Sie sich schneller von ihm trennen, als wir dachten. Wir müssen einen Kaiserschnitt vornehmen.« Sandra O'Brien zog die Decke zu den Lippen und biss hinein. »Armer Harry«, schluchzte sie. »Armer, armer Harry! Er hat sich dieses Baby so sehr gewünscht.« Als eine neue Wehe einsetzte, zog Sandra O'Brien June plötzlich näher zu sich heran; ihre Nägel gruben sich in Junes Arm. »Lassen Sie mein Baby nicht sterben!«, flehte sie, wenngleich der Schmerz der Wehe ihr den Atem raubte. »Lassen Sie mein Baby nicht sterben!« Morrison und Roche blickten einander an, schwiegen aber. Es war 11.48 Uhr.

4 11.55 Uhr Das Alarmsignal schrillte in drei getrennten Abteilungen gleichzeitig. Dr. Don O'Callaghan, der Anästhesist, gönnte sich gerade eine wohlverdiente Pause bei Kaffee und einer Zigarette in der Personalkantine und las die Irish Times. Er hatte den Sportteil aufgeschlagen, um die Berichte über das bevorstehende Fußballlän27

derspiel Irland gegen England zu lesen. »Verdammt!«, murmelte er, warf die Zeitung auf den Tisch, rannte zum nächsten roten Telefon und wählte die Nummer des Krankenhausnotrufs. In der Kinderabteilung im Westflügel schob Dr. Paddy Holland einem drei Tage alten Baby soeben behutsam eine Infusionsna-del in die Kopfhaut, als er den schrillen Ton des Notrufs hörte. Er atmete erleichtert auf, als er Blut in die Kanüle steigen sah; er hatte die Vene gefunden. »Befestigen Sie bitte den Tropf, Schwester«, bat er, während er die Nadel festhielt, damit das unruhige Baby seine Bemühungen nicht zunichte machte. Als das Heftpflaster die Infusionsnadel sicher an Ort und Stelle hielt, stürmte Holland zum nächsten roten Telefon und wählte. Dean Lynch stellte gerade den Antrag für eine Röntgenaufnahme aus, als er das Notrufsignal vernahm. Ohne innezuhalten, nahm er den Hörer ab und rief in der Zentrale an. Alle drei Männer erhielten dieselbe Information, wie June Morrison sie der Dienst habenden Schwester der Notrufzentrale mitgeteilt hatte, kaum dass sie im Operationssaal angelangt war. Sandra O'Brien, achtundzwanzigjährige Erstgebärende, in bereits fortgeschrittenem

Geburtsvorgang,

muss

wegen

akuter

Gefährdung des Fetus dringend durch Kaiserschnitt entbunden werden. Ihr Zustand gibt keinen Anlass zur Besorgnis. Blutdruck konstant bei hundertzwanzig zu siebzig. Puls einhundertzehn, was aber auf ihre derzeitige Situation und eine daraus resultierende Angstreaktion zurückzuführen ist. Ihr Urin war während der gesamten Schwangerschaft und des Geburtsvorgangs gleichmäßig klar gewesen; zu keinem Zeitpunkt hatten 28

sich Zeichen von Toxikämie ergeben. Lediglich leichte Ödeme an Hand- und Fußgelenken auf Grund der während vieler Schwangerschaften fallweise auftretenden Kreislaufprobleme waren zu beobachten. Im Unterschied zur Frau besteht für das Ungeborene unmittelbare Lebensgefahr. In den vergangenen drei Stunden kam es mehrmals zu einem Absinken der Herzfrequenz des Fetus, die jedoch stets wieder in den Normalbereich zurückkehrte. Der CTG-Scanner hatte erst während der letzten vierzig Minuten Unregelmäßigkeiten aufgezeichnet. Doch exakt um 11.32 Uhr trat aus der durchstoßenen Fruchtblase mit Kindspech gefärbtes Fruchtwasser aus. Die Herzfrequenz des Babys war zum selben Zeitpunkt

wieder

gefallen

und

bewegt

sich

nun

bei

Sechsundsechzig Schlägen die Minute. Es fehlte die Zeit, eine Elektrode am Kopf des Fetus zu befestigen, um die PH-Werte zu messen. Der eigentlich zuständige behandelnde Arzt für diese Schwangerschaft und Entbindung ist nicht aufzufinden. Doch weitere Informationen brauchten die drei Männer nicht, um umgehend zu handeln. Ein Ungeborenes war in Gefahr, und nur rasches Eingreifen würde sein Leben retten. Ausschlaggebend war nun die Schnelligkeit der Behandlung. Bereits eine Verzögerung von nur einer Minute konnte den Tod bedeuten. Don O'Callaghan stürmte aus der Kantine, vorbei an Herumstehenden, und über die Flure, die ihn zum Operationssaal brachten, in dem nun Sandra O'Brien wartete. Beinahe hätte Don in seiner Eile eine ältliche Nonne umgerannt, die ihm im Weg stand. Ohne innezuhalten, rief er »Entschuldigung!« über die Schulter. Paddy Holland war binnen Sekunden in dem allein für Notfälle 29

reservierten Aufzug und drückte sofort auf den Knopf für das Stockwerk, in dem sich der OP befand. Nichts und niemand konnte den Aufzug jetzt mehr stoppen, bis er an seinem Ziel angelangt war. Dean Lynch fluchte ununterbrochen, während er, jeweils zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufrannte, die von der Poliklinik in die oberen Etagen führte. Zum vierten Mal in vier Monaten wurde er in den Nordflügel gerufen, die exklusive Privatstation des Krankenhauses, die so ganz anders war als seine Welt, der Ostflügel mit seinen billig eingerichteten Operationssälen, den schäbigen Fluren und der abbröckelnden Wandfarbe. Dean Lynch fluchte zwar lautlos, aber anschaulich, und mit jedem Schritt wuchs sein Zorn. Während die drei Männer sich aus verschiedenen Richtungen dem OP im Nordflügel näherten, klickte in dem Zimmer, aus dem Sandra O'Brien mit solcher Hast weggebracht worden war, ein Handy. Theo Dempsey, ehemaliger Sergeant der irischen Armee und nunmehr Harry O'Briens Leibwächter, schickte seine Nachricht via Satellit direkt an seinen Chef im Herrenhaus in North Wicklow. Big Harry wollte dort die Geburt abwarten, da er die Krankenhausatmosphäre nicht mehr hatte ertragen können. Er hasste den Geruch von Desinfektionsmitteln, das Stöhnen und Schreien von Gebärenden, auch wenn die Geräusche durch Wände gedämpft waren, und das ständige schrille Geschrei von Neugeborenen. Er hatte zu Beginn des IVF-Programms so viel Zeit im Krankenhaus zubringen müssen, dass sein Magen sich bereits beim Anblick der Eingangstür verkrampfte. Harry O'Brien war ein Mann, der die Zügel gern selbst in der Hand hielt; in einer Umgebung, in 30

der andere das Sagen hatten, fühlte er sich unbehaglich. Darum hatte er Sandras Vorschlag, zu Hause zu warten, bis die Zeit der Geburt gekommen sei, nur zu gern nachgegeben. Er hatte jedoch Theo Dempsey beauftragt, ein Auge auf Sandra zu halten, ihn ständig zu informieren und sofort zu benachrichtigen, wenn Tom Morgan oder June Morrison das Zeichen gaben. Sekunden nach Dempseys Anruf rannte O'Brien aus dem Haus zum wartenden gecharterten Hubschrauber. Der Flug von North Wicklow zur behelfsmäßigen Hubschrauberlandeplattform auf dem Parkplatz des Krankenhauses würde nur dreißig Minuten dauern.

5 12.01 Uhr Operationstrakt 2, Nordflügel Dean Lynch stand neben June Morrison, die bei der Operation assistieren würde, und schrubbte sich die Hände. Obwohl June fast zehn Zentimeter größer war als der Arzt und alles andere als leicht einzuschüchtern, konnte sie sich nur mühsam dazu überwinden, Lynch anzuschauen. »Tut mir Leid, dass ich Sie bitten musste einzuspringen, Dr. Lynch«, sagte sie durch die Schutzmaske und musste sich anstrengen, um über das fließende Wasser und das Scharren der Bürsten hinweg gehört zu werden. So wie Lynch den Operationstrakt betreten hatte, wusste June, dass er vor Wut kochte. Lynch schrubbte weiter, ohne den Blick von der Bürste zu neh31

men, die nun über seine Nägel fuhr, erst über die der linken, dann der rechten Hand. »Die Frau ist eine von Tom Morgans Patientinnen. Aber Dr. Morgan war nicht im Haus, als es zu der Krise kam. Deshalb mussten wir Sie rufen.« Lynch sagte immer noch nichts, ja, er beachtete June scheinbar gar nicht. Immer noch schrubbend, drehte er sich abrupt um und starrte auf die Szenerie im OP. Sandra O'Brien lag auf dem Operationstisch von Trakt 2. Ihr Blick schoss hin und her wie der eines verängstigten Kaninchens. Rings um sie herum herrschte hektische Betriebsamkeit. Don O'Callaghan, der Anästhesist, hatte bereits eine Infusionsnadel in Sandras rechten Handrücken gestochen und überprüfte die Narkosegase. Sein gewaltiger Bauch spannte das Hemd schier zum Zerreißen, und immer wieder musste er seine Hose zurechtziehen, damit sie nicht zu sehr einschnitt. Er kritzelte rasch irgendetwas auf ein Blatt, das am Narkosetischchen festgeklammert war; dann nahm er seine Endotrachealtuben hervor. Nach einem fachmännischen Blick auf Sandra wählte er einen davon aus. Mit einer speziellen Spritze injizierte er Luft in ein dünnes Röhrchen und brummte zufrieden, als die Seiten des Endotrachealtubus sich weiteten. Sobald er Sandra O'Brien unter Narkose hatte, würde er den Tubus in ihre Luftröhre schieben und aufblasen, damit sich eine geschlossene, dichte Verbindung ergab und die anästhetischen Gase geradewegs die Lunge erreichten. Breda Mullan bereitete sich auf die Operation vor, die in wenigen Minuten beginnen würde. Sie hatte sich bereits die Hände desinfiziert und zählte jetzt mit einer Schwesternhelferin die ste32

rilen Mulltupfer, damit die während der Operation benutzte Anzahl genau mit der Gesamtzahl nach Ende des Eingriffs übereinstimmte. Eine weitere Schwester ging mit zwei Blutkonserven an Breda vorbei und hängte sie neben den bereits aktivierten Tropf mit der Kochsalzlösung. Lynch wandte sich wieder ruckartig um und spülte die Hände gründlich unter dem fließenden Wasser ab, ehe er den Hahn mit dem Ellbogen zustieß. Ohne June Morrison auch nur einen Blick zu gönnen, nahm er von einer anderen Schwester das sterile Handtuch. Während er sich die Hände abtrocknete, versuchte er, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen und die Wut zu unterdrücken, die immer stärker zu werden drohte. Sein Hals schmerzte jetzt noch mehr. Er sammelte ein wenig Speichel im Mund und schluckte ihn, um die kratzige Trockenheit zu lindern. «Die Patientin ist Sandra O'Brien“, versuchte June erneut zu Lynch vorzudringen. Sie hoffte verzweifelt, ihn vor Beginn der Operation besänftigen zu können. Sie spürte die Wut, die in seinem Inneren kochte. In diesem Zustand war er eine Gefahr für Mutter und Kind. Der stoßweise Atem, der flammende Blick und die fahrigen Handbewegungen gemahnten June zur Vorsicht. Sie schaute sich rasch um, ob Tom Morgan nicht vielleicht doch noch erschienen war, aber er war nirgends zu sehen. »Sie wissen, wen ich meine? Sie ist die Frau von Harry O'Brien von der O'Brien Corporation.« Lynch warf der Schwester das Handtuch vor die Füße, das sie ihm gereicht hatte, und streifte sich den einen Schutzhandschuh, den sie gerade aus der Packung gezogen hatte, über die Finger; dann ließ er sich den zweiten geben. Erst jetzt blickte er June zum ersten Mal an. Ihr stockte das Herz, als sie das zornent33

brannte Lodern in seinen Augen sah. »Schwester Morrison«, zischte Lynch durch die Maske, »es ist mir scheißegal, wer die Frau ist! Hören Sie auf zu quasseln und stören Sie mich nicht!" Er ging von den Edelstahl Waschbecken an den Operationstisch, die Blicke auf den geschwollenen Leib Sandra O'Briens gerichtet. June Morrison und die Schwesternhelferin schauten einander an, während die Helferin eine zweite Packung sterile Handschuhe öffnete. Die Blicke der beiden Frauen sprachen Bände. Die Operation würde zu einer Tortur für sie alle werden. Es war jetzt 12.06 Uhr.

Im Hubschrauber brüllte Harry O'Brien in ein Handy und versuchte verzweifelt, die schwachen Laute zu verstehen, die vom Satelliten übertragen wurden. »Verdammt! Verdammt!«, rief er in das Gerät. »Was ist los?“ Doch das Geräusch der Hubschrauberrotoren war viel zu laut und übertönte die Antwort. O'Brien ließ das Handy sinken und starrte mit steinernem Gesicht nach vorn, während der Helikopter Richtung Osten zur Entbindungsklinik flog. Wenn dem Kind irgendwas passiert, bringe ich jemanden um, das schwöre ich! Es war 12.07 Uhr.

In Sandra O'Briens Schoß kämpfte ihr ungeborener Sohn um sein Leben. Seine Herzfrequenz betrug nur noch knapp sechzig Schläge pro Minute. Er ermüdete. Seine Bewegungen waren erlahmt; nur der Monitor zeigte noch an, dass er überhaupt noch lebte. Jeder im Operationssaal 2 warf immer wieder zunehmend besorgte Blick auf den Bildschirm. Es blieb nicht mehr viel Zeit. 34

Dean Lynch schaute Don O'Callaghan an und bedeutete mit einem Nicken, dass er bereit war. O'Callaghan, der kurz vor der Pensionierung stand und froh darüber war, erwiderte das Nicken. Lynch blickte nun zu Paddy Holland am pädiatrischen Reanimationstisch. Unmittelbar rechts von Holland stand seine Assistentin bei diesem Eingriff, eine junge Ärztin mit mehr als sechsjähriger Ausbildung auf der pädiatrischen Intensivstation; rechts neben der Assistenzärztin wartete eine pädiatrische Intensivpflegeschwester. Auch Holland erwiderte Lynchs Nicken. Das Team war bereit. Lynch wandte sich an Don O'Callaghan. »Fangen wir an.« Alle Blicke wandten sich ihm zu, als er auf einen breiten Schemel neben dem Operationstisch stieg, um höher zu stehen. Niemand sonst brauchte ein solches Podest. Der Schemel stand nur bereit, falls eine kleinere Schwester bei einer Operation assistierte. Während Lnych Sandras Bauch abtupfte und teilweise abdeckte, bemerkte June Morrison, dass sein Atem sich beruhigte. Auch seine Hände entspannten sich. Beim Aufblicken sah sie gerade noch, wie seine Augen sich zu Schlitzen verengten, als er nach dem Skalpell griff, um den Kaiserschnitt vorzunehmen. Das Team im Operationssaal 2 wappnete sich. Es war 12.09 Uhr.

6

12.11 Uhr Eine entschlossene Handbewegung trieb die Klinge in Sandras Leib und führte den Schnitt. Irgendwo tief in ihrem noch nicht 35

völlig narkotisierten Gehirn schrie Sandra O'Brien. Die Klinge setzte ihren Schwung vom Nabel bis zur Schamgegend fort. Sie öffnete den Leib und legte Fett- und Muskelschichten frei. Dean Lynch spürte, wie die Patientin sich unter dem grünen Tuch vor Schmerz aufbäumte, und unter der Gesichtsmaske huschte ein Lächeln über seine Züge, Don O'Callaghan bemerkte, dass Sandra an dem Endotrachealtubus kaute und ihr Kopf leicht schaukelte, und presste rasch zusätzliches Pethidin den Infusionsschlauch hinunter. Er hatte kaum genug Zeit gehabt, Sandra zu anästhesieren, bevor Dean Lynch zu dem langen Schnitt angesetzt hatte. O'Callaghan hasste es, mit Lynch zusammenarbeiten zu müssen, und bemühte sich jedes Mal, ihm mit ausreichend Anästhetikum einen Schritt voraus zu sein, bevor das Skalpell eingesetzt wurde. Heute aber hatte Lynch die Oberhand, da die Operation so schnell wie möglich vorgenommen werden musste. O'Callaghan, dem der Schweiß den Rücken hinunterrann, sprach mit seiner Anästhesieschwester, die bereits Sandras Puls und Blutdruck maß. Dann schob er sich ein weiteres Nikotinkaugummi in den Mund und beobachtete den Fortgang des Eingriffs aus den Augenwinkeln. Ihm entging nicht, mit welcher Schnelligkeit die Hand des Chirurgen sich bewegte. Binnen einer Minute hatte Lynch die äußeren und inneren Muskelschichten durchtrennt und das dünne Bauchfell freigelegt, das den geschwollenen Leib bedeckte. Er schnitt hinein, teilte es mit einer stumpfen Schere und schob es mit einem Mulltupfer zur Seite. Mit zwei warmen, feuchten Umschlägen wurden die freigelegten Därme zurückgehalten und abgedeckt. Dann drang Lynch mit vorsichtigen, präzisen Skalpellschnitten in den unteren 36

Bereich von Sandra O'Briens Bauch ein. Glücklicherweise hatte die Wirkung der Narkose inzwischen voll eingesetzt. Sandra wand sich nicht mehr, lag in tiefer Bewusstlosigkeit. Mit zufriedenem Brummen stellte Lynch fest, dass sein Skalpell nun durch die Gebärmutter schnitt und die Fruchtblase um das Ungeborene freilegte. "Absaugen!«, befahl er schroff, und June Morrison sorgte dafür, dass der Saugschlauch rasch für den nächsten Schritt bereit war. Nun durchtrennte Lynch die Fruchtblase, wieder mit einer stumpfen Schere. June saugte das heraussickernde Fruchtwasser ab, achtete jedoch darauf, dass sie mit ihrer Hand dem Chirurgen nicht die Sicht behinderte. Lynch ließ das Skalpell in eine sterile Schale fallen; dann drehte er das Ungeborene in der Gebärmutter so, dass das winzige Gesicht der künstlich geschaffenen Öffnung zugewandt war. »Zange!«, brüllte er und hielt sie Augenblicke später in der Hand. Lynch schob eine Zangenbacke durch den klaffenden Einschnitt, sodass sie hinter den Kopf des Babys glitt. Langsam, aber fest auf den oberen Teil der Gebärmutter drückend, zog Lynch den kleinen, jedoch vollkommen geformten Kopf Gordon O'Briens hervor. Behutsam und geschickt nahm er den Kopf des Babys in beide Hände und machte sich daran, ihn so zu heben, dass erst die eine, dann die andere Schulter freikam. Innerhalb von Sekunden hatte er Gordon O'Brien vollkommen aus dem Leib der Mutter hervorgeholt. Der eigentliche Geburtsvorgang war damit beendet. Es war jetzt 12.19 Uhr. Das Baby lag etwa fünf Sekunden in Lynchs behandschuhten 37

Händen, während die Nabelschnur abgeklammert und durchschnitten wurde. »Er ist sehr matt«, murmelte Lynch und reichte Paddy Holland das Neugeborene. »Apgar Zero.« Das Apgar-System zeigte den bedrohlichen Zustand des Babys an. Ein gesundes Neugeborenes, das schrie und strampelte, würde im Idealfall ein Apgar zwischen acht und zehn aufweisen. June Morrison spürte, wie ihre Welt zusammenbrach. Es sah so aus, als hätten sie das Baby verloren. Sie zitterte am ganzen Körper, so sehr sie auch dagegen ankämpfte und die Finger um den Wundhaken in ihrer Hand klammerte. Die blaugraue Haut des Babys war ein bedenkliches Zeichen, ebenso, dass es sich weder bewegte noch seinen ersten Atemzug tat. „Apgar eins«, rief Paddy Holland, während er durch ein Spezialstethoskop nach dem Herzschlag lauschte. »Farbe blaugrau, keine Atembemühung, keine Reaktion auf Stimulierung, geringer Muskeltonus.« Er blickte rasch auf die Uhr. »12 Uhr 20, Herzfrequenz circa fünfzig Schläge pro Minute.« Nun stand das Pädiatrieteam im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens. Mit einem Speziallaryngoskop in einer Hand untersuchte Paddy Holland die Kehle und die obere Luftröhre des Neugeborenen. Mit der freien Hand nahm er einen dünnen Kunststoffschlauch und saugte damit Schleim und Flüssigkeit ab, welche die Luftzufuhr zur Lunge verhinderten. Dann beseitigte er mit einem kleinen Endotrachealtubus auch den tiefer in der Luftröhre befindlichen Schleim. Seine Assistentin hielt inzwischen eine kleine Gesichtsmaske in der Hand, die mit einem Sauerstoffzylinder verbunden war. Sobald Holland sich verge38

wissert hatte, dass nichts mehr den Weg der Atemluft in die Lunge des Babys versperrte, setzte er dem Neugeborenen die Maske aufs Gesicht. Das Baby wurde nun künstlich beatmet. „12 Uhr 21«, rief Holland nach einem neuerlichen kurzen Blick auf die Uhr. »Apgar immer noch eins.« Jede Einzelheit wurde von der Intensivpflegeschwester genauestens protokolliert. Alle blickten auf das winzige, reglose Baby, das nun in einem offenen Inkubator lag, dem von oben Wärme zugeführt wurde. Don O'Callaghan, Breda Mullan, June Morrison, die Hilfsschwester und das übrige Personal im Operationssaal beobachteten gebannt, wie Paddy Holland sich bemühte, das Baby künstlich zu beatmen. Nur Dean Lynch interessierte sich nicht im Geringsten für diesen Kampf ums Leben. »Schwester Morrison«, schnaubte er, »würden Sie so freundlich sein, sich um Ihre Patientin zu kümmern? Ich würde nämlich gern die Wunde schließen. Und es ist verdammt nicht einfach für mich, wenn Sie sich für alles Mögliche interessieren, nur nicht für die Frau!« Morrison und Mullan fuhren herum und blickten auf Sandra O'Briens geöffneten Leib. Nun war viel Arbeit erforderlich, die Operationswunde zu schließen. Die verschiedenen Gewebe-, Muskel- und Hautschichten mussten zusammengezogen und genäht werden, damit die Operation wenigstens bei der Mutter einen erfolgreichen Abschluss fand. Lynch genoss die Verlegenheit, in die er die Schwestern gebracht hatte, und ihr Unbehagen. »Schwester Mullan», fuhr er fort, „hätten Sie wohl die Güte, mir Katgut zu reichen? Ich wäre gern noch vor Mitternacht zu Hause, wenn Sie nichts dagegen haben.« Es war Lynch ein 39

sichtliches

boshaftes

Vergnügen,

seine

uneingeschränkte

Machtposition auszuspielen. Mullan und Morrison wechselten verärgerte Blicke. Plötzlich war ein schwaches Wimmern zu hören, das zuerst nicht mehr als ein kaum vernehmbares Wispern war. »Apgar auf vier gestiegen!«, rief Paddy Holland. »Leichte Bewegung der Gesichtsmuskeln, Herzfrequenz einhundert. Schwache eigene Atemversuche.« Seine Assistentin stach eine kleine Kunststoffkanüle in Gordon O'Briens Ellbogenvene, um eine Tropfleitung herzustellen. Das Kind zuckte zusammen. Und dann - beinahe so, als wäre er wütend über alles, was vorhergegangen war, und über den plötzlichen Schmerz-, brachte Gordon O'Brien ein paar kurze Atemzüge zu Stande und versuchte zu schreien. Seine ersten Bemühungen waren nicht viel mehr als ein Gurgeln, ein röchelndes Atmen. Dann schien sein winziger Körper alle Kraft zu sammeln, und das Baby stieß einen durchdringenden Schmerzensschrei aus. Alle Bewegungen im Operationssaal stockten, nur Dean Lynch nähte weiter das Gewebe zusammen. »Apgar fünf bei sieben Minuten«, rief Holland plötzlich. »Es ist jetzt 12 Uhr 29, und sein Apgar ist auf fünf.« Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung war zu vernehmen. Nachdem Gordon O'Brien noch zwei-, dreimal konvulsiv nach Atem geschnappt hatte, gelang ihm ein anhaltender, kräftiger und gesunder Schrei. Zwei der Schwestern klatschten erfreut, und June Morrison spürte Tränen in den Augen. Sie blinzelte heftig, um den Blick klar zu behalten. Breda Mullan lächelte ihr beruhigend zu. Sie konnten beide nicht der Versuchung widerstehen, einen raschen Blick auf die winzigen Arme und Beine zu werfen, die nun auf 40

dem Reanimationstisch um sich schlugen. Das Tod verheißende Blaugrau war einem gesunden Rosarot gewichen, als Sauerstoffreiches Blut durch die Adern des Babys floss. »Apgar auf neun oder zehn!«, triumphierte Holland. »Gut gemacht, Leute. Wir haben ihn gerettet.« Nur Dean Lynch hob den Blick nicht, sondern konzentrierte sich weiterhin darauf, jede Gewebeschicht von Sandra O'Briens Operationswunde sorgfältig zu schließen. Plötzlich erschien jemand neben ihnen, der sich mit einer Hand eine Maske vor den Mund hielt. »Was ist passiert? Was geht vor? Ist alles in Ordnung?« Es war Tom Morgan. Als Dean Lynch seine Stimme hörte, blickte er ruckartig auf. »Ist sie okay, Dean?«, fragte Morgan nervös. Lynch wandte sich wieder dem nunmehr geschlossenen Bauch zu. »Schneiden!«, schnaubte er, und June Morrison schnitt das Katgut dort ab, wo Lynch einen festen Knoten gebunden hatte. Er ließ den Nadelgriff auf den Boden fallen und versetzte ihm einen Tritt, dass er in die hinterste Ecke des Operationssaals flog. »Das ist verdammt das letzte Mal, dass ich Ihnen den Arsch rette, Morgan!«, fluchte er. Er drehte sich auf dem Absatz und marschierte aus dem Operationssaal.

Lynch bemerkte den ob seiner massigen Gestalt kaum zu übersehenden Harry O'Brien auf dem Weg zum Operationssaal ebenso wenig wie dessen Bodyguard Theo Dempsey, der seinem Chef dichtauf folgte, wobei sein Herz vor Besorgnis wild klopfte. Tatsächlich war sich Dean Lynch nur der fast unerträglichen Schmerzen in seinem Kopf bewusst. Sein Gesicht war weiß vor unbändiger Wut, als er die grüne Operationskleidung abstreifte 41

und sich umzog. Binnen weniger Minuten hatte er die Klinik verlassen und saß in seinem Wagen, dessen Räder beim Einbiegen auf den Whitfield Square Kies aufwirbelten. Er nahm die schmalen Straßen, die vom Krankenhauskomplex wegführten, bis er sich in den nachmittäglichen Verkehrsstrom auf der O'Connell Street einfädelte. Lynch beachtete weder das laute Hupen noch die zornig erhobenen Fäuste, wenn er rücksichtslos die Fahrspuren wechselte. Die Uhr des Trinity College schlug in dem Moment halb zwei, als er auf dem Weg zur Nassau Street und weiter nach Ballsbridge daran vorüberfuhr. Als er sich seiner Wohnung näherte, die sich in einem modernen Gebäudekomplex unweit der Baggot Street befand, nahm Lynch all seine Willenskraft zusammen, um wieder Herr seiner Sinne zu werden. Er holte tief Atem und stieß ihn bedächtig durch die geschürzten Lippen aus. Schließlich fuhr er auf den hauseigenen Parkplatz und stellte den Wagen auf dem für Apartment 23 reservierten kleinen Bereich ab. Er vergewisserte sich zweimal, dass die Alarmanlage tatsächlich eingeschaltet war; dann erst überquerte er den Platz, wobei er sich Mühe gab, einen so gleichmütigen Eindruck zu machen, wie er konnte. Er hoffte, es würde niemandem auffallen, dass er schon so früh am Tag nach Hause kam. Er ging am offenen Aufzug vorbei und nahm stattdessen die Feuertreppe, immer zwei Stufen auf einmal, hinauf zum zweiten Stock. Kurz darauf befand er sich in seiner Wohnung. Er zog einen Läufer von den Ahorndielen in seinem Fitnessraum, schob ein Küchenmesser in einen kaum sichtbaren Spalt zwischen den Dielenbrettern und hob ein kurzes Stück eines der 42

Bretter heraus. Er langte in die Öffnung und tastete ein paar Sekunden herum, bevor seine Hand mit einer kleinen grünen Plastiktasche zum Vorschein kam. Lynch setzte sich an den Küchentisch und leerte den Inhalt der Tasche - kleine Plastikbeutel - auf die Resopalplatte. »Verfluchte Hundesöhne«, murmelte er, während er aus einem der Beutelchen weißes Pulver auf einen Löffel aus Edelstahl tippte. Er kappte eine Ampulle mit destilliertem Wasser; dann zündete er mit einem Feuerzeug einen Docht an, der mit Methylalkohol befeuchtet war. Er zog das Wasser mit einer frischen Spritze auf und drückte es auf den Löffel, den er über die Flamme hielt, bis das Pulver sich restlos aufgelöst hatte. Schließlich zog er die Mischung behutsam, ganz behutsam, in die Spritze auf. Er fluchte und murmelte noch immer, als er am linken Arm ein Tourniquet festzog und mit den Fingern auf die Innenseite des Unterarms klopfte. Ganz langsam drückte er die Nadel in die am stärksten hervortretende Vene und zog die Spritze ganz leicht auf, um sich zu vergewissern, dass die Nadel richtig eingedrungen war. Er brummte zufrieden, als Blut in die Spritze stieg. Dann drückte er den Spritzenkolben hinunter und injizierte. Das war der Augenblick, den er am liebsten mochte, und er achtete darauf, es nie zu schnell zu tun; es konnte geschehen, dass ihm übel wurde und er sich übergeben musste. Ganz langsam und behutsam betastete er hin und wieder die Nadel, um sich zu vergewissern, dass sie sich auch wirklich noch in der Vene befand. So injizierte Dean Lynch das Heroin in seinen Arm. Er hatte den Vorgang zu einer Art Kunstform erhoben und beendete ihn erst Augenblicke, bevor er den vollen Ansturm der Droge auf sein Hirn spürte. Sein Mund, die Lippen und die Zunge fühlten 43

sich mit einem Mal schwer an, und er fuhr sich wiederholt mit der Zunge über die Lippen, um sie feucht zu halten. Spritze und Plastikbeutel ließ er vorsichtig in eine Küchenschublade fallen, um sich am Morgen darum zu kümmern, bevor er auf sein Bett sank und beobachtete, wie das Zimmer und die Decke sich abwechselnd vor seine Augen schoben und verschwanden. Er fühlte sich wieder entspannt und zufrieden. Unbeholfen klebte er ein Heftpflaster auf die Einstichstelle, nachdem er das Schutzpapier nur mit Mühe entfernt hatte. Dean Lynch hatte wieder Ruhe gefunden.

Zweiter Tag 7 Dienstag, 11. Februar 1997, 6.30 Uhr Das Licht war an. Nach Atem ringend saß Lynch auf der Bettkante. Er würgte, seine Knie zitterten, und er bebte am ganzen Körper. Mit einer Hand wischte er sich den unablässig strömenden Schweiß vom Gesicht, mit der anderen klammerte er sich Halt suchend an den Schrank. Ihm war übel. Mit schleppenden Schritten quälte er sich ins Badezimmer, wo er sich schwer ans Waschbecken lehnte. Doch trotz des heftigen Drangs, sich zu übergeben, kam nichts hoch, was er hätte erbrechen können, um seine Übelkeit loszuwerden. Er tastete herum, fand die Dusche, drehte sie auf und ließ das Wasser über Gesicht und Körper strömen, wobei er es immer kälter stellte, in der Hoffnung, das eisige Wasser würde seine Lebensgeister wecken. 44

Dann setzte er sich erschöpft auf den Holzstuhl in der Küche und starrte durchs Fenster zum frühmorgendlichen Himmel. Die Albträume quälten ihn immer öfter - so häufig, dass er allmählich Angst vor der Dunkelheit und dem Schlaf bekam. Wenn es hell wurde, lag er um diese Tageszeit für gewöhnlich auf den schweißgetränkten Betttüchern. Immer öfter suchte er Zuflucht beim Heroin, obwohl ihm die Gefahr nur zu bewusst war.

Dean Patrick James Lynch war am 20. April 1951 in einer Entbindungsklinik in Portlawn in den irischen Midlands geboren. Mehr wusste er nicht über sich selbst. Der einzige greifbare Beweis der ersten Jahre seines Lebens war eine zerfledderte, schmuddelige Geburtsurkunde, aus der Ort und Datum hervorgingen. Es gab keine Fotos des jungen Dean Lynch, keine Briefe oder Ansichtskarten, die ihn an seine Kindheit und Jugend hätten erinnern können. Es existierten keine. Die Geburtsurkunde war die einzige Bescheinigung, dass er eine Vergangenheit besaß, dass er einst ein Kind gewesen war. Er war in Armut aufgewachsen, ohne materiellen Besitz; er hatte nichts gehabt, was er sein Eigen hätte nennen können, und so war es auch geblieben. Selbst als Erwachsener besaß er lediglich einen Gebrauchtwagen, den er benötigte, um zur Arbeit zu kommen, und ein paar unverzichtbare Möbelstücke. Mehr nicht. Aber er wollte auch nichts. Er war in abgetragener Kleidung aufgewachsen und hatte stets in einem Bett geschlafen, das von anderen benutzt worden war - von Kindern, die ebenfalls nicht wussten, wohin sie gehörten. Ihm war gar nichts anderes übrig geblieben, als zu versuchen, in abgetragenen Schuhen durchs feindliche Leben zu lau45

fen. Dies alles hatte die Überzeugung in ihm geweckt und erhärtet, dass er niemals etwas Eigenes besitzen würde. Er war sich stets darüber im Klaren gewesen, dass jede Hose, jedes Hemd, selbst die fadenscheinigen Socken, die seine Füße kaum vor den langen, kalten irischen Wintern schützten, ihm wieder genommen und an andere weitergegeben würden. Und er hatte auch gewusst, warum: Er war ein Niemand. Wie die anderen Kinder in den Waisenhäusern, in denen er im Laufe der Jahre untergebracht, nein, interniert gewesen war, hatte er zum menschlichen Strandgut der fünfziger Jahre gehört, allein gelassen, weggeworfen und gemieden, weil er ein »Kind der Sünde« war, wie man damals sagte, und das nur deswegen, weil seine Eltern keinen Trauschein besessen hatten. Das Personal in den Waisenhäusern bestand zumeist aus Angehörigen geistlicher Orden und städtischen Angestellten, von denen ein Großteil vom religiösen Fanatismus jener Zeit geprägt war. Unzureichende staatliche Finanzen führten oft zu starrem Bürokratismus und rigorosen Einschränkungen, um an den laufenden Kosten zu sparen. Es gab kein Geld für Spielzeug oder hin und wieder ein Stück Kuchen oder sonst etwas, das den Waisen das Leben ein bisschen versüßt und erträglicher gemacht hätte. Und wenn die Kinder nach der geringsten Zuneigung suchten, und sei es nur nach einem freundlichen Wort oder einem bisschen Trost in einer schwierigen Lage, wurden sie verärgert, manchmal sogar handgreiflich

zurückgewiesen.

Dean

Lynch

war

so

oft

gedemütigt und verletzt worden, dass er gelernt hatte, keine Aufmerksamkeit zu suchen, keine tröstende Umarmung zu erwarten. Er lernte auch, Prügeln aus dem Weg zu gehen, die Kindern für den geringsten Verstoß gegen irgendeine Vorschrift 46

blühten. In den elf Jahren im Waisenhaus hatte Lynch es zur Perfektion entwickelt, sämtliche Gefühle und Regungen unter Kontrolle zu halten, ja, in den meisten Fällen sogar abzutöten. Dean Lynch zog sich schon damals von den anderen Kindern zurück, wurde zum Eigenbrötler und lernte zu überleben. Er schaute zu, wenn andere Kinder gezüchtigt wurden, und merkte sich, wer vom Personal am gefährlichsten war und nach einem Prügelknaben Ausschau hielt. Er prägte sich ein, wann diese Leute Dienst hatten, und ging ihnen aus dem Weg, wann immer er konnte. Es war dieses Waisenhaus, das Dean Patrick James Lynchs Persönlichkeit formte. Es war auch dieses Waisenhaus, in dem er sich die Kunst der Unterwürfigkeit und des scheinbaren Gehorsams aneignete. Und es war in diesem Waisenhaus, in dem er die Kunst sorgfaltig geplanter Rache lernte.

Er blickte auf die Uhr. Es war 6.30 Uhr. Er drückte auf die Abspieltaste seines Anrufbeantworters, an dem das kleine Lämpchen blinkte. Es kam selten vor, dass irgendwelche Nachrichten aufgezeichnet waren; es war überhaupt ungewöhnlich, dass irgendjemand ihn zu Hause anrief. Aber er ahnte, worum es sich bei dieser Mitteilung handelte, und war deshalb nicht überrascht, als er Luke Conways Stimme hörte. »Äh, Dean, ich habe versucht, Sie heute Nachmittag zu sprechen, aber niemand konnte Sie finden. Ich habe von der Sache im Operationssaal gehört und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie morgen Vormittag zu mir kommen wurden, damit wir Punkt für Punkt durchgehen können, was wirklich geschehen ist Sagen wir, um 47

zehn. Danke.« Lynch schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und starrte wieder zum Fenster hinaus, als könne er so das Tageslicht herbeibeschwören. Es war der zehnte Morgen hintereinander, an dem er keinen Appetit auf Frühstück hatte, die einzige Mahlzeit, die er sich selbst zubereitete, die einzige Mahlzeit, die er für gewöhnlich genoss. Der Kaffee brannte in Mund und Hals. Er schluckte eine weitere Penicillintablette.

Um genau dieselbe Zeit starrte in einem anderen Stadtteil ebenfalls ein Augenpaar auf den Tagesanbruch. Tommy Malone saß am Frühstückstisch in seinem roten Backsteinreihenhaus am Anderson's Quay, die Morgenzeitungen aufgeschlagen vor sich. Durch das Küchenfenster hatte man einen Blick auf die träge dahinfließende Liffey, an deren Hafenanlagen eine Reihe von Guinness-Lastkähnen und Containerschiffen aufs Löschen oder Beladen wartete. Tommy saß gern am frühen Morgen hier und rauchte Zigarette um Zigarette, während er beobachtete, wie es heller wurde und der Verkehr auf dem Fluss begann. Das Küchenfenster bot einen großartigen, vielleicht den besten Ausblick auf den Hafen von Dublin, einen Ausblick, der nie langweilig war. Jeden Tag, wenn Malone das Radio einschaltete, um die 8-Uhr-Nachrichten zu hören, öffnete er das Fenster einen Spalt, um mit der Morgenluft den Geruch nach Salz und Algen einzulassen, der manchmal mit dem kräftigen Aroma von rostendem Malz aus der Guinnessbrauerei in St. James' Gate vermischt war. Doch an diesem Morgen waren Malones Gedanken anderswo, und der Verkehr auf dem Fluss interessierte ihn nicht. 48

Wieder blickte er auf die Schlagzeilen. O'Briens Baby!, hieß es in einer Zeitung, und in einer anderen: Das 2-MillionenPfund-Baby, oder Harrys Boy, oder Ein Junge für Harry! Sämtliche Morgenzeitungen brachten Gordon O'Briens Geburt als Meldung des Tages. Im Innenteil, unter einer »Exklusiv«Balkenüberschrift, bot die Daily Post ihren Lesern eine vierseitige Story mit Bildern von Harry O'Brien, seiner Familie und seinem Heim. Mit ihrem gut recherchierten und genauen Bericht über den Verlauf des Dramas am Vortag hatte die Post vor allen anderen Tageszeitungen den Vogel abgeschossen. Dieser Bericht bot sogar eine detaillierte Schilderung des Notfalls, was in jedem einzelnen dramatischen Augenblick geschehen

war

Operationsteam

und

welch

vollbracht

hatte.

großartige Sogar

Leistung die

Namen

das der

Beteiligten waren aufgeführt. Tommy las diese Story in der Post zum vierten Mal. Dann faltete er die drei anderen Tageszeitungen zusammen und schob sie zur Seite. Er zog die Küchentischlade heraus, kramte darin und brachte schließlich eine Schere zum Vorschein. Vorsichtig schnitt er sämtliche Artikel über die Geburt und über Harry O'Brien aus und studierte alles noch einmal eingehend. Dann griff er in die Hemdtasche, zog eine Schachtel Zigaretten hervor und schnippte eine heraus. Auf einem Lastkahn dröhnte ein Horn; erschreckte Möwen flogen kreischend auf, als würden sie vor Angst fluchen. Ohne auf ihren ohrenbetäubenden Lärm zu achten, lehnte Malone sich im Stuhl zurück, zündete sich eine filterlose Sweet Afton an und beobachtete, wie der Rauch träge zur Decke stieg. Er brütete einen Plan aus. 49

Thomas »Tommy« John Malone war ein alternder, nicht gerade vom Glück begünstigter Krimineller. Er war jetzt achtundfünfzig Jahre und hatte von seinen ohnehin nur eins siebzig an Körpergröße als Tribut an das immer schneller heranrückende Alter bereits zwei Zentimeter oder mehr eingebüßt. Seine Finger waren fast schokoladenbraun von Nikotin, und seine Brauen und Wimpern zeigten ebenfalls Spuren des starken Rauchens. Geldmangel, Nachlässigkeit und der jahrelange Genuss billiger Zigaretten hatten überdies zu verfärbten und leicht schiefen Zähnen geführt. Um diesen Makel möglichst zu kaschieren, hatte Tommy sich einen buschigen Schnurrbart wachsen lassen, der über die Oberlippe hing. Doch er achtete auf anständige Kleidung und hielt sich sauber und ordentlich - eine Eigenschaft, die er auf die harte Tour in den Gefängnissen gelernt hatte, wo mangelhafte Hygiene in engen, mit mehreren Personen belegten Zellen zu Problemen führen konnte. Er war im Schmutz

und Elend einer von Dublins

Mietskasernen in der Innenstadt aufgewachsen, in der Steevens Street, nur Minuten vom Whitfield Square und der Zentralentbindungsklinik entfernt. 1938 hatte Tommy Malone dort als fünftes von acht Kindern, die seine Mutter ausgetragen hatte, das Licht der Welt erblickt. Wie die meisten Bewohner der Mietskaserne kannte er von Kindheit an nur Kriminalität. Solange er sich erinnern konnte, hatte er sich mit kleinen und später größeren Diebstählen durchgeschlagen, hatte Frauen die Handtaschen entrissen, Autofenster eingeschlagen und alles geklaut, was nicht niet- und nagelfest war. Schon auf den Knien seiner Mutter wurde ihm beigebracht, 50

dass die irischen Polizisten, die Gardai, Hornochsen waren, Dorftrottel mit großen Dickschädeln in großen dicken Mützen. Und alle hatten sie große rote Ohren, damit ihre Mützen nicht über ihre großen Glupschaugen rutschen konnten. Malones Vater, seine Onkel und älteren Brüder waren allesamt Ganoven gewesen und hatten sich auf die eine oder andere unerfreuliche Weise aus dem Leben verabschiedet, entweder im Knast oder auf offener Straße, bei Drogenkriegen oder als Opfer der Blutrache. Malones Vater war ein selbstgefälliger Säufer gewesen, der von einem verpfuschten Raubüberfall zum nächsten und danach für gewöhnlich in die Arme der Gardai gestolpert war. Und bald fiel auch der junge Tommy Malone eben diesen Trotteln von Gardai auf, die man ihm so sehr zu hassen beigebracht hatte. Mit acht Jahren hatte er bereits sechsmal wegen kleiner Diebstähle vor dem Jugendgericht gestanden. Mit sechzehn war er schon so oft in Jugendstrafanstalten gewesen, dass er sich gar nicht

mehr

genau

einundzwanzigsten

erinnern

konnte,

Geburtstag

hatte

wie er

oft.

während

Seinen einer

dreijährigen Strafe wegen bewaffneten Raubes im MountjoyGefängnis

zugebracht;

an

seinem

sechsundzwanzigsten

Geburtstag war er auf weitere sechs Jahre dort gewesen. Als er in den Dreißigern war, beschaffte Malone sich von Londoner Drogenhändlern größere Mengen Rauschgift, verschnitt es mit Milchzucker und verkaufte das Zeug an Dealer, das diese in den vielen Mietskasernen der Innenstadt verhökerten. Doch die Dubliner Drogenszene begann sich drastisch zu verändern; einige der kleineren Ganoven hatten beschlossen, groß ins Geschäft einzusteigen und eigene Gebiete für sich zu beanspruchen, und nun kontrollierten sie den Drogenhandel im ge51

samten Innenstadtbereich. Die Polizeistatistik bestätigte, was praktisch jeder in der Hauptstadt wusste: Etwa achtzig Prozent aller Verbrechen im Dubliner Stadtgebiet hatten mit Drogen zu tun. Wie die Polizei verlautbaren ließ, gab es in der Stadt etwa siebentausend Heroinabhängige, die pro Tag ungefähr fünfundzwanzig Kilo Stoff benötigten. Tommy Malone erkannte rasch, dass er plötzlich aus dem Drogengeschäft raus war und keine Chance hatte, sich wieder daran zu beteiligen. Im Laufe der nächsten Jahre erwarb er sich den Ruf eines Verlierers, als kleiner Gangster ohne Gang. »Tommy», hatte ihm einer seiner alten Kumpel an seinem vierzigsten Geburtstag geraten - auch da drohte Malone gerade eine gerichtliche Vorladung -, »halt dich aus den großen Sachen raus, verstehste? Für die andern haste einfach zu viel Pech. Du kannst ja nicht mal die O'Connell Street runterspazieren, ohne dass die Bullen dich einkassieren, bloß weil du einen fahren lässt. Mit dir will keiner ein Ding drehen. Es hat sich rumgesprochen, dass du 'n Verlierer bist.« Doch Tommy Malone hatte nicht die Absicht, sich zurückzuziehen. Er kannte nichts anderes. Aber die nächste Haftstrafe, sechs Monate wegen Hehlerei, brachte ihn schlagartig zur Besinnung. »Du hast ja schon 'ne regelrechte Saisonkarte«, hatte einer der Gefängniswärter lachend gesagt, als Malone nach dem Urteil wieder in seine Obhut kam. Und da fiel es Tommy plötzlich wie Schuppen von den Augen: die völlige Vergeudung seines Lebens, von dem er fast ein Drittel hinter Gittern verbracht hatte, während er die andere Zeit auf der Flucht vor der Polizei gewesen war. Diesmal kam Malone zu einem echten Lebenslänglichen in die 52

Zelle, zu Harry O'Neill, einem kleinen Ganoven von der Grenze, der bei einem Banküberfall einen Garda erschossen hatte. Während »lebenslänglich« für die meisten Knackis bedeutete, dass sie für gewöhnlich nach acht Jahren wieder auf freien Fuß kamen, musste O'Neill tatsächlich den Rest seines Lebens absitzen. Aber das war nicht sehr lange, wie Malone eines Tages erfuhr, nachdem sein Zellengenosse vom Zuchthausarzt zurückkehrte. O'Neill starb noch im selben Monat an Krebs - drei Wochen, bevor Tommy Malone wieder auf die Gesellschaft losgelassen wurde. Die Haftstrafe, die aufkeimende Erkenntnis, dass sein Leben vergeudet war, der Gedanke, dass die Wärter ihn als »Saisonkartenhaltcr« betrachteten - und dann auch noch mit ansehen zu müssen, wie Harry O'Neill auf einer Bahre aus der Zelle getragen wurde -, das alles gab ihm den Rest. »Auf gar keinen Fall werd' ich hier im Knast versauern und mit den Füßen voran rausgetragen“, flüsterte er seinem neuen Zellengenossen am Tag vor seiner Entlassung zu. »Eher scheiß' ich dem Bürgermeister auf den Schreibtisch.«

Jetzt

drückte

er

die

Zigarette

in

einem

blechernen

Aschenbecher aus, schenkte sich einen weiteren Becher starken Tee ein und stützte das Kinn auf die Hände. Er hatte die Zeitungsausschnitte in drei Stücke geteilt. Auf einem stand O'Briens, auf dem anderen Baby und auf dem dritten 2 Millionen Pfund. Er legte diese drei Stücke nebeneinander: O'Briens - 2-Millionen-Pfund-Baby. Dann ordnete er sie wieder um. Diesmal legte er 2 Millionen Pfund rechts auf den Tisch, O'Briens und Baby in die Mitte. Als nächstes schob er 53

Baby nach links, damit die drei Stücke in einer Linie auf dem Tisch lagen. Er lehnte sich wieder im Stuhl zurück, zündete sich eine weitere Zigarette an und blickte auf die dunklen Regenwolken, die über den Fluss herantrieben. Die fahle Wintersonne war verschwunden.

10.20 Uhr Chefarztbüro »Setzen Sie sich, Dean.« Luke Conway deutete auf einen sichtlich unbequemen Holzstuhl rechts von seinem Schreibtisch. Nur wenige Schritte entfernt saß Tom Morgan, der sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlte. Wie üblich sah er aus, als wäre er direkt dem neuesten Armani-Katalog entstiegen. Der Schnitt seines marineblauen Anzugs betonte dezent seine schlanke, hoch gewachsene Figur. Darunter trug er ein Hemd in hellem Pink mit weißen Streifen und eine modisch lockere Krawatte. Sein gewelltes Haar wies an den Schläfen einen Hauch von Grau auf. Luke Conway musterte seine zwei Besucher kurz durch seine Brille. Einen größeren Unterschied als zwischen den beiden Männern auf der gegenüberliegenden Seite seines breiten Schreibtisches mit der lederüberzogenen Platte konnte es kaum geben. Einer war groß und schlank und wie ein Dressman für einen exklusiven Modekatalog gekleidet. Der andere, untersetzte Mann sah aus, als hätte man ihn in die nächstbesten, bunt zusammengewürfelten Kleidungsstücke gesteckt, die ihm teils zu groß, teils zu klein waren und die man allenfalls in einem Billigladen finden konnte. Als Chefarzt stand Conway in der Krankenhaushierarchie über den beiden. Und als Chefarzt war er auch für die Disziplin und 54

den reibungslosen Arbeitsablauf in der Klinik verantwortlich. Obwohl Tom Morgan bereits etwas länger zum Personal gehörte als Lynch, waren sie als Fachärzte für Gynäkologie und Geburtshilfe in der Rangordnung gleichgestellt. Als Conway vom Fiasko des vergangenen Tages erfahren hatte, war sein erster Gedanke gewesen, beide Ärzte zu dispensieren, doch er wusste, dass die Zeitungen sich sofort darauf gestürzt und die Sache ausgeschlachtet hätten. Die Komplikationen bei der Geburt des O'Brien-Babys waren zur heißesten Story des Tages geworden, die man sogar im Ausland aufgegriffen hatte. Wenn bekannt würde, dass die beiden Gynäkologen während der Geburt einander fast an die Gurgel gegangen wären, hätte dies einen ungeheuren Skandal zur Folge. Nicht nur, dass die Medien sich wie die Geier auf die Story gestürzt hätten - Harry O'Briens Zwei-Millionen-Pfund-Spende an die Klinik wäre zerronnen wie Butter in der Pfanne, davon war Luke Conway überzeugt. Und er wollte dieses Geld unbedingt. »Dean«, begann er, »ich habe vorhin mit Tom ein längeres Gespräch über die gestrigen Geschehnisse im Operationstrakt 2 geführt.« Er machte eine Pause und verlagerte sein Gewicht im Sessel, als müsste er erst überlegen, wie er am besten fortfahren sollte. »Zunächst einmal möchte ich Ihnen danken, dass Sie so rasch auf den Notfall reagierten und dass Sie dieses Kind so fachkundig entbunden haben. Ich bin sicher, Sie haben das Leben des Jungen gerettet.« Dean Lynch blieb völlig unbewegt sitzen und starrte auf einen Punkt dicht rechts neben Conways Brille. Seiner völlig unbewegten Miene nach hätte man annehmen können, er meditiere. 55

»Trotzdem“, fuhr Conway in schärferem Tonfall fort, »eine Operation noch vor der Beendigung einfach zu verlassen ...« Er unterbrach sich mitten im Satz, als plötzlich ein beigefarbener Ordner vor ihn auf die Tischplatte gelegt wurde. Lynch hatte ihn unter seinem Jackett hervorgezogen und schlug ihn nun auf. Ein Packen zusammengehefteter Papiere kam zum Vorschein. »Sie haben wahrscheinlich eine Kopie davon«, sagte Lynch mit leicht erhobener, aber wohl überlegt beherrschter Stimme. Tom Morgan beugte sich nach vorn. »Das ist mein Vertrag mit der Gesundheitsbehörde. Ich habe eine gute Stunde damit verbracht, ihn zu lesen und gründlich zu studieren, bevor ich heute Vormittag hierher kam.« Er blickte Conway durchdringend an. »Mein Vertrag besteht mit der Gesundheitsbehörde - und nur mit der Behörde. Zu diesem Krankenhaus habe ich keinerlei vertragliche Bindungen. Ich bin in allen Belangen allein dem Gesundheitsminister und den von ihm bestellten Beamten Rechenschaft schuldig, auch und insbesondere, was disziplinarische Fragen betrifft.« Luke Conways Lippen öffneten sich leicht, als wollte er etwas erwidern, was ihm erlauben würde, wieder die Initiative zu ergreifen. »Wenn Sie Ihre Vertragskopie lesen, werden Sie feststellen, dass ich mich einverstanden erklärt habe, den Sozialpatientinnen, die sich an die Zentralentbindungsklinik Dublin wenden, als Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Des Weiteren werden Sie lesen, dass mir im Besonderen nicht das Recht zusteht, private Behandlungen vorzunehmen, solange ich bei der Gesundheitsbehörde unter Vertrag stehe.« Er legte eine Pause ein, um seine Worte 56

einwirken zu lassen. Tom Morgan rutschte wieder im Stuhl zurück und blickte auf den Fußboden vor seinen auf Hochglanz polierten Gucci-Halbschuhen. Conway nahm seine Brille ab und lehnte sich seinerseits nach vorn, um sich kein Wort entgehen zu lassen. »Mit anderen Worten, Dr. Conway« - nun klang Lynchs Stimme deutlich aufgebracht -, »besteht mein Job darin, mich der ambulanten und stationären Patientinnen anzunehmen, die dank Vater Staat freie Krankenversorgung genießen. Und zwar nur dieser Patientinnen!« Lynch klappte den Ordner zu, stand auf, beugte sich über die Schreibtischplatte und starrte auf Conway hinunter. Er konnte seinen Ärger oder seine Verachtung nun nicht mehr verbergen. »In den letzten vier Monaten musste ich viermal bei Notfällen hier im Privatflügel einspringen.« Er griff in die Brusttasche seines Jacketts und zog ein kleines Notizbuch hervor, das er auf einer Seite aufschlug, in der ein Merkzeichen steckte. »Ich habe zwei besonders schwierige Zangengeburten und einen Kaiserschnitt für Dr. Tom Morgan durchgeführt, und ich bin für Dr. Matt Grogan eingesprungen, um eine Nachgeburt zu entfernen, in allen vier Fällen handelte es sich um Privatpatientinnen dieser Ärzte. Wo die beiden Herren sich zu dem jeweiligen Zeitpunkt aufhielten, weiß ich nicht, aber es ist mir auch egal.« Er schob das Notizbuch in die Brusttasche zurück, griff nach seinem beigefarbenen Ordner und drehte sich halb um, hielt dann aber inne. "Ich bin heute Vormittag lediglich aus Höflichkeit hierher gekommen. Die Zeit, dass man mich zum Rektor zitieren konnte, ist lange vorbei, Dr. Conway. Wenn Sie ein Problem mit meiner 57

Leistung oder meinen Fähigkeiten haben, empfehle ich Ihnen, sich direkt an den Gesundheitsminister zu wenden. Ich bin sicher, es würde ihn sehr interessieren zu erfahren, wie viel von meiner Zeit ich damit zubringen muss, mich mit den Fällen jener Fachärzte zu beschäftigen, die sich nicht einmal dazu herablassen, zur Behandlung ihrer Privatpatientinnen zu erscheinen.« Er hatte das Büro verlassen, ehe Conway auch nur den Mund zu einer Antwort öffnen konnte. Es wurde sehr still im Zimmer. Tom Morgan starrte immer noch auf den Fußboden. Schließlich sagte Luke Conway schneidend: „Dr. Morgan.« Tom Morgan schaute auf und sah, dass Conway ihn durchdringend anstarrte. „Leider kann dieses Krankenhaus sich keine weitere schlechte Publicity mehr leisten, Dr. Morgan. Anderenfalls würde ich Sie nämlich auf der Stelle hinauswerfen!« Conway steckte seine Brille in die Brusttasche. »Aber Sie sollen wissen, dass mir ähnliche Fälle wie das gestrige Fiasko bekannt sind und dass ich entschlossen bin, scharf dagegen einzuschreiten, falls Sie Ihr Verhalten nicht ändern.« Tom Morgan runzelte die Stirn und zupfte nervös an seiner Fliege. Ich weiß, dass Sie mit mindestens zwei Ihrer Patientinnen sexuelle Beziehungen unterhielten. Wahrscheinlich waren es mehr, nur habe ich nichts davon erfahren. Jedenfalls sind Ihre Eskapaden hier im Hause ein mehr oder weniger offenes Geheimnis.« Morgan wand sich auf seinem Stuhl, schwieg jedoch. „Ich warne Sie, Morgan, und ich warne Sie nur dieses eine Mal. 58

Wenn Sie auch nur den Hauch eines Skandals auf diese Klinik herabbeschwören, sorge ich dafür, dass Sie weder in dieser Stadt noch einer anderen jemals wieder praktizieren werden!« Die Betretenheit Tom Morgans, der über die Krankenhauskorridore stürmte, stand in krassem Gegensatz zu dem glückstrahlenden Lächeln Harry O'Briens, der mit einem riesigen Blumenstrauß durch den Nordflügel eilte. »Guten Morgen, Schwester, guten Morgen, Mädel, guten Morgen, junger Mann», grüßte er jeden, der einen Krankenhauskittel trug. Theo Dempsey, der O'Brien mit einer Flasche Sekt in der Hand folgte, strahlte ebenso wie sein Boss, auch wenn ihn dessen Überschwang belustigte. Big Harry hatte seit Betreten der Klinik jeden im Krankenhaus aufgesucht, von den Schwesternhelferinnen über das Küchenpersonal bis hin zum Türwächter, um ihnen allen zu danken. Er verteilte Zigarren an werdende Väter und Ärzte, ja sogar an die kleine grauhaarige Helferin, bei der er so tat, als wolle er ihr den Teewagen wegnehmen. Als die Helferin sich gut gelaunt auf dieses Spielchen einließ und den Wagen zurückerobern wollte, gab O'Brien ihr einen Klaps auf den Po und steckte ihr eine langstielige rote Rose in den Ausschnitt. Die Frau errötete und legte sich die Hand auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrükken. June Morrison verließ gerade Zimmer 3, als Big Harry sie bemerkte. »Schwester Morrison!«, rief er mit dröhnender Stimme über den Flur. »Meine liebe, wunderbare, unbezahlbare Schwester Morrison! « Er rannte auf sie zu, die zwanzig roten Rosen in der ausgestreckten Rechten. Bevor June etwas sagen oder sich ihm 59

entziehen konnte, drückte er ihr einen schmatzenden Kuss auf die Lippen. Sie errötete heftig und bemühte sich um Haltung, denn ihr entging das Kichern der jungen Schwestern in der Nähe durchaus nicht. »Mr. O'Brien!«, protestierte sie, doch Big Harry schloss sie jetzt auch noch überschwänglich in die Arme. »Schwester Morrison«, rief er lachend, »Sie sind ein Schatz, und ich liebe Sie wie verrückt, weil Sie sich so um meine Sandra gekümmert haben. Danke für alles, was Sie gestern für uns getan haben!« Ehe June auch nur Atem holen konnte, war der große Mann an ihr vorbei ins Zimmer geschlüpft. Sandra O'Brien lag, das lange blonde Haar nach einer Seite gekämmt und von mehreren aufgeschüttelten Kopfkissen gestützt, halb sitzend im Bett. Selbst ohne Make-up und von Schmerzmitteln leicht benommen war sie eine Schönheit Harry O'Brien blieb kurz an der Tür stehen und blickte sie bewundernd an, als sähe er sie zum ersten Mal. Eine Schwester, die neben dem Bett stand, legte mahnend einen Finger auf die Lippen, bedeutete Big Harry jedoch mit der anderen Hand näherzukommen. Auf Zehenspitzen trat er langsam zum Bett und hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. Sandra öffnete ganz leicht die Augen und lächelte. Einen kurzen Moment hielten sie sich an den Händen, und Sandra spürte, dass es Harry danach drängte, seinen Sohn zu sehen, und so gab sie seine Hand frei Weck ihn ja nicht auf, ich warne dich«, wisperte sie und legte die Linke vorsichtig auf den dick gepolsterten Verband über der langen Operationsnaht. »Wir konnten ihn eben erst dazu bringen, dass er weiter schläft.« Unter den Augen Sandras und der Schwester blickte der 60

reichste und mächtigste Mann Irlands mit feuchten Augen auf das Neugeborene, das tief und fest im selben Moseskorb schlief, in dem er selbst als Säugling gelegen hatte. Unendlich behutsam strich er dem Baby mit einem Finger über die linke Wange, zog ihn jedoch sofort zurück, als der Säugling das Gesichtchen verzog und nieste. Wahrend O'Brien auf das Kind blickte, lief eine Träne aus seinem Augenwinkel und tropfte auf das winzige Köpfchen. Was wiegt er denn?«, flüsterte er über die Schulter. »Hat man ihn schon gewogen?« „Dreitausendvierhundert Gramm«, erwiderte Sandra ebenfalls flüsternd. „Oh, das ist ein ganz ordentliches Gewicht!«, murmelte Big Harry stolz. »Genau richtig für einen neuen O'Brien.« Durch die einen Spaltweit offene Tür beobachtete Theo Dempsey seinen Chef vom Flur aus. Unwillkürlich erinnerte er sich an die schrecklichen Tage und Nächte, die er neben Big Harry ausgeharrt hatte, als der große Mann vor Angst und Sorge beinahe wahnsinnig geworden war.

Harry O'Brien war Vorsitzender und Mehrheitsaktionär der O'Brien Corporation, eines der wenigen multinationalen irischen Unternehmen. 1940 hatte sein Vater den Heilkräuter-Vertrieb gegründet, die Herbal Cures, wie sie damals hieß, eine der ersten Firmen, die sich der neuen, noch in den Kinderschuhen steckenden Pharmaindustrie anschloss. Dan O'Brien, Harrys Vater, entwickelte eine Reihe von Kräuterheilmitteln und konnte sie schon bald in bescheidenen Mengen auf den Markt bringen. Da eine ständige Nachfrage bestand, beschloss O'Brien senior, 61

seine Produkte auf landesweiter Ebene zu vertreiben. Und als Mann, der nicht daran dachte, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, hielt er Ausschau nach einem Partner und trat mit BPP, der British Pharmaceutical Products, in Verhandlung. Als O'Brien 1947 einen Anteil von dreißig Prozent an seiner Firma verkaufte, erhielt er nahezu eine Viertelmillion Pfund, zur damaligen Zeit ein Riesen vermögen. Diese klug durchdachte geschäftliche Transaktion, die pharmazeutische Forschung und Entwicklung sowie der Vertrieb durch BPP führten dazu, dass O'Briens Herbal Cures in den Regalen fast aller Drogerien und Apotheken Britanniens und Irlands zu finden waren. 1953 wurde Dan O'Brien einer der ersten Millionäre der Grünen Insel und machte später noch mehr von sich reden, als er sich bemühte, auch andere irische Unternehmen von seinen Geschäftserfolgen profitieren zu lassen. So wuchs Dan O'Briens einziger Sohn Harry in gesichertem Wohlstand und Geborgenheit auf. Hin und wieder fiel das Scheinwerferlicht der Medien, das dem Erfolg des Vaters galt, mit auf den Sohn. Doch dem jungen Harry wurde schon früh in seinem Leben klar, dass er selbst Überragendes leisten musste, um mit dem Ruhm seines Vaters Schritt halten zu können. Und er leistete Überragendes. Harry O'Brien war zwar kein brillanter Akademiker, dafür aber ein begnadeter Leichtathlet, der Irland bei vielen sportlichen Wettkämpfen vertrat und Goldmedaillen einheimste. Seine Abschlüsse an der Internatsschule und anschließend an der Universität, dem Trinity College in Dublin, schaffte er scheinbar mühelos, doch in Wahrheit verdankte er sie viel harter Arbeit und Nachhilfe. Aus Young Harry wurde Big Harry, als seine Figur bei eins achtzig Körpergröße nach und nach in die Breite ging. Er 62

wirkte ein wenig linkisch und verlegen, doch mit seinem lichten dunklen Wuschelhaar und dem ansteckenden Lächeln gewann er schnell die Herzen der Frauen. Dan O'Brien hatte Harry jedoch über die Tricks und Schliche des weiblichen Geschlechts aufgeklärt. »Viele Weibsbilder sind nur aufs Geld aus, Harry«, hatte er seinen Sohn immer wieder gewarnt. So hielten die wiederholten Warnungen seines Vaters Big Harry für gewöhnlich zurück, auch wenn seine Hormone ihn oft genug anspornten, intimere Beziehungen zum anderen Geschlecht einzugehen. Jedenfalls so lange, bis er Eleanor Dixon kennen lernte, eine zweiundzwanzigjährige schwarzhaarige Schönheit aus Cork. Sie studierte Französisch und Italienisch am Trinity, während Big Harry aus der Entfernung ihre Anatomie studierte. Eleanor Dixon führte Harry O'Brien fröhlich an der Nase herum und wehrte alle Annäherungsversuche ab, bis sie sich nach Monaten hartnäckigsten Drängens schließlich dazu herabließ, sich von ihrem Verehrer ins Theater ausführen zu lassen. Doch Big Harry gefiel Eleanor ebenso gut wie sie ihm, und so dauerte es nicht lange, bis sie einander ihre Liebe gestanden. Sie heirateten heimlich, um dem Medienrummel und der erdrückenden Fürsorge ihrer beiden Familien zu entgehen. Ihr erstes Kind, Mary, wurde zwei Jahre später in Denver, Colorado, geboren; denn Harry war in die Staaten gezogen, um dort Betriebswirtschaft und Marketing zu studieren. 1982, nach dem unerwarteten Tod seines Vaters, kehrte Big Harry nach Irland zurück. Er zahlte seine Mutter und seine zwei Schwestern aus und wurde geschäftsführender Direktor der Gesellschaft. Auch die dreißig Prozent Anteile der BPP erwarb er zurück, obgleich seinen Bankern der kalte Schweiß ausbrach, als er sie um den 63

notwendigen finanziellen Rückhalt ersuchte. Gleich in seinem ersten Jahr hatte er eine kleine, schlecht gehende Elektronikfirma in den Midlands erstanden, die er durch die Produktion medizinischer Geräte in ein Gewinn bringendes Unternehmen verwandelte. Bis zur Geburt seiner nächsten zwei Kinder hatte Harry in weitere Unternehmen investiert und den Firmennamen in O'Brien Corporation geändert. Es schien, als hätte Harry O'Brien das Glück gepachtet. Doch am 20. Dezember 1991 nahm es ein abruptes Ende. Auf einer Rückfahrt von Dublin zum Wohnsitz der Familie in North Wicklow stieß der Lexus, an dessen Steuer Eleanor O'Brien saß, frontal mit einem Lastwagen zusammen. Eleanor und ihre drei Kinder hatten nicht die geringste Chance. An diesem schicksalsschweren Nachmittag verlor Harry O'Brien seine Familie. Noch im gleichen Monat kämpfte er in einer exklusiven Londoner Privatklinik um sein Leben, nachdem er eine Überdosis Schlaftabletten mit Alkohol genommen hatte. Er verbrachte Monate als Rekonvaleszent; als er schließlich im Herbst 1992 wieder seiner Arbeit nachging, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Es folgten achtzehn sehr einsame Monate, in denen er sich mühte, die Hände vom Alkohol zu lassen und sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich jedoch gab es in Gestalt der bezaubernden Sandra Greene, zwanzig Jahre jünger als Harry und eines von Irlands Supermodels der Haute Couture, einen Neubeginn für ihn. Sandra, ein blondes Mädchen mit langem Haar, besaß die Schönheit und Anmut einer griechischen Göttin, dazu Verstand, Klugheit, Humor und ein mitreißendes Lachen. Man hatte die beiden auf einer Cocktailparty miteinander bekannt gemacht, und sie hatten sich Hals über Kopf verliebt. Schon 64

einen Monat später, im Februar 1994, heirateten sie.

Während Dempsey die dreiköpfige Familie beobachtete, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Er trat zurück auf den Flur, schloss die Tür leise hinter sich und setzte sich auf einen einzeln stehenden Stuhl. Eine Schwester schob ein transparentes Plastikwägelchen mit einem Neugeborenen vorbei. Ihnen folgte, ein wenig schwerfällig, die junge Mutter, deren zwar geschrumpfter, aber noch unförmiger Bauch sich unter dem Morgenrock abzeichnete. Dempsey lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Er hob eine liegen gelassene Zeitung auf, machte es sich auf dem Stuhl bequem und begann zu lesen. Der Leitartikel beschäftigte sich mit Big Harry und der Geburt seines Sohnes. Beim Lesen verstärkte sich Theo Dempseys ungutes Gefühl. Es gefiel ihm nicht, dass so viel über Big Harrys Privatleben an die große Glocke gehängt wurde. Es gefiel ihm ganz und gar nicht.

9

11.30 Uhr Luke Conway verspürte ein ähnliches Unbehagen wie Theo Dempsey. „Stellen Sie keine Anrufe zu mir durch«, wies er seine Sekretärin an. »Was das O'Brien-Baby angeht - verweisen Sie alle neugierigen Journalisten an unsere zentrale medizinische Informationsstelle.« Er legte auf und betrachtete die Namen der Chefärzte, die in 65

eine große Messingplatte graviert waren, die an der gegenüberliegenden Wand hing. Leiter dieses Krankenhauses zu sein war wahrlich eine hohe Ehre. Die Zentralentbindungsklinik besaß einen weltweit ausgezeichneten Ruf, was ihre Forschungen auf den Gebieten der Geburtshilfe und Gynäkologie betraf, und wurde oft von international führenden Frauenärzten besucht, die sich an Ort und Stelle persönlich über die Leistungen der ältesten Entbindungsklinik der Welt unterrichten wollten. In den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts hatte das Leid werdender Mütter in den Slums der Innenstadt Dublins das Herz eines menschenfreundlichen Arztes namens Dr. Matthaeus Goldsmith dermaßen gerührt, dass er ein »Niederkunfts«-Spital gründete, in dem Frauen nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen entbunden werden sollten, um dann erholt und wieder bei Kräften mit ihrem Sprössling entlassen zu werden. Das erste Kind, ein gewisser Patrick Michael Joseph O'Leary, erblickte am 27. März 1798 gesund das Licht der Welt. Von da an fanden sich ständig mildtätige Förderer, die dem Spital Spenden zukommen ließen, und immer mehr angehende Arzte wollten hier ihr Praktikum absolvieren. Der zweihundertste Gründungstag der Klinik sollte im nächsten Frühjahr gefeiert werden, und bis dahin - und noch länger - war Luke Conway für das Krankenhaus verantwortlich. Ihm war nicht entgangen, dass es beim Personal in den letzten Jahren mit der Disziplin abwärts gegangen war und fehlendes Pflichtbewusstsein, wie Conway es nannte, den hohen Standard und den Ruf des Hospitals in Gefahr brachte. So hatte er seinen Stolz herunterschlucken und sich an die strengen Richtlinien der Regierung halten müssen, was die Einstellung neuer Ärzte betraf. 66

Als die freie Stelle in der Sozialabteilung ausgeschrieben worden war, hatte sich lediglich ein einziger dafür qualifizierter Arzt beworben. Und Luke Conway hatte rasch zugegriffen, ehe der Mann es sich anders überlegen konnte. Nun aber bereute er diesen Schritt immer mehr. Conway griff nach der Daily Post und las noch einmal die ausführliche Schilderung der Ereignisse des vergangenen Tages. Zum Glück hatten sämtliche Zeitungen positiv über das Hospital berichtet, ohne den leisesten Hinweis auf die misslichen Begleitumstände bei der Geburt des O'Brien-Babys. Conway erhob sich schwerfällig, trat an das hintere Fenster seines Büros und schaute hinaus. Höchste Zeit, Ordnung im Haus zu schaffen, dachte er, während er den Verkehr unten auf der Straße beobachtete. Ja, es war an der Zeit, einige Leute an ihre Pflichten zu erinnern.

13.45 Uhr Dean Lynch zitterte am ganzen Körper. Es war jetzt Mittagspause, und er saß allein in seinem Sprechzimmer. Auch auf den Korridoren rührte sich momentan nichts. Wieder blickte er auf seine Hände und bemühte sich, ihr Zittern zu unterbinden. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und er wischte sie mit dem Ärmel seines weißen Kittels ab. Langsam, mit unsicheren Beinen erhob er sich und wankte zum Spiegel über dem Waschbecken in der Zimmerecke. Wieder öffnete er weit den Mund, leuchtete mit einer kleinen Stablampe hinein. Mit wirren Blicken starrte er auf das Spiegelbild. Er hatte sich nicht getäuscht. Es bestand kein Zweifel mehr. Es war das 67

dritte Mal in der letzten halben Stunde, dass er seinen Hals begutachtete. Noch immer konnte er nicht glauben, was er entdeckt hatte. Aber es war kein Irrtum möglich. Der schmerzende Hals, die qualvolle Überempfindlichkeit der Mundhöhle, die Tatsache, dass Penicillin keine Wirkung zeigte. Er hatte sich selbst gegen eine Halsentzündung behandele, aber er litt unter einer ganz anderen Art von Infektion, gegen die kein Antibiotikum half und die katastrophale medizinische Auswirkungen nach sich zog. Dean Lynch hatte Mund- und Rachensoor. Als er das erste Mal nachgesehen hatte, war der weißliche Belag kaum zu erkennen gewesen, doch als die Taschenlampe nun Mund und Rachen ausleuchtete, waren die Stellen mit dem weißen, käsigen Belag nicht mehr zu übersehen, der sich auf den Wangeninnenseiten und hinten im Rachen gebildet hatte. Soor. Candida albicans. Moniliasis. Die drei medizinischen Bezeichnungen für Hefepilzinfektionen stürzten regelrecht auf ihn ein, rasten donnernd wie ein Eilzug durch sein Hirn und ließen seinen Kopf hin und her zucken. Lynch setzte sich wieder und bemühte sich, seine Erregung und sein Zittern zu unterdrücken. Er wusste nur zu gut, was es bedeutete, wenn jemand wie er an Soor erkrankte. Sein Immunsystem musste aus irgendeinem Grund geschwächt sein. Jener Teil seines körpereigenen Abwehrsystems, der Infektionen bekämpfte und Erreger in Schach hielt, funktionierte nicht. Im Mundraum gesunder Erwachsener konnte sich kein Soor entwickeln. Zwar konnte es in bestimmten Situationen harmlose, unkomplizierte Gründe für die Entstehung dieser Infektion geben, aber Dean Lynch wusste nur zu gut, dass 68

es in seinem Fall nicht zutraf. Dean Lynch wusste, dass er Aids hatte. Es war kurz nach vierzehn Uhr. Gleich würde die Nachmittagssprechstunde beginnen. Durch die Tür hörte er, wie Stühle im Wartezimmer gerückt wurden, und das Weinen eines Kindes, das leise von seiner Mutter getröstet wurde. Denk nach, drängte er sich selbst. Schnell! Du warst doch immer ein schneller Denker. Denk! Denk! Was wirst du tun? Er verschloss die Tür seines Sprechzimmers und wusch sich rasch Hände und Gesicht am Waschbecken, wobei er es vermied, in den Spiegel zu schauen Dann trocknete er sich langsam mit einem Frotteehandtuch ab und achtete darauf, jegliche Spur von Schweiß von der Stirn zu entfernen. Schließlich zupfte er seine Fliege zurecht, knöpfte den weißen Kittel zu und öffnete die Tür. Scheinbar

gleichmütig

schlenderte

er

an

den

frühen

Patientinnen vorbei zur medizinischen Bibliothek und warf einen Blick durch die Tür. Der Raum war leer. Lynch trat ein und lehnte einen Stuhl an die Tür, damit jeder, der hereinwollte, ihn erst zur Seite schieben musste und ihm so ein paar Sekunden gab, sich zu sammeln. Rasch überflog er die Regalreihen mit Fachbuchern über Geburtshilfe und Gynäkologie, bis er zu jenem Bereich gelangte, in dem die Bucher über Infektionskrankheiten standen. Schnell blätterte er zwei Bände durch, bis er endlich gefunden hatte, wonach er suchte. In einem dicken Folianten entdeckte er ein umfassendes Kapitel über Aids. Lynch vergewisserte sich, dass niemand ihn überraschen konnte, riss die Seiten heraus und steckte sie zusammengefaltet in die Brusttasche. Dann schob er das Buch ein wenig tiefer in das 69

Regal zurück, damit der Titel nicht auf Anhieb zu finden war. An der Anmeldung ließ er sich eine Ausrede einfallen, um allein und ungestört bleiben zu können. »Schwester«, sagte er, »würden Sie so freundlich sein und Dr. Sharif bitten, heute Nachmittag meine Sprechstunde zu übernehmen? Ich möchte oben auf der Station nach einer meiner Patientinnen sehen. Sie können mich rufen lassen, falls ich hier gebraucht werde.« Er stieg die Hintertreppe hinauf zum Bereitschaftszimmer, wo er sich auf die Bettkante setzte und die herausgerissenen Seiten des Fachbuchs vor sich ausbreitete. Das Bereitschaftszimmer mit Schlafmöglichkeit befand sich in einem schwer zugängigen Winkel des Ostflügels und wurde tagsüber nie benutzt. Während Lynch las, zitterten seine Hände heftiger als zuvor, und leichte Übelkeit stieg in ihm auf. Je mehr er las, desto schlimmer wurde es. Auf den herausgerissenen Seiten waren sämtliche Stadien der Infektionskrankheit Aids klar und deutlich aufgeführt. Nach seiner Schätzung befand Lynch sich bereits im Stadium Ivc1, HIV-verbundene sekundäre Infektion: Pilzbesiedelung im Mundund Rachenraum. Danach gab es nur noch zwei Stadien. Während Lynch studierte, wie die Symptome sich im Einzelnen äußerten, erschien es ihm, als würde sich vor seinen Augen ein Puzzle zusammenfügen. Die nächtlichen Schweißausbrüche, die Übelkeitsanfälle, der unerklärliche wiederholte Durchfall, den er auf unhygienische Gerichte aus Restaurants mit Straßenverkauf zurückgeführt hatte. Das alles waren frühe Anzeichen gewesen. Inzwischen war Lynch überzeugt, dass das Aids-Virus sein körpereigenes Abwehrsystem bereits vollständig zerstört hatte. Verzweifelt und 70

innerlich aufgewühlt sagte er sich, dass er bald sterben müsse. Er wusste nicht, wann, er wusste nicht, wie, aber er war sicher, es wurde nicht mehr lange dauern. Er las zu Ende und stand auf. Seine Gedanken überschlugen sich, sein Herz hämmerte. Er wusste, was er tun musste, war aber nicht fähig, Conway darüber zu informieren. Den korrekten Weg einzuschlagen hieße, sein Doppelleben aufzudecken. Man würde ihn sofort suspendieren und mit größter Wahrscheinlichkeit aus dem Hospital entlassen. Anschließend käme es zu einer Untersuchung durch die Ärztekammer. Aber er würde auf gar keinen Fall zulassen, dass diese Scheißer, ausgerechnet diese Hundesöhne, die er hasste und verachtete, ihre Nase in die Leiche in seinem Keller steckten. Auf keinen Fall. Das konnte denen so passen. Auf gar keinen Fall! Er steckte die zusammengefalteten Buchseiten wieder in seine Brusttasche und machte sich mit düsterer Miene und zusammengebissenen Zähnen auf den Weg durch die Korridore des Ostflügels. Als Erstes musst du herausfinden, ob du tatsächlich Aids hast, sagte er sich. Dann kannst du immer noch entscheiden, wie du vorgehen willst. Besorg' dir die Fakten. Finde alles genau heraus. So gelassen er konnte, schlenderte Lynch an einem Zimmer vorbei, in dem drei Babys vor Hunger kreischten, während ihre Mütter in Hausschuhen herumstanden und sich von einer Schwester darin unterweisen ließen, wie sie das Fläschchen zubereiten mussten. Vielleicht siehst du zu schwarz, machte Lynch sich Mut; vielleicht ist es bloß eine ganz gewöhnliche Infektion, die du dir bei einer Patientin geholt hast. Mach dir nichts vor, du Arschloch! Er hörte den echten Dean Lynch. 71

Scheiße, Scheiße, Scheiße. Du hast Aids! Er verließ das Krankenhaus durch den Keller, damit niemand es bemerkte. 10

15 Uhr Tommy Malone hatte fast den ganzen Vormittag tief in Gedanken versunken am Küchentisch gesessen. Um ihn herum lag zusammengeknülltes Papier, Seiten aus einem Schulheft. Um vierzehn Uhr hatte er nur noch eine Seite, auf der neun Zeilen geschrieben waren - mit neun Namen. Mit einem schwarzen Filzstift strich er sechs Zeilen aus. Blieben noch drei. Die Namen dreier Personen, deren persönliche Umstände Malone so gründlich durchgegangen war, wie er sich erinnern konnte. Schließlich, kurz vor fünfzehn Uhr, erhob er sich schwerfällig, streckte sich und blickte hinaus auf den Nieselregen, der die Aussicht verschleierte. Er fühlte sich außergewöhnlich gut und summte eine Melodie, während er in seinen Regenmantel schlüpfte. Rasch vergewisserte er sich, dass er genügend Kleingeld dabeihatte; dann schlenderte er zum Telefonhäuschen neben der Esso Tankstelle. Privaten Telefonapparaten traute er nicht, weil die Polizei sie viel zu leicht abhören konnte. Eins ist mal sicher, dachte Malone, wahrend er den Regenmantel bis oben zuknöpfte. Nichts kann die Stimmung an einem nassen Wintertag so heben, wie ein wirklich großes Ding zu planen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen - entweder war das Besetztzeichen zu hören gewesen, oder es hatte sich eine misstrauische Stimme am anderen Ende der Leitung gemeldet und erklärt, eine Person dieses Namens gäbe es nicht - gelang es Malone schließlich, 72

sämtliche Mitglieder seines »A-Teams« telefonisch zu erreichen. Es war leider nicht das A-Team, das er gern gehabt hätte, doch die verheerenden Folgen von Drogenkonsum, Knast und das scharfe Durchgreifen der Gardai beim organisierten Verbrechen hatten in der Dubliner Unterwelt ihren Tribut gefordert. Die einzigen Personen, von denen Malone wusste, dass sie mit ihm arbeiten

würden,

hatten

zugehört

und

sich

schließlich

einverstanden erklärt, sich morgen Nachmittag mit ihm zu treffen. Jeder hatte ihm absolutes Stillschweigen schwören müssen, und Malone war überzeugt, dass sie den Mund auch wirklich halten würden. Deshalb hatte er diese Leute ja ausgewählt. Sie waren hart und hungrig. Wichtiger noch, er wusste mit Sicherheit, dass sie keine Drogen nahmen. Das war entscheidend für sein Vorhaben. Die Erfahrung hatte Tommy Malone gelehrt, auf keinen Fall mit jemandem zu arbeiten, der drogenabhängig war, denn diese Leute hatten nichts anderes im Kopf als ihren nächsten Schuss. Für diesen Job jedoch brauchte man einen klaren und erfahrenen Kopf. Nachdem Malone sie einen nach dem anderen auf seiner Liste abgehakt hatte, machte er einen letzten Anruf. »Betty?« »Bist du das, Tommy?« »Hör zu, ich werd' ungefähr 'ne Woche nicht da sein.« „Wo willste hin?« »Ich mach' 'ne Geschäftsreise.« Er hörte Betty am anderen Ende der Leitung spöttisch kichern. »Geschäftsreise. Dass ich nicht lache. Aber ich will's sowieso nicht wissen, Tommy. Ruf mich an, wenn du zurück bist.« 73

»Nein, Betty, ich wollte eigentlich fragen, ob du mitkommst.« »Wohin?« »Kann ich dir jetzt nicht sagen. Könntest du mich in 'ner Stunde in Mooney's Pub treffen?« »Was haste vor, Tommy?« »Kann ich dir nicht sagen, Betty. Also, dann im Mooney's, klar?« »Klar.« Betty Nolan war Tommys derzeitige Freundin und eine der wenigen Frauen, die er, abgesehen von seiner verstorbenen Mutter, an sich herangelassen hatte. An den Wochenenden schlief er mit Betty, wenn er nicht gerade irgendetwas ausheckte oder ein Ding drehte. Betty war die Witwe eines kleinen Dubliner Ganoven, der seit vielen Jahren unter der Erde lag und selbstredend keines natürlichen Todes gestorben war. Ihre Ehe hatte von Anfang an unter einem ungünstigen Stern gestanden. Am Morgen ihrer Hochzeit hatte der Bräutigam die Kasse einer Kneipe ausgeraubt, um die Hochzeitsfeier bezahlen zu können. Sie hatten ein Kind bekommen, ein Mädchen namens Sharon, kurz bevor Betty mit dreiundzwanzig Witwe wurde. Ein geplanter Raubüberfall, von der Beute wollten sie Urlaub in Spanien machen, war schief gegangen; Bettys Mann war auf der Flucht erschossen worden. Von da an musste Betty jeden Penny dreimal umdrehen, um über die Runden zu kommen. Tommy Malone murmelte vor sich hin, als er im Nieselregen zur Bushaltestelle an der D'Olier Street schlurfte. Dieser Job musste einfach voll einschlagen. Er war seine letzte Chance für das wirklich »große Ding«. Wenn alles gut geht, sagte sich 74

Malone, verlasse ich mit Betty das Land, und wir fahren in den sonnigen Süden. Es muss einfach klappen! Mit hochgeschlagenem Kragen, den Nieselregen im Gesicht, wartete Malone auf den Bus, der ihn zu Mooney's Pub nach Blackrock bringen sollte, einem südlichen Vorort Dublins.

Vor zwei Jahren hätte Malone beinahe das »große Ding« gedreht. In den Zeitungen konnte man damals viel über ein berühmtes Gemälde lesen, das in einem Ordenshaus der Jesuiten in der Leeson Street in Dublin entdeckt worden war. Tommy Malone hatte sofort die Ohren gespitzt und eines Morgens mit einem anderen kleinen Gauner darüber gesprochen. »Es ist wirklich 'ne ganz große Sache. Da hängt bei diesen Kuttenfritzen jahrelang ein Schatz an der Wand, und die Trottel merken es die ganze Zeit nicht! Und was tun sie dann? Sie stiften das Bild dem Nationalmuseum in Dublin, damit die Leute in Irland sich >daran erfreuen können.« In Tommy Malones Augen machte es diese Idioten noch dümmer. »Das Bild ist doch 'n Vermögen wert! Da ist von Millionen die Rede, von gottverdammten Millionen! Irgend so 'n Idiot im Fernsehen hat gesagt, man kann den Wert gar nicht schätzen. Da sieht man mal, wie beschissen wenig diese Typen wissen." Tommy Malone verstand nicht viel vom Malen - ob es nun dazu diente, Hauswände oder Leinwände zu zieren. Aber eins wusste er: Wenn etwas so wertvoll war, lohnte sich ein genauerer Blick darauf. Und so kam es, dass Tommy Malone sich eines mittwochvormittags im November 1994 im Saal 9 des Nationalmuseums einfand. Malone war aber nicht als kunstsinninger Betrachter gekommen, sondern um die Lage zu peilen, ob und wie man das Gemälde stehlen konnte. 75

Doch es wühlte ihn so sehr auf, dass er den Blick nicht davon nehmen konnte. Da war Christus, fromm und demütig, und wartete darauf, davongezerrt zu werden. Und da war Judas, der Jesus auf die Wange küsste, während zwei schwer gerüstete Soldaten ihn festhielten, einer mit schmutzigen Händen und noch schmutzigeren Fingernägeln. Das ganze Gemälde war düster und erweckte in Malone böse Vorahnungen. Er war zweimal von dem Gemälde weggegangen, einmal bis zum Eingang, war aber jedes Mal zurückgekehrt, um es sich wieder anzuschauen und darüber nachzudenken. Das zweite Mal hatte er sich auf die Bank gleich vor dem Gemälde gesetzt und jede der abgebildeten Personen studiert, ihren Gesichtsausdruck, jede Einzelheit der Kleidung. Das Gesicht des Judas' sah abstoßend aus; seine Stirn war zerfurcht, die Augen weit aufgerissen, die Lippen an Jesus' Wange gepresst. Dieser elende Wichser, hatte Tommy Malone gedacht. Dieser Judas war wirklich ein mieser Scheißkerl. Man hätte ihn umlegen müssen, den Hurensohn. Dann bemerkte Tommy einen Soldaten im Hintergrund. Nein, gleich drei! Drei beschissene Soldaten, um einen einzelnen Mann hops zu nehmen. Und dabei wehrte der Typ sich nicht mal. Malone konnte die Augen nicht von der Figur Christi wenden. Er starrte sie unentwegt an, betrachtete das Gesicht - eine Miene, die eine Mischung aus Erkenntnis des Verrats, Resignation und Trauer ausdrückte. Da war Malone aufgestanden und hatte gelesen, was unter dem Gemälde stand: »Die Gefangennahme Christi«, Caravaggio (1573-1610). Sie nahmen den Jungen also gefangen, diese Schweinebacken, um ihn zu kreuzigen, und er wehrte sich nicht einmal! Malone hatte auf die Hände Jesu geblickt, die unterwürfig gefaltet waren. 76

Dann hatte er in die Augen gestarrt. Sie waren geschlossen, nicht vor Zorn zusammengekniffen, auch nicht vor Schmerz oder Angst. Einfach nur geschlossen. So, als hätte er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er wusste, was ihm bevorstand, und nahm es hin, ohne sich zu wehren. Ist es da ein Wunder, dass ich nicht an Gott glaube? Tommy hatte sich zum dritten Mal umgedreht, um zu gehen, als es ihn plötzlich wie der Blitz traf. Mit einem Mal wusste er, wieso er dieses Bild nie stehlen würde, und weshalb es ihn so erschütterte. Ungebeten kehrte die Erinnerung wieder. Malone war ungefähr neun Jahre alt gewesen; damals hatten sie in einer der Slumwohnungen im ersten Stock der, Steevens-Streetkomplexes gehaust. Er hörte wieder das Hämmern an der Tür, sah, wie sein Vater sich verzweifelt zu verstecken versuchte. Ganz deutlich sah er das Bild seiner weinenden Mutter vor sich, die sich immer wieder mit einer schmutzigen Halbschürze die Augen wischte. Das Hämmern wurde heftiger, und Tommys Geschwister fingen zu weinen an; dann schrien sie vor Angst. Vor grauenvoller Angst. Das war Tommys deutlichste Erinnerung: diese entsetzliche Angst. Schließlich wurde die Tür aufgebrochen, und sechs mit Knüppeln bewaffnete Gardai stürmten herein. In der kleinen Küche kam es zum Handgemenge. Tommys Vater fluchte und brüllte, während die Gardai ihn festzunehmen versuchten und ihm auf den Kopf droschen, auf die Arme und Schultern schlugen. Sein Vater konnte sich losreißen. Er stürmte zur Tür und hinaus auf den Treppenabsatz. Dabei schrie er: »Ihr kriegt mich nicht, ihr Hurensöhne!« Er schwang sich über das niedrige Geländer und sprang sieben Meter in die Tiefe. Und in den Tod. Er starb, als sein Schädel beim Aufprall wie eine Ko77

kosnuss platzte. Und die ganze Zeit, während die Kinder heulten und schrien und die Nachbarn die Gardai verfluchten, hatte seine Mutter nur dagesessen und geweint und sich die Augen mit der schmutzigen Schürze gewischt. Sie war völlig in ihr Schicksal ergeben, als hätte sie gewusst, dass es eines Tages zu diesem Tod kommen würde. Genau wie Christus. Tommy Malone hatte das Gemälde angestarrt, bis ihn die Augen schmerzten. Immer wieder war sein Bück zu dem verratenen Christus mit den geschlossenen Augen, der gefurchten Stirn, den leicht geöffneten Lippen gewandert. »Warum bist du nicht getürmt?«, hatte er gemurmelt. »Einfach die Augen auf, und ab durch die Mitte. Wie mein Alter.« Er hatte zu Judas' Gesicht hinauf geblickt, dann zum Antlitz Jesu, und schließlich zu den Gesichtern der Soldaten. »Nur, dass du's weißt«, hatte er geflüstert. »Mich werden die Penner nicht kreuzigen. Das kannste mir glauben. Mich nicht! Nie wieder lass ich mich von den verfluchten Schweinepriestern erwischen. Mich kreuzigen die nicht!« Plötzlich hatte er bemerkt, dass jemand ganz in seiner Nähe stand und staunend den Caravaggio betrachtete. Eine sympathische amerikanische Touristin bewunderte das Gemälde, eine ältere Dame mit blau getöntem Haar. »Ist es nicht ein wunderschönes Bild?«, hatte sie mit seltsam gedehnter Stimme zu Tommy gesagt. »Verpiss dich«, hatte Tommy, der neue Kunstkritiker, entgegnet. Betty Nolan kam hereingeplatzt und schüttelte die Tropfen von ihrem Schirm. Mit ihrem gebleichten, hochgesteckten Haar war 78

sie ein Stück größer als Malone. Die Frisur sah aus, als hätte sie sich einen Bienenkorb auf den Kopf gestülpt. In jüngeren Jahren war Betty recht niedlich gewesen, doch seit einiger Zeit ging sie immer mehr in die Breite; jedenfalls drohte das Kleid, das sie unter dem schweren Wintermantel trug, aus den Nähten zu platzen. Sie setzte sich und nahm einen raschen Schluck von Malones Whiskey. »Himmel, ich hätte mir da draußen fast den Arsch abgefroren.« Malone lächelte und bestellte einen Whiskey und Soda bei dem jungen Kellner, der ihnen ins Nebenzimmer gefolgt war. Sobald Malone sicher zu sein glaubte, dass niemand mithören konnte, wandte er sich Betty zu und bedeutete durch Gesten, dass sie leise reden mussten. „Putzt du immer noch hin und wieder in Harry O'Briens Zentrale?« Betty kniff voller Argwohn die Lider zusammen. »Warum willste das wissen?« Malone ignorierte die Frage. »Hängt's dir nicht zum Hals raus, immer putzen zu müssen?« Der junge Kellner brachte den Drink, und Malone ließ Münzen im Wert von fünf Pfund in die ausgestreckte Hand des Mannes fallen. Er wehrte ab, als er ein paar Pence herausbekommen sollte. Sobald sie wieder allein waren, fuhr Malone fort: „Wie würde dir eine Million gefallen? Und ich red' jetzt nicht von 'nem Lottogewinn.« Betty nahm einen Schluck vom Whiskey; dann gab sie einen Schuss Soda hinzu. »Was haste vor, Tommy?« „Sag' ich dir gleich. Also, was ist? Putzt du immer noch in Harry O'Briens Zentrale? Red schon!« 79

„Ja, zweimal die Woche, Donnerstag und Freitag, vor Dienstbeginn. Warum? Was willste über Harry O'Brien wissen?« Sie nippte an ihrem Drink, ohne die Augen von Malone zu lassen. "Würdest du dir gern eine Million verdienen, aus diesem Scheißland rauskommen und zur Abwechslung im sonnigen Süden leben?« Malone kippte den Rest seines Guinness hinunter und wischte sich den Schaum vom Schnurrbart. »Kein Putzen mehr. Richtig reich sein.« Betty schwieg. Sie ließ den Blick immer noch nicht von Malone. Mit einem Schluck leerte sie den Whiskey-Soda und schüttelte sich leicht, als sie ihn im Magen spürte. »Was haste vor, Tommy?« Malone stand auf und öffnete die Tür zum Nebenzimmer, um sich zu vergewissern, dass niemand davor stand und lauschte. Er winkte dem jungen Kellner ab, der zu ihm herüberkommen wollte. »Einen Moment noch, ich ruf Sie gleich.« Beruhigt schloss er die Tür wieder, setzte sich auf seinen Platz zurück und nahm Bettys Rechte in die seine. Betty blickte zu Boden; dann schaute sie ihn an. »Was hast du vor, Tommy?«, flüsterte sie besorgt.

11

20.32 Uhr Dean Lynch fuhr von seiner Wohnung in Ballsbridge zum Parkhaus am Ilac-Zentrum. Von dort waren es nur fünf Gehminuten zur Klinik. Es war ein bitterkalter Abend, und kaum jemand war auf der Straße. Die wenigen Leute, die unterwegs 80

waren, drückten sich in Hauseingänge, um sich vor dem Wind zu schützen, während sie auf den Bus oder ein Taxi warteten. Die Dubliner Zentralentbindungsklinik befand sich am Whitfield Square, einem einst prächtigen Platz, knapp einen halben Kilometer von der O'Connell Street, der breitesten Einkaufsund Geschäftsstraße der Stadt, entfernt. Im Laufe der Zeit war der Platz baulich immer mehr verunstaltet worden. Neue, unpersönliche Bürohochhäuser hatten die alten, vorwiegend georgianischen Gebäude verdrängt. In der Mitte der Platzes befand sich eine eingezäunte, schäbige, von der Stadtverwaltung nachlässig in Stand gehaltene Grünanlage. Von vorn war die Klinik ein beeindruckendes dreistöckiges Gebäude aus grauem Stein. Zu beiden Seiten der massiven hölzernen Eingangstür standen Granitsäulen, und die oberen Etagen

besaßen

je

sechs

große

Fenster.

Der

Krankenhauskomplex war in vier Flügel aufgeteilt: Nord-, Süd-, Ost- und Westflügel. Das hatte wenig mit Geografie, dafür umso mehr mit Zweckmäßigkeit zu tun. Die Flügel waren über die Jahre hinweg angebaut worden und erstreckten sich in alle möglichen Himmelsrichtungen, nur nicht in die, welche man ihrem Namen nach hätte annehmen sollen. Die Klinik war von hohen Mauern umgeben, und in der Regel waren nur zwei Türen nicht verschlossen: der Haupteingang und eine schmale Kellertür an der Rückseite des Gebäudes. Dean Lynch mied den Haupteingang und stahl sich durch ein Nebentor auf den Parkplatz. Von dort hielt er sich dicht an der Hauswand, bis er die Kellertür erreichte, die hauptsächlich von den Putzkolonnen benutzt wurde, um den Müll aus der Klinik zu schaffen. Wie üblich stand die Tür offen; Lynch hatte keine 81

Schwierigkeiten, in den Keller zu gelangen. Er lauschte aufmerksam, ehe er weiter ins Gebäude vordrang, jeder Schritt war ihm vertraut; er hatte diesen Weg schon viele Male benutzt. Er wusste, wie man unbemerkt in die Klinik und wieder hinauskam, und er nahm diesen Weg jedes Mal, wenn er sich aus den Lagerräumen neue Nadeln und Spritzen beschaffte. Vorsichtig drückte er sich an den Rohren und summenden Turbinen des Hauptgenerators vorbei und kam an eine Treppe, die nach oben führte. So gelangte er in die Poliklinik-Etage des Ostflügels, wo sein Sprechzimmer lag. Im Warteraum war es dunkel; die Stühle standen in wirrer Unordnung, und ein paar abgegriffene Zeitschriften lagen auf dem Boden. Lynch schlüpfte aus den Schuhen und stellte sie in sein Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich, ehe er auf Zehenspitzen zum Labor schlich. In keinem der Untersuchungszimmer brannte Licht, in der Bibliothek nur ein Nachtlicht, das einen schwachen Schein in die Dunkelheit vor der Tür warf. Lynch knipste das Nachtlicht aus, schloss die Tür und schlich weiter zum Labor. Nur das weiche Tappen seiner Füße war zu hören. Im Laboratorium arbeitete Laborassistentin Mary Dwyer an den letzten Analysen der Blutuntersuchungen von einer der Gynäkologiestationen. Zum dritten Mal in drei Minuten blickte sie auf die Uhr und schätzte, wann ungefähr sie heute nach Hause kommen würde. Ihren Eltern gefiel es gar nicht, dass Mary so viele Überstunden machen musste. Sie überlegte, ob sie rasch zu Hause anrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Ihre Eltern würden sich daran gewöhnen müssen, dass sie jetzt alt genug war, auf sich selbst aufzupassen. Ein Einzelkind zu sein hat auch seine Nachteile, dachte Mary, wahrend sie die Überprüfung des 82

Blutbilds für Station 4 vornahm. Durch die halb offene Tür machte Dean Lynch sich ein rasches Bild von der Lage. Wie erwartet, hielt sich zu dieser Zeit lediglich eine Assistentin für Notfälle im Labor auf. Von dort aus, wo er stand, konnte Lynch nur einen weißen Kittel und einen rotbraunen Schopf sehen. Die Assistentin beugte sich soeben über den Labortisch, an dem sie saß. Lynch trat näher an die Tür und spähte hindurch, um sich zu vergewissern, dass die Frau allein im Labor war. Mary Dwyer erhob sich kurz, um sich Formulare zu holen. Lynch betrachtete die junge Frau. Sie war schlank, aber nicht dünn. Er blickte auf die Uhr: 21.16. Er schlich zu seinem Sprechzimmer zurück, griff nach dem Telefon und wählte. »Verdammt!«, schimpfte Mary Dwyer, als sie den Hörer auflegte. Ein verflixter Aids-Test um diese Zeit! Sie würde mindestens eine Stunde dafür brauchen. Mary war immer noch sichtlich verärgert, als Dean Lynch ins Labor trat und das mit Blut gefüllte Glasröhrchen auf den Tisch vor ihr legte. »Ist dieser Test wirklich noch heute Abend erforderlich, Dr. Lynch? Es dauert mindestens eine Stunde, bis ich das Ergebnis habe. Hat das nicht bis morgen Zeit?« Dean Lynch musste sich sehr zusammenreißen, um der Assistentin nicht ins Gesicht zu schlagen. Dieses Miststück. »Ich brauche die Ergebnisse noch heute Nacht. Es kann nicht bis morgen warten, verstanden? Ich muss noch heute wissen, wie ich die Patientin weiter behandeln kann.» Lynch hatte sich die Blutprobe selbst genommen und den Namen »Joan O'Sullivan« auf

das

Etikett

geschrieben. 83

Außerdem

hatte

er

ein

Klinikformular mit dem Antrag auf einen HIV-Test der Patientin O'Sullivan ausgestellt, mit einer Anschrift in Crumlin. Dabei hatte er darauf geachtet, das Formular in Blockschrift auszufüllen und es nicht zu unterschreiben. Nun starrte er die junge Laborassistentin durchdringend an, und sie wandte den Blick ab. »Rufen Sie mich in einer Stunde an«, murmelte sie und machte sich daran, den Test vorzubereiten. „Sie können sich darauf verlassen.« Abrupt wandte Lynch sich um und verließ das Labor. Mary Dwyer runzelte die Stirn, als sie die Tür zuschlagen hörte. Dean Lynch setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch und wartete. Den ganzen Tag hatte er darüber gegrübelt, wie er sich mit dem Aids-Virus infiziert haben konnte. Bestimmt nicht bei seinen Heroin-Injektionen, denn er benutzte für jeden Schuss eine frische Spritze. Eigentlich konnte er sich nur bei einer der vielen Prostituierten angesteckt haben, mit denen er seit Jahren Umgang hatte. Zwar war er immer vorsichtig gewesen, wenn es um sicheren Sex ging — soweit er sich erinnern konnte. Doch ihm war auch klar, dass er sich aus der Realität verabschiedete, wenn er unter Drogen stand. Er war manchmal so high gewesen, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass er sich gemeinsam mit einem der vielen Callgirls in London, Paris, Amsterdam und sogar Bangkok einen Schuss gesetzt hatte. Solchermaßen von panischer Angst wie von beinahe ekstatischer Erwartung erfüllt, erhob er sich, blickte auf die Uhr und traf seine Vorbereitungen. Er hatte bereits beschlossen, was er im Falle eines positiven Testergebnisses tun würde. Niemand durfte erfahren, dass er 84

Aids hatte. Das musste er auf jeden Fall verhindern. Ganz gleich mit welchen Mitteln. Der letzte Untersuchungsraum auf dem dunklen Flur war für kleinere operative Eingriffe reserviert. Er befand sich knapp sechs Meter vom Labor entfernt. In diesem Raum zog Dean Lynch sich Gummihandschuhe über die ausgestreckten Finger und verschränkte die Hände, bis die hauchdünnen Handschuhe wie eine zweite Haut saßen. Dann öffnete er eine Instrumentenschale, aus der er sich einen sterilen Skalpellgriff aussuchte. Auf einem Regal lagen Schachteln mit Skalpellklingen sämtlicher Größen. Lynch betrachtete sie und wählte schließlich eine Klinge der Größe 23 - die breiteste, die vorrätig war. Er riss die Schutzfolie auf, schob die Klinge in den Skalpellgriff und steckte das Ganze in eine Tasche seines weißen Kittels. Die Folie knüllte er zu einem festen Bällchen zusammen und steckte es in eine Hosentasche. Einen Augenblick lehnte er sich an die Wand und sammelte Kräfte, geistig und körperlich. Wieder trat ihm Schweiß auf die Stirn. Er wischte ihn mit dem Ärmel ab. Mary Dwyer, in ihre Arbeit vertieft, saß mit dem Rücken zur Labortür. Nach einem raschen Blick in den unbeleuchteten Flur öffnete Lynch leise die Tür, trat ein und schloss die Tür ebenso lautlos hinter sich. Mary hörte das Klicken, als der Riegel einrastete, und fuhr erschreckt herum. »Sind Sie mit dem Test fertig?« Lynchs Stimme zitterte leicht, und sein Mund war trocken. Sein Herz hämmerte so heftig, dass er das Gefühl hatte, sein ganzer Körper würde beben. Mary Dwyer wandte sich wieder ihren Papieren zu, ohne Lynchs Frage zu beantworten. 85

»Es gibt keine Joan O'Sullivan unter der Adresse, die Sie auf dieses Formular geschrieben haben, Dr. Lynch. Genauer gesagt, der Computer hat keine Joan O'Sullivan unter dieser Anschrift gespeichert, weder als ambulante noch als stationäre Patientin unserer Klinik." Sie wirbelte auf dem Sitz des Drehstuhls herum und blickte Lynch an. »Ich bin die Computerunterlagen der letzten fünf Jahre durchgegangen, habe aber keine Joan O'Sullivan in der Crumlin Crescent 249 gefunden. Könnte es sein, dass die Frau Sie beschwindelt hat, was Name und Adresse betrifft?« Mit aller Kraft unterdrückte Dean Lynch seinen brodelnden Zorn. Dieses kleine Miststück hatte doch tatsächlich seinen Antrag überprüft. Sie hat mich schon in Verdacht! »Es... es wäre natürlich möglich, nehme ich an... Ich meine ... man kann ja nie sicher sein ... Manchmal ist es schwierig festzustellen, ob Patientinnen den richtigen Namen angeben oder nicht.« Er stammelte, und er war ein schlechter Lügner, das war ihm klar. Aber schlimmer noch: Er wusste, dass die Assistentin über alles im Bilde war. Mary Dwyer starrte ihn mit leicht spöttischem Lächeln an. „Wahrscheinlich eine Prostituierte oder Drogensüchtige.« Sie wandte sich um und tippte irgendetwas auf der ComputerTastatur. Das Gerät summte; dann begann der Drucker zu rattern. Dean Lynch beobachtete, wie das Testergebnis ausgedruckt wurde. 86

Zuerst erschienen Name und Adresse: Joan O'Sullivan, Crumlin Crescent, Crumlin, Dublin. Dann das Geburtsdatum: 27.2.76. Als Nächstes der Antrag auf Untersuchung unter dem Kästchen Syphilis und HIV1/HIV2 Serologie-. HIV-Test. Zweimal mit Serodia-HIV untersucht. Der Drucker verstummte für einen Moment, ratterte dann wieder los. Zwei Worte erschienen: Endgültiges Testergebnis. Und dann das alles entscheidende Wort, Positiv. Mit einer Hand riss Mary Dwyer die Seite vom Endlospapier. –„Tja, wer immer die Frau ist, sie wird durch die Hölle gehen.« In diesem Augenblick schrillte das Telefon hinter der Assistentin. Das plötzliche Geräusch erschreckte beide, und für einen Moment starrten sie den Apparat wie hypnotisiert an. In dem Augenblick, als Mary nach dem Hörer griff, traf sie der brutale Schlag einer Faust, die in einem Gummihandschuh steckte. Am anderen Ende der Leitung wartete Schwester Sarah Higgins, dass unten im Labor jemand ans Telefon ging. Endlich wurde der Hörer abgenommen. »Hallo? Hallo ... ist jemand da?« Stille am anderen Ende der Leitung. Den Lärm, der Augenblicke darauf losbrach, beschrieb Sarah Higgins später: »Es hörte sich wie ein Raubtier an.« Das beinahe tierhafte Keuchen, in dem Hass und Wut mitschwangen, ließ Sarah das Blut in den Adern gefrieren, und sie drückte instinktiv die Hand auf ihren Hals. Sie hörte, wie der Hörer irgendwo heftig aufschlug; dann vernahm sie das Klirren von Glas, als wäre irgendetwas umgeworfen worden, dann ein Krachen und Bersten und schließlich das Geräusch einer zuknallenden Tür. Sarah legte 87

den Hörer auf, nahm ihn sofort wieder ab und wählte die Klinikzentrale an. »Hallo? Hier Station vier, Nordflügel. Schwester Sarah Higgins. Ich habe gerade über Telefon etwas sehr Merkwürdiges aus dem Labor gehört. Bitte sagen Sie den Wachleuten, sie sollen dort mal nachschauen. Schnell!« Keine zwanzig Minuten später ließ Dean Lynch seinen Wagen an. Im gleichen Augenblick brachen zwei Wachleute die Labortür auf. Und als Lynch seinen BMW behutsam die Rampen hinunter zum Ausgang fuhr, blickte der Wachmann Pat O'Hara entsetzt auf Mary Dwyers leblose Augen. »Großer Gott!«, keuchte er, während er zurückstolperte. »Großer Gott! Jim, ruf die Polizei! Schnell! Ruf die Bullen!« Für die Zentralentbindungsklinik Dublin hatte der Albtraum begonnen.

Dritter Tag 12

Mittwoch, 12. Februar 1997,1.15 Uhr Bibliothek, Ostflügel Detective Inspector Jack McGrath konnte Krankenhäuser nicht ausstehen. Vielleicht lag es an den Gerüchen, vielleicht an den Geräten, vielleicht aber an den Ärzten. Was immer der Grund sein mochte, McGrath konnte Krankenhäuser nun einmal nicht ausstehen. Deshalb fühlte er sich auch so unbehaglich, als er nun in der Kli88

nikbibliothek beobachtete, wie Schwester Sarah Higgins von der Nachtschwester beruhigt wurde. Rechts von McGrath besprach sich Detective Sergeant Tony Dowling, sein Kollege im Kriminalkommissariat der Garda-Zentrale Store Street, mit Detective Sergeant Kate Hamilton, einer dieser neuen weiblichen Polizisten, die in der Garda Siochana in Ermittlungsmethoden für Gewaltverbrechen ausgebildet wurden. Dowling hörte auf, in ein Notizbuch zu kritzeln, hob den Blick und nickte. „Okay, Sarah«, sagte McGrath, »ich werde das jetzt noch einmal durchgehen. Sie verbessern mich, falls ich nicht alles genauso notiert habe, wie Sie es in Erinnerung haben. Okay? Wenn Sie meinen, Sie hätten irgendwas vergessen, egal was, unterbrechen Sie mich und sagen es mir. In Ordnung?« Sarah Higgins schniefte und nickte. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet; sie zerknüllte ein Taschentuch und wechselte es von einer Hand in die andere. Noch immer stand sie unter dem Schock ihrer Entdeckung. Mit zitternden Fingern tupfte sie sich die Lider ab. „Gegen 22.55 Uhr haben Sie Mary Dwyer im Labor angerufen, um sie zu fragen, ob sie mit dem Blutbild fertig sei, das sie erstellen sollte.« McGrath legte eine kurze Pause ein und blickte Dowling fragend an, ob das so richtig sei. »Als der Hörer schließlich abgenommen wurde, meldete sich ungefähr zwanzig Sekunden niemand. Dann hörten Sie ein Brüllen und Keuchen. Daraufhin haben Sie sofort aufgelegt und den Wachdienst angerufen.« McGrath hielt inne. Den Kopf an den üppigen Busen der Nachtschwester gedrückt, schluchzte Schwester Higgins aufs 89

Neue. Tony Dowling und Kate Hamilton wechselten resignierte Blicke. Jemand klopfte an die Tür. McGrath stand auf und öffnete. Dr. Noel Dunne, der staatliche Gerichtspathologe, stand auf dem Flur. »Detective Inspector McGrath, ich bin jetzt im Labor fertig und möchte die Leiche zur Gerichtsmedizin bringen lassen. Wollen Sie sich noch irgendetwas ansehen, bevor der Raum versiegelt wird?« McGrath strich sich über den Schnurrbart und überlegte. »Einen Augenblick.« Er trat noch einmal in die Bibliothek und flüsterte Dowling irgendetwas ins Ohr; dann winkte er Kate Hamilton und kehrte zu Dunne zurück. Noel Dunne war achtundvierzig, sah aber doppelt so alt aus. Er besaß das verhärmte Gesicht eines Mannes, der jeden Tag Leichen aufschneidet, um festzustellen, was genau den Tod verursacht hat. Dünne war groß, mit dickem Bauch, stahlgrauem Haar und Vollbart, und er war für seinen Galgenhumor bekannt. An diesem frühen Morgen war ihm allerdings nicht nach Scherzen zu Mute. Von Dunnes normalerweise überschäumendem Temperament war nichts zu merken. McGrath spürte die Besorgnis des Mannes. »Niederträchtig, Detective Inspector. Ein zutiefst niederträchtiges Verbrechen!« McGrath strich nachdenklich über seinen Schnurrbart, der so grau und dicht war wie sein Haar, »Irgendwelche Anzeichen einer Vergewaltigung?» »Nichts Offensichtliches. Zerfetzte Kleidung, die Beine leicht gespreizt, aber sonst nichts. Ich werde Abstriche von Mund, Va90

gina und Rektum machen.« Er unterbrach sich und warf einen fragenden Blick in Kate Hamiltons Richtung. „Oh, tut mir Leid«, entschuldigte sich McGrath, »ich hätte Sie bekannt machen müssen. Das ist Detective Sergeant Kate Hamilton.« Dunne warf einen raschen Blick auf die hoch gewachsene, schlanke junge Frau, schnaubte und blickte resigniert zur Decke, sodass Kate Hamilton sein Missfallen spüren musste. Dunne war Kavalier der alten Schule, an männliche Mitarbeiter gewöhnt, und fühlte sich unbehaglich, wenn Frauen anwesend waren, während er arbeitete. Er war so erzogen, dass er alle Frauen als Damen behandelte. Stets erhob er sich, wenn eine Frau ein Zimmer betrat, in dem er sich aufhielt; er bot seinen Platz an, wenn es keinen freien gab, und war stets darauf bedacht, die Gefühle einer Frau vor den Unerfreulichkeiten des Lebens zu schützen. Es bestürzte ihn, dass eine junge Dame bei einer MordUntersuchung dabei war, erst recht zu dieser frühen Stunde. Dunne beschloss, Kate Hamilton einfach zu ignorieren. Nachdem er sein Diktiergerät in seine Jackentasche gesteckt hatte, erkundigte er sich: »Hat irgendwer etwas gesehen?« "Fehlanzeige«, erwiderte McGrath, dessen Gedanken sich überschlugen. »Niemand hat diesen Mistkerl kommen sehen, und niemand sah ihn gehen.« Dunne

runzelte

die

Stirn.

»Können

wir

die

Leiche

fortbringen?« McGrath nickte. »Ich werde mich ein letztes Mal drinnen umsehen, bevor die Spurensicherung das Zimmer auf den Kopf stellt.« 91

Dunne verzog das Gesicht. Jack McGrath war ein guter Polizist, ein fähiger und erfahrener Detective, doch manchmal konnte er einem ganz schön auf den Geist gehen. Wenn die Spurensicherung fertig war, ging McGrath für gewöhnlich noch einmal alles durch - und wehe, wenn er feststellte, dass schlampige Arbeit geleistet worden war. Deshalb war er bei der Spurensicherung nicht sehr beliebt, besaß ansonsten aber einen guten Ruf. Er war berüchtigt für seinen Sarkasmus, doch niemand sprach ihm seinen gesunden Menschenverstand ab. Er vertraute seinem sechsten Sinn und hatte so etwas wie eine Datenbank über die Dubliner Unterwelt in seinem Hirn, an die kein Computer der Gardai heranreichte. Brauchte jemand beispielsweise auf die schnelle eine Kurzbiografie über den mutmaßlichen

Hintermann

eines

Banküberfalls

oder

Informationen über einen Bandenkrieg, wandte der Betreffende sich als Erstes an Jack McGrath. Sein Insiderwissen ließ ihn selten im Stich, und so mancher Ganove aus Dublin verdankte McGraths Instinkt einen unfreiwilligen Urlaub auf Staatskosten. McGrath war Stammkunde eines Fitnesscenters ganz in der Nähe seiner Wohnung; dort hielt er seinen eins dreiundachtzig großen Körper in Topform. Er war sowohl geistig wie körperlich voll auf der Höhe. Die spaltweit offene Labortür wurde von einem uniformierten Garda bewacht. Ein gelbes Band spannte sich vom linken zum rechten Türrahmen, um sämtliche Nicht-Polizisten daran zu hindern, den Tatort zu betreten. Dunne ignorierte den Garda völlig und schob die Tür mit einem Bleistiftende auf, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Er bedeutete McGrath, ins Zimmer zu kommen. In dem Moment, als er die Tür hinter ihnen 92

schließen wollte, schob Kate Hamilton sie heftig auf und drückte sich mit zornigem Gesicht am grinsenden Dunne vorbei. Die Neonröhren im Labor tauchten den Raum in helles, kaltes Licht. Dunne wollte sich auf einen Hocker setzen, hielt dann jedoch inne und bot Kate Hamilton wortlos den Platz an. Sie beachtete seine Geste scheinbar nicht, lehnte sich an einen Untersuchungstisch und behielt McGrath im Auge. Dunne zuckte die Schultern und setzte sich. Drei Mann von der Spurensicherung, die zur gerichtsmedizinischen Abteilung gehörten, waren noch bei der Arbeit. Einer kniete nieder, um mit seiner Kamera einen besseren Schusswinkel zu bekommen. Blende. Belichtung. Entfernung. Blitz! Ein letztes Foto von Mary Dwyer, aber nicht fürs Familienalbum. McGrath inspizierte bedächtig den Tatort; seine Augen nahmen alles auf. Um die Leiche, die noch dort lag, wo sie gefunden

worden

war,

machte

er

einen

Bogen.

Die

Reagenzgläser eines umgekippten Regalbretts lagen zerbrochen auf dem Boden. Das Blut, das aus den Gläsern geströmt war, hatte inzwischen verkrustete Lachen gebildet. Der Geruch nach Blut und Chemikalien reizte McGraths Nase und Hals. Er schob sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und zerbiss es. Ein kleiner PC und ein Drucker lag zertrümmert in einer Ecke; Stücke ihrer grauen Kunststoffgehäuse waren im ganzen Labor verstreut. Das Papier war aus dem Drucker gezogen. Zwei andere Geräte lagen dort, wo sie zu Boden gefallen waren. Auf den Arbeitstischen standen die üblichen Utensilien, die in jedem Krankenhauslabor zu finden waren: Bunsenbrenner, Kühler, 93

Messkolben, Reihen von Reagenzglas-Gestellen, Mikroskope, Petrischalen. Doch nirgends waren chirurgische Instrumente zu sehen. Dunne blickte auf die Uhr. McGrath und er hatten schon bei so vielen Morduntersuchungen zusammengearbeitet, dass jeder die Vorgehensweise des anderen so gut kannte wie die eigene. Dunne schätzte, dass McGrath bestimmt noch eine volle Stunde im Labor bleiben würde, um sich auf intuitiver Ebene ein Bild vom Mord zu machen. Er wusste, dass McGrath des Öfteren an einen Tatort zurückkehrte, nachdem die Spurensicherung abgezogen war, um dann zu versuchen, sich in die letzten schrecklichen Augenblicke des Opfers hin einzufühlen. »Ich sehe hier keine einzige Klinge«, stellte McGrath fest. »Wie haben Sie dieses Ding da genannt, das aus dem Hals der Frau ragt?« Er stand jetzt über die Leiche gebeugt, kaute auf dem zerbissenen

Bonbon

und

nahm

beinahe

gierig

den

Minzgeschmack in sich auf. "Ein Skalpell.« „Ach, ja. Skalpell. Ich sehe hier keine anderen. Sie?« »Nein, obwohl ich ganz genau nachgesehen habe.« Der Detective ging in die Hocke, um das Opfer genauer zu betrachten. Nur sein angestrengter Atem war lauter als das gleichmäßige Summen der Laborgeräte. Das Skalpell steckte so tief in Mary Dwyers Hals, dass nur etwa zweieinhalb Zentimeter vom Klingengriff herausragten. Ihr Gesicht war blau und noch leicht geschwollen. Winzige Rötungen, Petechien, hoben sich unter der Haut ab. Ihre Augen waren glasig und leblos. Bindehautblutungen hatten das Weiße rot gefärbt, und von ihrer Kopfwunde war Blut auf den Boden geströmt und hatte dort eine Pfütze ge94

bildet. Ihr Hals wies starke Hämatome und Kratzspuren auf. Ihr linkes Bein war zur Seite abgewinkelt, das Knie wies in die Höhe, und ihr Rock war hochgerutscht. Sie trug eine Strumpfhose, die vom Knie bis zur Leistengegend zerrissen war. Ein Fingernagel war abgebrochen. Als McGrath sich erhob, fiel ihm ein gelbes Kreidezeichen am Tischrand auf. Ein Mitarbeiter der Spurensuche hatte irgendetwas entdeckt und die Stelle markiert: Ein bisschen Blut und ein kleines Büschel Haare klebten am Holz. »Sie können die Leiche wegbringen lassen. Ich rufe Sie später in der Pathologie an.« McGrath bückte auf die Wanduhr. »Wann sind Sie fertig?« «Gegen zehn, halb elf. Ich werde versuchen, so früh wie möglich anzufangen.« »Gut, dann bis später.« Dunne gähnte und nickte zugleich. »Kate.« McGrath wandte sich Hamilton zu, die in ein kleines schwarzes Notizbuch kritzelte. »Ich möchte, dass Sie allein hier bleiben und sich den Tatort ebenfalls genau anschauen. Die Jungs von der Spurensicherung werden Ihnen sagen, wo es sich nochmal nachzusehen lohnt, was Sie anfassen dürfen und was nicht, und so weiter. Wir werden dann später gemeinsam durchgehen, was Ihnen aufgefallen ist. Kommen Sie zur Bibliothek, wenn Sie fertig sind. Ich bin mit Tony dort.« Nachdem McGrath und Dunne gegangen waren, blieb Kate Hamilton noch etwa zehn Minuten an den Labortisch gelehnt stehen. Sie ließ den Blick nicht von Mary Dwyers Leiche. Es war seltsam still geworden im Labor, denn die Männer der Spurensicherung waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie kaum ein Wort sagten. Schließlich nahm Kate ihre eigene Untersuchung des Tatorts auf. Kate Hamilton 95

war eine von nur drei weiblichen Detectives, die in der Garda Siochana für die Aufklärung von Gewaltverbrechen ausgebildet wurden. Seit nunmehr fast sechs Monaten hatte Jack McGrath sie unter seine Fittiche genommen. Anfangs hatte er Kate nur widerwillig akzeptiert, inzwischen aber bewunderte er sie, nachdem er ihre natürliche Begabung bei der Untersuchung kniffliger Fälle erkannt hatte. »Sie ist schwer auf Draht«, hatte er eines Morgens zu Tony Dowling gesagt. »Und verdammt ehrgeizig. Würde mich nicht wundern, wenn sie bald die ganze Abteilung leitet.« Dowling

hatte

gelacht

und

McGrath

dann

forschend

angeblickt. „Sag mal, Jack, hat deine Frau sie schon mal gesehen?« McGrath grinste. Er war verheiratet und hatte zwei halbwüchsige Söhne. Nein, und das wird sie auch nicht. Ein Blick auf die Kleine, und meine Alte würde dafür sorgen, dass ich zur Verkehrspolizei versetzt werde.« Kate Hamilton hatte nicht nur Köpfchen, sie war auch äußerst attraktiv und sehr selbstbewusst, auch wenn sie fast zehn Zentimeter kleiner war als ihre mindestens eins achtzig großen Kollegin. Ihr dunkles Haar trug sie kurz, meist nach hinten gekämmt und an den Seiten festgesteckt. Sie hatte tiefblaue Augen unter dunklen Brauen und ein hübsches Gesicht. Ein ausgesprochen hübsches Gesicht. So hübsch, dass sie das Pin-up-Girl für viele Beamte in der Garda-Zentrale an der Store Street war, der man sie zugeteilt hatte. Doch die meisten männlichen Gardai wussten, dass sie sich keine Hoffnung auf ihre attraktive Kollegin machen konnten, denn sie war noch in Trauer. Detective Sergeant Kate 96

Hamilton war alleinstehende Mutter mit einem vierjährigen Sohn namens Rory, den sie über alles liebte, wie sie auch Rorys Vater einst über alles geliebt hatte. Doch Rorys Vater war tot. Kurz bevor sie Jack McGrath zugeteilt worden war, hatte dieser sich bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Chief Superintendent Mike Loughry, eingehend nach Kate Hamilton erkundigt. Loughry war Chef der Abteilung für Gewaltverbrechen, und McGrath erstattete ihm Bericht über sämtliche Ermittlungen, die er leitete. »Hamilton ist zweiunddreißig«, las Loughry aus Kates Personalakte vor. »Mit vierundzwanzig, nach ihrem Abschluss in Geschichte und Politik an der Universität Dublin, ist sie als Kadett zur Polizei gegangen. Sie hat ihr Studium summa cum laude abgeschlossen. Erstklassige Beurteilungen wahrend ihrer GardaCollegeausbildung in Templemore. Hat besondere Fähigkeiten bei der Spurensicherung und der Aufdeckung von Drogendelikten gezeigt.« McGrath hatte interessiert zugehört. Er wollte sich keinesfalls mit irgendeiner Tussi befassen müssen, die ihm auf Schritt und Tritt wie ein Schoßhündchen folgte. »Sie

wurde

als

eine

von

fünf

Gardai

für

eine

Spezialausbildung in den Vereinigten Staaten ausgewählt und hat ein Jahr beim Bostoner Drogendezernat verbracht.« Loughry legte eine Pause ein und beugte sich näher zu McGrath vor, als wären sie Verschwörer. »Bedauerlicherweise hat sie sich dort mit einem der Detectives eingelassen.« »Was meinen Sie mit eingelassen?« »Na, was schon. Die zwei hatten etwas miteinander. Und sie 97

wollten heiraten.« »Und? Was ist passiert? Hat er sie abserviert?« »Nein, er wurde getötet.« »O Gott.« »Genau.« »Wie ist es passiert?« »Razzia bei Großdealern. Angeblich waren die Burschen nicht bewaffnet.« »Aber sie waren es.« McGrath seufzte tief. »Die Kerle verfügten über ein regelrechtes Arsenal. Der Mann hatte nicht die geringste Chance.« »Also musste Hamilton zurück nach Irland und sich einen netten irischen Jungen suchen?« McGrath wunderte sich selbst über seinen Zynismus. »Nur dass sie schwanger war.« »O Gott.« »Genau. Offenbar hat man sie ziemlich bedrängt, abtreiben zu lassen. Sie weigerte sich und brachte ihr Baby hier in Dublin zur Welt.« McGrath stützte das Kinn auf die Hände und strich sich mit seinem kleinen Fingern durch den Schnurrbart. »Eine Frau, die offenbar weiß, was sie will.“ „Das kann man wohl sagen. Sie kommt aus einer GardaiFamilie. Schon ihr Vater und der Großvater waren Polizisten. Jedenfalls ist sie eine Frau der neuen Generation, selbstsicher und intelligent, und ganz gewiss stört es sie nicht, eine der wenigen Frauen bei der Kriminalpolizei zu sein.« So wurde Kate Hamilton Mitglied der Dubliner Garda-Kommission zur Bekämpfung von Gewaltverbrechen. Eine Frau mit 98

Vergangenheit, die sie bereits als Frau mit Zukunft auswies. Nach einigem Beschnuppern — und nachdem sie umeinander hergeschlichen waren wie Raubtiere um ihre Beute - kamen Kate und McGrath gut miteinander aus. Schon nach sechs Wochen war es selbstverständlich, dass Kate zur Mannschaft gehörte wie alle anderen auch. Sogar Tony Dowling legte seine Skepsis ab, was Frauen bei der Abteilung für Gewaltverbrechen betraf, und er überschlug sich fast, Kate beizustehen, wenn einige der älteren Kollegen sie dann und wann ihre Macho-Allüren spüren liefen.

Als Kate Hamilton mit ihrer eingehenden Besichtigung des Tatorts fertig war, kniete sie sich neben Mary Dwyers Leiche, um sie noch einmal ganz genau in Augenschein zu nehmen. Sie wappnete sich gegen den Anblick der leblosen Augen und des Skalpells, das noch aus dem Hals ragte. Unwillkürlich schauderte sie. Lieber Gott, lass mich nicht so enden, betete sie. Jedenfalls noch nicht. Noch lange nicht. Ich muss ein Kind großziehen.

Dean Lynch war um ein Uhr dreißig in dieser Nacht mit den Aufräumungsarbeiten fertig. Selbst das kleinste Kleidungsstück, bis hin zu Unterhose und Socken, hatte er in Supermarkt-Plastikbeuteln verpackt. Acht Beutel waren es insgesamt. Die Schuhe hatte er ausgezogen, bevor er in seinen Wagen gestiegen war; nun steckten auch sie bereits, in einzelnen Plastikbeuteln. Lynch fühlte sich eigenartig ruhig, beinahe erleichtert. Müde, ja, aber nicht erschöpft. Schläfrig. Er legte sich aufs Bett, knipste die Nachttischlampe aus und starrte an die Decke. Wie so oft wandten sich seine Gedanken Mrs. Duggan zu, seiner Nemesis, seiner ganz persönlichen Peinigerin. 99

Elizabeth Anne Duggan war eine psychologisch gestörte Außenseiterin gewesen, die man niemals in die Nähe von Kindern hätte lassen dürfen. Sie war eine hoch gewachsene Frau mit pechschwarzem Haar, das sie immer streng zurückgekämmt trug, sodass es ihr spitzes Gesicht und die ungesunde Blässe hervorhob. Die bleiche Haut unter der schwarzen Tracht, dazu die langen weißen Knochenfinger schüchterten viele der Kinder ein und verängstigten sie. Duggan war eine religiöse Eiferin, die es als ihre persönliche Mission betrachtete, ledige Kinder zu Gott zurückzuführen. Elizabeth Anne Duggan war überzeugt, dass in den Seelen dieser Kinder die Sünde eingebrannt war. So zwang sie die kleinen Mädchen und Jungen, die man ihr anvertraut hatte, zu beten und zu büßen, zu allen Tages- und Nachtstunden, und lastete den »Kindern der Sünde« mehr niedrige und schwere Arbeit auf als den anderen. »Das ist Gottesarbeit!«, kreischte sie oft, wenn sie der Meinung war, eines der Kinder würde sich nicht genug Mühe geben. »Jesus hat die Füße der Sünderin gewaschen, und ihr werdet arbeiten, wie er es getan hat. Möge unser Erlöser euer Vorbild sein, und sein Licht euer Leuchtfeuer im Leben.« Insbesondere der kleine Dean Lynch war zur Zielscheibe von Duggans Hass geworden, als sie den Jungen in der Küche entdeckt hatte, wo er sich versteckt hielt, die Taschen voll schimmeligem Brot. Damals hatte Dean zum ersten Mal Duggans Lieblingsstrafe zu spüren bekommen: den lichtlosen Verschlag von knapp einem Drittel Quadratmeter unter der Treppe, in dem Bürsten und Pfannen aufbewahrt wurden. Duggan hatte den siebenjährigen Dean, der schrie und um sich schlug, dorthin gezerrt und stundenlang in völliger Finsternis eingesperrt. Von diesem 100

Tag an verfolgte und quälte Elizabeth Anne Duggan den Jungen, wann immer sie Gelegenheit hatte. Sie zog ihn beim Frühstück aus der Reihe der anderen Kinder und beschuldigte ihn, dass er versucht hätte, davonzulaufen. Wenn der verschüchterte und verstörte Junge diese Beschuldigung nicht schnell genug zurückwies, sperrte Duggan ihn in die »schwarze Kammer“, wie sie es nannte. Von zwei Helfern - denn mindestens zwei waren nötig, wurde Dean zu dem winzigen Verschlag unter die Treppe gezerrt und durch die schmale Türöffnung gezwängt. Mit Händen und Armen und aller Kraft seines kleinen Körpers stemmte Dean sich gegen die Tür, während seine Peiniger von außen damit abmühten, sie zu schließen. »Bitte nicht“, flehte Dean anfangs mit kläglichem Wimmern. Doch sobald er spürte, dass seine Beine nachgaben und die Tür wieder einmal das Licht aus seinem Leben ausschloss, stieg Panik in ihm auf, und sein Flehen wurde zum verzweifelten Kreischen. »Bitte, sperrt mich nicht hier ein!« Und immer, immer hörte er die Stimme dieser Frau, wenn die Tür sich fest schloss und ihn in völlige Finsternis stürzte. „Jetzt kannst du in der Hölle schlafen, Dean Lynch! Du kannst in der Hölle schlafen!« Elizabeth Anne Duggan verstand es, die Daumenschrauben der Angst anzuziehen.

13

8.15 Uhr

Kate Hamilton musste ihren Vater beinahe anflehen, Rory zum Kindergarten zu bringen und anschließend abzuholen. »Versteh 101

doch, Dad, ich war fast die ganze Nacht auf. Wenn ich jetzt in der Zentrale anrufe und mich entschuldige, dass ich an den Ermittlungen in der Klinik nicht teilnehmen kann, weil ich niemanden finde, der sich um meinen Sohn kümmert - was glaubst du, passiert dann? Sie werden mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel, und das weißt du.« Ihr Vater hatte zu protestieren versucht, jedoch bald aufgegeben. Er kannte Kates Ehrgeiz. Sie würde Berge versetzen, um ihre Unabhängigkeit, ihr Kind und ihre Karriere zu behalten. Seufzend hatte er gefragt: »Was soll ich ihm zum Frühstück machen?« Kate umarmte ihren Vater. »Im Tiefkühlschrank sind Waffeln. Steck eine in den Toaster, brat ihm ein Ei dazu und leg es drauf. Das mag er gern.« Und schon war sie aus der Tür. Rory hatte zu seinem Großvater aufgeblickt und das Gesicht verzogen. »Ich mag keine Spiegeleier.« Großvater lächelte und brachte den Jungen zurück in sein Zimmer, um ihn für den Kindergarten anzukleiden. Rory reichte ihm bereits bis zur Taille. Er hatte leicht gebräunte Haut, braune Augen und schwarzes Haar, was er der italienischen Abstammung seines Vaters verdankte. Vom Körperbau her war er verhältnismäßig schmächtig, doch seine dünnen Arme und Beine schienen ständig in Bewegung zu sein — auch ein Grund, weshalb sein Großvater am Ende eines gemeinsam mit Rory verbrachten Tages ziemlich erschöpft war. Kate und Rory wohnten in einem roten Backsteincottage in einer ruhigen Sackgasse in Ranelagh, einem südlichen Vorort von Dublin. Die monatlichen Hypothekenzahlungen verschlangen den Hauptteil von Kates Gehalt, und sie baute fest darauf, dass 102

der Vater ihr half, indem er auf Rory aufpasste. Grandad, wie Rory ihn nannte, hing ebenso sehr an dem Jungen wie seine Mutter und war nach Dublin gezogen, als Kate im sechsten Schwangerschaftsmonat von Boston zurückgekommen war. Sie war sein einziges Kind - alles, was er noch an Familie hatte, seit seine Frau vor fast fünf Jahren gestorben war. Er hatte sich eine Dreizimmerwohnung gekauft, nur knappe fünf Gehminuten von Kates und Rorys Cottage entfernt. Der Junge war zum Mittelpunkt seines Lebens geworden. Meist machte Kate ihren Sohn selbst für den Kindergarten fertig und fuhr ihn das kurze Stück zur Wohnung ihres Vaters. Dort spielte er eine

halbe Stunde, während Großvater

frühstückte; anschließend spazierten die beiden Hand in Hand die paar Schritte zum Tor des Kindergartens. Üblicherweise holte der Großvater Rory nachmittags ab und brachte ihn nach Hause zum Cottage. Dort erzählte der Junge ihm dann, was er tagsüber mit den anderen Kindern erlebt hatte, während Großvater ihm Tee und Sandwiches machte und danach ein warmes Abendessen für seine Tochter kochte. Er wartete stets, bis Kate zu Hause war und sich die Zeit genommen hatte, in Ruhe zu essen, bevor er sich auf den Heimweg machte. Oft war ihm das Herz schwer von Sorgen, wenn er aus dem Haus, in dem überall Spielzeug herumlag, zu seiner leeren Wohnung zurückspazierte. Was soll aus den beiden werden?, fragte er sich. Sie gehen so ineinander auf. Kate braucht einen Mann, der ihnen hilft. Sie sollte nach einem Ehemann Ausschau halten. Der Junge braucht einen Vater. Doch ein Ehemann war das Letzte, für das Kate sich 103

interessierte, als sie zur Garda-Zentrale Store Street fuhr. Der Mord in der Klinik war der erste große Fall, an dessen Untersuchung sie von Anfang an beteiligt war. Trotz des Schocks und des Abscheus, die Kate am Tatort angesichts der Grausamkeit des Verbrechens empfunden hatte, konnte sie die Erregung nicht unterdrucken. Und es erfüllte sie mit Stolz, dass man ihr erlaubte, die Vernehmung im Beisein Dowlings und McGraths zu leiten, nachdem Tony Dowling aufgezählt hatte, welche Fragen dem Laborpersonal gestellt werden sollten. "Wo waren Sie letzten Abend zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?« "Können Sie Namen von Personen nennen, die Sie in diesen zwei Stunden gesehen haben?« »Was wissen Sie über Mary Dwyer?* „Können Sie sich einen Grund vorstellen, weshalb irgendjemand ihr etwas antun wollte?« «Wissen Sie, ob Mary Dwyer Männerbekanntschaften hatte? Einen festen Freund?« "Was war ihr Aufgabenbereich?« „An welchen Untersuchungen hat sie gestern Abend gearbeitet?«

»Könnte der Mord irgendetwas mit ihrer Arbeit zu tun haben?« Kate feuerte die Fragen regelrecht ab, doch die Antworten kamen nicht so rasch, wie sie oder das Team es erwartet hatten. Der Schock auf den Gesichtern der Kollegen und Kolleginnen Mary Dwyers war echt. Die meisten weiblichen Mitarbeiter brachen in Tränen aus; viele männliche Kollegen hüllten sich in erschüt104

tertes, benommenes Schweigen. Immer wieder kam es zu ungläubigem Kopfschütteln; Fäuste wurden geballt, Worte der Verständnislosigkeit gemurmelt. Kate blickte Dowling an, dann McGrath. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wir kommen nicht weiter.

Dean Lynch beobachtete, wie der Laster der Müllabfuhr von der Brücke hinunter zu den Geschäften an der Lower Baggot Street fuhr. Die Müllmänner rannten neben dem Fahrzeug her, wuchteten schwarze Plastiksäcke, Tonnen und andere Behälter in die Höhe und kippten sie in den Schlund des Müllwagens. Lynch schätzte, dass der Fahrer in Drei-Minuten-Abständen auf einen Hebel drückte und auf diese Weise die riesigen Klauen in Bewegung setzte, welche den Müll zusammenpressten und in den Container zerrten. Lynch fuhr seinen BMW langsam zu einer Stelle, an welcher der Mülllaster vorüberkommen musste, stoppte den Wagen und sprang rasch mit den zehn Kunststoffbeuteln hinaus. Er eilte den Bordstein entlang, beobachtete, wie die Klauen sich quietschend in Bewegung setzten, und begann zu zählen. Nach ungefähr zweieinhalb Minuten trat er vor, ließ die Beutel fallen und wich vom Straßenrand zurück. Genau zu dem Zeitpunkt, den Lynch geschätzt hatte, wurden die Beutel in den Schlund gehoben. Er gestattete sich ein schwaches Lächeln. Gut gemacht, Dean, alter Junge. Nur die Nerven bewahren. Du machst das prima. Trotz des bitterkalten Wetters war er nur leicht gekleidet. Er spürte die Kälte nicht. Lynch befand sich auf einem Rachefeldzug. Er wusste, dass er HIV-positiv war; er wusste, dass er sich in einem fortge105

schrittenen Aids-Stadium befand und der Virus seinen Körper zerstörte. Auch wenn die Krankheit vielleicht nur langsam voranschreiten würde - Lynch war auf das Schlimmste gefasst. Er wusste, dass sein Tod nur noch eine Frage der Zeit war. Er beschloss, nicht allein abzutreten. Es gab da noch ein paar offene Rechnungen. Doch zuerst musste er seine Spuren verwischen.

14 9.05 Uhr Büro des Chefarztes „Hier sind vierundzwanzig Stunden am Tag nahezu fünfhundert Personen beschäftigt.« Luke Conway versuchte, die Logistik bei der Untersuchung des Mordes in der Zentralentbindungsklinik zu klären. »Wir haben zweiundvierzig Ärzte und zweihundertsieben Schwestern«, fuhr er fort. »Die übrigen Beschäftigten sind Physiotherapeuten, Laboranten, Pharmazeuten, Sozialarbeiter, Verwaltungspersonal, Wachleute, Wartungsmonteure und so weiter.« Conway war leichenblass und stand offenbar unter Schock. Zu Anfang hatte er kaum glauben können, was in der Klinik vor sich ging. Doch als der Morgen dämmerte, die Polizei nicht von Stelle wich und die Labortür versiegelt blieb, wurde ihm schließlich auf erschreckende Weise klar, was passiert war. „Ich brauche eine Liste aller männlichen Beschäftigten. Und eine Aufstellung sämtlicher Männer, die regelmäßig in die Klinik kommen. Zum Beispiel Kuriere, Blumenlieferanten, Taxifahrer und dergleichen. Ich möchte, dass Sie sofort eine Liste anfertigen, solange dies alles noch frisch ist. Ich brauche diese Liste bis 106

Mittag.« Jack McGrath war in Bestform. »Und es könnte sein, dass ich mit jedem Beschäftigten unter vier Augen reden muss, falls wir nicht bald eine brauchbare Spur finden.« »Was? Das sind aber sehr viele Leute, die alle sehr viel zu tun haben.« »Ich weiß«, murmelte McGrath müde. Er hatte kaum Schlaf gefunden. Die Erinnerung an das Skalpell, das aus Mary Dwyers Hals ragte, ging ihm nicht aus dem Kopf. »Ein Stück mit tausenden von Mitspielern, so kommt es mir jedenfalls vor. Verdammt nochmal, und einer von diesen tausenden könnte der Mörder sein.« Eine Zeit lang herrschte Schweigen. »Wann kann das Laborpersonal seine Arbeit wieder aufnehmen?«, fragte Conway schließlich. Er war entschlossen, die Normalität beim Arbeitsablauf im Krankenhaus zu wahren, so gut es ging, obwohl er sich darüber im Klaren war, dass die schreckliche Neuigkeit sich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte. »Im Labor sind die Ergebnisse von Tests, die gestern vorgenommen wurden. Das Personal braucht die Werte unbedingt, heute oder morgen. Ich muss es wissen, sonst bleibt mir nichts anderes übrig, als die heutigen Tests an private Labors zu schicken.« McGrath blickte auf die Uhr und stand schwerfällig auf. »Das Labor können Sie für den Rest des Tages vergessen. Meine Leute haben dort jede Menge zu tun. Ich werde Ihnen sofort Bescheid geben, wenn Sie es wieder benutzen können.« McGrath wandte sich bereits zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel. »Dürften wir Ihre Bibliothek für unsere Besprechungen verwenden? Sie ist für unsere Zwecke groß genug und erspart uns ein ständiges Hin und 107

Her zur Zentrale in der Store Street. Lässt sich das machen?« Conway zögerte, nickte dann aber, wenngleich ein wenig widerstrebend. Auf dem Flur zur Bibliothek ging McGrath an Dean Lynch vorbei. Keiner der beiden Männer schenkte dem anderen die geringste Beachtung. Lynch schloss die Tür zu seinem Sprechzimmer. Haben sie etwa vor, ihr Basislager in der Bibliothek aufzuschlagen? Das ist doch genau nach deinem Geschmack, Dean, alter Junge. Sie suchen dich, während du sie die ganze Zeit im Auge hast! Nur die Nerven bewahren. Du machst das großartig. Immer genau voraus planen. Lynch plante stets sorgfältig voraus. Das war das Geheimnis seiner Erfolge. So hatte er auch beim ersten Mal süße Rache gekostet. Elizabeth Anne Duggan litt unter Asthma, wie jeder im Waisenhaus wusste. Ihr Husten, Keuchen und das pfeifende Schnaufen waren so laut, dass man sie kommen hörte, lange bevor sie zu sehen war. Oft stand sie ächzend an eine Wand gelehnt und wartete darauf, wieder zu Atem zu kommen, und häufig fingerte sie unter den Schichten ihres schwarzen Kleides nach den Tabletten, die ihr Erleichterung verschafften. Wann immer eines der Kinder zufällig sah, wie sie eine der Tabletten nahm, rannte es sogleich los, um die anderen zu warnen. Denn was auch in diesen Tabletten sein mochte - nach der Einnahme wurde Elizabeth Anne Duggan zur Besessenen. Mit scheinbar 108

neuer Kraft suchte sie die Korridore und Schlafsäle nach den kleinsten Kratzern an den Wänden ab, hielt nach Betten Ausschau, die nicht ordentlich gemacht waren, oder begab sich auf die Suche nach nicht richtig geschlossenen Schubladen. Und mit zitternden, ja manchmal heftig bebenden Händen fand sie jedes Mal ein Opfer, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. Und meist war es Dean Lynch, der unter ihrem Zorn leiden musste, einer unberechenbaren Wut, die durch das Stimulans in den Tabletten bis ins Extrem gesteigert wurde, denn das Mittel linderte zwar ihre Asthmaanfälle, raubte ihr aber auch jegliches Augenmaß. Doch schließlich zahlte Dean es ihr heim. Es reichte ihm. Er hielt es nicht mehr aus. Doch er war eher zufällig darüber gestolpert, wie er seinen Qualen ein Ende setzen, wie er mit der seelischen Grausamkeit, den falschen Beschuldigungen und den körperlichen Misshandlungen Schluss machen konnte. Es war ganz einfach. Als er herausfand, auf welche Weise sein Ziel zu erreichen war, staunte er, wie einfach es ging. Dean stahl sechs kleine rosa Pillen, die der Gärtner gegen hohen Blutdruck nehmen musste. Der Junge nahm sie an sich, nachdem er den Aufkleber auf der Pillendose gelesen hatte: Zweimal täglich eine Tablette. Vorsicht: Nicht für Asthmatiker. Dean hatte wochenlang über diese Warnung gegrübelt, bevor er etwas unternahm. Und als er seinen Plan dann in die Tat umsetzte, empfand er zum ersten Mal im Leben prickelnde Erregung, ein elektrisierendes Kribbeln, als sein Verstand seine Unverfrorenheit realisierte und die Vorfreude auf das was geschehen würde. Und es geschah, nachdem er die Tabletten ausgetauscht hatte. 109

Das Gebrüll auf den Fluren machte Dean auf seinen Erfolg aufmerksam. Als er den älteren Kindern und einigen Angestellten des Waisenhauses zur Quelle des Lärms folgte, wurde er vom Anblick der zusammengebrochenen, schweißüberströmten Elizabeth Anne Duggan begrüßt, die mit blau angelaufenem Gesicht am Boden lag, verzweifelt aufzustehen versuchte und keuchend nach Atem rang. Inmitten der unruhigen, aufgeregten Menge, die sich inzwischen eingefunden hatte und nicht wusste, wie sie helfen konnte, beobachtete Dean seine Peinigerin. Und lächelte. Kurz bevor Elizabeth Anne Duggan ihre qualvollen Versuche aufgab, zu Atem zu kommen, blickte sie hoch und sah den zwölfjährigen Dean Lynch, der sie lächelnd anstarrte. Es war ein selbstgefälliges, befriedigtes Lächeln. Er hatte gute Arbeit geleistet.

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9.55 Uhr Städtisches Leichenschauhaus, Store Street

Das städtische Leichenschauhaus von Dublin befand sich an der Ecke Store und Amiens Street im Norden der Innenstadt. Das Gebäude war alt und Teil eines Komplexes, in dem auch die Gar110

da-Zentrale Store Street untergebracht war sowie das Büro des Coroners und die Leichenhalle. Die Stadtplaner hatten den dramatischen Anstieg der Kriminalitätsrate unmöglich vorhersehen können, der diese Einrichtungen in späteren Jahren völlig überlasten würde. Die Garda-Zentrale Store Street war die meistbeschäftigste der Stadt und konnte jedes Jahr bis zu zehntausend Festnahmen vorweisen. Auch im Leichenschauhaus gab es mehr Arbeit, als die Planer ursprünglich kalkuliert hatten. Viel mehr. Jack McGrath konnte das Leichenschauhaus noch weniger ausstehen als Krankenhäuser. Was immer ihm an Krankenhausgerüchen zuwider war - die Gerüche im Leichenschauhaus übertrafen sie bei weitem; sie hafteten an Kleidung und Haar wie eine dünne, schleimige Schicht. McGrath durchquerte den Innenhof, der das Büro des Coroners vom Eingang der Leichenhalle trennte, und paffte bereits seine fünfte Zigarre an diesem Morgen. Durchs Tor war das Hupen und Motorengedröhn des Berufsverkehrs an den Kais zu hören. McGrath trat den Zigarrenstummel unter dem Absatz aus und betrat das Gebäude. Der große Autopsieraum maß zwanzig mal zehneinhalb Meter und war dermaßen aseptisch, dass einem die Augen schmerzten. Boden, Wände und Decke waren weiß gekachelt, sämtliche Holzteile weiß gestrichen. In der Mitte des Raumes gab es drei Autopsietische aus weißem Marmor, die in jeweils drei Meter Abstand fest montiert waren. Am Kopfende jedes Tisches befand sich ein Wasserhahn mit kurzem Schlauch; an den Fußenden waren an tiefen Waschbecken gut zwanzig Zentimeter lange, schwenkbare Wasserhähne installiert. Die Halle war dank des natürlichen Lichtes, das durch ein drahtverstärktes Milchglas111

dach fiel, gut beleuchtet, wodurch das blendende Weiß des Inneren noch intensiver wurde. Auf dem mittleren Autopsietisch tag die nackte und sezierte Leiche von Mary Dwyer, jetzt mit einem grünen Tuch bedeckt. Zwei der Männer in weißen Overalls studierten eine Reihe von Röntgenaufnahmen. Noel Dunne

stand

mit

Dan

Harrison,

dem

Fotografen

des

gerichtsmedizinischen Instituts, neben dem dritten Autopsietisch. Harrison hielt seine Nikon aufnahmebereit in der Hand. Er duckte sich leicht, richtete den Apparat auf die Tote, und ein Blitz erhellte die Ecke des Raumes. »Ah, Detective Inspector McGrath«, grüßte Dunne, der den Besucher aus dem Augenwinkel bemerkt hatte. »Sie kommen gerade recht.« Seine dröhnende Stimme hallte von den Wänden wider, und die kleine Gruppe drehte sich um. McGrath nickte den Anwesenden zu, und alle erwiderten die Geste. »Wir haben hier sehr hart gearbeitet«, erklärte Dunne, während er zu den beiden Pathologen ging, die noch immer in die Röntgenaufnahmen vertieft waren, »und sind mehr oder weniger fertig. Nicht wahr, meine Herren?« Alle lachten pflichtschuldig. Dunne zeigte sich in bester Laune. Hatte er genügend Zuschauer, zog er eine Show ab. Er strich sich mit der rechten Hand über Bart und Schnauzer, während er darauf wartete, dass McGrath näher kam. Dunne trug einen grünen Schutzkittel, der vom Hals bis zu den Fußknöcheln zugeknöpft war; darüber einen langen grünen, dicken Schurz. Seine

Beine

steckten

in

grünen,

wadenlangen

festen

Gummistiefeln. Er griff nach einem hölzernen Klemmbrett, auf dem ein A4-Blatt mit den skizzierten Umrissen des menschlichen 112

Körpers festgesteckt war. Mit krakeliger Schrift und einigen Bleistiftpfeilen hatte Dunne seine Beobachtungen bei der Leichenöffnung notiert. Er streifte die Gummihandschuhe ab, setzte sich auf einen Hocker und bedeutete McGrath, zu ihm zu kommen. Die beiden bildeten einen ziemlichen Gegensatz: McGrath schlank und körperlich in Bestform; Dunne ziemlich korpulent und nach vorn gebeugt. Die Männer in den weißen Overalls traten zur Seite, als McGrath herankam. „Fangen wir von oben an«, begann Dunne und schob seine Brille auf die Nase. Stirnrunzelnd blinzelte er auf das Klemmbrett. Kann heute Morgen nicht mal meine eigenen Notizen lesen.« Wieder wurden grinsend Blicke gewechselt. »Ah, da haben wir's ja, fangen wir an.« Aus dem Augenwinkel sah McGrath eines der Röntgenbilder. Ganz deutlich waren Skalpellgriff und -klinge im weißgrauen Umriss von Mary Dwyers Hals zu sehen. Die Klingenspitze trat fast hinten aus den Halsmuskeln heraus. „Aktenzeichen 173, Autopsie von Mary Dwyer.« Dunne schallen- seinen Kassettenrecorder ein und sprach ebenso in das Gerät wie zu seinen Zuhörern. „Junge, schlanke Frau Anfang zwanzig«, fuhr er fort. »Kurz geschnittenes rotbraunes Haar. Gewicht achtundfünfzig Kilo. Größe eins siebzig.« Dünne legte eine kurze Pause ein, um eine gekritzelte Eintragung zu entziffern. Die Zuschauer lauschten aufmerksam. Jack McGrath fummelte in einer Tasche nach seinen Pfefferminzbonbons. »An der linken Schläfe befindet sich eine gezackte Wunde. Das Haar an dieser Wunde ist blutverkrustet. Am Tatort befand sich 113

eine Blutlache neben der Toten. Das Blut war aus der Schläfenwunde geströmt.« Dunne legte das Klemmbrett nieder und griff nach einer der Röntgenaufnahmen, die Mary Dwyers Kopf und Nacken zeigte. Er deutete mit einem Finger auf eine dünne, silbergraue Linie an einer Seite. »Unter der Schläfenwunde befindet sich eine haarfeine Fraktur des Schädels. Auf dem Röntgenbild ist sie nur schwer zu erkennen, aber ich habe sie bei der Untersuchung des offenen Schädels entdeckt. Die Frau muss mit ziemlicher Wucht gegen den Tisch geprallt sein.« Flüchtig schienen Dunnes Blicke McGrath zu durchdringen. „Ich

röntge

meine

Kunden

nicht

immer,

Detective

Inspector«,erklärte Dunne. »Gewöhnlich nur, wenn ich nach Projektilen oder dergleichen suche. Aber ich dachte mir, diese Dame wäre gut als Anschauungsobjekt für den Unterricht geeignet.« Er wandte sich wieder seinen Notizen zu und fuhr fort: es haben sich Bindehautblutungen in beiden Augen ergeben sowie multiple Petechien im Gesicht. Von drei Amalgamfüllungen in den Zähnen abgesehen, war der Mundbereich unauffällig.« An McGrath gewandt, fügte er hinzu: »Wie üblich habe ich Abstriche von allem gemacht. Links und rechts der Halsmitte befinden sich Blutergüsse mit linear verlaufenden Kratzspuren. Die Blutergüsse weisen zwei Muster auf. Einige sind scheibenförmig und sechs Millimeter breit, die anderen sind größer und unregelmäßig, was auf eine Bewegung der Finger schließen lässt. Petechien befinden sich am Kehldeckel und der viszeralen Pleura. Haemorrhagien unter der Halshaut und den Halsmuskeln.« Dunne legte eine Pause ein und stellte den Recorder aus; dann rief er: »Dan, machen Sie eine Aufnahme davon. Am besten von diesem Röntgenbild, ja?« Er deutete auf die Röntgenaufnahme 114

mit dem Skalpell in situ. »Dann versuchen Sie eine gute Nahaufnahme vom Hals zu machen. - Das ist wirklich sehr schönes Anschauungsmaterial«, fügte er zu niemandem im Besonderen hinzu. McGrath nutzte die Gelegenheit, sich ein weiteres Pfefferminzbonbon in den Mund zu stecken. Dunne konsultierte wieder seine Notizen. »Rechts der Halsmitte befindet sich eine saubere Stichwunde. Am Tatort wurde kein Blut aus dieser Wunde gefunden. Ein Skalpell ist durch diese Stichwunde in den Hals eingebettet.« Alle Augen folgten Dunne, als er erneut das Röntgenbild mit dem Skalpell in die Höhe hielt. Er strich sich über den Bart. »In die Seite des Skalpellgriffs ist Swann Bindestrich Norton graviert, sowie BS, in Großbuchstaben, 2982. Am unteren Drittel des

Griffs

befinden

sich

konzentrische

Gravuren.

Der

Skalpellgriff weist eine dicke braune Verfärbung auf.« Dunne schaltete den Kassettenrecorder aus. »Ich komme gleich wieder darauf zurück. Diese Verfärbung könnte jedoch bedeutungsvoll sein.« McGrath blickte scharf zu Dunne hinüber, doch der machte bereits weiter. Er knipste den Recorder wieder an. »An der linken Schulter und auf der Brustmitte befinden sich Blutergüsse. Der Nagel des rechten Zeigefingers ist abgerissen und nach hinten gebogen. Ansonsten weist der Körper, von ein paar Blutergüssen an der oberen linken Schulter und einer alten Blinddarmoperationsnarbe , abgesehen, keine weiteren Merkmale auf, die für uns von Bedeutung sind. Es ist zu keinem sexuellen Verkehr gekommen. Das Mädchen ist virgo intaeta.« Ohne den Blick vom Röntgenbild zu nehmen, schaltete er den Recorder erneut aus. «Und was sagt uns das alles?«, fragte McGrath. Er bemerkte, 115

dass sich eine kleine Gruppe hinter und neben Dunne gesammelt hatte. Zu ihr gehörten zwei uniformierte Gardai sowie Pat Relihan, der hoch gewachsene, dunkle Fingerabdruckexperte von Kerry. Sie warteten auf das Untersuchungsergebnis. Dunne seufzte tief, als nähme er alles persönlich. McGrath hatte ihn seit langem nicht so emotional beteiligt erlebt. Normalerweise folgte Dunne einer eher schlichten Philosophie. Vor allem war er Arzt - ein Mediziner, den die Umstände zum forensischen Pathologen gemacht hatten. Und obwohl seine Patienten immer tot waren, betrachtete er es doch als seine Pflicht, sie zu schützen und ihre Todesursache festzustellen. Über Motive und andere Hintergründe der Tat machte er sich selten Gedanken. Das überließ er anderen, wie beispielsweise McGrath. „Was sagt uns das alles? Nun, die erste Verletzung, die das Opfer sich zuzog, war meines Erachtens die am Kopf. Er wurde mit solcher Wucht gegen die Tischkante geschmettert, dass es zum Schädelbruch kam, wodurch ihre Reaktionsfähigkeit wahrscheinlich auf ein Minimum herabgesetzt wurde. Vom abgebrochenen Fingernagel und ein paar Kratzern am Hals abgesehen gibt es kaum Anzeichen dafür, dass sie sich gewehrt hat. Nachdem ihr der Schädelbruch beigebracht wurde, hat man sie gewürgt. Am Hals sind starke Blutergüsse sowie Frakturen an beiden Seiten des oberen Schildknorpelhorns. Das alles deutet auf Strangulierung hin.« Dunne legte eine Pause ein. Die Anwesenden scharrten nervös mit den Füßen. »Kommen wir nun zum bemerkenswertesten Detail.« Aller Augen richteten sich wie gebannt auf Dunne. »Das Skalpell wurde dem Opfer in den Nakken gestoßen, nachdem es bereits tot war.« „Danach?«, entfuhr es McGrath. 116

»Ja, Detective Inspector, danach.« Dunne wandte sich erneut seinen Notizen zu. »Unter anderem hat die Klinge ihre gemeinsame Halsschlagader durchschnitten«, fügte er lakonisch hinzu, um dann zu erklären: »Die gemeinsame Halsschlagader, carotis communis, führt Blut zum Gehirn. Wenn die Klinge sie durchtrennt hätte, solange das Opfer noch lebte - mit anderen Worten, solange das Herz noch schlug -, hätte es eine Menge Blut in der Halsgegend gegeben. Aber dort fand sich keines, von ein wenig gesickertem Blut abgesehen.« Der Bastard, dachte McGrath. »Wie gesagt, ist der Skalpellgriff sehr fleckig.« Dunne langte in eine Seitentasche und brachte ein kurzes Stück dünne Folie zum Vorschein, die er aufriss. »Das hier ist ein normaler Skalpellgriff. Wie Sie sehen, ist er silbergrau. Der, den wir aus dem Hals des Mädchens entfernt haben, war fast völlig braun, eine Art streifiges Dunkelbraun. Ich habe so etwas schon früher gesehen - dieser Skalpellgriff kam aus einem alten Sterilisierungsapparat. Die modernen Sterilisatoren verursachen keine Verfärbung der Instrumente. Aber dieser Griff sieht aus, als wäre er seit langem immer wieder im selben Apparat sterilisiert worden. Finden Sie diesen Sterilisator, und Sie können womöglich feststellen, woher der Skalpellgriff stammt.« McGrath zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und kritzelte irgendetwas hinein. »Sie müssen wissen, Detective Inspector«, Dunne lächelte selbstgefällig, »dass auch ich heute Morgen schon ein bisschen Detektivarbeit geleistet habe, und zwar unterstützt von dem sehr fähigen Garda Phelan.« Er drehte sich ein Stückchen herum und legte eine Hand auf den blau uniformierten Arm eines jungen 117

Garda hinter ihm, der leicht errötete. »Garda Phelan hat in der Frühe ein bisschen herumtelefoniert. Erzählen Sie Detective Inspector McGrath, was Sie erfahren haben.« Garda Phelan räusperte sich nervös. »Nun, Dr. Dünne wollte herausfinden, woher dieser Skalpellgriff stammen könnte. Also rief ich in der Zentralentbindungsklinik an, ließ mich mit dem Ersatzlager für chirurgische Instrumente verbinden und erfuhr, dass sämtliche kleinen Gerätschaften von einem Auslieferungslager in Keils herangeschafft werden. Auf meine telefonische Nachfrage sagte man mir dort, dass man sämtliche städtischen Krankenhäuser in Dublin beliefert. An Swann-Norton-Skalpellgriffe und -klingen ist ziemlich leicht heranzukommen ...» „Wollen Sie mir damit sagen, dass man in Dublin so leicht an Skalpelle herankommt wie an Guinness in einem Pub?«, unterbrach McGrath. „Nur wenn Sie Arzt sind«, entgegnete Dunne. »Das sollten Sie bedenken, Detective Inspector. Ich hätte nicht gedacht, dass das Skalpell, von der Verfärbung abgesehen, ein so entscheidendes Beweisstück sein könnte. Ich bin immer noch der Meinung, dass es den ... Benutzerkreis eingrenzt. Ein besseres Wort fällt mir im Moment nicht ein.« „Und weder auf der Klinge noch auf dem Griff befinden sich Fingerabdrücke«, warf eine Stimme mit weichem Kerry-Akzent ein. Pat Relihan gab seinen Senf dazu. »Und unsere Experten haben am Tatort etwas Interessantes entdeckt«, sagte Dunne und drehte sich zu einem der Männer im weißen Overall um; dann wandte er sich wieder McGrath zu. Gerichtsmediziner leisten großartige Arbeit, Detective Inspector. Wirklich, das muss ich schon sagen.« Er genoss das Ganze außer 118

ordentlich. McGrath grinste ein wenig verlegen. -Da war ein kleines Stück Latex«, sagte der Gerichtsmediziner im weißen Overall, »etwa sechs Millimeter breit und lang. Es lag auf dem Boden, direkt neben der rechten Hand des Opfers, der Hand mit dem gebrochenen Nagel.« „Und?«, fragte McGrath. »Dr. Dunne meint, das Latexstück stamme von einem Handschuh, wie er bei Operationen und ganz allgemein in Krankenhäusern benutzt wird.« In der Halle wurde es plötzlich still. Das einzige Geräusch kam von dem Wasser, das Mary Dwyers Leiche umspülte. „Ja, es sieht tatsächlich wie ein Stück Latex von einem dieser Handschuhe aus. Alles passt zusammen. Keine Nageleindrücke am Hals des Opfers, keine Fingerabdrücke auf dem Skalpellgriff. Wer immer dieses Mädchen ermordet hat, könnte durchaus solche Handschuhe getragen haben. Ich habe mir ihren Hals genau angesehen und Spuren eines feinen Puders entdeckt. Die meisten dieser Handschuhe, die in Krankenhäusern benutzt werden, sind innen gepudert. Wir haben das Latexstück zur chemischen Untersuchung geschickt, weil ich mich vergewissern möchte, ob ich Recht habe. Aber Sie dürfen mir glauben, es passt alles zusammen.« Zum ersten Mal erwiderte Noel Dunne den durchdringenden Blick McGraths. »Was schlagen Sie vor?* »Ich schlage nichts vor, Detective Inspector. Das ist nicht mein Job, das ist Ihr Job. Aber ich möchte auf ein paar Dinge aufmerksam machen.« 119

Dunne legte die Hände mit verschränkten Fingern auf den Schoß, starrte kurz darauf hinunter und begann: „Fassen wir einmal zusammen, was wir bisher haben. Mary Dwyer wurde erwürgt. Innerhalb von Minuten nach Eintritt des Todes wurde ihr ein Skalpell in den Nacken gestoßen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, dass das eine Art... Aussage war, eine persönliche Signatur.« Er hielt kurz inne. »Griff und Klinge des Skalpells gehören zur Standardausrüstung sämtlicher Krankenhäuser. Ich fürchte, das wird zur Aufklärung nicht viel beitragen. Abgesehen von der Verfärbung.« McGrath zog die Brauen hoch. »Überlegen Sie: Ein Mann erscheint in einem Labor. Mit einer frischen Klinge an einem alten Skalpellgriff. Aus unserer Rekonstruktion das Tathergangs - vor allem, wie der Kopf des Opfers auf den Tisch geschlagen wurde -, können wir schließen, dass die Frau den Mann gesehen und gehört hat, ehe er nahe genug bei ihr war, um sie zu packen. Die Tatsache, dass er die Frau am Tisch überfiel, nicht an der Tür, deutet darauf hin, dass sie den Angreifer wahrscheinlich gekannt hat und ihn ins Labor ließ, ohne zu ahnen, dass er es auf sie abgesehen hatte. Ich glaube, dieser Mann kannte Mary Dwyer und sie ihn, und es überraschte sie nicht, ihn zu so später Stunde im Labor zu sehen.« Dunne blickte zu McGrath auf, um festzustellen, wie der Detective die Informationen aufnahm. „Ich bin ganz Ohr.« „Gut. Also, wer kommt kurz vor dreiundzwanzig Uhr ins Labor der Zentralentbindungsklinik, von dem Mary Dwyer sich nicht bedroht fühlt?« Dunne schaute McGrath wieder direkt in die Augen. 120

McGrath erwiderte den Bück. »Sagen Sie es mir.« »Ich sage Ihnen gar nichts, Detective Inspector. Aber mein Instinkt sagt mir, dass Sie nicht zu viel Zeit damit verbringen sollten, außerhalb der Klinik nach Mary Dwyers Mörder zu suchen.« "Sie glauben, er arbeitet in der Klinik?« »Ja.« Schweigen. "Sonst noch etwas, das ich Ihrer Meinung nach wissen oder nach dem ich Ausschau halten sollte? Sie sind Arzt. Sie kennen sich in Krankenhäusern aus.« »Achten Sie auf die Verpackung, in der die Klinge gesteckt hat. Suchen Sie nach einer ähnlichen wie der hier.« Dünne griff wieder in die Tasche und brachte eine Folie zum Vorschein. Er reichte sie McGrath, der sie mehrmals in der Hand drehte und die Aufschrift las: Paragon Sterile Stainless Steel Blade: Sterilised by Gamma Radiation: Sterility Guaranteed if Package is Unbroken: Blade Na. 23: Made in Sheffield England. »Die Klinge war durch eine Folie wie diese geschützt. Sie könnte sich noch im Laboratorium befinden oder sogar in einem der Untersuchungszimmer am Flur, der zum Labor führt. Suchen Sie nach einem Zimmer auf diesem Stockwerk oder vielmehr in jedem Zimmer, in dem sich ein alter Sterilisierungsapparat befindet. Halten Sie auch nach Verpackungen von Gummihandschuhen Ausschau. Sehen Sie in Papierkörben und Abfalleimern und überall dort nach, wo unser Freund leichtsinnig geworden sein könnte und Klingenfolie oder Handschuhverpackung hineingeworfen hat.« McGrath blickte Dunne sichtlich bestürzt an. »ich halt's in Krankenhäusern nicht aus! Ich hatte gehofft, es würde ein einfa121

cher Fall sein. Ein Kerl vielleicht, der sich Drogen beschaffen wollte oder so was. Je mehr Sie mir sagen, desto weniger gefällt mir, was ich höre.« Dunne grinste. Noch nie zuvor hatte McGrath sich so unbehaglich gefühlt; zumindest war es Dunne nicht aufgefallen. Er wusste, dass auch die Gerichtsmediziner jede Sekunde genossen, die dem Detective zu schaffen machte. »Haben Sie noch irgendwas darüber herausgefunden, wie unser Mann in die Klinik hinein- und wieder rausgekommen sein könnte?", erkundigte Dünne sich. »Die Wachleute sagen, er könne nur durch den Keller oder die Stationen hereingekommen sein, auf keinen Fall durch den Haupteingang. Dann nämlich hätte er an den Wachmännern vorbeigemusst. Er könnte sich auf dem Hin- und Rückweg durch die Stationen geschlichen haben. Aber bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet, der etwas gesehen hat.«

Dunne überlegte kurz. »Ich würde sagen, er ist durch den Keller gekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, der eine solche Tat begeht, durch die Stationen schlendert, als wäre nichts passiert. Nein, ich tippe auf den Keller.« McGrath strich sich über den Schnurrbart. »Dann muss er die Klinik ziemlich gut kennen. Er muss wissen, wie man unbemerkt hinein- und herauskommt. Das ist beunruhigend.« Dunne nickte nachdenklich. »Detective Inspector, Sie wissen, dass ich nicht der Typ bin, der Mordfälle dramatisiert.« McGrath blickte ihn scharf an. »Und ich möchte nicht, dass es sich jetzt so anhört...« »Aber...«, unterbrach ihn McGrath. »Wirklich nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass wir es nicht mit 122

einem gewöhnlichen Mord zu tun haben. Der Mann geht für meinen Geschmack zu methodisch vor. Er hat seine Spuren sorgfältig verwischt. Er könnte leicht wieder zuschlagen.« Totenstille breitete sich aus. Von der Straße hörte man lautes Hupen, und Garda Phelan fuhr heftig zusammen. McGrath schob sich die Folie der Skalpellklinge in die Tasche und streckte die steifen Beine aus. Er schaute auf die mit grünem Tuch bedeckte Leiche auf dem mittleren Autopsietisch. »Ich hoffe, Sie täuschen sich, Dr. Dunne. Ich hoffe sehr, dass Sie sich täuschen. Ich kann Krankenhäuser nicht ausstehen. Ich möchte diesen Fall rasch lösen.« „Heute Nachmittag erhalten Sie meinen vollständigen Befund.« Dunne stand auf und machte sich daran, Instrumente wegzuräumen. McGrath ging langsam an der Leiche auf dem Tisch vorbei. Eine leblose, wächserne Hand ragte unter der grünen Decke hervor. Hoffentlich habe ich nicht bald noch mehr wie dich am Hals, dachte McGrath mit einem Blick auf die Tote, bevor er ging.

16

14.12 Uhr Tommy Malone saß in einem der vorderen Räume von Hals Billardhalle, wartete auf sein A-Team und blies müßig Rauchringe in die Luft. Hal's Snooker Emporium, wie es sich stolz nannte, war ein beliebter Treffpunkt für viele von Dublins kleinen Ganoven. Es 123

befand sich über zwei Geschäften und einem Büro in einer Nebenstraße des Dubliner Vororts Monkstown. Das erste Geschäft war der Friseursalon einer gewissen Eileen, die in New York gelernt hatte, das zweite eine chemische Reinigung, und das Büro gehörte einem Anwalt, der auf Fälle von Körperverletzung spezialisiert war. Er konnte sich über Mangel an Aufträgen nicht beklagen. Der Eingang zum Emporium war eine stabile Stahltür am Kopf einer Betontreppe an der Gebäudeseite. Unmittelbar hinter der Eingangstür hatte Hal einen vom Sperrmüll organisierten Kunststoffschreibtisch aufgestellt; dahinter saß auf einem Klappstuhl einer seiner Männer, der scheinbar den Mitgliederstatus der Besucher überprüfte, tatsächlich aber auf mögliche Razzien Acht gab. Das Emporium war in einen Hauptraum mit acht Billardtischen und drei kleine Zimmer an der Vorderfront mit Blick auf die Straße aufgeteilt. Die Billardtische waren fast ständig belegt, hauptsächlich von Arbeitslosen und desillusionierten Jugendlichen der näheren und weiteren Umgebung. Die Luft war meist zum Schneiden dick von Zigarettenrauch und roch nach schalem Bier, besonders an Tagen, wenn das Arbeitslosengeld ausgezahlt worden war; außerdem mischte sich dann und wann als kleine Abwechslung der süße Duft von Haschisch in den Tabak-und Biergeruch. Das mittlere der drei Vorderzimmer besaß eine besonders stabile, innen mit dicken Riegeln versehene Tür. In einem kleinen gusseisernen Kamin brannte fast immer ein Feuer, das Hal, ein schmächtiges Männchen mit nikotinverfärbten Zähnen und fettigem Haar, sogar im Hochsommer persönlich am Brennen hielt. In der Zimmermitte stand ein Billardtisch von halber Größe. Hal 124

vermietete dieses Zimmer stundenweise und kassierte dafür Höchstpreise. Die uneinnehmbar wirkende Tür und die starken Riegel verhinderten im Fall einer Razzia ein rasches Eindringen der Polizei, und das brennende Feuer erlaubte die Vernichtung von

belastendem Material.

Tommy

Malone

hatte

Hal's

Emporium schon des Öfteren als Treffpunkt benutzt. Er mochte diesen Schuppen und glaubte fest daran, dass er ihm Glück brachte. Noch keiner der Coups, die er hier geplant hatte, war schief gegangen. Er wärmte seinen Hintern am Feuer und blies weiterhin Rauchringe in die Luft. »Moonface« Martin Mulligan traf als Erster ein. Er war über eins achtzig groß und brachte fünfundneunzig Kilo auf die Waage. Obwohl erst Anfang dreißig, war er fast kahl und hatte sich bedauerlicherweise angewöhnt, die paar dünnen Strähnen, die ihm geblieben waren, über die Glatze zu verteilen. Sein rundes Gesicht trug dazu bei, den abstoßenden Eindruck noch zu verstärken. Moonface war stark wie ein Ochse und von aufbrausenTemperament. So viel bekannt war, hatte bisher noch niemand gewagt, ihm seinen Spitznamen direkt ins Mondgesicht zu nennen. Er trug einen Trainingsanzug der Mannschaft von Manchester United mit einem rotschwarzen Tuch um den Stiernak-. ken. Moonface war ein großer Fußball-Fan. Manchester United war seine englische Lieblingsmannschaft, doch seine ganze Leidenschaft galt der irischen Nationalelf. Als sie bei der Weltmeisterschaft 1994 in den Vereinigten Staaten spielte, hatte Moonface innerhalb von zwei Wochen drei Buchmacher betäubt, um das Geld für die Reise zusammen zu kriegen. Nachdem die irische Mannschaft sogar besser gespielt hatte, als Moonface 125

vorhergesehen hatte, überfiel er eine Apotheke in Orlando, Florida - jenem Ort, an dem die Spiele der Iren stattfanden -, um sich Bargeld zu beschaffen. Moonface würde sein Leben für die irische Nationalelf geben, wenn es sein müsste; aber bisher war das zum Glück nicht notwendig gewesen. Trotz seiner kriminellen Aktivitäten und obwohl er als einer der ganz schweren Jungs der Stadt galt, wohnte Moonface immer noch zu Hause bei seiner Mutter in einem stadteigenen Siedlungshaus in Rathmines, einem Vorort Dublins. Für Mutter Mulligan war Martin noch immer ihr Baby. Sie hielt seine Wäsche in Ordnung, kochte ihm seine Lieblingsspeisen und machte sich Sorgen, wenn er spät nach Hause kam. " Hallo, Tommy. Beschissen kalt draußen«, sagte Baby Mulligan. „Hallo, Martin. Schieb ein paar Kugeln, bis die anderen da sind.« Als Nächster erschien Sam Collins, wie üblich ganz in Schwarz: schwarze Hose, Schuhe und Socken, schwarzer Rollkragenpullover unter einer schwarzen Cordsamtjacke. Sein kohlrabenschwarzes Haar war im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Das einzige Nichtschwarze an Collins war ein Silberring, den er in der linken oberen Ohrleiste trug. Er hatte die Angewohnheit, an diesem Ring herumzuzupfen, wenn er nervös oder aufgeregt war. »Wie geht's, Tommy?« Sam Collins stammte aus Newry in Nordirland, und obwohl er bereits seit acht Jahren in Dublin lebte, verriet sein Tonfall auch jetzt noch seine Herkunft. Collins entdeckte Mulligan und deutete mit seiner zusammengerollten Daily Star auf ihn. »Und wie geht's dir, Martin?« »Wie soll's schon gehen « 126

Sam Collins war ein unruhiger, verschlagener Bursche. Er glitt zum Fenster hinüber und spähte hinaus, als würde er damit rechnen, draußen eine Polizeiabsperrung zu erblicken - was nicht einmal so erstaunlich gewesen wäre, denn Collins war einstiger Sprengstoffexperte der IRA und hatte oft genug Hausdurchsuchungen durch die englische Polizei über sich ergehen lassen Er wusste, wie es war, stets auf der Flucht sein zu müssen. Die ständige Bereitschaft, sich im nächsten Augenblick vielleicht aus dem Staub machen zu müssen, war für Collins längst zur Alltäglichkeit geworden. Als die IRA am 31. August 1994 um Mitternacht den Waffenstillstand proklamierte, erkannte er rasch, dass ihm nun nichts anderes übrig blieb, als selbstständig zu arbeiten, um über die Runden zu kommen. Da Collins nichts anderes gelernt hatte, als mit Waffen und Sprengstoff umzugehen, tauchte er schnell in die Dubliner Unterwelt ab, wo er Auftrage übernahm, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprachen. Als die IRA am 8. Februar 1995 mit einer hochbrisanten Plastikbombe im Londoner Hafen ihre terroristischen Aktivitäten wieder aufnahm, hielt Collins sich von diesen Umtrieben fern und legte für »die gerechte Sache« nur ein symbolisches Lippenbekenntnis ab. Er behielt sein kleines Arsenal an Waffen und Sprengstoff und vermietete es - oder sich selbst und seine Ausrüstung - an den, der am meisten dafür bezahlte. Als der Führungsstab der IRA davon erfuhr, erklärte er Sam Collins zum Verräter an der gerechten Sache und drohte ihn zu eliminieren, falls er seine verbrecherischen Machenschaften nicht aufgab. Collins tauchte unter, da er nicht vor ein IRA-Gericht gestellt werden wollte, das ihn mit ziemlicher Sicherheit zum Tode 127

verurteilen wurde. Wie Tommy Malone hielt Sam Collins ständig Ausschau nach einem »großen Ding«, das viel einbrachte und ihm die Chance gab, das Land zu verlassen. »Setz dich, Sam«, forderte Malone ihn auf. »Es kommt noch einer.« Collins nahm auf einer Holzbank Platz, die an der Wand stand. Er schlug die Zeitung auf und tat so, als würde er darin lesen; in Wahrheit beobachtete er alles, was um ihn herum vorging. Nur das Klacken von Billardkugel an Billardkugel drang durch die Stille. Etwa fünfzehn Minuten später ließ ein leises Klopfen Malone aufspringen. Die Tür wurde gerade so weit geöffnet, dass eine kleine,

plumpe,

in

einen

billigen

Webpelzmantel

mit

Leopardenmuster gekleidete Frau hereinspähen konnte. »Bist du da, Tommy?« Malone öffnete die Tür weiter. »Komm rein, Peggy.« Er schloss die Tür hinter ihr, schob die Riegel vor und stellte obendrein einen Stuhl so gegen die Klinke, dass sie nicht heruntergedruckt werden konnte. Mulligan und Collins blickten einander verwundert an. Collins zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. »Wie geht's Monty?«, erkundigte sich Malone. »Nicht so gut, Tommy. Diesmal gar nicht gut.« »Peggy, das sind Martin Mulligan und Sam Collins. An Sam erinnerst du dich bestimmt. Er war bei dem Job dabei, den wir vor einiger Zeit mit Monty unten in Cork durchgezogen haben.« »Wie geht's, Sam? Eisig da draußen.« Collins nickte. Falls ihm das Wetter zu schaffen machte, ließ er es sich nicht anmerken. »Setz dich, Peggy«, sagte Malone. »Martin, würdest du dich jetzt 128

auch setzen? Ich hab' Hal versprochen, dass wir um vier draußen sind.« Mulligan ließ sich ebenfalls auf der Bank nieder, etwa anderthalb Meter von Collins entfernt. Peggy Ryan setzte sich auf den Stuhl, den Malone für sie zurechtgerückt hatte. »Das ist Peggy Ryan, Montys Frau. Monty muss in Mountjoy zwölf Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls absitzen.« Malone machte die anderen mit Peggy Ryans Vorgeschichte bekannt. Er spürte, dass die beiden jüngeren Männer gar nicht erfreut über Peggys Anwesenheit waren. Peggy blickte in die Runde und sagte: »Diesmal macht Monty der Knast schwer zu schaffen. Er sah gar nicht gut aus, als ich ihn letzte Woche besucht hab'. Gar nicht gut.« Weder Collins noch Mulligan äußerten sich dazu. Malone setzte sich auf den Billardtisch. »Peggy ist sehr wichtig für diesen Job. Wenn ihr nicht gefällt, was ich vorschlagen werde, muss ich die ganze Sache abblasen.« Collins senkte bedächtig die Zeitung. Er blickte die Frau wieder an, diesmal mit größerem Interesse. Im Grunde war Collins ein Einzelgänger und kam nicht besonders gut mit Frauen zurecht. Aber mit Peggy musste er sich offenbar genauer beschäftigen, ob es ihm nun gefiel oder nicht. »Ich werd' als Erstes erklären, worum's geht. Wenn jemand nicht passt, was er hört, soll er's sagen. Ich will nicht, dass einer im letzten Augenblick 'nen Rückzieher macht. Das ist der letzte große Job, den ich für lange Zeit durchziehe. Ich kann nicht zulassen, dass jemand aussteigt, wenn er alles weiß, und es dann herumposaunt.« Niemand sagte etwas. Peggy Ryan blickte Malone fast bewun129

dernd an. »Für jeden von euch gibt's innerhalb von fünf Tagen, nachdem wir losgelegt haben, sechshundert Riesen.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Will jemand aussteigen?« Allgemeines Schweigen. Moonface bohrte in der Nase und begutachtete, was dabei zum Vorschein kam. »Es dreht sich um 'ne Entführung.« Lange Pause. »Will jetzt jemand aussteigen?« Allgemeines Schweigen. Sam Collins rollte seine Daily Star wieder zusammen und hörte aufmerksam zu. Die Sache klang interessant. »Es wird 'ne große Sache, und ich werd' drei Millionen verlangen. Das sind sechshundert Riesen für jeden von euch. Ich krieg' zwölf, weil ich alles geplant und für das ideale Versteck gesorgt hab'.« Malone verlagerte ein wenig sein Gewicht auf dem Billardtisch. »Will jetzt jemand aussteigen?« »Nein, Tommy«, flüsterte Peggy Ryan. Zu sechshundert Riesen konnte man schlecht Nein sagen. Seit Monty wieder saß, musste Peggy verzweifelt an allen Ecken und Enden sparen,. Collins und Mulligan schwiegen noch immer. Jeder versuchte zu verdauen, was Malone von sich gegeben hatte. „Wir werden ein Baby entführen.« Wieder machte er eine Pause, um seine Worte einwirken zu lassen. »Jemand, der jetzt ausstellen will?« Niemand sagte etwas. „Ich muss gleich wissen, ob ihr von vornherein dabei seid! Ich sag keinen Ton mehr, außer ihr macht alle mit. Machst du mit, 130

Martin?« „Klar mach' ich mit! Ich wett' hundert zu eins, die Sache bringt mehr, als 'nen Buchmacher auszurauben.« Moonface lachte über seinen kleinen Witz. Aber sonst niemand. Was is' mit dir, Sam?« „Ich bin auch dabei, Tommy. Hört sich okay an.« Sam Collins' Gedanken überschlugen sich. Das hörte sich tatsächlich genau wie der Coup an, nach dem er seit langem Ausschau hielt. Was ihm an der Sache nicht gefiel, war Tommy Malone. Obwohl Collins bei zwei kleineren Dingern, die auch geglückt waren, mit Malone gemeinsame Sache gemacht hatte, ging es ihm einfach nicht aus dem Kopf, dass Malone den Ruf besaß, ein Verlierer zu sein. Collins beschloss, sich erst einmal anzuhören, was Malone noch zu sagen hatte. Aber er bezweifelte, dass dieser Mann der Richtige für ein so großes Ding war. Was ist mit dir, Peggy? Jetzt, wo du weißt, warum du hier bist?« Peggy Ryan hatte elf Kinder und vier Enkel. Monty Ryan mochte ja die meiste Zeit im Knast zugebracht haben, aber wenn er draußen war, führte er ein sehr aktives Sexualleben. „Na klar, Tommy. Was immer du sagst. Ich könnt' das Geld gut brauchen.« Malone blickte jeden noch einmal eindringlich an; dann fuhr er fort: „Harry O'Brien ist Multimillionär. Der Himmel weiß, wie viele Multimillionen der Knilch hat.« Malone machte sich daran, seinen Plan darzulegen. »Er ist Direktor der O'Brien Corporation. Der Laden ist so viel wert, dass der Bursche die Queen auskaufen könnte. O'Brien hat 131

vor kurzem 'ne Tussi geheiratet, mit der er jetzt Nachwuchs bekommen

hat.

In

der

Zeitung

steht,

dass

er

der

Zentralentbindungsklinik zwei Millionen versprochen hat, wenn seine Alte den Balg gesund zur Welt bringt. Zwei Millionen! Da wird er uns bestimmt drei Millionen hinblättern, um das Baby zurückzukriegen. Wir werden nämlich Harry O'Briens Sohnemann entführen.« Tommy Malones Komplizen hörten scheinbar unbewegt zu. Er hätte ebenso gut über das Wetter reden können. »Wir brauchen nicht mal Masken zu tragen«, fuhr Malone begeistert fort, »damit der Kleine unsere Gesichter nicht sehen kann. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, dass er versuchen könnte, abzuhauen. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, dass er bei 'ner Gegenüberstellung auf uns zeigt. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, wenn wir ihn irgendwo allein lassen, sobald O'Brien das Lösegeld bezahlt hat. Wir können ihn vor irgendeinem Krankenhaus abstellen. Wir brauchen den kleinen Scheißer bloß zu füttern und seine Windeln zu wechseln.« Collins und Mulligan erhoben sofort Protest. Mit einer Entführung würden sie ja klarkommen, sogar mit ein bisschen schwerer Arbeit, wenn es unbedingt sein musste. Aber Windeln wechseln kam überhaupt nicht infrage! »Dafür haben wir Peggy«, unterbrach Malone die beiden. »Peggy kennt sich mit Babys aus. Stimmt's, Peg?« »Natürlich, Tommy, natürlich.« Peggy Ryan war begeistert. »Jesses, die vielen Jahre, die wo ich Kinder großgezogen hab', bringen jetzt vielleicht sogar was.« Nun grinsten alle. »Peggy wird sich um Junior kümmern«, fuhr Malone fort. »Sie wird ihn füttern, trockenlegen und zusehen, dass er gut versorgt 132

ist. Wir anderen müssen ihn bloß entführen und zum Cottage bringen.« »Was für 'n Cottage?«, fragte Collins. Seine ursprünglichen Bedenken schwanden. Mit einem Mal sah er Malone in einem neuen Licht. Die Sache schien doch recht viel versprechend zu sein. „Ich hab' da 'ne kleine Hütte, ein Stück außerhalb von Newbridge. Gehörte mal meinem Onkel, als er dort in der Polaroidklinik gearbeitet hat. Er ist seit ein paar Jahren tot, und seine Kinder sind alle in England. Ich bin der Einzige, der von dem Cottage weiß und schon mal dort hinkommt. Liegt ganz abgelegen, und ringsrum sind nichts als Felder. Führt nur 'n schmaler Weg hin, ungefähr dreihundert Meter lang. Und den Weg kann keiner nehmen, ohne gesehen zu werden. Das nächste Haus ist fast einen Kilometer entfernt. Ich hab' mich oft da versteckt, wenn die Polizei mich suchte. Von Harry O'Briens Villa in Wicklow ist es nur eine Stunde mit dem Auto, aber weit genug weg, dass die Bullen gar nicht dran denken würden, sich da umzuschauen.« Malone legte eine Pause ein und blickte die anderen an. »Ich hab' 'nen ...«, begann er dann, hielt aber kurz inne. »Ich hab' 'nen guten Freund, der in der O'Brien-Zentrale in der Dawson Street arbeitet.« So, wie Malone es sagte, hörte es sich an, als wäre der gute Freund Vorstandsmitglied der O'Brien Corporation. Collins wirkte beeindruckt, und sogar Moonface hörte auf, in der Nase zu bohren. »Wen?«, fragte Collins. „Das kann ich dir nicht sagen, Sam. Ich kann's dir wirklich noch nicht sagen. Wenn die Sache über die Bühne ist, werden die Bullen dort alles auf den Kopf stellen, und ich will nicht, dass außer 133

mir jemand meinen Informanten kennt. Ich weiß, das passt dir nicht, aber du wirst mir schon vertrauen müssen.« Collins blickte Moonface an, der die Schultern zuckte. »Mir macht's nix aus.« Er schlurfte zum Billardtisch und griff sich ein Oueue. Collins war skeptischer. »Tommy, wenn wir dieses Ding durchziehen wollen, müssen wir alle von Anfang an wissen, womit wir's zu tun haben.« In seiner Stimme mit dem nordirischen Akzent lag Misstrauen. »Wie sollen wir wissen, was du hinter unserm Rücken tust, wenn wir nicht mal wissen, mit wem du arbeitest?« Collins gefiel zwar, was er über diese Sache erfahren hatte und dass so wenige daran beteiligt waren, aber er hatte nicht vor, ein Risiko einzugehen. Außerdem war sein Argwohn gegenüber Malone wieder erwacht. »Ich kann's dir nicht sagen, Sam. Ende, aus. Aber glaub mir keiner kann den anderen bescheißen, weil wir nur zusammen an das Geld rankommen.« »Wann greifen wir uns den Balg?«, wollte Moonface wissen. »Sobald die O'Briens ihn in die Villa gebracht haben.« Malone war erleichtert über den Themenwechsel. »In den Zeitungen steht, in den nächsten Tagen ist es so weit. Ich will gleich in der ersten Nacht zuschlagen, bevor die O'Briens irgend 'nen geregelten Ablauf festgelegt haben. Dann würde den Wachleuten zu schnell was Ungewöhnliches auffallen. Ich bin dafür, wir gehen die Sache kurz nach Mitternacht an.« Sie diskutierten eine Zeit lang, wie man am besten ins Haus hinein- und wieder herauskommen konnte, wie es sich vermeiden ließ, dass Alarm ausgelöst wurde, und wie sie sich ungesehen vom Haus entfernen sollten. Sam Collins hatte beschlossen, Ma134

lone vorerst nicht mehr zu bedrängen. Er würde später schon noch herausfinden, welcher Mitarbeiter der O'Brien Corporation bei dieser Sache dabei war. »Ich möchte, dass ihr zwei Wagen klaut«, sagte Malone. »Erstens, einen schnellen Geländewagen, 'nen Range Rover vielleicht, oder einen Jeep. Und dann noch 'nen Viertürer, vielleicht 'nen Volvo 460. Dafür sorgst du, Sam. Und montier neue Nummernschilder dran. Nimm Kildare-Kennzeichen für den Volvo.« Collins nickte. »Martin«, fuhr Malone fort, »du besorgst ein schnelles Motorrad. Nicht zu auffällig oder zu groß. Finde raus, welche Maschinen von den Kurieren benutzt werden, und dann besorg so 'n Gerät. Außerdem 'ne Uniform, wie die Kuriere sie tragen. Wenn wir uns das Baby geschnappt haben, möchte ich, dass du Polaroidfotos von ihm verteilst, damit die Bullen wissen, dass der kleine Scheißer am Leben ist und dass es ihm gut geht.« »Muss ich auch irgendwas tun, Tommy?«, erkundigte sich Peggy Ryan. Zum ersten Mal lächelte Malone. »Ja, Peg.« Er griff in eine Tasche, holte ein Bündel Banknoten heraus und zählte zehn Scheine ab. »Kauf was zum Anziehen fürs Baby. Und Windeln, Fläschchen, Schnuller... alles was du für die fünf Tage brauchst. Und kauf nicht alles im selben Laden, und sorg dafür, dass keiner von der Familie merkt, was du tust. Verstau das Zeug in der Garage, wo man nicht gleich drüber stolpert. Wenn du alles hast, ruf ich an und hol's ab.« Sie nickte und zupfte an einer Strähne ihres struppigen braunen 135

Haares. „Sag deiner Familie, dass du 'ne Zeit lang nicht zu Hause sein wirst.« Peggy überlegte. »Ich werd' sagen, ich fahre zu meiner Schwester nach Liverpool.« Kann man sie telefonisch erreichen? Wenn jemand dich dort anrufen will, könnte deine Schwester sich verplappern.« „Wohl kaum, Tommy. Die kommt so schnell nicht nach Hause. Meine Schwester ist im Knast, weil rausgekommen ist, dass ihre Schecks nicht mal das Papier wert waren.« Alle lachten. „Aber weiß deine Familie denn nicht, dass deine Schwester im Knast sitzt?« „Nein. Ich hab's keinem gesteckt, weil sie die Lieblingstante von allen ist. Ich wollt' sie nicht in schlechten Ruf bringen.« Worüber alle noch lauter lachten. Noch ein paar letzte Kleinigkeiten wurden besprochen; dann beendete Malone den offiziellen Teil des Treffens. Jeder wusste nun genau, was er zu tun hatte. Das Eis war gebrochen, und sie unterhielten sich noch eine Zeit lang angeregt. „Da ist noch was«, sagte Tommy schließlich, »'ne verdammt wichtige Sache.« Die anderen verstummten und wandten sich ihm aufmerksam zu. Von dem Moment an, wo wir uns das Kind gegriffen haben, darf keiner mehr auch nur eine Dose Bier trinken. Ihr müsst bei klarem Verstand bleiben und dürft nicht auffallen. Dem Balg darf nichts passieren. Kein Bier, kein Fusel. Alles klar?« Sie nickten. »Wohin soll das Lösegeld gebracht werden?« Sam Collins wollte 136

alles genau wissen. »Tja, Sam, jetzt kommt der Hammer.« Malone grinste. »Ich wollt's bis zum Schluss aufheben. Ich hab' mir die ganze Nacht den Schädel zerbrochen, bis ich drauf gekommen bin.« Malone konnte ein zufriedenes feixen nicht zurückhalten. »Als Erstes«, erklärte er, »werden wir noch drei Autos organisieren. Dann mieten wir sechs Handys von sechs verschiedenen Firmen. Je ein Telefon kommt in jeden der drei Wagen.« Die Furchen auf Moonface' Stirn wurden immer tiefer, als er versuchte, mit Malones Darlegungen Schritt zu halten, während Peggy es bereits aufgegeben hatte. Doch ihre Heldenverehrung gegenüber Tommy war offensichtlich noch gewachsen. Collins ließ den Blick nicht von Malone. Er analysierte und verarbeitete jedes seiner Worte. »Die Wagen werden vor drei Parkhäusern in der Stadt abgestellt. Wenn das Lösegeld übergeben wird, sagen wir dem Typen, der's bringt, dass er zum ersten Wagen fahren und einsteigen soll. Einer von uns wird von oben im Parkhaus aufpassen, was passiert.« Malone legte eine kurze Pause ein und blickte in die Runde. »Kommt ihr mit?« Alle drei nickten, obwohl zwei nicht die leiseste Ahnung hatten, was Malone von sich gab. »Wenn irgendwelche Bullen folgen oder ein Hubschrauber rumschwirrt oder wenn der erste Wagen verkabelt wird, damit sie ihm folgen können, geben wir ihn auf. Sobald der Kerl in einem unserer Wagen sitzt, können wir ihn übers Handy dahin dirigieren, wo wir ihn haben wollen.« Wahrend Malone seinen Gesamtplan darlegte, zog er auch Sam Collins auf seine Seite. Was Tommy sagte, klang sehr interessant 137

und keineswegs wie der Plan eines Verlierers. Es konnte funktionieren. »Mit unseren Handys schicken wir den Burschen zum zweiten Parkhaus, vor dem der nächste Wagen wartet, und sagen ihm, dass er umsteigen und wegfahren soll. Dann schicken wir ihn wieder zum nächsten Wagen. Jedes Mal, wenn der Knilch umsteigt, fährt einer von uns zum nächsten Parkhaus und beobachtet von 'nem oberen Stockwerk, ob man dem Typen heimlich folgt. Und während der Bursche von einem Wagen zum andern fährt, folgt Martin ihm auf dem Motorrad und passt auf, ob die Bullen nicht unterwegs irgendwelche Tricks versuchen, zum Beispiel, ob sie den Kerl anhalten und einsteigen oder so was.« Malone blickte Moonface ein wenig skeptisch an. „Ist gebongt, Tommy Hab' alles kapiert.« Moonface hatte zwar kein Wort begriffen, dafür aber Sam Collins, der nun knisternde Erregung verspürte, als er die Erfolgschancen des Plans erkannte. „Was passiert nach dem Umsteigen in den letzten Wagen?«, erkundigte sich Collins und spielte mit dem Ring in seiner Ohrleiste. »Es war' nicht so gut, wenn die Bullen 'ne ganze Woche in Dublin rumfahren.“ Malone lächelte über Collins' Bemerkung. »Dazu wollt' ich gerade kommen. Das ist das Schöne.« Er blickte die drei nacheinander an. »Kennt ihr die Hillcourt Mansions im Hafenviertel?« Drei Köpfe nickten gleichzeitig. Ganz Dublin kannte die Hillcourt Mansions, einen Komplex städtischer Mietskasernen, wo wie allgemein bekannt - mit Drogen gehandelt wurde und Gewaltverbrechen an der Tagesordnung waren. Die Gardai hatten die Hillcourt Mansions inoffiziell zur Sperrzone erklärt und betraten den 138

viereckigen Komplex nur selten und wenn, dann nur in größeren Trupps. In der Dubliner Unterwelt galten die Hillcourt Mansions als Zufluchtsort, wo jeder Verbrecher Asyl finden konnte. So mancher Taschendieb oder Handtaschenräuber war dorthin verfolgt worden und hatte sich den Gardai entziehen können, indem er durch einen der vier schmalen Wege geflohen war, die auf der Hinterseite zu verkehrsreichen Straßen führten. Es gab nur eine Straße in dem Komplex, die breit genug für ein Auto oder einen Lieferwagen war. „Der Typ erhält die Anweisung, in die Hillcourt Mansions zu fahren, wo zwei von uns auf ihn warten. Sobald der Wagen im Innenhof ist, muss der Bursche aussteigen, und wir verteilen das Geld in vier große Reisetaschen. Dann verschwinden wir auf zwei Motorrädern durch die schmalen Ausgänge auf der anderen Seite. Was haltet ihr davon?« Moonface riss staunend den Mund auf. »Stark, Tommy. Wirklich, sau stark." »Ja, das ist gut, Tommy«, pflichtete Sam Collins ihm bei. »Das ist wirklich ein Klasse Plan.« Er beschloss, sich keine Gedanken mehr wegen Malones Kontaktperson in der O'Brien Corporation zu machen. Falls nötig, könnte er sich später immer noch damit beschäftigen. Peggy schwieg, strahlte Malone nur an. »Und jetzt verschwindet«, sagte Malone zufrieden. Nachdem er Hal bezahlt hatte und vorsichtig die Betonstufen hinunterstieg, summte er vor sich hin. Er war sehr zufrieden, wie das Treffen verlaufen war und vor allem, dass er Sam Collins für sich hatte gewinnen können. Er war auf Collins angewiesen, denn der Nordire verfügte über Waffen und Sprengstoff. In der 139

Telefonzelle an der Ecke Monkstown Hill steckte Malone eine Zwanzigpencemünze in den Schlitz und wählte. »Betty?« »Bist du das, Tommy?« »Ja.« »Wie isses gelaufen?» »Klasse. Echt gut.« »Dann packst du's an?« »Darauf kannste einen lassen.« »Ich seh' dich also in der Frühe?« «Ja. Fünf Uhr, okay?« »Genau, fünf Uhr. Hintenrum. Die schwarze Tür, wie ich's dir gesagt hab'.« »Ja.« »Bis dann.« »Ja«, sagte Malone. »Bis um fünf.« Er zündete sich eine neue Zigarette an, um sich warm zu halten. Er war wieder im Geschäft. Als Tommy Malone den Hörer einhängte, wurde sein auserkorenes Kidnappingopfer gerade trockengelegt. Sandra O'Brien hielt das winzige Baby in den Armen und sang ihm leise ins Ohr. In der gegenüberhegenden Zimmerecke maß June Morrison soeben die Wassertemperatur für das erste Bad des Neugeborenen. Sie lächelte, als sie Sandra beobachtete und bemerkte, wie unsicher die junge Frau den Säugling hielt. »Stützen Sie seinen Kopf mit der linken Hand, wenn Sie ihn hinten

unterheben«, wies sie Sandra an; dann nahm sie ihr den

Jungen kurz ab, um ihr zu zeigen, wie sie es machen musste. Gordon O'Brien schlug plötzlich mit beiden Ärmchen aus, als er 140

spürte, wie die Hände wechselten, die ihn hielten, und trat mit den Beinen in dem viel zu großen blauen Strampelanzug. Sandra und June lächelten einander an. Trotz der anfänglichen Differenzen mit Harry O'Brien hatte June die junge Mutter inzwischen ins Herz geschlossen und sorgte sich jetzt wie eine Glucke um sie. Das Drama der Geburt geriet allmählich in Vergessenheit, und die Freude Big Harrys, wenn er seine Nase ins Zimmerstreckte, machte ihn June nun ebenfalls sympathisch. June Morrison beschloss, die vergangenen Unannehmlichkeiten zu vergessen und sich darauf zu konzentrieren, Sandra zu helfen, mit ihrem neugeborenen Sohn umzugehen, sich an sein Weinen und Strampeln zu gewöhnen und seine Babysprache zu verstehen.

17

6.25 Uhr Bibliothek, Ostflügel, Zentralentbindungsklinik Jack McGrath war beunruhigt. Weder die Klingenfolie noch die Verpackung der Gummihandschuhe hatten sich in der Klinik auffinden lassen. In Papierkörben, Ausgussbecken und Abflüssen war ebenso sorgfältig gesucht worden wie hinter den Heizkörpern und Schränken. Dann hatte der Chef der Wachmannschaft ihm mitgeteilt, sie seien nun sicher, dass der Mörder zu dieser Nachtstunde nur durch den Keller unbemerkt ins Gebäude hatte herein- und hinausgelangen können. Sämtliche Stationen waren mehrmals überprüft worden. Niemand hatte sie zur ungefähren Tatzeit verlassen oder war dort erschienen. Noel Dunnes Theorie erschien zusehends plausibler. 141

Dann zeigte eine Schwester der Poliklinik McGrath den altmodischen Sterilisator, der für sämtliche Instrumente im Ostflügel benutzt wurde. Sie bestätigte, dass dieses Gerät Verfärbungen auf den Skalpellgriffen verursachte. »Und auch bei verdammt vielen anderen Instrumenten«, fügte die Schwester verärgert hinzu. »Schon seit Monaten suche ich um einen neuen Sterilisierungsapparat für diese Station nach, aber wir sind immer die Letzten, die was Neues kriegen.« McGrath erkundigte sich nach dem Grund. »Weil wir der Flügel für die Sozialpatienten sind. Die neuen Sachen kommen immer zuerst in die Flügel mit den Privatpatienten.« »Fehlen irgendwelche Skalpellgriffe?« »Tut mir Leid, das weiß ich nicht. Wir führen keine Liste der billigeren Instrumente. Sie bekommen zu oft Beine, als dass man sie alle im Auge behalten könnte.« » Bekommen Beine ?« »Ja, bekommen Beine. Sie werden geklaut.«

Das Zimmer wurde für die Spurensicherung versiegelt. Eine halbe Stunde später hatte McGrath eine heftige Auseinandersetzung mit Luke Conway, der darauf drängte, das Labor sofort wieder zu öffnen. »Ich bin mit der Durchsuchung noch nicht fertig«, weigerte sich McGrath. »Ich brauche das Labor, Inspector. Ich brauche es mehr als dringend. Schließlich muss ich ein Krankenhaus leiten!“ »Und ich die Untersuchungen in einem Mordfall!« Die beiden Männer durchbohrten einander mit Blicken. Beide waren wütend 142

bis zur Weißglut. Conway stand unter erheblichem Druck. Der Ruf der Klinik musste unter allen Umständen gewahrt bleiben, auch wenn man sich dafür mit der Polizei anlegen musste. Der Versuch, eine außerplanmäßige

Sitzung

des

Klinikvorstands

einzuberufen,

scheiterte, weil so kurzfristig nur sehr wenige Mitglieder erscheinen konnten. Luke Conway hatte also den Schwarzen Peter und musste nun zusehen, wie er jedweden Schaden am Ruf der Klinik so gering wie möglich halten konnte. Es machte die Sache auch für McGrath nicht gerade einfacher, als Tony Dowling ihm berichtete,

dass

Mary

Dwyers

Privatleben

und

ihre

Vergangenheit blütenrein seien. »Niemand hat irgendeine Erklärung dafür, weshalb sie überfallen wurde.« Dowling studierte noch einmal seine Notizen. »Wir wissen alles, außer dem Namen des Mörders und seinem Motiv«, fügte er nicht gerade hilfreich hinzu. Tony Dowling stand kurz vor seinem siebenundfünfzigsten Geburtstag, an dem er endlich in den wohlverdienten Ruhestand treten würde. Sechs Wochen noch. Er war von mittlerer Statur, besaß einen ausgeprägten Cavan-Akzent, der ihm locker über die Zunge rollte, und trug Kleidung, die Ende der siebziger Jahre modisch gewesen war und, wie es den Anschein hatte, wieder in Mode

zu kommen

drohte.

Dowling

hatte

sein

ganzes

Erwachsenenleben bei den Gardai Siochana verbracht, zuerst in Uniform und dann bei der Kriminalpolizei. Er freute sich darauf, nach Cootehill zurückkehren zu können, wo er in den Seen angeln und auf einsamen Wegen wandern und mit Leuten reden wollte, die ihm freundlich antworteten. Hauptsache, er musste keine jugendlichen Halunken mehr nach Schusswaffen und 143

Messern durchsuchen. Dowling sehnte sich nach dem ruhigen Rentnerdasein. Trotz seiner düsteren Stimmung grinste McGrath. »Kein Zweifel, Tony, du bist ein Genie.« Dowling grinste zurück. Seit nahezu sieben Jahren gehörten sie beide der Abteilung für Gewaltverbrechen an und waren ein gutes Team. Jeder kannte die Arbeitsgewohnheiten des anderen, die Essgewohnheiten und die Familie. »Mich beunruhigt, dass Dunne wahrscheinlich Recht hat«, brummte McGrath. »Alles deutet darauf hin, dass der Kerl die Klinik wie seine Westentasche kennt. Er hat seine Spuren gut verwischt. Also müssen wir uns hier alles gründlich vornehmen und eine verdammt große Zahl von Personen befragen.« »Von denen bestimmt nicht alle begeistert darüber sein werden«, meinte Dowling. »Nein«, pflichtete McGrath ihm bei und strich nachdenklich über seinen Schnurrbart. »Nein. Wir könnten einige Probleme bekommen. Und ich kann diese verdammten Krankenhäuser nicht ausstehen.« „Hör doch endlich damit auf!«

Dean Lynch fühlte sich nicht wohl. Die Mycostatin-Pastillen, die er seit kurzem gegen den Soor einnahm, wirkten sehr langsam; sein Mund und Rachen fühlten sich immer noch wund an. Er stand nackt vor dem wandbreiten Spiegel in seinem Fitnessraum und betrachtete seinen Körper. Er hatte seine übliche Zahl von Liegestützen versucht, doch es hatte ihn zu sehr angestrengt, viel mehr als je zuvor. Er schwitzte, kaum dass er mit den Übungen angefangen hatte. Auf dem Boden standen ungeöffnete Flaschen mit Vitaminpillen und diverse Packungen mit Mineralstoff- und 144

Spurenelement-Präparaten. Lynch spannte die Muskeln; dann drehte er sich zur Seite, um seinen Bauch besser sehen zu können. Du nimmst ab, Dean, alter Junge, du nimmst ganz gewaltig ab. Du schwindest dahin. Schwinde nicht zu schnell dahin, Dean. Nicht zu schnell. Es gibt noch viel zu tun. Lynch hatte endlich Gelegenheit gehabt, sich auszuruhen und wieder ein bisschen zu Kräften zu kommen. Die Eingriffe auf der Terminliste der Poliklinik hatten abgesagt werden müssen, weil das Labor geschlossen war. Und seine Sprechstunde war wegen der

polizeilichen

Untersuchung

im

Ostflügel

ebenfalls

verschoben worden. Patientinnen, die an einem so bitterkalten Tag gekommen waren und die man nun wieder fortschickte, empörten sich lautstark. Lynch hatte seinen Assistenzarzt angewiesen, nach seinen stationären Patientinnen zu sehen, und war früh nach Hause gegangen. Du schwindest dahin, Dean. Du schwindest dahin. Aber du bist der Meute weit voraus, Dean. Halte dich nur bedeckt. Du machst das großartig. Er begann wieder mit Liegestützen, diesmal jedoch viel langsamer. Vergeude deine Kraft nicht. Es gibt noch mehr zu tun.

Vierter Tag 18 145

Donnerstag,

13.

Februar

1997,

9.15

Uhr

Südflügel,

Zentralentbindungsklinik Professor Patrick

Armstrong war ein Spießer.

Er war

Sechsundsechzig, der einzige Nichtgynäkologe der Klinik, und legte das Gebaren eines Mannes an den Tag, der die erstarrten Traditionen der irischen Medizin verkörperte. Er war ernst und distanziert, arrogant und abweisend, kalt und selbstherrlich. Die dunklen, ja düsteren Anzüge, die tristen Krawatten akademischer Verbindungen und die gestärkten weißen Hemden betonten seine asthenische Gestalt. Er besaß ein verschlossenes Raubvogelgesicht mit kleinen dunklen Augen, die unter schwarzen buschigen Brauen hervorblinzelten, als hielten sie nach Beute Ausschau. Als einziger Sohn eines berühmten Vaters und Enkel eines nicht minder berühmten Großvaters, die sich beide einen Namen in irischen Medizinerkreisen gemacht hatten, war Armstrongs Kindheit

von

steifer

Förmlichkeit

und

außerordentlicher

Langeweile geprägt gewesen. Er hatte kaum ein Lächeln zu Gesicht

bekommen,

und

ein

Lachen

war

ihm

völlig

unverständlich. Was, in aller Welt, gab es überhaupt zu lachen? Das Leben war viel zu ernst. Am Morgen des 13. Februar 1997, einem Donnerstag, war Armstrong außer sich vor Empörung. Er hielt die Geschäftskarte in der Linken und spähte über seine Brille darauf. Sein Zorn war unverkennbar. »Er will was?«, fauchte er seine Arzthelferin an, eine zurückhaltende Frau mittleren Alters mit scharf geschnittenen Zügen. »Er möchte Sie über den gestrigen Vorfall im Laboratorium befragen.« 146

Mary Dwyers Tod wurde vom älteren medizinischen Personal der Klinik nicht als Mord bezeichnet, und das würde auch niemals geschehen. Unbewusst bezeichneten die Altgedienten es bloß als »den Vorfall«. Auf diese Weise fühlten sie sich besser. Es war eine Art Verleugnung. »Er will mich befragen?« Fassungslosigkeit lag in der Stimme. „Jawohl, Sir.« Die Schwester nannte ihn stets »Sir«, weil sie wusste, dass er das gern hörte. »Nun, Mary, Sie können Detective Inspector Jack McGrath von der Abteilung für Gewaltverbrechen, Garda-Zentrale Store Street«, Armstrong las von der Karte ab, »mitteilen, dass ich sehr beschäftigt bin. Wenn er mich zu sprechen wünscht, muss er sich einen Termin geben lassen wie jeder andere auch. Wann gibt es während meiner Sprechstunde noch einen Termin, Mary?« Mary blätterte den Terminkalender durch. »In den nächsten vier Wochen ist nichts frei.« Sie verzog das Gesicht. "Sagen Sie ihm das, Mary. Sagen Sie ihm das.« »Jawohl, Sir.« Professor Armstrong griff nach dem Telefon, schaute in einem hausinternen Verzeichnis nach und wählte eine Nummer. "Dean, hier Paddy Armstrong. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh am Morgen störe, aber ich werde Ihre Zeit nicht lange in Anspruch nehmen. Es geht um diesen Vorfall im Labor.« Lynch erstarrte. „Ich habe soeben die Ankündigung eines gewissen Detective Inspector McGrath erhalten, dass er mich vernehmen will«, fuhr Armstrong fort. »Also, ich muss schon sagen, diese ganze Angelegenheit verstößt gegen sämtliche Regeln des Anstands. Gewiss denken Sie nicht anders darüber, Dean.« 147

Lynch murmelte etwas Unverständliches. »Nun, ich bin der Meinung, dass wir Ärzte uns hier zusammentun sollten. Finden Sie nicht auch, Dean? Es ist schon schlimm genug, dass die Polizei sich überhaupt in der Klinik aufhält. Es schadet unserem Ansehen. Wohin soll es führen, wenn hochgestellte, über jeden Verdacht erhabene Mediziner von der Polizei verhört werden? Das ist völlig absurd. Sind Sie da nicht meiner Meinung?« »Absolut.« In den fünf Jahren, seit er in der Zentralentbindungsklinik tätig war, hatte Professor Armstrong sich nicht ein einziges Mal herabgelassen, Dean Lynch auch nur zuzunicken. Er hatte ihn auf den Korridoren ignoriert, in den Stationen, in der Kantine überall. Und nun plötzlich verhielt er sich betont höflich. Das gefiel Dean. »Nun, Dean, ich finde, wir sollten diese Polizisten in ihre Schranken weisen. Schließlich vergeuden sie ihre und vor allem unsere Zeit. Warum suchen diese Leute den Mörder nicht unter den Drogenschnüfflern und Verbrechern, die dieses Land in den Schmutz ziehen?« »Da kann ich Ihnen nur beipflichten.« »Ausgezeichnet, Dean. Ich hatte gehofft, dass Sie mit mir übereinstimmen. Ich werde noch ein paar Kollegen anrufen und diesem absurden Spiel ein Ende machen, bevor hier alles aus den Fugen gerät. Wenn Sie jemanden unten im Ostflügel sehen, machen Sie die Leute doch bitte ebenfalls darauf aufmerksam.« »Selbstverständlich.« »Guten Morgen, Dean. Entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Sie aufgehalten habe. Ich bin sicher, Sie haben viel zu tun, genau 148

wie ich, und keine Zeit zu vergeuden.« „In der Tat.«

Ein Lächeln kräuselte Lynchs Lippen, als er langsam auflegte. Das wird ja immer verrückter. Meine Tat zieht wirklich die seltsamsten Reaktionen nach sich. Eine so schlichte Tat. Mary Dwyer hätte nicht lächeln sollen. Sie hätte bloß nicht lächeln sollen. Hätte sie, wie es sich gehört, einfach nur ihre Arbeit getan, ohne sich einzumischen, hätte ich sie nicht töten müssen. Aber sie hat sich eingemischt. Sie wusste zu viel. Und sie hat gelächelt. Es ist wirklich erstaunlich. Ungemein aufregend. Bald wird es Zeit, es wieder zu tun. Welche andere Schlampe wird mir diesmal in die Quere kommen? McGrath musste bald erkennen, dass man ihm bei jedem Schritt Steine in den Weg legte. Zu viele Krankenhausmitarbeiter hielten eine polizeiliche Befragung für unter ihrer Würde und sahen den guten Ruf der Klinik gefährdet. Wie man sich bei der Untersuchung eines Mordes verhielt, der gewissermaßen in den eigenen vier Wänden begangen worden war, gehörte nicht zu den Fächern, die an der medizinischen Fakultät gelehrt wurden. Ein Alibi beibringen zu müssen war unerhört. Bei den diversen Familienanwälten begannen die Telefone zu läuten. Der Rat war jedes Mal der gleiche: Sagen Sie nur im Beisein Ihres Anwalts etwas. Seien Sie höflich, aber bestehen Sie darauf, dass Ihr Rechtsbeistand zugegen ist. Die Anwälte konnten gar nicht oft genug darauf hinweisen. Schließlich winkten ihnen saftige Honorare. 149

19

10.22 Uhr Laboratorium, Ostflügel »Okay, ich möchte, dass Sie mich herumführen und mir erklären, was hier gemacht wird.« McGrath und Dowling waren wieder im Labor, diesmal in Begleitung von Luke Conway. Kate Hamilton hatte die Anweisung, das Wachpersonal der Klinik noch einmal zu befragen. »Hier ist die Hämatologie und die Biochemie.« »Immer schön langsam. Das mag Ihnen ja etwas sagen, aber ich kann mit dem Fachchinesisch nichts anfangen.» »Hier werden sämtliche Blutuntersuchungen für die Klinik vorgenommen. Blutgruppen- und Blutstatusbestimmungen, wie sie für Operationen erforderlich sind.« Conway bemühte sich, höflich und geduldig zu sein, aber er war auch entschlossen, dafür zu sorgen, dass das Labor so schnell wie möglich wieder benutzt werden konnte. »Außerdem brauchen wir es für die Immunologie. Wir untersuchen das Blut auf HIV und dergleichen.« »An welcher Art von Test hatte Mary Dwyer gearbeitet?«, erkundigte sich McGrath. »Wir haben herausgefunden, dass sie vergangene Nacht zuletzt an einem Blutbild für Station vier im Nordflügel arbeitete.« »Etwas Ungewöhnliches?« »Ganz und gar nicht. Die Patientin ist eine ältere Dame, die sich einer größeren Operation unterziehen muss. Ihr Fall und der Test sind eine ganz normale, unkomplizierte Angelegenheit.« 150

»Ist kein Grund für einen Mord ersichtlich?« Conway zuckte die Schultern. »Ich fürchte, da bin ich keine große Hilfe, Inspector. Ich habe keine Ahnung, was Mary Dwyer gewusst oder getan haben könnte, das Grund für einen Mord gewesen sein mag. Ich bin tief erschüttert und so fassungslos wie alle hier. Ich meine, so etwas geschieht in Krankenhäusern einfach nicht.« McGrath und Dowling wechselten Blicke. »Könnte Mary Dwyer heimlich irgendwelche Untersuchungen vorgenommen haben? Vielleicht aus Gefälligkeit für einen Bekannten? Irgendeinen ungewöhnlichen Test?« Conway spitzte nachdenklich die Lippen. »Möglich. Es würde natürlich gegen sämtliche Krankenhausvorschriften verstoßen, ohne schriftlichen Auftrag der Klinik Tests durchzuführen, aber ich weiß, dass es trotzdem immer wieder getan wird. So etwas lässt sich nur sehr schwer überprüfen.« »Sie könnte also an irgendetwas gearbeitet haben, von dem niemand etwas wusste?« »Möglich wäre es«, erwiderte Conway, »aber ich kann mir nichts vorstellen, das so wichtig wäre, dass jemand sie deshalb umbringen würde.« McGrath beugte sich über den Ständer mit den zerbrochenen Reagenzgläsern, die noch unangetastet auf dem Boden lagen. »Könnte der Täter einen Grund gehabt haben, diese Gläser zu zerschlagen?« Erneut zuckte Conway die Schultern und bemühte sich, seinen Ärger über die immer wieder gleichen Fragen zu verbergen. »Ich bin Gynäkologe, Inspector. Ich möchte nicht, dass Sie mich für unhöflich halten, aber ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung.« 151

»Können Sie feststellen, welche Art von Tests mit diesen Proben gemacht wurden?«, fragte Dowling. »Selbstverständlich. Die einzelnen Gläser sind mit den Namen der Patienten beschriftet, von denen die Proben genommen wurden. Wir bewahren alle Antragsformulare in dreifacher Ausfertigung auf.« »Wo?« »In einem Büro dort hinten.« Conway deutete mit dem Kopf in die ungefähre Richtung. »Okay«, sagte McGrath. »Vergleichen Sie sämtliche Anträge mit den Namen auf den Reagenzgläsern, und beschaffen Sie mir eine Liste der Patienten und der Tests. Ist das innerhalb einer Stunde möglich?« Conway nickte. »Ich habe den PC und den Drucker überprüfen lassen«, fügte McGrath hinzu. »Aber es ist wie verhext. Wir kriegen nichts Brauchbares. Könnten Sie sich hier mal umschauen und nachsehen, ob Sie Papier finden, das aus dem Drucker gerissen wurde? Hier liegt sehr viel Papierkram herum, und wir wissen nicht, was davon Abfall ist. Es könnte ja etwas Wichtiges darunter sein, das dieser Kerl möglicherweise verstecken oder vernichten wollte.« »Das würde ich lieber dem Cheftechniker überlassen, er kennt sich da besser aus als ich. Ist Ihnen das recht?« McGrath überlegte kurz; dann nickte er. Der Cheftechniker war bereits überprüft und als unverdächtig eingestuft worden. »Was ist mit den anderen Geräten, die der Täter zertrümmert hat? Können Sie mir da vielleicht weiterhelfen?« Conway schüttelte verneinend den Kopf. McGrath blickte durch eine Tür, die vom vordersten Labor zu 152

anderen Räumlichkeiten dahinter führte. »Was ist dort?« »Zytologie und Histopathologie. Jede Menge Mikroskope zum Untersuchen von Proben auf Objektträgern. Behälter mit pathologischen Proben.« McGrath zog fragend die Brauen hoch. »Proben von Uter... äh, Gebärmutter, Proben von Brustgewebe, Proben von Eierstöcken, Proben von ...« »Okay, okay, ich versteh' schon.« McGrath schüttelte sich leicht und schob sich rasch ein weiteres Pfefferminzbonbon in den Mund. Dowling grinste. »Sonst noch irgendwelche Räume?« McGraths Stimme klang gereizt. »Drei«, antwortete Conway. »Ganz hinten ist ein Büro, daneben ein kleines Zimmer, in dem der ganze Papierkram aus dem Labor bearbeitet und abgelegt wird.« Er machte eine Pause, als er bemerkte, dass Dowling in sein Notizbuch kritzelte. »Dann ist da noch der Autopsieraum.« »Autopsieraum?« McGrath wäre fast das Pfefferminzbonbon aus dem Mund gefallen. »Das hier ist doch eine Entbindungsklinik! Wofür, zum Teufel, brauchen Sie einen Autopsieraum?« Conway räusperte sich. »Auch hier sterben Menschen, Detective. Manchmal kommen Babys tot zur Welt. Manchmal überleben ihre Mütter die Entbindung nicht. Viele Frauen mit Krebs - Gebärmutterkrebs, Eierstockkrebs - kommen zu uns. Manchmal können wir ihnen nicht mehr helfen. Wenn diese Frauen sterben, müssen Autopsien vorgenommen werden. Außerdem kommt es vor, dass wir untersuchen müssen, weshalb Babys sterben, die wir für lebensfähig hielten. Wir müssen wissen, wie Krankheiten 153

entstehen und verlaufen.« Als er geendet hatte, war es sehr still im Labor. McGrath und Dowling waren sichtlich erschüttert. Sie hatten Entbindungskliniken stets als Orte der Freude und des Lebens betrachtet. Babys wurden geboren, freudestrahlende Väter kamen mit Blumen und Konfekt. Leben - mit großem und mit kleinem L. Zukunft. Nicht Tod. »Sie müssen tote Babys aufschneiden?« McGraths Stimme war kaum zu vernehmen. »Ja, das kommt schon mal vor. Aber es gehört nicht zu meinen speziellen Pflichten. Ein Baby zu sezieren, das nie eine Chance hatte zu leben ... das ist eine Sache, die allen meinen Leuten hier schwer fällt, ohne Ausnahme.« Conway fühlte, dass seine Worte beiden Detectives an die Nieren gegangen waren. Er hielt den richtigen Zeitpunkt für gekommen, ein wenig Druck auszuüben. »Sie dürfen nie vergessen, dass diese Klinik jederzeit bereit sein muss, um Leben zu kämpfen. Viele Außenstehende meinen, wir brauchten nichts weiter zu tun, als Babys zu entbinden. Aber wir beschäftigen uns mit sehr viel mehr. Wir haben eine Gynäkologiestation mit fünfzig Betten, eine Intensivstation mit acht Bettchen für Frühgeburten, und eine Sonderpflegestation mit ebenfalls acht Bettchen für schwächliche, kränkliche Neugeborene. Diesen beiden Stationen gilt unsere besondere Fürsorge. Unsere Erfolgsquote bei der körperlichen Stabilisierung und Pflege dieser Babys, bis wir sie nach Hause entlassen können, ist eine der höchsten der Welt. Wir leisten hier ein großes Pensum hervorragender Arbeit.« Er legte eine Pause ein. Die Mienen der beiden Detectives waren 154

unschwer zu deuten. Sie waren beeindruckt. Beeindruckt und von ihrem hohen Ross geholt. Conway beschloss, den Augenblick zu nutzen. »Deshalb ist dieser Mord auch so ... obszön. Wir kommen hier mit dem Tod zurecht. Wir sind darauf eingestellt. Aber nur, wenn er natürliche Ursachen hat. Ein Krankenhaus ist schon aus Tradition ein ganz besonderer Ort. Und hier einem Menschen so grausam das Leben zu nehmen wie Mary Dwyer, so wider die Natur ... das ist teuflisch, das ist eine Obszönität.« Seine Stimme klang angespannt. »Wir alle hier wollen, dass Sie den Schuldigen finden und seiner gerechten Strafe zuführen. Aber wir müssen auch an die Patienten auf den Stationen denken. An die Mütter und ihre Babys. An die Frauen, die auf ihre Operation warten. An sie alle. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass wieder halbwegs Normalität in diese Klinik einkehrt. Dann aber müssen wir dieses Labor wieder benutzen können.« Nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, sagte McGrath zu Dowling: »Einen Augenblick habe ich fast jedes Wort geglaubt.« »Also wirklich, Jack, du bist ein schrecklicher Zyniker.« »In unserem Beruf muss man zynisch sein, Tony. Conway hat seine Sache wirklich gut gemacht, bis er mit seinem Labor anfing. Der Kerl wäre nicht schlecht als Gewerkschaftssprecher.« Inzwischen konnte Detective Inspector Jack McGrath die Ärzte ebenso wenig ausstehen wie Krankenhäuser. Sie waren fast so schlimm wie die Gauner, mit denen er es in seinem Beruf lange Zeit zu tun gehabt hatte. Sie waren verschlagen, schwer zu fassen und nur auf ihren Vorteil bedacht. Er spürte, dass er auf Kollisionskurs war. Und er hatte Recht. Conway, dessen Gedanken sich überschlugen und der in seiner 155

Nervosität seine Umgebung nicht wahrnahm, bemerkte Kate Hamilton nicht, als er in ihre Richtung eilte. Sie blieb stehen und stutzte, als Conway an ihr vorüberkam. Rasch setzte sie sich auf die nächste Bank und versuchte, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. Um ihre Nerven zu beruhigen, krallte sie die Finger ins Revers ihrer Jacke und bemühte sich, tief ein- und auszuatmen. Sie blickte der davoneilenden Gestalt nach, die jetzt kurz stehen blieb und mit einem Arzt im weißen Kittel sprach. Mitten im Gespräch drehte Conway sich halb um und blickte über den Korridor zurück, wo Kate saß. Sie konnte sein Gesicht deutlich sehen. Die Züge waren ebenso unverkennbar wie die hoch gewachsene Figur, das glatte rote Haar und die unsteten Augen. Sie erinnerte sich genau an ihn, und diese Erinnerung überwältigte sie. Sie musste sich zusammenreißen, nicht zu ihm zu laufen und ihm eine runterzuhauen. „Finden Sie nicht, dass Sie Ihr Baby zur Adoption freigeben sollten?« Sie hatte schluchzend auf dem Entbindungsbett gelegen, keine dreißig Minuten nach der Geburt. Sie hatte einen gesunden, makellosen, vollkommenen Jungen aus ihrem Körper in die Welt gepresst. Es war keine leichte Geburt gewesen - physisch vielleicht, emotional jedoch ein Albtraum. Immer noch konnte sie den großen Mann im grünen Operationskittel sehen, mit Gesichtsmaske und der Kopfbedeckung, die das Haar verbarg. Er hatte ihr sanft bei den Presswehen beigestanden, hatte ihr gut zugeredet. »Pressen ... nicht pressen ... tief atmen ... entspannen ... pressen ... nicht pressen ... tief atmen. Sie machen das großartig! Noch einmal pressen ... So ist's richtig. Ich kann den Kopf kommen sehen. 156

Nein, jetzt nicht pressen, bis ich es sage ... gutes Mädchen ... so ist's gut. Kopf kommt jetzt. Noch einmal tief atmen, und dann fest und lange pressen... sehr gut. Das war's. Schere bitte, Schwester. Lignocaine. Atmen Sie jetzt tief durch die Maske. Sie werden einen scharfen Schmerz spüren ... ausgezeichnet... der Kopf des Babys ist frei. Versuchen Sie sich zu entspannen. Kommt eine neue Wehe? Okay, tief atmen und pressen.« Plötzlich war alles vorbei. Diese Erleichterung! Dann die Freude, als ihr das winzige, blutverschmierte Baby, in kühles, grünes Krankenhaustuch gewickelt, in den Arm gelegt wurde. Seine Augen rollten, als wäre es benommen von der anstrengenden Reise ins Leben. So rot vor Anstrengung er auch war, es bestand kein Zweifel. Er war seines Vaters Sohn. Nur dass sein Daddy ihn nie sehen würde. Er würde nie wieder irgendjemanden sehen. Nur dieses winzige Geschöpf war der Beweis, dass es ihn gegeben hatte. Als Rory ihr zum Wiegen abgenommen wurde, brach Kate in hilfloses Schluchzen aus. Es gab niemanden, mit dem sie diesen wundervollen Augenblick teilen konnte, keine Familie, zu der sie eilen und der sie ihr neugeborenes Baby zeigen konnte. Ihre Mutter war tot, und ihrem Vater hatte sie strikt untersagt, auch nur in die Nähe der Klinik zu kommen. Aber das Schlimmste war die Gewissheit, dass der Vater ihres kleinen Jungen nicht mit Blumen herbeieilen würde, wie es üblich war; er würde keine Zigarren verteilen und nicht vor Glück mit den Schwestern tanzen. Sie würde eine von vielen allein erziehenden Müttern sein. Allmählich wurde sie sich der Gestalt bewusst, die sich mit heruntergezogener Gesichtsmaske und ohne die Stoffmütze über sie 157

beugte. Dr. Luke Conway hatte Kates Schluchzen falsch gedeutet. Völlig falsch. Demütigend falsch. »Meinen Sie nicht, dass Sie Ihr Baby zur Adoption freigeben sollten?« Kate fing zu schreien an und versuchte, vom Bett zu steigen. »Wo ist mein Baby? Wo ist mein Baby?« Conway hatte befohlen, sie aufs Bett zu drücken, und ihr ein Beruhigungsmittel spritzen lassen, gegen ihren Willen. Seither hatte Kate ihn nicht mehr gesehen. Bis jetzt. Kate Hamilton stand schwerfällig auf, strich ihre Jacke zurecht und tupfte die Tränen aus den Augen. Mit aller Selbstbeherrschung, die sie aufbieten konnte, ging sie in die Bibliothek, wo die übrigen Mitglieder des Untersuchungsteams warteten. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Lass die anderen nicht sehen, wie erregt du bist. Niemand darf wissen, dass dich mit dieser Klinik etwas sehr Persönliches verbindet!

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13.05 Uhr Kurz nach dreizehn Uhr an diesem Nachmittag machte ein Fernsehteam von RTL News TV für die Abendnachrichten Aufnahmen vor der Zentralentbindungsklinik. Der Kommentator schilderte die dramatischen Ereignisse, die sich in der Klinik abgespielt hatten, angefangen mit den Notmaßnahmen für die Ge158

burt von Gordon O'Brien bis hin zur Entdeckung von Mary Dwyers Leiche keine sechsunddreißig Stunden später. Wie sich noch erweisen sollte, würde es nur eine von vielen Nachrichtensendungen sein, bei denen die Zentralentbindungsklinik im Mittelpunkt stand. In der Klinik waren Luke Conway und Professor Patrick Armstrong in ein Gespräch vertieft. Zwar war Conway der Chef der Klinik und für den reibungslosen Arbeitsablauf verantwortlich, doch er konferierte häufig mit Armstrong. Der Ältere gehörte seit nahezu dreiundzwanzig Jahren zum Stamm des Krankenhauses und saß obendrein im Vorstand. Armstrong blieb fast nichts verborgen, was in der Klinik vor sich ging; außerdem verstand er sich sehr geschickt darauf, das Führungspersonal für seine Zwecke einzuspannen. »Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn ich mich mit dem Gesundheitsminister unterhalte«, sagte Armstrong. »Er ist ein alter Bekannter von mir. Wir werden diesem Detective Inspector McGrath ein bisschen einheizen.« Er spuckte die Worte regelrecht aus. »Morgen wird das Labor uns wieder uneingeschränkt zur Verfügung stehen!« Luke Conway nickte erleichtert. Vielleicht würden sie dieses Debakel doch noch einigermaßen glimpflich überstehen. Er beobachtete, wie Armstrong die Nummer wählte.

15.45 Uhr Tommy Malone fuhr den gestohlenen Volvo 460 gut drei Kilometer die Newbridge-Umgehungsstraße entlang, bevor er die Abbiegung nach Kilcullen nahm. Peggy Ryan saß auf dem Rücksitz und beobachtete den Verkehr. Sam Collins hatte den 159

Wagen erst vor einigen Stunden vor einem Pub in Donnybrook »organisiert« und die Nummernschilder ausgetauscht. Der Volvo besaß jetzt Kennzeichen aus der Grafschaft Kildare, die Moonface von einem Toyota Corolla abmontiert hatte, der auf dem Flughafen Dublin auf seinen offenbar länger verreisten Eigentümer wartete. Außerdem hatte Moonface Dubliner Kennzeichen von einem BMW besorgt. Er musste sich sehr zusammenreißen, nicht auch noch den Wagen zu klauen, doch Tommy hatte ihn eindringlich ermahnt, nur die Nummernschilder zu organisieren und nicht mehr. »Und das bedeutet, dass du keine noch so verdammte Kleinigkeit vom Rücksitz oder von sonst wo nehmen darfst!« Während er mit Peggy durch den Ort fuhr, deutete Malone auf den nächsten Lebensmittelladen, das Telefonhäuschen und den Pub. Etwa anderthalb Kilometer hinter dem letzten Bungalow am Ortsende fuhr er von der Hauptverkehrsstraße auf eine weniger befahrene Landstraße, von der er schließlich wieder scharf links auf einen Weg zwischen Wiesen abbog. Peggy blinzelte in die zunehmende Dämmerung, konnte jedoch kaum noch den oberen Rand der Hecke sehen, an der sie vorbeikamen. Malone fuhr immer langsamer und lenkte den Volvo behutsam auf einen sehr schmalen, holprigen Feldweg. Schließlich fiel das Licht der Scheinwerfer auf die Vorderseite eines kleinen, weiß getünchten Cottages mit zwei Fenstern und einer schwarzen Haustür. »Wir sind da«, brummte Malone, als er den Motor abstellte. Er stieg aus und riet Peggy, im Wagen zu bleiben, bis er die Haustür geöffnet hatte. »Ist verdammt kalt hier. Warte, bis ich die Tür aufgemacht und ein Licht eingeschaltet hab'.« Peggy klappte den Mantelkragen 160

hoch und wartete. Der von dunklen Wolken fast verborgene Mond minderte die Dunkelheit kaum. Malone plagte sich ab, erst den Schlüssel und dann das Schloss zu finden. Schließlich stieß er die Tür fluchend mit einem Fußtritt auf. Knarrend und ächzend schwang sie nach innen. Peggy beobachtete, wie Malone sich an der Wand entlangtastete, bis auf der Veranda endlich eine schwache Glühbirne aufleuchtete. Als auch Peggy das Cottage betreten hatte, schauten beide sich aufmerksam um. Es gab drei Zimmer, eine Wohnküche und ein Bad mit schmieriger Wanne und Klosett. In der Küche stand ein alter Herd. Die anderen Zimmer konnten nur mit kleinen elektrischen Radiatoren geheizt werden. Es war eiskalt hier drinnen, und ihr Atem kondensierte zu weißen Dampfwölkchen. »Du musst dir was einfallen lassen, Tommy, dass hier ordentlich eingeheizt werden kann. Ein Neugeborenes kann in diesem Eiskeller keine Stunde überleben.« Malone nickte, tief in Gedanken versunken. »Als Erstes machen wir mal Feuer in der Küche«, bestimmte er, »dann schalten wir in den andern Zimmern die Heizgeräte ein. Elektrische Decken werden wir uns auch besorgen.« Peggy gefiel es hier gar nicht. Das Cottage war ein Dreckloch, in dem sich offenbar seit Monaten niemand mehr aufgehalten hatte. Überall roch es modrig, und das Sofa in der Küche fühlte sich klamm an. »Jesses, Tommy, ich hoff bloß, dass wir nicht lange bleiben müssen«, jammerte Peggy. »Wir hol'n uns hier alle den Tod.« Malone achtete nicht auf sie und schleppte die Schachteln und Kisten mit Lebensmitteln, Babynahrung, Feueranzünder, Torfbriketts, Kleinholzbündel und schließlich eine Riesenschachtel 161

Mini-Pampers für den Jungen herein. Bald darauf kräuselte der erste Rauch von brennendem Papier und Kleinholz aus dem Schornstein in die frostige Luft. Noch war der angekündigte Schnee nicht gefallen, doch er würde wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Obwohl es fast windstill war, zogen dunkle Wolken über den Himmel. Vereinzelt lagen noch Flecken des Januarschnees auf den Wiesen um das Haus. Es war ruhig hier, und von ein paar Schafen und Rindern abgesehen, die auf der harten Erde nach gefrorenem Gras suchten, rührte sich kaum etwas. Etwa einen drei viertel Kilometer entfernt machte Brian O'Callaghan sich Sorgen um ein hochträchtiges Schaf. Selbst durch seine vier dicken Pullover und die lange graue Ölhautjacke, die er darüber trug, biss ihn die bittere Kälte. Das Mutterschaf schien das eisige Klima gewohnt zu sein; gleichmütig kaute es an jedem gefrorenen Grasbüschel, das noch nicht abgeweidet war. O'Callaghan war siebzig Jahre alt und sein Leben lang Farmer gewesen; er sah kaum eine Überlebenschance für ein Lamm, das bei dieser Kälte im Freien geboren wurde. Unglücklich beobachtete er, wie das trächtige Schaf weiter zu einem Grasbüschel trottete, das ihm viel versprechend erschien. Als O'Callaghan sich zum Umkehren wandte, bemerkte er den Rauch. Merkwürdig, dachte er. Zu dieser Jahreszeit hält sich normalerweise niemand im Cottage auf.

18.27 Uhr Bibliothek, Ostflügel Zorn und Ratlosigkeit waren beinahe mit Händen zu greifen. »Stellt euch das mal vor!« Einer der Detectives, die an dem Fall arbeiteten, erzählte, was er bei seinem Versuch erlebt hatte, einen 162

der Ärzte zu befragen. »Da rufe ich höflich seine Sprechstundenhilfe an und sag' ihr, wer ich bin und weshalb ich mit dem hohen Herrn sprechen muss. Wisst ihr, was die Frau gesagt hat?« McGraths Team hörte zu. Einige grinsten, doch andere, die ähnliche Erfahrung gemacht hatten, zogen grimmige Gesichter. »Ich werde mal nachsehen, ob er vielleicht nächste Woche noch einen Termin freihat. Nächste Woche!« Er verzog das Gesicht. »Ich ermittle in einem Mordfall, und dann kommt die mir so! Einen verdammten Termin für nächste Woche!« Eine rege Unterhaltung kam in Gang, als auch andere erzählten, dass es ihnen nicht besser ergangen sei. »Okay, okay«, unterbrach McGrath, nachdem endlich auch der letzte Angehörige des Teams eingetroffen war und sich einen Stuhl an den großen Lesetisch in der Mitte des Zimmers gezogen hatte. Kate Hamilton blickte auf die Uhr, während sie ein Stück zur Seite rückte, um Platz zu machen. Sie hatte ihrem Vater versprochen, gegen sieben zu Hause zu sein. Doch wie es jetzt aussah, glaubte sie nicht, dass sie rechtzeitig wegkommen würde. McGrath und Dowling saßen an einem gesonderten Schreibtisch; zu beiden Seiten des Tisches standen hohe Regale mit medizinischen Fachbüchern. »Es hat ganz den Anschein, als wollte man uns mit voller Absicht Steine in den Weg legen.« McGrath schlug ein Notizbuch auf und blickte kurz hinein. »Doch bevor wir uns damit beschäftigen, möchte ich erst durchgehen, was wir bisher in diesem Fall ermitteln konnten.« Die Gruppe machte es sich ein wenig bequemer, und jeder schlug seine eigenen Notizen auf. »Wir wissen, dass Mary Dwyer am späten Dienstagabend zwi163

schen Viertel vor elf und elf Uhr ermordet wurde. Es steht so gut wie fest, dass der Mörder sich in dieser Klinik auskennt wie in seiner Westentasche. Er kam herein und wieder hinaus, ohne jemandem aufzufallen. Kein Fremder wurde im Krankenhaus, auf dem Grundstück, dem Parkplatz oder den Ausgängen zum Whitfield Square bemerkt. Entweder hat der Täter nach dem Mord seine gewohnte Arbeit in der Klinik fortgeführt, als wäre nichts geschehen ...« Protestierendes Murmeln unterbrach McGraths Redefluss. »Oder - oder«, seine Stimme wurde lauter, »was wahrscheinlicher ist, er verschwand auf dem gleichen Weg, auf dem er sich ins Gebäude gestohlen hatte, nämlich durch den Keller und das Seitentor.« Jetzt machte McGrath eine gewollte Pause, als ein paar Anwesende in ihre Notizbücher kritzelten. »Wir wissen auch so gut wie sicher - allerdings nicht mit hundertprozentiger Gewissheit - aus welchem Raum das vom Mörder benutzte Skalpell stammt, nämlich aus dem Zimmer neben dem Raum, den die Ärzte für... äh, kleinere chirurgische Eingriffe benutzen, wie sie es nennen.« Leises Kichern, als jemand sarkastisch bemerkte, dass der kleinere chirurgische Eingriff bei Mary Dwyer ein bisschen aus dem Ruder gelaufen sei. Kate legte die Hand vors Gesicht, um ihr unwillkürliches Grinsen zu verbergen. »Es befinden sich keine Fingerabdrücke am Skalpell«, fuhr McGrath fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Und die Kollegen von der Spurensicherung sind der Ansicht, die Abdrücke und Puderspuren am Hals des Opfers lassen darauf schließen, dass der Mörder Gummihandschuhe getragen hat. Latexhandschuhe, um genau zu sein.« Wieder legte er eine Pause ein, um seine Worte einwirken zu lassen. 164

»Der Täter hat außerdem eine Anzahl Reagenzgläser mit Blutproben, einen kleinen PC samt Drucker sowie ein paar weitere Geräte zertrümmert. Das Laborpersonal hat die Namen auf den Gläsern mehrmals mit denen auf den Untersuchungsanträgen verglichen, konnte jedoch keinerlei Hinweise auf die Person des Mörders finden. Die Seiten aus dem Drucker sind fortlaufend paginiert, und die acht fraglichen Seiten sind spurlos verschwunden. Wir haben sämtliche Papierkörbe, Müllbehälter, Abflüsse und dergleichen genauestens überprüft. Sogar der Müllcontainer vor der Kellertür wurde ausgeleert und jedes Stück Papier sorgfältig untersucht, aber wir haben weder da noch dort etwas gefunden.« Wieder hielt er inne und blickte die Versammelten an. »Wir haben unsere Suche nicht nur auf das Krankenhausgelände beschränkt. Jeder Papierkorb, jede Abfalltonne, jeder Müllcontainer in einem Umkreis von anderthalb Kilometern wurde durchstöbert. Jedes Taxiunternehmen und jeder Busfahrer wurde befragt. Nichts.« Er blickte Dowling an. Der nickte. »Mary Dwyer ist so sauber wie frisch gefallener Schnee. Sie wohnte bei ihren Eltern, nahm keine Drogen, hatte keine abartigen sexuellen Neigungen, keine verdächtigen Bankkonten. Nichts.« McGrath stand schwerfällig auf, stützte beide Hände auf den Tisch und starrte auf seine Notizen. »Jedenfalls nichts, was bekannt war. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Mary Dwyer irgendetwas wusste. Vielleicht hatte sie irgendeine Information. Etwas so Wichtiges, dass sie deshalb umgebracht werden musste. Möglicherweise wusste sie selbst gar nicht, wie wichtig es war, aber der Mörder konnte kein Risiko eingehen. Mary Dwyer musste zum Schweigen gebracht 165

werden.« Es war totenstill in der Bibliothek. McGrath blickte von seinem Notizbuch auf. »Und jetzt sieht es ganz so aus«, er hatte die Stimme gehoben, »als würden einige Ärzte dieser Klinik uns vorsätzlich Steine in den Weg legen. Sie halten es offenbar für unter ihrer Würde, sich von der Polizei befragen zu lassen.« »Da haben Sie verdammt Recht!«, rief jemand wütend aus. Kate Hamilton schaute den Rufer an. Insgeheim freute sie sich, dass ihre Kollegen sich so über die Einstellung der Ärzte ärgerten. Jetzt wisst ihr Jungs, was wir Mädels uns die ganze Zeit gefallen lassen müssen. McGrath hob die Hand. »Dann werde ich euch mal was sagen, und ich habe nichts dagegen, wenn ihr das anderen gegenüber erwähnt: Wir haben den Joker in unserem Blatt. Nach allem, was ich hörte, werden Operationen verschoben, Patientinnen wieder nach Hause geschickt und sogar Schwangere zur Entbindung ans Rotunda-Hospital überwiesen. Und das alles, weil wir das Labor geschlossen haben.« Beinahe so etwas wie Beifall wurde laut, gefolgt von »Pssst!« und halb unterdrücktem Lachen. »Und das Labor bleibt geschlossen, bis wir die volle Kooperation der Ärzte haben.« Jetzt war der Beifall so laut, dass er auf dem Korridor zu hören war.

Als die Detectives die Bibliothek verließen, beobachtete Dean Lynch sie verstohlen durch die spaltweit offene Tür seines Sprechzimmers, das sich auf diesem Flur befand. Er hatte zwölf Personen ins Zimmer gehen sehen und vergewisserte sich nun, dass ebenso viele herauskamen. Elf Männer und eine sehr inte166

ressant aussehende junge Frau. Lynch hatte sie besonders aufmerksam beobachtet, ihre Körpersprache, ihre Handbewegungen. Ich würde dich gern mal treffen. Allein. Nachdem sich das Gemurmel der Detectives in einiger Entfernung im dunklen, leeren Wartebereich verloren hatte, verließ Lynch sein Sprechzimmer und huschte in die Bibliothek. Er machte sich ein rasches Bild. Alle Stühle standen um den großen Lesetisch in der Mitte des Raumes; nur zwei befanden sich einander gegenüber am nahen Schreibtisch. Lynch ließ rasch den Blick über die Bücherregale schweifen, die sich links und rechts anschlossen; dann maß er mit einem Bandmaß die Breite einiger Buchrücken, bevor er vier Bände aus dem Regal nahm. Die Bücher verließen die Klinik mit ihm. Commissioner Thomas Quinlan, als Polizeichef für die hiesige Garda Siochana verantwortlich, saß in seinem Wohnzimmer vor dem Fernseher, als das Telefon läutete. Auf dem Teppich zu seinen Füßen lagen die beiden Dubliner Abendzeitungen mit den fett gedruckten Schlagzeilen über die Ermittlungen im Mordfall Mary Dwyer. »Commissioner, hier ist Alice Martin.« Quinlan setzte sich kerzengerade auf und schaltete den Fernseher per Fernbedienung aus. »Frau Minister! Was kann ich für Sie tun?« »Ich habe erfahren, dass ein gewisser Detective Inspector Jack McGrath sich in der Zentralentbindungsklinik wie ein Urmensch aufführt und dass die Ärzte sich bitter beschweren.« Quinlan schwieg. Die Erfahrung sagte ihm, dass die Justizministerin sich weniger Gedanken wegen des Mordes, der Ermittlungen und Jack McGrath machte als um schädigende Publicity. Die 167

Regierung bestand aus einer wackeligen Koalition, die von einer Krise zur anderen taumelte und zusehends handlungsunfähiger wurde. Gesetz und Ordnung - oder vielmehr deren Nichtvorhandensein - waren die derzeitigen heißen Kartoffeln. »Haben Sie gehört, Commissioner?« Alice Martins Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Selbstverständlich, Frau Minister. Aber ich habe den Eindruck, das ist nicht alles, was Sie mir mitteilen wollten.« Jetzt kau mal ein bisschen daran herum, du eingebildetes Weibsstück! Mit dieser Antwort hatte Alice Martin offenbar nicht gerechnet. »Ich bin der Ansicht, dass Detective Inspector McGrath dieser Fall entzogen werden muss.« Genau das hatte Quinlan von ihr erwartet. „Das könnte sich als Fehler erweisen, Frau Minister, wenn ich so sagen darf. Man würde es wahrscheinlich als Panikreaktion auf negative Schlagzeilen in der Öffentlichkeit auslegen.« „Ich will, dass ihm der Fall entzogen wird.« Es war ein strikter Befehl. »Gestatten Sie, dass ich heute Abend noch ein paar Anrufe tätige, Frau Minister. Morgen Früh gebe ich Ihnen dann unverzüglich Bescheid. Vielleicht gibt es noch andere Möglichkeiten.« »Commissioner Quinlan, ich möchte Sie daran erinnern, dass ich Justizministerin bin und Sie mir unterstellt sind.« »Mit allem Respekt, Frau Minister, wie könnte ich das vergessen? Seit Ihrer Amtsübernahme stoßen Sie mich immer wieder mit der Nase darauf.« »Ich bestehe darauf, dass Detective Inspector McGrath die Untersuchung dieses Falles entzogen wird!« Der Hörer wurde auf 168

die Gabel geschmettert. Quinlan starrte einen Augenblick aufs Telefon. »Luder!«, brummte er und wählte. Dean Lynch schnitt das Innere der vier Sachbücher in der Form aus, die er benötigte. Dann schloss er jedes Buch und begutachtete es. Die Bücher sahen von außen nicht anders aus als zuvor. Geöffnet jedoch war eine säuberlich ausgeschnitzte Höhlung zu sehen, von der ein dünner, enger, ebenfalls ausgeschnitzter Tunnel bis zum Buchrücken verlief. In diese Höhlungen passte Lynch je ein Panasonic-Diktiergerät ein, das sich beim Klang menschlicher Stimmen automatisch einschaltete. An die Diktiergeräte waren Vivano-EM-116-Mikrofone angeschlossen. Von außen war den Büchern nicht anzusehen, dass sich im Inneren Diktiergeräte befanden. Ein dünnes Kabel verlief durch den ausgeschnitzten Tunnel zum Mikrofon, das nur eine Winzigkeit über den Buchrücken hinausragte. Lynch bewunderte seine Arbeit eine Zeit lang, bevor er einen Versuch machte. Er stellte die vier Bücher aufrecht auf Küchenschrankfächer von unterschiedlicher Höhe; dann setzte er sich an den Küchentisch und begann, laut aus der Gebrauchsanleitung für seinen Mikrowellenherd - >Wie lasse ich einen Auflauf in nur acht Minuten garen< - zu lesen. Nach fünf Minuten, als die Zeitschaltuhr klingelte, verstummte Lynch. Er nahm die Bücher vom Schrank und schaute nach den Diktiergeräten. Alle hatten auf seine Stimme reagiert, wie er an den abgespulten Bandstücken erkennen konnte. Lynch spulte die Kassetten zurück und hörte sie sich an. Seine Stimme war klar und deutlich zu vernehmen. Wieder spulte er die Kassetten zurück und stellte die Bücher zurück in die Fächer. Noch einmal las er laut die Anleitung, machte diesmal aber nach jeweils drei Minuten eine ein169

minütige Pause. Dann holte er die Bücher erneut an den Tisch und spielte die Kassetten ab. Perfekt. Das System hatte tadellos funktioniert. Die Diktiergeräte hatten nur aufgenommen, wenn er gesprochen hatte, und angehalten, sobald er verstummt war. Perfekt! Klappt wie am Schnürchen, Dean, alter Junge; könnte nicht besser sein. Stell die Bücher in vier verschiedene Regale, damit dir nichts entgeht. Auf diese Weise kannst du stets erfahren, was in der Bibliothek gesprochen wurde. Du bist ein kleines Genie, da gibt's gar keinen Zweifel. Und um dies zu feiern, gönnte Dean Lynch sich einen Schuss.

Fünfter Tag 22 Freitag, 14. Februar 1997, 6.47 Uhr Cottage bei Kilcullen in der County Kildare Die Scheinwerfer des Jeeps durchdrangen die frühmorgendliche Dunkelheit. Tommy Malone und Sam Collins lieferten schwere Artillerie. Malone machte sich Sorgen wegen der Entwicklungen in der Zentralentbindungsklinik und der Gerüchte, dass Harry O'Brien seine Frau und seinen neugeborenen Sohn früher als beabsichtigt nach Hause holen würde. Er wollte so schnell wie möglich zuschlagen. Malone hatte sich am vergangenen Tag pünktlich um fünf Uhr 170

früh, wie ausgemacht, zur Hintertür der O'Brien-Zentrale in der Dawson Street begeben. Ein dreimaliges Klopfen in 30-Sekunden-Abständen brachte die wartende Betty auf Trab. Wenige Minuten später befand Malone sich im Gebäude. Betty hatte dafür gesorgt, dass der Nachtwächter den ungebetenen Besucher nicht sehen konnte, und ihn zu Big Harrys Privatbüro geführt. Dort, an der Wand hinter einem schweren Drehsessel, hing eine Luftaufnahme von Beechill, dem Familiensitz der O'Briens in Wicklew. Tommy Malone hatte das Foto länger als eine Stunde studiert, hatte sich ein Bild davon gemacht, wo sich das Einfahrtstor befand und die Straße, die zur Einfahrt führte. Vor allem hatte er sich den Verlauf des ungepflasterten Weges eingeprägt, der an einer Seite des Grundstücks entlangführte, sowie die Anlage des Gartens in unmittelbarer Nähe des Hauses, vor allem die Lage der Sträucher und Büsche vor dem Gebäude. Eine ideale Deckung, wie Malone fand. Dann hatte er die Riesenbäume bemerkt, die einzeln und in Gruppen auf dem etwa fünfzigtausend Quadratmeter großen Grundstück standen. Verdammt gut für seine Pläne. Betty hatte zweimal flüchtig ins Zimmer geschaut, um Malone zu sagen, dass alles okay sei und dass man ihn nicht stören würde. Als Malone kurz nach halb sieben das Gebäude verließ, kannte er Beechill wie seine Westentasche. Außerdem wusste er nun die Privatnummern von Big Harry und Theo Dempsey; er hatte sie in einem Notizblock in einer Schreibtischlade entdeckt. Malone hatte Dempsey bereits als Verbindungsmann und Kurier für das Lösegeld auserkoren. Sämtliche Verhandlungen mit Big Harry würden über Dempsey laufen, alle Anrufe nur über Dempseys Nummer gehen. Die Bullen, speku171

lierte Malone, würden zuerst einmal Beechill abhören und sofort an Dempsey denken, wenn sie feststellten, dass die Einzelheiten der

Lösegeldübergabe

nicht

über

Big

Harrys

Telefon

durchgegeben wurden. Auch von Betty erfuhr Malone etwas sehr Interessantes. »Big Harry gibt fast dem ganzen Personal ein paar Tage frei, damit alle die Geburt des Babys feiern können.« Malone traute seinen Ohren nicht. Das war ja wie ein Haupttreffer im Lotto! »Ab wann?« »Ab morgen. Hab' gehört, wie ein Wachmann geflucht hat, weil er erst später ein paar Tage freikriegt.« Tommy Malone umarmte Betty, als hätte sie den Leuten Sonderurlaub gewährt. Später, am Nachmittag, war Sam Collins in einem erst kurz zuvor gestohlenen Jeep Cherokee mit verstärkter vorderer Stoßstange und frisch geklauten falschen Nummernschildern an Beechill vorübergefahren. Dabei hatte Collins das große, schmiedeeiserne Tor in der gut viereinhalb Meter hohen Mauer aus Granitstein gesehen. Diese Mauer führte etwa zweihundert Meter an einer kleinen Nebenstraße entlang, die halbkreisförmig in die Killiskey Road mündete. Nachdem Collins sich vergewissert hatte, dass niemand ihn sah, war er rasch ausgestiegen, hatte sich ein Bild von der Stärke des Tores gemacht und rasch überschlagen, wie viel Semtex er brauchte, um die Torflügel aus den Angeln und damit aus dem Weg zu sprengen. Danach war er mit dem Jeep den ungepflasterten Weg entlanggefahren, auf den Malone ihn aufmerksam gemacht hatte. Dieser Weg führte von einem Ende der vorderen, neueren Mauer vorbei 172

an einer älteren, die sechzig Jahre zuvor errichtet worden war, und endete am Wasserrand des Vartry-Staubeckens. Collins entdeckte, dass der Weg nach der Abbiegung zum Staubecken noch knapp fünfzig Meter weiter führte. Während er langsam zurückschlenderte, fiel ihm auf, dass die Grundstücksmauer zu seiner Linken zwar schon an manchen Stellen bröckelte, im Wesentlichen aber durchaus stabil war. Er gelangte zu einem hölzernen Tor. Es war von den früheren Besitzern Beechills benutzt worden, um auf kürzestem Weg zum Fischen ans Staubecken zu gelangen. In der Dunkelheit betastete Collins die Angeln des Tores mit den Fingerspitzen nach Rost; dann warf er sich mit der linken Schulter dagegen. Er lächelte, als er spürte, dass es leicht nachgab. Auf dem Rückweg nach Dublin nahm er sich vor, einen Holzhammer zu besorgen. Der Holzhammer war der erste Gegenstand, den sie am Cottage vom Jeep luden. Als Nächstes folgte eine abgesägte 12-Millimeter-Schrotflinte, zwei 38er Smith-&-Wesson-Revolver und eine libysche AK47-Maschinenpistole. Collins hatte tief in sein IRAWaffenarsenal gegriffen. Eine leere Kiste Smirnoff-Wodka, in der sich nun Skimützen, vier Paar hautenge Lederhandschuhe und genug Munition für einen kleinen Krieg befanden, lag auf dem Beifahrersitz. Malone beugte sich zur Seite, um die Kiste vorsichtig zur Beifahrertür zu schieben, als er versehentlich auf die Lenkradhupe drückte. Der plötzliche Lärm ließ ihn heftig zusammenfahren und weckte die in ihrem Schlafsack dösende Peggy Ryan, die für die Dauer des Unternehmens ins Cottage gezogen war. Er weckte auch Brian O'Callaghan. Der alte Mann stieg aus dem Bett und spähte in die Morgendäm173

merung. Er sah gerade noch, wie Autoscheinwerfer ausgeschaltet wurden. O'Callaghan kratzte sich am Kopf, dann am Hintern und legte sich wieder ins Bett. Was, zum Teufel, geht da oben vor?, fragte er sich verschlafen, während er sich unter die warme Decke kuschelte.

»Heute Nacht packen wir's an«, bestimmte Tommy Malone bei einer Tasse starkem Tee. »Heute Nacht greifen wir uns den kleinen Scheißer. Ich weiß von meinem Informanten, dass Big Harry den Balg heute nach Hause bringt und dass er dem Personal zwei Tage freigegeben hat, um die Geburt von seinem Stammhalter zu feiern. Er hätt's nicht besser für uns planen können. Also, packen wir's an?« Malone blickte zu Peggy Ryan. Sie nickte. Sie war bereit. »Ich hab' nichts dagegen«, sagte Collins. Er drückte auf den Abzug einer ungeladenen Smith & Wesson und richtete den Lauf in die Ferne. »Is' mir recht. Je früher, desto besser. Ich bin startklar.« In Zimmer 3 des Nordflügels in der Zentralentbindungsklinik Dublin hatte Sandra O'Brien den kleinen Gordon soeben gestillt und wickelte ihn nun. Sie summte vor sich hin und lächelte, als sie sah, wie sich sein Gesichtchen verzog, wie sein Näschen zuckte und seine dünnen Armchen protestierend zappelten. Dann fing er an zu weinen, und Sandra hob ihn hoch und küsste ihn auf die Stirn. Gordons Plärren verstummte, und die Babyaugen schielten zu dem verschwommenen Gesicht über ihm hinauf. Sandra küsste den Kleinen noch einmal und legte ihn auf die Seite in sein Körbchen. 174

Sie beobachtete, wie seine Augen blinzelten und starrten, ehe der Schlaf ihn übermannte und die Lider sich schlossen. Was bist du doch für ein wunder-, wunderschönes Baby. Möge der liebe Gott dich so groß und stark werden lassen wie deinen Papa. Vom Flur hörte Sandra das Weinen eines anderen Neugeborenen, das zu einem weiter entfernten Zimmer gefahren wurde. Während sie lauschte, strich sie Vitamin-E-Öl auf ihre Operationsnaht, damit diese schneller verheilte. Noch nie im Leben hatte Sandra sich so zufrieden und ausgeglichen gefühlt.

Dean Lynch hielt sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in der Klinik auf. Nicht, dass es für Ärzte viel Arbeit gab, solange das Labor noch nicht benutzt werden konnte und keine ambulanten Behandlungen durchgeführt wurden. Frauen, bei denen die Wehen eingesetzt hatten, wobei möglicherweise Komplikationen drohten, wurden zu anderen Kliniken überwiesen; einige brachte man sogar mit Krankenwagen aus der Zentralentbindungsklinik dorthin. Lynch hatte eine Aktentasche dabei, die er so trug, dass sie leichter zu sein schien, als sie war. Ohne irgendjemanden zu beachten, begab er sich zu seinem Sprechzimmer. Die Flure, Untersuchungszimmer und der Warteraum waren menschenleer. Niemand hielt sich in der Bibliothek auf. Lynch hatte bereits entschieden, wohin er die vier Bücher mit den Abhörgeräten stellen würde, und verlor nun keine Zeit, sie dort unterzubringen. Er betrachtete die Regale aus ein paar Schritt Entfernung, um sich zu vergewissern, dass die zweckentfremdeten Bücher nicht irgendwie aus der Reihe fielen und die Mikrofone nicht zu sehen waren. Alles in Ordnung. Dean war sehr zufrieden mit sich. 175

Zurück in seinem Sprechzimmer, drückte er auf das Kombinationsschloss seiner Aktentasche und breitete deren Inhalt auf einer Untersuchungsliege aus. Es waren acht 2-Stunden-Mikrokassetten und sechzehn Panasonic-LR6-Ersatzbatterien. Er wollte gut vorbereitet sein. Die vier Recorder und die Mikrofone hatte Lynch in verschiedenen Läden gekauft, ebenso die Mikrokassetten und Batterien. Von allen Gegenständen hatte er die Fingerabdrücke abgewischt. Bei der Überprüfung der Ersatzbatterien und Mikrokassetten trug er Gummihandschuhe. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Nicht wahr, Dean, alter Junge? Während der letzten zwei Tage hatte er aufmerksam beobachtet, wie der Arbeitsablauf der Detectives aussah, und so wusste er, dass sie sich gegen acht Uhr fünfundvierzig in der Bibliothek getroffen und sich auch über die Mittagszeit dort aufgehalten hatten. Er war sicher, dass sie bei ihrem kleinen Imbiss aus der Krankenhauskantine ihre weitere Strategie durchgegangen waren. Überdies hatten sie sich an beiden Tagen noch einmal gegen achtzehn Uhr in der Bibliothek versammelt, wahrscheinlich um über Fakten zu sprechen, die sie während des Tages gesammelt hatten. Auch zwischendurch hatten sie sich mehrmals kurz in ihren provisorischen Besprechungsraum zurückgezogen. Von nun an würde er jedes Wort hören, das sie sprachen. Lynch ließ seine Sprechzimmertür einen Spalt offen, sodass er beobachten konnte, wann die Detectives kamen und gingen; außerdem konnte er Kassetten und Batterien austauschen, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Wegen des geschlossenen Labors waren die normalerweise belebten Warte- und Untersuchungsräume 176

sowie die Flure, die zum Labor führten, jetzt meist menschenleer. Du kannst bei deiner eigenen kleinen Morduntersuchung Mäuschen spielen, Dean, alter Junge. Was für ein Spaß! Kurz nach acht Uhr dreißig schaltete Harry O'Brien das Radio aus und starrte es einen Moment gedankenversunken an. Auf der Schreibtischplatte vor ihm lag ein aufgeschlagenes Exemplar der Boulevardzeitung Daily Post, die einen Sensationsartikel gebracht hatte, einen »Exklusivbericht«, dem durch ein Bild des gelben Garda-Absperrbands vor der Labortür der Zentralentbindungsklinik ein zusätzlicher dramatischer Anstrich verliehen wurde. Krankenhaus in der Krise!, lautete die Schlagzeile des Revolverblattes. Die Frühnachrichten von Radio RTL, Guten Morgen Irland, brachten die Klinik-Story als Erstes und schoben später noch einen 6-Minuten-Bericht darüber ein. Harry O'Brien hatte genug. Ein paar Minuten nach neun traf sich Garda Commissioner Thomas Quinlan mit Chief Superintendent Michael Loughry im Garda-Hauptquartier im Phoenix Park. Eine ziemlich erregte Diskussion, die über eine Stunde dauerte, endete mit der politisch motivierten Entscheidung, McGrath die Leitung des Mordfalles Mary Dwyer zu entziehen. Es war Loughry, der vorschlug, die Ermittlungen von einer Frau leiten zu lassen.

12.37 Uhr Vortragssaal, Zentralentbindungsklinik Jack McGrath beschloss, seine Trumpfkarte auszuspielen. Er hatte genug davon, sich über die Ärzte zu ärgern. Außerdem machte es ihm zu schaffen, dass es in diesem Fall nicht voran177

ging. Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wurde sein Verdacht, dass der Mörder zum Mitarbeiterstab der Klinik gehörte. Und je intensiver er diesen Gedanken verfolgte, umso größer wurden seine Sorgen. »Der Hurensohn könnte noch einmal zuschlagen«, sagte er zu Dowling. »Er könnte durch die Klinik spazieren und sich kranklachen über unsere jämmerlichen Versuche, ihn zu erwischen. Höchste Zeit, die Glaceehandschuhe auszuziehen und diesen Pennern von Ärzten zu zeigen, wo der Hase läuft. Es mag zwar ihre Klinik sein, aber es ist meine Morduntersuchung! Wenn die Herrschaften nicht spuren, müssen wir sie eben in den Arsch treten.« Die Ärzte kamen in kleinen Gruppen. Sie unterhielten sich gedämpft und warfen heimlich nervöse Blicke auf die hier völlig deplatzierten Detectives, die jedes Gesicht scharf musterten. McGrath hatte seine Leute an strategischen Punkten postiert, sodass jeder einen guten Blick auf die Sitzreihen hatte, die vom Podium aus, das vorn in der Mitte stand, in Stufen nach hinten verliefen wie in einem Hörsaal. Kate Hamilton stand ungefähr in halber Höhe des Saales an die Wand gelehnt und tat ihr Bestes, einschüchternd zu wirken. Luke Conway schloss sich wortlos McGrath am Rednerpult an, als die letzten beiden Ankömmlinge sich in die hinterste Reihe drängten. Dean Lynch saß in der dritten Reihe von hinten. Er achtete auf jede Bewegung und auf den leisesten Gesprächsfetzen. Plötzlich bemerkte er Kate Hamilton, und ein Lächeln huschte über seine Züge. Er drehte sich so, dass er Kate im Auge behalten konnte. Conway redete als Erster. »Ich möchte Ihnen Detective Inspector Jack McGrath von der 178

Mordkommission der Garda-Zentrale Store Street vorstellen. Inspector McGrath und sein Team untersuchen den Vorfall im Laboratorium in der Nacht zum letzten Dienstag.« Vorfall!, dachte McGrath. Vorfall! Das Mädchen wurde ermordet! Er spürte, wie Zorn in ihm aufloderte. »Wie Sie wissen«, fuhr Conway fort, »gehen unsere Meinungen darüber auseinander, wie die Ermittlungen in der Klinik vorgenommen werden sollten. Verständlicherweise möchte der Inspector ...«, Conway machte eine Pause und blickte McGrath gönnerhaft an, »den Schuldigen so rasch wie möglich finden. Wir Ärzte dagegen müssen den Betrieb in der Klinik aufrechterhalten, und zwar rund um die Uhr, wie Sie alle wissen. Krankheiten brechen nicht nur während der Arbeitszeit aus, und nach meiner langjährigen Erfahrung, die viele von Ihnen sicherlich ebenfalls machen konnten, haben Babys die seltsame Angewohnheit, zu den unpassendsten Nachtstunden auf die Welt kommen zu wollen.« Ein höfliches Lachen füllte den Vortragssaal, Köpfe nickten bestätigend. Conway erlaubte sich den Anflug eines Lächelns. »Ohne ein uneingeschränkt funktionsfähiges Labor können wir unseren ärztlichen Pflichten allerdings nicht nachkommen. Inspector McGrath dagegen hält es für angebracht, das Labor geschlossen zu halten, aus welchen Gründen auch immer. Aber er hat mich immerhin wissen lassen, dass die Möglichkeit besteht, die Versiegelung nach unserem kleinen Gespräch hier aufzuheben. Dann können wir alle unsere Arbeit wieder aufnehmen.« Gedämpfter Applaus setzte ein. »Eines steht fest. In dieser Klinik muss so schnell wie möglich wieder der gewohnte Arbeitsablauf einkehren«, fügte Conway 179

rasch hinzu. »Und noch etwas. Die negative Publicity, die aus dem unglückseligen Vorfall resultierte, war nicht eben dazu angetan, das Vertrauen der Patientinnen zu fördern. Von der Auswirkung auf die Arbeitsmoral des Personals wollen wir gar nicht erst reden.« Conway legte eine bedeutungsvolle Pause ein und wandte sich halb zu McGrath um. »Erst heute Morgen bekam ich einen Anruf vom Gesundheitsminister. Er wollte wissen, was hier vor sich geht und weshalb wir nicht wie gewohnt arbeiten. Ich musste dem Herrn Minister berichten, dass die polizeilichen Untersuchungen unsere Bemühungen verzögern, den reibungslosen Klinikbetrieb wiederherzustellen.« Er drehte sich nun ganz zu McGrath um. »Ich übergebe das Wort nun an den Detective Inspector, der Ihnen etwas mitteilen möchte.« Conway setzte sich in die vorderste Reihe und wartete. Die Unterbrechung war sorgfältig kalkuliert. Eine Seitentür des Vortragssaals wurde besonders lautstark geöffnet. Alle Blicke huschten dorthin. Die Versammelten sahen Professor Patrick Armstrong in den Saal schreiten, gefolgt von einem kleineren, fassbäuchigen Mann in maßgeschneidertem Nadelstreifenanzug. In seiner Rechten hielt er eine ziemlich abgegriffene braune Aktentasche. Die beiden Herren schritten entschlossen vor das Podest und drängten sich auf der gegenüberliegenden Seite in die zweite Bankreihe. Andere rückten zusammen, um ihnen Platz zu machen. Armstrong richtete sich hoch auf. »Ich bedauere zutiefst, dass wir nicht pünktlich erscheinen konnten, aber der Verkehr hat uns aufgehalten. Ich bin Professor Patrick Armstrong, und dieser Herr«, er legte eine Hand auf die Schulter des Kleineren, »ist Peter Harrington von Harrington und Partner, den Anwälten der Klinik.« 180

Armstrong setzte sich. Harrington öffnete laut klickend die Schlösser seiner Aktentasche und kramte darin herum. Köpfe wandten sich ihm zu. Er brachte ein Diktiergerät zum Vorschein, schloss theatralisch ein Mikrofon daran an und richtete es nach vorn. Dann langte er flüchtig in seine Brusttasche, doch diese Bewegung diente lediglich dazu, eine Zeitschaltuhr zu aktivieren. Harrington und Partner verlangten hundert Pfund Honorar die Stunde. Und Harrington musste schließlich wissen, wie viel er am Schluss dieses kleinen Zwischenauftrags berechnen konnte. Da kommt einiges zusammen, dachte er zufrieden, während er sich zurücklehnte, um zu lauschen. McGrath begann. »Danke, Dr. Conway. Ich habe nicht die Absicht, die Einzelheiten dieser Ermittlung aufzuzählen. Die dürften Ihnen allen inzwischen bekannt sein. Aber dass ich mich zum ersten Mal in den vielen Jahren, die ich in der Abteilung für Gewaltverbrechen arbeite, einer solch ungewöhnlichen Mauer des Schweigens gegenübersehe, werde ich nicht stumm hinnehmen! Die freundlichen Bitten meiner Leute, einige von Ihnen befragen zu dürfen, wurden mit eisigem Schweigen beantwortet. Anrufe wurden nicht erwidert, Antworten verweigert, Informationen vorenthalten. Ich habe aus den Zeitungen mehr erfahren als von Ihnen.« Protest aus den Sitzreihen wurde laut. Ehe irgendjemand McGrath unterbrechen konnte, spielte dieser seinen Trumpf aus. »Wenn Sie möchten, kann ich den Rest des Jahres damit verbringen, jeden Zentimeter des Labors nach möglichen Spuren abzusuchen. Und es bleibt geschlossen, bis ich anders entscheide.« Der Protest aus den Reihen wuchs. Dean Lynch, der weit hinten saß, lächelte gelassen. Er schaute zu Kate Hamilton hinüber, 181

wandte jedoch rasch den Blick ab, als er bemerkte, dass sie in seine Richtung sah. McGrath hob Schweigen gebietend die Hand, doch das protestierende Murmeln hielt noch einige Minuten an. Den nächsten Zug hatte McGrath stundenlang überdacht. Es war ein Wagnis, doch es war an der Zeit für ein Vabanquespiel. Er griff in seine Jackentasche und holte einen länglichen braunen Umschlag heraus, aus dem er theatralisch ein gefaltetes Blatt Papier zog. Aller Augen ruhten nun auf ihm. McGrath öffnete das Papier, legte es auf das Pult und strich es glatt. »Vergangene Nacht erhielten wir eine ganz bestimmte Information.« Er hielt kurz inne. Nie hatte er ein aufmerksameres Publikum gehabt. »Während wir jetzt hier versammelt sind, wird diese Information überprüft. Sollte sie sich als richtig erweisen, können wir wahrscheinlich schon bald eine Verhaftung vornehmen.« Leise, erstaunte Ausrufe waren zu hören. Dean Lynch lächelte immer noch. Er hatte sich bereits den ersten Satz Kassetten geholt und wusste, was am Morgen in der Bibliothek besprochen worden war. McGrath bluffte. Er hatte absolut nichts in der Hand. McGrath fuhr rasch fort, entschlossen, diese Gelegenheit zu nutzen. »Wir können jedoch nicht auf der Grundlage dieser Information vorgehen, ehe wir nicht jeden einzelnen männlichen Angehörigen der Belegschaft überprüft haben. Sie brauchen nur Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu beweisen, und ich lasse Ihr Labor wieder öffnen.« Er schob das Papier in den braunen Umschlag zurück und steckte beides wieder in die Jackentasche. Als der Saal sich leerte, zog Dowling McGrath zur Seite. »Was ist denn das für eine 182

Information, die du letzte Nacht bekommen hast?« »Gar keine. Das Einzige, was auf diesem Papier steht, ist die Essensbestellung von gestern.« Dowling ächzte. Um fünfzehn Uhr wurde das Labor freigegeben. Noch an diesem Nachmittag, um siebzehn Uhr dreißig, fand in der beeindruckenden Eingangshalle der Klinik eine hastig einberufene Pressekonferenz statt. Ein Fernsehteam von RTE, Radioreporter sowie Journalisten und Fotografen von Zeitungen und mehreren teuren Hochglanzillustrierten waren erschienen. Sogar das Hello-Magazin hatte einen Fotografen geschickt. Luke Conway betrat das Foyer als Erster und las von einem vorbereiteten Skript. »Meine Damen und Herren, ich möchte mich bedanken, dass Sie auf eine so knappe Ankündigung und trotz des bitterkalten Wetters gekommen sind. Doch wir möchten Ihnen nun die versprochene Gelegenheit bieten, das glückliche Paar... Verzeihung, die glückliche Familie zu sehen, ehe sie die Klinik verlässt.« Kameras surrten oder klickten, Blitzlichter flammten. Ein glückstrahlender Harry O'Brien erschien, der seine junge Frau in einem Rollstuhl schob. Sandras persönliche Schönheitsberaterin und ihr Hairstylist hatten sich fast den ganzen Vormittag mit ihr beschäftigt, und sie sah bildschön aus, wenngleich ein wenig angespannt. Ihr langes Haar war zurückgekämmt, was ihre hohen Wangenknochen, die vollen Lippen und das bezaubernde Lächeln hervorhob. Hier war Irlands berühmtestes Model, dessen Schönheit von der Schwangerschaft und der dramatischen Geburt nicht im Geringsten beeinträchtigt war. Ihnen folgte June Morrison mit Gordon O'Brien, der mitsamt seinen Kissen in einen breiten Schal aus Klöppelspitze gewickelt war. Sein 183

Gesichtchen und ein paar dünne Strähnen weichen blonden Haars schauten gerade noch heraus. June reichte das Baby seiner Mutter, und diese drehte sich den Kameras zu. Wieder zuckten Blitze, surrten und klickten Kameras. Dann stellte Harry O'Brien sich für das Familienporträt hinter den Rollstuhl. Die Fotografen vom Hello-Magazin legten neue Filme ein und verschossen weitere Rollen. Und dann begann das Fragen-Bombardement. Mit Humor und einem Lächeln beantwortete Harry O'Brien so viele Fragen, wie er nur konnte. Er war eine beeindruckende Gestalt und machte in seinem anthrazitgrauen Nadelstreifenanzug und der Krawatte mit weißen Punkten eine ausgezeichnete Figur. Sein krauses Haar war fast gebändigt, und aus seiner Brusttasche spitzte ein dunkelpinkfarbenes Seidentuch. Man sah Big Harry an, dass er alles unter Kontrolle hatte. Beim Sprechen behielt er beide Hände auf der Rückenlehne des Rollstuhls. Nein, Sandra und Gordon verließen die Klinik nicht wegen der polizeilichen Ermittlungen schon jetzt. Der Wetterbericht sei nicht sehr erfreulich, und er wolle seine Frau und seinen Sohn zu Hause haben, falls und bevor es schneite. Nein, er habe sich nicht deshalb dazu entschlossen, seine Familie jetzt schon nach Hause zu holen, weil er um ihre Sicherheit besorgt sei. Ja, er habe volles Vertrauen in das Personal der Zentralentbindungsklinik. Nahm er nicht zur Entlastung Sandras eine Schwester mit nach Wicklew, die ihr helfen solle, sich um den kleinen Gordon zu kümmern? Er zog June Morrison zu sich heran, und wieder erhellten Blitze das Foyer. June lächelte für die Kameras. Ja, er sei überglücklich, wieder Vater zu sein. Vor Freude, wieder 184

eine Familie zu haben, könne er die ganze Welt umarmen. Er lächelte Sandra strahlend an, und das Lächeln, mit dem sie Big Harry bedachte, war umwerfend. Die Fotografen drängten einander zur Seite, um sich nur ja nichts entgehen zu lassen. Ja, er sei zutiefst dankbar für alles, was in der Zentralentbindungsklinik für ihn und Sandra und jetzt auch für den kleinen Gordon getan worden sei. Vor allem würde er nie vergessen, wie rasch das Personal die rettenden Entscheidungen getroffen und blitzschnell gehandelt habe, als Gordon in Schwierigkeiten geraten sei. Big Harry bedankte sich ganz besonders bei Dr. Tom Morgan, der Sandra während ihrer Schwangerschaft so aufopferungsvoll betreut habe. Morgan erschien hinter einer kleinen Gruppe Zuschauer und schüttelte O'Briens Prankenhand. Wieder flackerten Blitzlichter. Tom Morgan sah so gut aus, dass er Sandra O'Brien beinahe die Schau stahl. Dr. Dean Lynch wurde nicht erwähnt. Und Harry wollte auch dem pädiatrischen Team danken, das eine so wichtige Rolle bei der Geburt seines Sohnes gespielt hatte. Der hoch gewachsene Paddy Holland schloss sich kurz der Gruppe an, damit die Fotografen eine Aufnahme schießen konnten. Er strich durch sein kurzes dunkles Haar und rückte seine Brille zurecht, um ein bisschen ansehnlicher auszuschauen. Der ganze Rummel schien Holland verlegen zu machen, und so schnell er konnte, zog er sich wieder in den Hintergrund zurück. Mit einer abschließenden Dankesbezeugung an alle Anwesenden, einem Winken und nachdem er noch für ein paar Bilder posiert hatte, schob Harry O'Brien seine Frau und ihr vier Tage altes Baby durch die Korridore und hinaus zum wartenden Mercedes. June Morrison würde im Range Rover folgen, den Theo 185

Dempsey fuhr. Dempsey empfand während der einstündigen Fahrt von Dublin nach Wicklow, hinter dem Wagen seines Chefs, unsägliche Erleichterung. Er hatte sich große Sorgen um Sandras Schutz in der Klinik gemacht, nachdem er von dem Mord an der Schwester gehört hatte. In Wicklow war es viel sicherer.

Es war die letzte Besprechung des Tages. Inzwischen war jeder männliche Angehörige der Klinikbelegschaft vernommen worden. Acht hatten keine Alibis für den Abend des Dienstag, den 11. Februar 1997, darunter fünf Ärzte und drei Mitarbeiter des Dienstpersonals. Zwei der Ärzte waren Dr. Dean Lynch und Dr. Tom Morgan. Der Detective, der Morgans Aussage überprüft hatte, war nicht gerade glücklich darüber. »Er ist ein verschlagener Bursche. Hat versucht, unseren Fragen auszuweichen. Drückte sich um die Antworten herum. Behauptete, im Kino gewesen zu sein. >Allein?<, fragte ich. Er war sichtlich verlegen und murmelte, dass er oft allein ins Kino geht.« »Haben Sie ihn gefragt, was er sich angeschaut hat?«, erkundigte sich Dowling. »Ja. Und da stimmte seine Aussage. Aber ich bin trotzdem nicht so recht zufrieden. Man sollte sich eingehender mit ihm befassen.« McGrath notierte es. »Was ist mit den anderen?« »Ich habe einen Dr. Dean Lynch und einen Dr. Paddy Holland überprüft«, sagte Kate Hamilton. »Und?« »Beide haben einen sachlichen, hilfsbereiten Eindruck auf mich 186

gemacht. Lynch ist einer der Gynäkologen. Er wohnt in Ballsbridge.« Sie blickte in ihr Notizbuch. »Nummer dreiundzwanzig, Elms. Das ist ein Wohnblock in der Nähe der Baggot Street. Lynch sagte, er sei die ganze Nacht zu Hause gewesen, allein, und habe ferngesehen...« »Haben Sie ihn gefragt, was er sich angeschaut hat?«, unterbrach Dowling. »Selbstverständlich. Er musste zwar nachdenken, aber dann fielen ihm ein paar Sendungen ein. Ich werde es später in den Programmzeitschriften überprüfen.« »Gut.« Die Zeitungen würden Lynchs Story bestätigen. Er hatte am Dienstag, dem 11. Februar, mit seinem Videorecorder vier verschiedene Programme aufgenommen. Er hatte sich in der Zwischenzeit sogar die Sendungen angeschaut. Als ein Mann, der sorgfältig plante, hatte Lynch vorsichtshalber für sein Alibi gesorgt, lange ehe er seine Wohnung verließ, falls es zum Schlimmsten kommen sollte. »Dr. Paddy Holland ist Kinderarzt«, fuhr Kate fort. »Er scheint ein sehr netter Mann zu sein.« »Das dachte man auch von Dr. Crippen«, murmelte jemand. Ein paar Kollegen lachten. Doch dann ging es wieder ernst und dienstlich weiter. »Nun, jedenfalls hielt er sich allein in seinem Haus in Donnybrook auf, Angelsea Terrace Nummer vier. Er wohnt dort mit seinen beiden Kindern.« »Keine Frau?«, warf McGrath ein. »Sie ist vor drei Jahren an Krebs gestorben.« »Shit«, seufzte jemand, und ein paar andere schüttelten mitfüh287

lend den Kopf. »Und was ist mit den Kindern? Waren sie bei ihm?« »Nein, sie waren mit Freunden zu einer Schlummerparty in Blackrock eingeladen«, erwiderte Kate und schlug ihr Notizbuch zu. »Er war die Nacht allein.« »Überprüf ihn noch einmal«, befahl McGrath. Dann gingen sie die Männer durch, die kein Alibi vorweisen konnten. Einer der Köche war dem Detective, der ihn befragt hatte, ein wenig merkwürdig vorgekommen; der Koch sollte ebenfalls gründlicher unter die Lupe genommen werden. Die Hälfte des Teams erhielt den Auftrag, den Alibis nachzugehen, die andere Hälfte sollte die Männer ohne Alibi genau überprüfen. Die Besprechung war gerade zu Ende, als McGraths Handy piepte. »Jack, hier Mike Loughry. Wie geht die Untersuchung voran?« Sofort wurde McGrath hellhörig. Chief Superintendent Loughry rief selten an, sofern es nicht gerade Schwierigkeiten gab. »Sehr gut. Hier hat man uns endlich ein paar Zugeständnisse gemacht und sich zur Kooperation entschlossen.« »Gut. Jack, ich möchte mit Ihnen über den Fall sprechen.« »Okay.« McGrath wurde noch hellhöriger. Was will er wirklich? »Wann?« »Wie wär's mit morgen? Ich weiß, es ist Samstag, aber da ist so einiges, was ich mit Ihnen durchgehen möchte. Sagen wir, um zehn Uhr in meinem Büro?« »In Ordnung.« »Gut. Also, bis dann.« Am anderen Ende der Leitung wurde aufgelegt. McGrath strich über seinen Schnurrbart. Irgendwas ist da im Busch, sagte er sich. 188

Lynch wartete eine Stunde, bevor er in die Bibliothek huschte und sich die Bandaufnahmen holte. Er legte neue Batterien und Mikrokassetten ein, stellte die Bücher zurück und verschwand in sein Sprechzimmer.

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22.07 Uhr Beechill, Wohnsitz der O'Briens nahe Roundwood, County Wicklow Beechill, ein riesiges Anwesen mit viktorianischem Herrenhaus, hatte über viele Generationen hinweg einer anglo-irischen Familie gehört, den Burges. Im Laufe der Jahre hatten dort einige der extravagantesten gesellschaftlichen Festivitäten in der Grafschaft Wicklow stattgefunden. Das Anwesen mit der beeindruckenden Villa umfasste fünfzigtausend Quadratmeter Land; in der Nähe des Hauses war das Grundstück als Gartenanlage gestaltet, der Rest war naturbelassener Wald. Jahrelang hatte die traditionelle Jagd am Stephanstag an der Haustür begonnen und mit einem rauschenden Ball geendet. Der Adel und Prominente aus ganz Irland (und manche aus dem Ausland) hatten sich in der malerischen kleinen Ortschaft in Wicklow zu abendlichen Drinks in den örtlichen Pubs eingefunden, ehe sie die Nacht im großen Saal auf der Rückseite des Hauses durchtanzten. Die traditionelle Jagd und das anschließende Fest waren 1991 zum letzten Mal veranstaltet worden - in dem Jahr, als Harry O'Brien seine Familie verlor. Als Big Harry aus seinem Arbeitszimmer ins Schneegestöber blickte, beschloss er, diese schöne alte Tradition wieder aufleben 189

zu lassen. Es war an der Zeit für einen Neubeginn. Big Harry hatte seinen Frieden mit sich und der Welt zurückgewonnen. Die finsteren Tage der Besäufnisse und des Selbstmitleids waren vorüber; Schwärze und Verzweiflung waren Vertrauen und Liebe gewichen. Das Leben ging weiter. Und es würde ein glückliches Leben sein. Sein Sohn war soeben gestillt worden und schlummerte nun friedlich im Kinderzimmer, das eine mit bunten Märchenfiguren bedruckte Tapete zierte. Seine junge Frau schlief im angrenzenden Zimmer. Die Medikamente, die sie einnehmen musste, da sie von der Operation immer noch Schmerzen hatte, hatten sie schläfrig gemacht. Sie sah wunderschön aus, und Harry war ihr nie näher gewesen als in dem Augenblick, als er vorhin ins Zimmer geschaut und sie mit ihrem langen blonden Haar ruhig schlafend auf den Kissen gesehen hatte. Anschließend war Harry ins Kinderzimmer geschlichen, hatte sich bewundernd über seinen Sohn gebeugt und über das Wunder des Lebens nachgedacht. Er konnte sich nicht entsinnen, dass er bei seiner verstorbenen Frau und den Kindern so interessiert, so Anteil nehmend, so unendlich besorgt gewesen war. Damals war er zu sehr damit beschäftigt, die O'Brien Corporation aufzubauen. Diesmal nicht, versprach er dem kleinen schlafenden Bündel. Nein, diesmal ist alles anders! Wir zwei werden uns schon früh richtig gut kennen lernen. Wir werden jede Menge Spaß miteinander haben. Er langte hinunter und zog den Zipfel der Decke zurück, der das Gesichtchen teilweise verborgen hatte. Einen Moment befürchtete er, das Baby aufgeweckt zu haben, und zog rasch die Hand 190

weg. Dann, als Gordon sich nicht rührte, beugte er sich zu dem Kleinen hinunter und küsste ihn sanft auf die Stirn. Der unverkennbare Babygeruch stieg ihm in die Nase, und er richtete sich sofort auf. Die Kehle wurde ihm eng, als er sich erinnerte, wann er diesen Geruch das letzte Mal wahrgenommen hatte. Diesmal wird mein Sohn mit mir angeln gehen und reiten und Fahrrad fahren. Was werden wir nicht alles miteinander unternehmen! Warte nur, mein Kleiner, dann wirst du schon sehen! Iss du nur immer schön dein Gemüse auf und werde groß und stark. Zärtlich strich er mit einem Finger über ein paar hochstehende Härchen. Gott schütze dich, Gordon. Gott wird dich schützen. Es wird keine Unfälle mehr geben, dafür sorge ich. Gott und dein Daddy werden dich beschützen. Harry O'Brien war erst vor kurzem religiös geworden, nachdem feststand, dass seine Frau schwanger war und ihm bewusst wurde, dass er wieder eine Familie haben würde. Er spürte, dass Gott ihm eine zweite Chance gegeben hatte, und Gott würde nicht zulassen, dass er noch einmal solche Qualen erleiden musste. Er war durch die Hölle gegangen, aber das war vorbei. Es war Zeit, neu anzufangen, neue Inhalte zu suchen, denn er hatte ein Kind, für das es sich zu leben lohnte. Gott würde ihn und seine Familie schützen. Harry irrte sich.

Tommy Malone glaubte nicht an Gott. Das A-Team beschloss, noch vor Mitternacht zuzuschlagen. Der Wetterbericht drohte mit Schnee in höheren Lagen, sodass die Berge von Wicklow mit Sicherheit eine Schneedecke bekämen. Und das konnte bedeuten, dass ihr Fluchtweg, die schmalen 191

Landstraßen, gefährlich werden könnten. Deshalb verlegte Malone die ganze Operation vor. Moonface fuhr den Volvo zum Parkplatz des Hotel Stand am Curragh, gleich außerhalb Newbridge im Kildare County. Er befestigte zwei schwere Ketten am Lenkrad und verband sie mit einer Stange unter dem Fahrersitz. Außerdem schraubte er die Zündkerzen heraus und steckte sie sich in die Tasche. In Kildare gab es jede Menge Autodiebe. Er stieg in den Jeep Cherokee, dessen Heizung wegen der bitteren Kälte auf vollen Touren lief. Sam Collins fuhr, Malone saß auf dem Beifahrersitz, und Peggy Ryan hockte mit Moonface auf der Rückbank. Peggys Herz raste vor Angst und Aufregung. Im Laderaum hinter ihnen befanden sich ein Holzhammer, Schusswaffen, Munition, verschiedene elektronische Geräte, um die Alarmanlage lahm zu legen, Lederhandschuhe, Skimützen, um die Gesichter zu vermummen, und ein Säuglings-Reisebett. In dem Bettchen lag ein Pfund Semtex-Sprengstoff. »Nur gut, dass wir uns für einen Wagen mit Allradantrieb entschieden haben«, murmelte Collins, der beobachtete, wie die Scheibenwischer den Schnee vom Glas schoben. Die Straßen waren noch dunkel, doch die Ränder färbten sich bereits weiß, ebenso die Hecken und Wiesen. »Ja«, pflichtete Malone ihm bei. »Aber wir sind bald da.« Tommy Malone machte sich Sorgen. Nicht wegen des Wetters, sondern wegen des Jobs. Für jemanden, der sich im Laufe der Jahre praktisch jeder strafbaren Handlung schuldig gemacht hatte, einschließlich Mord, Erpressung und Kidnapping, war es erstaunlich, dass gerade dieser Coup ihn so sehr verunsicherte. Die Sache war leicht durchzuziehen; da hatte er keine Zweifel. 192

Doch was Malone zu schaffen machte, war das Opfer. Ein Neugeborenes. Deshalb führte er sich immer wieder die Gründe vor Augen, weshalb ein Baby das ideale Entführungsopfer war. Wir kriegen den Balg, keine Panik. Wir werden auch das Geld bekommen. Da bin ich ganz sicher. Big Harry wird's ausspucken. Aber wie wird die Öffentlichkeit reagieren? Das machte Malone Sorgen. Noch nie war in Irland ein Baby entführt worden. Geschäftsleute, Industrielle, Frauen reicher Banker, ja, sogar ein Zahnarzt waren Entführungsopfer gewesen. Doch nie ein Baby. Malone riss sich zusammen, als der Jeep um 23.05 Uhr schließlich Roundwood erreichte. Es gibt für alles ein erstes Mal, sagte er sich, und auch dieser Fall wird keine Ausnahme von der Regel. Sobald das Lösegeld bezahlt und das Kind wieder bei den Eltern ist, wird die Aufregung sich schnell legen. Das A-Team fuhr von Newbridge auf schmalen Landstraßen über die Wicklow-Kluft nach Beechill. Niemand sagte etwas, jeder hing seinen Gedanken nach. Im Cottage hatten sie den Coup immer wieder in der Theorie durchgespielt und dabei stundenlang Karten von Wicklow sowie eine von Malone gezeichnete Skizze des Hauses studiert. Auch das Timing, jeder einzelne Schritt des Unternehmens war immer wieder besprochen worden - wer was wann und warum tun musste. Alles war bis ins Kleinste ausgearbeitet. Es konnte einfach nichts schief gehen. Während sie von Annamoe nach Roundwood hineinfuhren, verlangsamte ein allradgetriebener Mitsubishi das Tempo, um den Cherokee überholen zu lassen. Es war das einzige andere 193

Fahrzeug, das sie die ganze Nacht zu sehen bekamen. Auch für den Fahrer des Mitsubishi war der Cherokee der einzige andere Wagen, den er zu Gesicht bekam. Sam Collins parkte den Jeep in unmittelbarer Nähe des schmiedeeisernen Tores und überprüfte den Mechanismus des Schlosses. Er spähte durch das Gitter auf die Einfahrt; dann setzte er langsam zurück. »Irgendwelche Probleme?«, fragte Malone besorgt. »Nein. Ein Kinderspiel. Will nur nicht, dass die Torflügel auf die Einfahrt segeln und sie versperren. Keine Bange, Tommy. Keine Bange.« Auf dem Rücksitz bohrte Moonface in der Nase und fragte sich, ob er wohl eine Chance bekommen würde, die Knarre zu benutzen, die Collins ihm gegeben hatte. Es juckte ihm in den Fingern, jemanden abzuknallen, irgendjemanden. Einfach so. Neben ihm zitterte Peggy Ryan trotz ihres dicken Wintermantels vor Kälte und Erregung. Obwohl ihr Mann vom ersten Tag ihrer Begegnung an ein Ding nach dem anderen gedreht hatte, war dies ihr erster »Job«. Während der Jeep auf den ungepflasterten Weg neben der Einfassungsmauer fuhr, spürte Peggy, wie ihr die Knie weich wurden. »Okay, Martin. Du bleibst mit Peggy hier, bis wir am Wintergarten sind und euch das Zeichen geben.« Malone und Collins waren bereits ausgestiegen und holten die Geräte aus dem Kofferraum. Moonface nickte, und Peggy kuschelte sich enger in ihren Mantel. »Wenn ihr kommt, müsst ihr eure Handschuhe und die Tarnmützen tragen, verstanden?« »Verstanden«, bestätigte Moonface. Er blickte den beiden schattenhaften Gestalten nach, die den Weg entlang gingen und bald darauf in der Dunkelheit verschwanden. 194

»Alles in Ordnung?«, fragte er Peggy. Sie nickte nur, was im Dunkeln allerdings kaum zu sehen war. Drei Schläge mit Sam Collins' Holzhammer sprengten mühelos die rostigen Angeln des Tores. Es war der 14. Februar 1997, 13.17 Uhr. Eine Minute später stand Tommy Malone innerhalb der Umfassungsmauer von Beechill. Er trug schwarze Lederhandschuhe, eine Ski-Tarnmütze und hielt eine geladene 38er Smith & Wesson in der Hand. Ihm folgte, ebenfalls behandschuht und maskiert, der mit einer AK47-Maschinenpistole bewaffnete Sam Collins, der überdies sein Arsenal an herkömmlichen sowie modernen elektronischen Einbruchswerkzeugen bei sich trug.

23.21 Uhr Harry O'Brien knipste das Licht in seinem Arbeitszimmer aus, streckte sich, gähnte und warf noch einen Blick aus dem Fenster. Auf dem Rasen wuchs die Schneedecke. Die schattenhaften Gestalten, die sich zwischen den Bäumen und dem Wintergarten bewegten, bemerkte er nicht. Sam Collins setzte zwei Sauggriffe an eines der riesigen Fenster des Wintergartens. Sie sahen aus wie Türgriffe und hafteten fest am Glas. Mit einem kleinen, tragbaren Sauerstoff-AzetylenSchweißgerät zerschmolz er die PVC-Einfassung, bis das gesamte Fenster sich zuerst lockern und dann ganz aus dem Rahmen lösen würde. Auf diese Weise wurde der Einbruchsalarm nicht aktiviert, denn nur an den beweglichen Fenstern waren Sensoren angebracht. Die Spezialisten, die das Sicherheitssystem installiert hatten, hatten nicht damit gerechnet, dass ein Fenster des Wintergartens bewegt würde. Vor allem hatten sie nicht mit 195

Tommy Malone gerechnet.

23.32 Uhr Malone und Collins waren bereit, in die Villa einzusteigen. Malone gab es Moonface über Walkie-talkie durch, und Moonface bestätigte,

23.43 Uhr Noch ehe Moonface den Wintergarten erreichte, lief ihm unter der dicken Skimütze trotz der bitteren Kälte der Schweiß übers Gesicht. Er hatte sein Schießeisen unter den Hosengürtel gesteckt und trug eine abgesägte Schrotflinte, die er nun Malone reichte. Die drei Männer nickten einander zu und stiegen ins Gebäude ein. Collins hatte inzwischen das Alarmsystem lahm gelegt und die Telefonleitung durchtrennt. Harry O'Brien vernahm zu diesem Zeitpunkt ein flüchtiges klingelndes Geräusch im Arbeitszimmer. Doch er war so müde, dass er es nicht weiter beachtete. Sie gingen vor wie geplant: Collins und Malone gemeinsam in den unteren Etagen, wo sie Licht gesehen hatten, während Moonface sich oben umschaute, wo nur eine Lampe gebrannt hatte. »Nur ein verdammter Mucks von dir, und du kannst dein Hirn von der Wand kratzen!« Harry O'Briens schwere Schritte auf dem Weg ins Schlafzimmer hatten Malone und Collins alarmiert. Als Big Harry um eine Ecke des Flures bog, hatte er plötzlich beide Läufe einer abgesägten Schrotflinte vor der Nase, und Malone zwang ihn, in sein Arbeitszimmer zurückzukehren, wo er zuerst geknebelt und dann 196

mit Armen und Beinen an einen Holzstuhl gefesselt wurde. Tommy ging immer so vor, weil er überzeugt war, dass es von Anfang an klar machte, wer das Sagen hatte, sodass das Opfer gefügiger wurde. Der Wirkung wegen stellte er sich breitbeinig vor O'Brien, streckte die Arme aus, entsicherte mit ruhiger Hand seine 38er Smith & Wesson, richtete den Lauf auf O'Briens Stirn und drückte langsam auf den Abzug. Big Harry starrte ihn mit wirrem Blick an, blinzelte und schloss die Augen. Klick. Der Hahn schlug gegen eine leere Kammer. »Das nächste Mal passiert's, Harry«, drohte Malone, als O'Brien langsam die Augen öffnete. »Spiel bloß nich' den Helden, sonst bisse ganz schnell 'n toter Held.« Harry O'Brien konnte die Augen hinter der Tarnmütze kaum sehen. Theo Dempsey wurde vom kalten Lauf einer weiteren Smith & Wesson geweckt, die ihm an die Schläfe gedrückt wurde. Collins dirigierte ihn rasch hinunter zu seinem Chef, wo er ebenfalls, Rücken an Rücken mit Big Harry, auf einen Holzstuhl gefesselt wurde. June Morrison befand sich im Halbschlaf, als Moonface und Collins in ihr Zimmer stürmten. Sie riss den Mund zu einem Schrei auf, der jedoch sofort durch eine riesige Pranke auf ihrem Gesicht erstickt wurde. Andere Hände hoben sie aus dem Bett und zerrten sie zu einem Stuhl. Binnen weniger Augenblicke waren ihre Füße und Hände zusammengebunden, und ein Heftpflaster bedeckte ihren Mund. Sie versuchte verzweifelt durch die Nase zu atmen, nachdem die Einbrecher sie allein ließen. Malone beschloss, Sandra O'Brien nicht mit Gewalt aus dem Bett zu holen. Die drei Komplicen standen über sie gebeugt und 197

versuchten sie zu wecken, doch Sandra reagierte nicht. Sie schlug nach dem Revolverlauf, der ihr ans Ohr gehalten wurde, als wäre er eine lästige Fliege. Malone schüttelte sie, zuerst sanft, dann heftig. Sandra schob ihn mit den Händen zurück, drehte sich um und begann zu schnarchen. »Lasst sie pennen«, befahl Malone. Gordon O'Brien schlief noch, als Moonface' raue Hände ihn aus dem Bettchen hoben. Er rührte sich nur leicht, warf beide Armchen zur Seite und wimmerte. Aber er wachte nicht auf. Harry O'Brien hörte den Knall, als Sam Collins das an den Torflügeln befestigte Semtex in die Luft jagte. Die Fenster zitterten und klirrten. Moonface rannte von Zimmer zu Zimmer, um nachzusehen. Kaum hörte er die Explosion, kehrte er zu Sandra O'Brien zurück. Sie hatte sich nicht gerührt. Theo Dempsey saß so, dass er den Jeep Cherokee sehen konnte, der über die Auffahrt zur Villa gefahren kam und mit quietschenden Bremsen hielt. Er hörte, wie die Haustür geöffnet und die schweren Riegel und Ketten von innen zurückgezogen wurden. Und schon befanden sich die vier Verschwörer mit den Tarnmützen im Zimmer. Dempsey spürte, wie sein Chef auf dem Stuhl hinter ihm erstarrte. Er drehte den Kopf so weit er konnte und sah gerade noch, wie ein Maskierter einem anderen das Baby reichte. Alle vier standen nun vor Harry O'Brien, um ihm Gelegenheit zu geben, sich über die Lage klar zu werden. Big Harry starrte verzweifelt von einem zum anderen, bis sein Blick auf seinem neugeborenen Sohn verharrte. Seine Augen sagten alles. Verzweiflung. Verzweiflung. Mein Kind! Es war Tommy Malones Taktik, Taten und Gesten statt Worte sprechen zu lassen. So standen die vier Maskierten schweigend, 198

aber drohend da, die Schusswaffen auf O'Brien gerichtet, während Malone in seine schwarze Windjacke griff und einen braunen A4-Umschlag hervorholte. »Steht alles da drin, Harry. Du wirst erst wieder von uns hören, wenn wir das Geld haben.« Er deutete mit der 38er auf das schlafende Baby. »Ist alles ganz einfach, Harry. Je schneller wir die Knete haben, desto schneller kriegst du den kleinen Scheißer zurück.« In O'Briens Augen lag ein stummes Flehen, und er schüttelte heftig den Kopf. Malone nickte, und Moonface jagte eine Ladung Schrot in die Decke, dass der Putz auf Dempsey und O'Brien herabrieselte. Klein Gordon wachte auf, schrie gellend vor Angst und strampelte mit Armchen und Beinchen. »Kein Geld, kein Baby!«, warnte Malone zum Abschied. Peggy Ryan steckte dem Säugling einen Schnuller in den Mund, damit sein Kreischen verstummte. Doch Harry O'Brien hörte Gordons schrille Schreie, bis die Entführer mit seinem Sohn im Cherokee saßen und davonfuhren. Auf dem Rückweg nahmen sie den Weg nach Kilcullen durch den Sally-Graben in den Bergen von Wicklow; dann fuhren sie durch Cloghleagh Bridge und Manor Kilbride. Achtundvierzig Minuten nach Mitternacht erreichten sie Newbridge über Landstraßen, die jetzt völlig vom Schnee bedeckt waren, der immer noch fiel. Das Umsteigen in den Volvo auf einem Hotelparkplatz wurde nur durch Peggy Ryans zunehmend verzweifelte Versuche verzögert, Gordon O'Briens durchdringendes Kreischen zum Verstummen zu bringen. Sam Collins befestigte eine Zündladung mit Zeituhr an einem Benzinkanister und stellte die Uhr auf 199

fünfzehn Minuten, nachdem sie den Cherokee verlassen hatten. Der Volvo plagte sich im Schritttempo den schmalen Weg zum Cottage hinauf, als die Sprengladung detonierte und den Jeep in ein brennendes Wrack verwandelte. Die meisten Hotelgäste wurden durch die Explosion sehr unsanft aus dem Schlaf gerissen. Kurz nach eins am Morgen des Samstag, dem 15. Februar 1997, saß Tommy Malones A-Team in der Küche des Cottage bei heißem Tee. Auf den Gesichtern spiegelte sich die Hochstimmung, die jeder empfand. Gordon O'Brien nuckelte zufrieden an einem Fläschchen mit Säuglingsmilch, die Peggy ihm rasch mit abgekochtem Wasser angerührt hatte. Ausnahmsweise schrie er nicht. Tommy Malone hob seinen Becher Tee und brachte einen Toast aus: »Gute Arbeit, Leute. Gute Arbeit.« Sie lächelten einander an. In Wicklow gellten Sandra O'Briens verzweifelte Schreie durchs Haus.

Sechster Tag 25

Samstag, 15. Februar 1997, 6.45 Uhr Kate Hamilton war bereits halb wach, als das Telefon läutete. 200

Neben ihr lag Rory, der genau um 4.17 Uhr, wie der Digitalwecker verraten hatte, zu ihr unter die Decke gekrochen war. Den Rest der Nacht hatte Kate versucht, im Bett ein Fleckchen zu finden, das Rorys um sich tretende Füße nicht erreichten. Sie riss den Hörer von der Gabel, ehe das zweite Läuten den Jungen wecken konnte. »Hallo?« »Ist dort Kate Hamilton? Detective Sergeant Kate Hamilton?« »Ja. Und wer sind Sie?« »Hier spricht Mike Loughry.« Unwillkürlich fuhr Kate im Bett auf und drückte die Hand auf die Sprechmuschel. »Wer?« Ihre Stimme verriet ihre Ungläubigkeit. Mike Loughry ruft mich an? »Loughry. Chief Superintendent Mike Loughry.« Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Kate, jemand würde sich einen Scherz mit ihr erlauben; dann aber beschloss sie mitzuspielen. Nur für den Fall des Falles. »Ja ... was kann ich für Sie tun?«, wisperte sie. Etwas anderes fiel ihr im Moment nicht ein. »Kate«, Loughry beschloss, auf weitere Förmlichkeiten zu verzichten. »Es tut mir Leid, aber ich muss Sie bitten, noch heute in mein Büro zu kommen. Vergangene Nacht ist etwas Schreckliches passiert, und wir müssen alle verfügbaren Leute zusammentrommeln. Außerdem möchte der Commissioner mit Ihnen reden.« »Der Commissioner? Sie meinen Commissioner Quinlan?« Kate staunte. Dann beschlich sie ein ungutes Gefühl. Was, zum Teufel, habe ich getan? Wenn das ein Scherz ist, bringe ich den 201

Witzbold um! »Ja, es geht um den Fall in der Entbindungsklinik. Es könnte sein, dass Sie ihn übernehmen sollen.« »Ich? Den Fall übernehmen?« Kate schrie es beinahe. »Hören Sie, Kate, ich kann leider nicht am Telefon darüber reden. Nur so viel: Der Commissioner ist gezwungen, einige gravierende und plötzliche Änderungen vorzunehmen, und dabei kommt nun auch Ihr Name ins Spiel. Mehr kann ich Ihnen momentan nicht sagen. Wir sehen uns später. Ich muss noch die halbe Kripo anrufen.« »Was ist vergangene Nacht passiert?« »Hören Sie sich die 7-Uhr-Nachrichten an.« Klick. Die Verbindung wurde unterbrochen. Kate war noch nicht einmal zum Nachdenken gekommen, als das Telefon schon wieder klingelte und Loughry in den Hörer brüllte: »Zimmer vierundzwanzig, Garda-Hauptquartier im Phoenix Park, um zehn Uhr! Und seien Sie pünktlich!« Kate starrte immer noch den Hörer an, als Rory aufwachte. Sie kam nicht dazu, sich die 7Uhr-Nachrichten anzuhören. Rory führte sich entsetzlich auf, als sie ihm zu erklären versuchte, dass sie zur Arbeit müsse. Schon wieder. Ausgerechnet heute, am ersten freien Tag, den sie nach zehn ununterbrochenen Diensttagen haben sollte. Noch dazu ein Samstag. Samstage und Sonntage waren für Rory etwas Besonderes, denn da erlaubte ihm seine Mutter, bis zum Frühstück neben ihr zu liegen. Dann stand sie auf und kam mit zwei Schüsseln Cornflakes, Toast und Tee auf einem Tablett ins Bett zurück. Sie kuschelten sich aneinander, während Rory sich auf dem tragbaren Fernseher, der gefährlich wackelig auf dem kleinen Frisiertisch stand, Zeichentrickfilme anschauen durfte. Und während der Junge neben ihr lag, den Daumen im Mund, 202

blickte Kate ihn heimlich an, staunte über das Wunder des Lebens und bewunderte seine fein geschnittenen Züge. Doch an diesem Morgen wurden diese feingeschnittenen Züge von Tränen und einem schlimmen Wutanfall verunstaltet. Rory heulte und schrie. Er heulte und schrie auch noch, als Kate duschte und sich dann beeilte, das Frühstück zu bereiten, um anschließend ihren Vater anzurufen und ihn zu bitten, herüberzukommen und auf Rory aufzupassen. Der Junge heulte sogar während der gesamten Sesamstraße. »Verdammt!«, fluchte Kate, als Rory an ihrem Morgenmantel hing, während sie versuchte, ihr Haar zu fönen. »Die Freuden einer allein erziehenden Mutter!« Rory hörte erst zu heulen auf, als Kate versprach, dass sein Großvater mit ihm in den Zoo gehen würde. Nur musste sie jetzt ihren Vater dazu bringen, dass er es auch tat. »Ich kann den Zoo nicht ausstehen! Schon gar nicht bei diesem Wetter! Bestimmt ist der Schnee dort schon liegen geblieben! Guck doch mal zum Fenster raus! Du kannst dir nicht vorstellen, wie kalt es ist!« »Hör zu, Dad, der Junge ist fast durchgedreht, als ich ihm sagte, dass ich heute arbeiten muss. Ich hätte ihm einen Flug zum Mond versprochen, nur damit er sich beruhigt.« »Auf dem Mond wär's wenigstens wärmer als im Zoo.« Kate stellte sich vor den einzigen großen Spiegel im Haus und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich wählte sie einen dunkelblauen Rock, eine himmelblaue Bluse und eine dunkelblaue Leinenjacke. Zeig dich als Polizistin. Sie sollen sehen, dass du weißt, wo du herkommst. Sie musterte sich noch einmal im Spiegel und schob dabei die Bluse in den Rock. Danach entblöß203

te sie die Zähne, um sich zu vergewissern, dass sie keinen Lippenstift abbekommen hatten, und zog schließlich einen Schmollmund. Nichts auszusetzen, sagte sie zu dem Spiegel. Bedauerlich, dass niemand da war, der diesen Anblick hätte bewundern können. Kate küsste Rory und ihren Dad und eilte aus der Tür. Doch sie spürte die missbilligenden Blicke, die ihr folgten. Sekunden später kehrte sie zurück. »Pass um Himmels willen gut auf ihn auf, Dad, falls ihr doch in den Zoo geht. Lass Rory keinen Moment aus den Augen. Sorg dafür, dass er Ted mitnimmt, und verliert ihn ja nicht!« Ted war ursprünglich ein Stoffteddybär gewesen und diente jetzt als Rorys Schmusekissen. Vier Jahre Waschen, Sich-daran-Festklammern und Auf-dem-Boden-hinter-sich-Herziehen hatten Ted zu einem farb- und formlosen Etwas gemacht. Trotzdem hing Rorys Herz an ihm, und nie ging er ohne Ted irgendwohin. War Ted einmal nicht auffindbar, war Rory untröstlich. Während eines Wutanfalls oder irgendeiner Krise brauchte Kate ihm nur Ted zu zeigen - sofort steckte der Junge den rechten Daumen in den Mund und beruhigte sich. Ohne Ted konnte Rory nicht leben. Großvater und Rory blickten Kate offenen Mundes nach, als sie wieder verschwand. »Na gut, Rory, räumen wir erst mal auf, und dann machen wir uns Frühstück.« Großvater ließ den Blick seufzend über das Chaos schweifen. Rorys Eisenbahn war in dem kleinen Wohnzimmer aufgebaut; die Schienen reichten bis in die Küche unter den Tisch. In unregelmäßigen Abständen waren kleine Bahnhöfe mit winzigen Männern aufgestellt, die Signale hochhielten; außerdem gab es Stationen, wo Kohlewagen abgehängt wurden, 204

und zwei Reparaturschuppen, in denen an einer Lokomotive und an Personenwagen gearbeitet wurde. Rory kniete sich neben die Schienen und rangierte eine Lokomotive auf ein Abstellgleis. »Ich komm' gleich, Opa. Du kannst ja schon mal Frühstück essen.« Großvater lächelte und kniete sich neben den Jungen, dessen Kummer er spürte. »Sei nicht traurig, Rory. Wir werden im Zoo viel Spaß bekommen.« Rory schwieg und schob Züge auf den Gleisen hin und her. Er blickte erst auf, als sein Großvater sich ächzend erhob. »Opa, warum muss Mom arbeiten gehen?« Großvater wollte antworten, entschied sich dann aber dagegen. »Ich mache jetzt das Frühstück.« »Opa, wo ist mein Dad?« Rory hatte aufgehört, Züge herumzuschieben, und blickte seinem Großvater direkt in die Augen. Ohne Zweifel war das eine wichtige Frage für den Jungen, über die er wahrscheinlich schon lange grübelte. Großvater seufzte tief. Er wollte Rory eine ehrliche Antwort geben. Kate hatte ihn darum gebeten, falls der Junge fragen sollte. Sie wollte, dass Rory alles über das Leben erfuhr, offen und ehrlich. Nur brachte Großvater das jetzt nicht fertig. ,»Ich sag's dir nach dem Frühstück«, log er. Rory rangierte wieder eine Lokomotive. Alice Martin, die Justizministerin, war eine zierliche Frau, die ihr Alter unter anderem dadurch in Schach hielt, dass sie sich einmal die Woche das Haar bis zu den Wurzeln färben ließ, damit das Grau nicht überhand nahm und sie älter als ihre zweiundfünfzig Jahre

aussehen

ließ.

Zwölf

Jahre

hatte

sie

auf

der

Oppositionsbank gesessen und gegen die Unzulänglichkeiten von 205

nicht weniger als drei Regierungen gewettert. Als ihre Koalition auf Grund einer Mehrheit von drei Abgeordneten im irischen Parlament zur Macht stolperte, musste Alice Martin bald feststellen, dass es viel einfacher war, die Regierung schlecht zu machen, als Gesetzesänderungen durchzupauken. Ihr schwieriges Amt führte die Ministerin mit allen Gesellschaftsschichten zusammen; es brachte sie auch in ständigen Kontakt mit Commissioner Quinlan, und keiner von beiden gab sich besondere Mühe, die ausgeprägte persönliche Abneigung gegenüber dem anderen zu verbergen. Quinlan war hoch gewachsen und von verbindlicher Wesensart. In seiner Commissioner-Uniform wirkte er ebenso souverän wie welterfahren. Die Ministerin dagegen vermittelte einen eher unsicheren Eindruck und trug unmoderne Kleidung. Um den ins Auge springenden äußerlichen Unterschied zwischen ihnen wettzumachen, setzte Alice Martin bei den häufigen Meinungsverschiedenheiten mit dem Commissioner ihren kühlen, ja eisigen Verstand und ihre spitze Zunge wie eine Waffe ein. Um neun Uhr fünfzehn an diesem Morgen erfuhr Martin von den neuesten Entwicklungen der vergangenen Nacht. Sie erkannte sofort, dass heute nicht der Tag war, irgendwelche Trumpfkarten auszuspielen. Die Neuigkeit von Gordon O'Briens Entführung war kurz nach drei Uhr morgens aus der Garda-Zentrale durchgesickert und hatte die verschiedenen Dienstebenen durchlaufen. Auf jeder Ebene wurde die Entscheidung getroffen, die jeweils nachgeordnete Ebene zu informieren. Commissioner Quinlan erhielt die Nachricht um vier Uhr früh. Ein schwerer Stein schien auf seinen Magen zu drücken, als man ihm die Einzelheiten mitteilte. Dann handelte er. 206

Ein Treffen aller höheren Garda-Beamten und der Jaguar-Einheit wurde für zehn Uhr morgens im Garda-Hauptquartier im Phoenix Park einberufen. Die Jaguar-Eingreiftruppe war die Antwort der Polizei auf die wachsende Verbrechenswoge, die 1996 das Land überschwemmt hatte. Als die IRA im Februar das Waffenstillstandsabkommen brach und die Loyalisten mit Bombenattentaten drohten, waren die Gardai so sehr damit beschäftigt, paramilitärische Gruppen zu überwachen, dass darüber die gewohnte Polizeiarbeit zu kurz kam. Das ganze Jahr hindurch erschütterte eine Reihe von brutalen Morden das Land, und die aufgebrachten öffentlichen Rufe an die Regierung, endlich zu handeln und die wachsende Flut der Gesetzlosigkeit einzudämmen, wurden immer lauter und drängender. Doch es sollte noch im gleichen Jahr zu zwei weiteren schrecklichen Ereignissen kommen, die das ganze Land erschütterten. Noch ehe der Sommer richtig begonnen hatte, wurde Jerry McCabe, ein Angehöriger der Garda Siochana, am7. Juni von einer IRA-Einheit niedergeschossen, die einen Postwagen ausgeraubt hatte. Wochen später wurde Veronica Guerin, eine Journalistin des Independent, die zu viele Fragen gestellt hatte, von einem Profikiller getötet, während sie in ihrem Wagen an einer Verkehrsampel stand. Die Empörung über ihre Ermordung veranlasste die Regierung, den Notstand auszurufen. Als in der Folge beschlossen wurde, das Vermögen bekannter Krimineller zu beschlagnahmen, kam es im Oktober zu einer weiteren Krise. An dem Tag, als einer der Dubliner Gangsterbosse vor Gericht stand, wurde der Hauptbelastungszeuge um ein Haar das Opfer einer Entführung. Die damalige Opposition - die jetzige Regierung - hatte scharfe Kritik an den Gardai geübt. Die lauteste und heftigste kam von Alice Martin. 207

Zwanzig ranghohe Detectives, die Erfahrung bei den Ermittlungen schwerer subversiver Verbrechen hatten, wurden ausgewählt und einer zehnwöchigen Extraausbildung unterzogen, wobei ihnen die Strategie des blitzschnellen Gegenschlags und der Umgang mit neuen Waffensystemen beigebracht wurde. Jedem wurde ein Sonderbereich zugeteilt. Acht Mann dieser Spezialtruppe wurden zur weiteren Ausbildung für zwei Monate zu einem israelischen Antiterror-Kommando geschickt; die anderen zwölf verbrachten die Weihnachtsfeiertage in den Vereinigten Staaten, in einem FBI-Ausbildungslager in Virginia, wo sie einem harten Spezialtraining unterzogen wurden. Nach ihrer Rückkehr veranstalteten sämtliche Mitglieder der nunmehr wiedervereinten Jaguar-Truppe eine Reihe strategischer Treffen im Garda

Training

College

in Templemore,

Grafschaft

Tipperary, bevor sie sich wieder ihren regulären Pflichten zuwandten, in die sie sich rasch wieder einfanden. Wenige kannten oder erfuhren jemals den Grund für die zeitweilige Abwesenheit der zwanzig Männer. Die Truppe war in ständiger Einsatzbereitschaft, falls es zu unerwarteten Aktionen kam. Die Gründung der Jaguar-Truppe war keine polizeiliche, sondern eine politische Entscheidung gewesen. Die neue Regierung hatte vor der Wahl versprochen, für mehr Sicherheit auf den Straßen zu sorgen. Diese Elitetruppe war im Grunde Alice Martins Wunschkind gewesen. Wird Zeit, dass du die Jungs mal kennen lernst, dachte Quinlan, als er Martin an diesem Morgen kurz vor sechs anrief. Die Einzelheiten der Entführung waren nun allen bekannt, jedenfalls, so viel darüber in Erfahrung gebracht werden konnte. Quinlan begann mit der Reihenfolge der Ereignisse und schob so 208

viele zusätzliche Informationen ein, wie ihm bekannt waren. Er trug seine Paradeuniform und hatte die Mütze vor sich auf den Tisch gelegt, während er sprach. Ministerin Martin lauschte ihm stumm. Ihr fiel auf, wie müde und abgespannt Quinlan aussah. Ganz offensichtlich war er für ein Rededuell ebenso wenig in Stimmung wie sie. Ihre Finger schlossen und öffneten sich um einen Kugelschreiber, doch sie schrieb kein einziges Wort auf das vor ihr liegende Blatt. »Was geschieht jetzt?«, fragte sie schließlich. »In Wicklow hat Peter Andrews, der dortige Amtsleiter, bereits ein Einsatzzimmer im Garda-Revier bereitgestellt. Andrews ist ein guter Mann mit beachtlicher Erfahrung. Das Haus der O'Briens ist abgeriegelt, und die Leute von der Spurensuche sind an der Arbeit. Während des Überfalls befanden sich lediglich vier Personen im Haus fünf, wenn man das Baby mitzählt. Normalerweise haben die O'Briens allein schon zehn Bedienstete im Haus und auf dem Anwesen.« »Wo waren diese Leute letzte Nacht?« »Harry O'Brien hat ihnen freigegeben, damit sie die Geburt des Babys feiern konnten. Morgen früh müssen die Leute zurück sein.« Martin rieb sich die Schläfen. »Das kommt mir verdächtig vor. Ein Insider-Job?« »Möglich ist alles.« »Berichten Sie weiter.« »Ich habe die Kidnapping-Spezialisten der Jaguar-Truppe für zehn Uhr hierher beordert. Wir werden dann die Einzelheiten des Einsatzes besprechen und uns anschließend sofort nach Wicklow begeben, um den dortigen Einsatzleiter zu unterstützen und zu 209

beraten.« Martin blickte auf die Uhr. Es war jetzt zehn vor zehn. »Großer Gott, zu welch gemeinen Verbrechen Menschen doch fähig sind!« Sie stöhnte, als hätte sie Schmerzen. Quinlan nickte bestätigend, während er sich im Stuhl zurücklehnte. Schließlich beugte er sich wieder vor. »Sie werden gleich die Gelegenheit bekommen, Jack McGrath persönlich kennen zu lernen. Er ist der Detective, dem wir auf Ihre Anweisung hin die Leitung der Ermittlungen in der Klinik entziehen sollen. Er ist unser Entführungsexperte in der JaguarTruppe. Er kann jetzt in dieser Kidnapping-Sache eingesetzt werden, ohne den Mordfall in der Klinik zur Sprache zu bringen.« »Und wer soll in der Klinik die Leitung der Ermittlungen übernehmen?« »Oh, das dürfte genau nach Ihrem Geschmack sein, Frau Ministerin.« Trotz der Umstände konnte Quinlan sich einer gewissen Schadenfreude nicht enthalten. »Wir werden eine unserer tüchtigsten weiblichen Detectives befördern und sie mit der Untersuchung des Verbrechens in der Klinik beauftragen.« »Wer ist die Frau?« »Detective Kate Hamilton.« Quinlan schlug Kates Personalakte auf und las die Einzelheiten vor. Martin hörte aufmerksam zu, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Doch ihr gefiel, was sie hörte. »Sehr beeindruckend«, sagte sie schließlich. »Ja, wirklich sehr beeindruckend. Eine zielstrebige junge Frau.« »Das ist sie allerdings«, bestätigte Quinlan. »Sie nimmt kein 210

Blatt vor den Mund, wenn sie Befehle oder Entscheidungen für falsch hält.« »Sie meinen, sie lässt sich von einer ausschließlich von Männern beherrschten Abteilung, in deren Führungsebene keine einzige Frau sitzt, nichts vorschreiben.« Quinlan lächelte. Das alles hatte er oft genug gehört. Zuerst in Alice Martins Wahlreden und später bei ihren häufigen Streitgesprächen, seit sie Justizministerin geworden war. »Von Ihrer geschätzten Persönlichkeit abgesehen, Frau Ministerin.« Martin runzelte die Stirn; dann warf sie wieder einen raschen Blick auf die Uhr. »Es ist fast zehn. Wo soll diese Besprechung stattfinden?« Quinlan erhob sich geschmeidig und öffnete die Tür. Mit einer Verneigung deutete er auf den Flur. »Nach Ihnen, Frau Ministerin. Zimmer vierundzwanzig, zu Ihrer Rechten. Nach Ihnen«, wiederholte er. Während Martin hinausging, knurrte sie aus dem Mundwinkel: »Spielen Sie nicht den Macho, Quinlan. Es steht Ihnen nicht.« Kurz nach zehn Uhr berichtete Jack McGrath umfassend über eine der aufsehenerregendsten Entführungen, die bisher in Irland stattgefunden hatte. Er war als Erster im Konferenzzimmer gewesen und hatte ungeduldig darauf gewartet, dass die anderen eintrafen und ihren Platz am großen runden Eichentisch in der Mitte des Raumes einnahmen. Nun saßen Garda Commissioner Quinlan und sein Stellvertreter am Tisch, unmittelbar gegenüber von Chief Superintendent Mike Loughry. Die Justizministerin hatte rechts vom Commissioner Platz genommen. Außerdem waren noch Tony 211

Dowling und Kate Hamilton erschienen. McGrath warf Dowling einen fragenden Blick zu, doch der zuckte ratlos die Schultern. Dann schaute er zu Kate hinüber, die allerdings den Blick auf den Tisch gerichtet hatte. Was, zum Teufel, macht sie hier?, fragte er sich. »Der letzte Entführungsversuch wurde im Oktober vergangenen Jahres unternommen«, begann McGrath. Vor ihm auf dem Tisch lag aufgeschlagen eine vertrauliche Akte. »Während der Verhandlung gegen Paddy O'Hara wurde unser Hauptbelastungzeuge gekidnappt. Alles Weitere wissen Sie ja. Es kam zum Schusswechsel in Malahide, und die ganze Gang konnte gefasst werden. Unser Zeuge wurde angeschossen und hätte es fast nicht überlebt. Er musste Monate im Krankenhaus verbringen, was den Prozess erheblich verzögerte.« Alle im Zimmer kannten die Einzelheiten, und einige Anwesende rutschten unbehaglich auf den Stühlen. Alice Martins Miene sagte unverkennbar: Erinnern Sie mich nicht daran! »Vor diesem Fall«, fuhr McGrath fort, »wurde im November 1993 der Bankier Jim Lacey mit seiner Familie entführt und wieder freigelassen, als noch am selben Tag ein Lösegeld von dreihundertvierzigtausend Pfund bezahlt wurde. Martin Cahill, ein Gangster aus Dublin, steckte hinter der Sache. Viel eingebracht hat es ihm allerdings nicht.« Er blätterte durch ein Bündel Papiere und fuhr fort. »Im Oktober 1987 wurde der Zahnarzt John O'Grady von >Border Fox< Dessie O'Hare gekidnappt und festgehalten. O'Grady konnte unversehrt befreit werden, vom Verlust einer Fingerspitze abgesehen. O'Hare sitzt noch immer in Portlaoise ein. Im April 1986 wurde Jennifer Guinness aus ihrem Domizil in Howth 212

entführt. Sie konnte befreit werden; die gesamte Bande wurde festgenommen. Im Dezember 1983 wurde Don Tidey befreit, Geschäftsführer eines Supermarkts. Die IRA hatte Tidey gefangen genommen. Bei einem Schusswechsel verloren wir damals Peter Sheehan, einen jungen Polizeikadetten, und die Armee musste den Verlust von Private Peter Kelly betrauern. 1981 wurde der Supermarkt-Mogul Ben Dünne entführt und über die Grenze geschafft. Ein Lösegeld in beachtlicher Höhe wurde bezahlt, ehe man ihn freiließ. Vermutlich siebenhundertfünfzigtausend Pfund, und das im Jahre 1981! Der nächste Fall ereignete sich Mitte der siebziger Jahre: Tiede Herreman, der niederländische Industrielle. Und davor wurden Lord und Lady Donoughmore entführt.« McGrath machte eine Pause und blickte Quinlan an. »Möchten Sie Einzelheiten über diese Entführungen?« »Nein. Aber was kann man aus all dem schließen?« Danke für die Frage, Quinlan, dachte McGrath. Jetzt kann ich mit dem besseren Teil der Informationen aufwarten. »Kidnapping endet gewöhnlich mit der Festnahme der Verbrecher«, erwiderte er. »Wir haben die meisten Entführer geschnappt und den Großteil des Lösegelds zurückbekommen. Wir konnten sogar ein paar Entführungen verhindern, noch ehe das auserkorene Opfer davon erfuhr. 1983 haben wir einen ganzen IRA-Trupp verhaftet, der Galen Weston kidnappen wollte, ebenfalls Inhaber einer Supermarktkette, wobei es zu einer wilden Schießerei kam. Trotzdem - abgesehen von Martin Cahills verrückten Ideen wurde das Kidnapping in Verbindung mit Lösegeldforderungen weitgehend aufgegeben.« Alice Martin unterbrach McGrath: »Welche verrückten Ideen 213

hatte dieser Cahill denn, Inspector?« Die meisten Anwesenden tauschten ein wissendes Lächeln. McGrath legte seine Papiere auf den Tisch. »Sie werden es nicht glauben, aber er wollte eines unserer Nationalheiligtümer stehlen. Das Book of Keils.« Die Augen der Ministerin weiteten sich vor Fassungslosigkeit. »Großer Gott!« Quinlan schnäuzte sich, um sein Feixen zu verbergen. Martin warf ihm einen strafenden Blick zu und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf McGrath. »Fahren Sie fort.« »So, wie ich die O'Brien-Entführung einschätze, könnte sie die Arbeit eines der wirklich Großen in diesem Gewerbe sein, aber ebenso gut die einer kleinen Bande von Ganoven, die ganz groß einsteigen wollen. Sie haben sich ein so hohes Ziel gesteckt, dass sie genauso gut den Mann im Mond als Entführungsopfer hätten auswählen können. Dadurch, dass sie ein Baby gekidnappt haben, riskierten sie wissentlich oder unwissentlich, die gesamte Unterwelt gegen sich aufzubringen. Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Kontrollpunkte wurden eingerichtet. Sämtliche bekannten Gangs werden unter die Lupe genommen. In allen ihren Stammkneipen finden Razzien statt. Es gibt wohl keinen Gauner, vom Gangsterboss bis zum kleinen Taschendieb, der diese Entführung nicht verurteilen wird. Ich hoffe, dass einige Zungen sich lösen werden. Kidnapping ist schlecht fürs Geschäft. Die

Entführung

eines

Neugeborenen

wird

die

Gauner

gegeneinander aufbringen.« »Haben Sie eine Ahnung, wer es getan haben könnte?« »Noch nicht. Es waren mindestens vier Personen daran beteiligt, schwer bewaffnet. Sie müssen sich zuvor gründlich über das 214

Haus und das Grundstück informiert haben, denn sie wussten genau, wann und wo sie zuschlagen mussten. Oder es war ein Insider-Job, wie Sie bereits sagten, Frau Ministerin. Vielleicht hat irgendjemand von innerhalb des O'Brien-Anwesens die Entführer mit den nötigen Informationen versorgt. Kommt hinzu, dass Harry O'Brien seit Tagen auf den Titelseiten war, was den Gangstern die Arbeit erleichtert hat. Durch die umfassende Berichterstattung wussten sie, wann der günstigste Zeitpunkt war.« Jemand am Tisch murmelte zustimmend. »Kurz vor dem Überfall wurde in Roundwood ein Fahrzeug mit Allradantrieb gesehen, und wir wissen, dass die Entführer das Baby in einem solchen Wagen fortgeschafft haben. Und sie benutzten Plastiksprengstoff, um das Tor zu öffnen. Das lässt auf die Beteiligung eines ehemaligen IRA-Mannes schließen. Jedenfalls auf eine Person, die mit Sprengstoff umzugehen versteht.« Quinlan wandte sich nach links und flüsterte seinem Stellvertreter etwas zu, worauf dieser nickte. McGrath fuhr fort: »Auf dem Parkplatz des Stand Hotels am Curragh brannte ein Jeep aus. Die dortigen Gardai berichten, dass Spuren und Fußabdrücke, die von dem Autowrack wegführen, darauf hindeuten, dass in der Nähe ein anderer Wagen gewartet haben muss. Diese Vermutung wird dadurch erhärtet, dass dort ein günstiger Ort für einen Fahrzeugwechsel ist, denn es ist nicht weit zur Schnellstraße nach Dublin und in Richtung Süden nach Portlaoise. Die Entführer könnten ein Stück die Schnellstraße genommen haben und dann abgebogen sein. Sie könnten sich überall befinden!« Um den Tisch herum herrschte düsteres Schweigen. Alice Mar215

tin, die angespannt zugehört hatte, blickte McGrath an. »Haben Sie eine Vermutung, wo die Entführer sich versteckt haben könnten?« McGrath lehnte sich im Stuhl zurück und senkte die Augen, während er überlegte. »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es handelt sich um eine Bande aus Dublin. Sie haben Schusswaffen und Sprengstoff benutzt. Solche Leute fühlen sich außerhalb der Stadt nicht wohl. Sie mögen keine ländlichen Gegenden. Falls die Entführer aus Dublin kommen, sind sie meiner Meinung nach wieder irgendwo in der Stadt.« Gedämpftes Gemurmel erhob sich. „Da ist noch etwas.« Ks wurde wieder still; alle blickten McGrath an. „Wie es weitergeht, hängt zu einem großen Teil davon ab, ob Harry O'Brien eine Entführungsversicherung hat. Viele schwerreiche Geschäftsleute haben >Risikomanagement<-Policen, die eine Entführungsversicherung mit einschließen. Falls O'Brien eine solche Versicherung abgeschlossen hat, könnte es schwer für uns werden, ihm und seinen Beratern einen Schritt voraus zu sein. Nach unserer Erfahrung kann es zu Abmachungen hinter dem Rücken der Polizei kommen.« Stöhnen rings um den Tisch. »Sonst noch etwas?« »Im Augenblick nicht.« Quinlan sagte rasch: »Jack, wir brauchen Sie sofort unten in Wicklow. Superintendent Peter Andrews leitet die Aktion, aber er hat um Unterstützung durch die Jaguar-Truppe gebeten.« Das hatte er zwar nicht, aber man konnte nicht auf ein solches Ersuchen warten. Um Alice Martin zu beruhigen, musste ihre Wunschkandidatin Kate Hamilton zum Einsatz kommen. McGrath nickte und wollte etwas entgegnen, doch Quinan kam 216

ihm zuvor. »Detective Sergeant Dowling wird an den Ermittlungen im Klinikmord weiterarbeiten.« Er erhob sich, ging den Tisch entlang zu Kate und blieb hinter ihr stehen. »Ich möchte Sie alle mit Detective Sergeant Kate Hamilton bekannt machen. Viele von Ihnen kennen sie bereits.« Er legte leicht eine Hand auf ihre rechte Schulter. »Detective

Sergeant

Hamilton

wird

mit

Dowling

zusammenarbeiten. Doch sie hat jetzt die Leitung der Untersuchung. Lassen Sie mich wiederholen: Detective Sergeant Hamilton ist ab sofort für die Gesamtleitung des Mordfalls in der Klinik verantwortlich. Sie wird weiterhin Mike Loughry unterstehen. Detective Sergeant Dowling wird ihr mit seiner jahrelangen Erfahrung eine wertvolle Hilfe sein.« Kate glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen. Sie schluckte. Cool bleiben! Nichts anmerken lassen!, ermahnte sie sich. Scheinbar ungerührt blickte sie vor sich hin. So was ist nicht ungewöhnlich, Jungs. Erwartet nicht, dass ich mir meine Überraschung anmerken lasse. Alice Martin konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Sehr schön, Commissioner. Es ist wirklich an der Zeit, dass eine Frau in der Garda die Gelegenheit bekommt, zu zeigen, was sie in führender Stellung zu leisten im Stande ist.« Vorsicht, dachte Kate, sie wollen dich auf die Probe stellen. Auch Quinlan konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Ich bin sicher, die Frau Ministerin wird von nun an ein besonderes Augenmerk auf den Fortgang der Ermittlungen in der Mordsache Mary Dwyer haben.« O Gott, dachte Kate, ich stehe hier zwischen zwei Fronten. Das ist ein Machtkampf zwischen den beiden! Ministerin Martin war der Ansicht, dass das letzte Wort in dieser Sache ihr zustand. 217

»Das wird nicht nötig sein, Commissioner. Ich habe volles Vertrauen in Detective Sergeant Hamilton. Sie wird der Untersuchung, die bisher ziemlich plump geführt wurde, eine besondere weibliche Note geben.« Sie blickte McGrath herausfordernd an. Alle am Tisch harrten gespannt der sich anbahnenden Konfrontation. McGrath öffnete bereits den Mund, doch als er Mike Loughrys warnenden Blick bemerkte, beschloss er, lieber zu schweigen. Ein andermal, vielleicht. Bedauerlicherweise legte Martin McGraths Schweigen als Zeichen der Schwäche aus. Sie griff in ihre Handtasche und nahm die Daily Post heraus. »Ich habe heute Morgen in dieser Zeitung gelesen, Inspector McGrath,

dass

Sie

gestern einen

Durchbruch

bei den

Ermittlungen im Klinikmord angekündigt haben.« Sie legte die Zeitung mit der Titelseite nach unten auf den Tisch. Die Kidnapping-Story war für die Morgenausgaben zu spät bekannt geworden; die Schlagzeilen der Zeitungen befassten sich noch mit den Ermittlungen in der Klinik. »Würden Sie uns einweihen? Dürfen wir mit einer baldigen Verhaftung rechnen?« McGrath spreizte die Hände, legte die Fingerspitzen auf die Tischplatte und fixierte sie einen Moment, als wollte er ein Zauberkunststück vollführen. Seine nächsten Worte wählte er sorgfältig. Ihm war nur zu deutlich bewusst, dass aller Augen auf ihm ruhten. »Mit allem Respekt, Frau Ministerin, aber es gibt Kniffe, die von Ermittlern hin und wieder angewendet werden müssen, wenn es bei einer Untersuchung nicht vorangeht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich es je mit einer so seltsamen Ermittlung in einem Mordfall zu tun hatte. Eine junge Frau wurde in einem Krankenhaus brutal getötet, und die Ärzte betrachten es bloß als ... als 218

Vorfall, als Unannehmlichkeit. Einen solchen Mangel an Kooperationsbereitschaft habe ich noch nie erlebt. Ich habe von Ganoven mehr Information erhalten als von den Ärzten dieser Klinik.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Am Tisch herrschte tiefes Schweigen. Kate beobachtete jede Bewegung. Allmählich wurde ihr klar, weshalb man ihr diesen Fall übertragen hatte. McGrath spürte, wie Alice Martin ihn musterte. »Auch ich habe diese Zeitung gelesen, Frau Ministerin. Meine Worte wurden exakt wiedergegeben. Keiner meiner Leute hat diese Einzelheiten an die Presse durchsickern lassen. Aber irgendjemand muss es getan haben! In dieser Klinik gibt es sehr viele persönliche Interessen und manche Geheimnisse. Detective Sergeant Hamilton wird genug zu tun haben, sie alle zu enträtseln.« Kate hatte es nie ausstehen können, wenn man ihr gegenüber gönnerhaft gewesen war oder ihr ungebetenen Rat erteilt hatte. Sie sagte immer, was sie dachte, oft allzu impulsiv. So auch diesmal, wenngleich sie sich später fragte, wie diese Worte ihr über die Lippen gekommen waren. »Ich bin sicher, ich werde den hohen Anforderungen gerecht, die Detective Inspector McGrath gestellt hat. Der Fall ist ins Stocken geraten; das ist uns allen bewusst. Aber manchmal führt es weiter, wenn ein neuer, frischer Kopf das Beweismaterial durchsieht und die Sache möglicherweise anders angeht.« Sie blickte zu McGrath, und ihre Augen funkelten herausfordernd. McGrath schmunzelte in seinen Bart. Touche. Flüchtig lächelten sie einander an. Alice Martin hätte Kate am liebsten an sich gezogen und ihr einen Kuss aufgedrückt. Doch sie begnügte sich mit einem trium219

phierenden Lächeln. Sogar Commissioner Quinlan war beeindruckt. Mike Loughry warf ein: »Ich fürchte, Kate, dass Sie mit einem kleineren Team arbeiten müssen. Wir mussten fast alle Leute für den Kidnapping-Fall abziehen, für Haus-zu-Haus-Befragungen, zur Überwachung notorischer Krimineller, für Straßensperren und dergleichen. Wir brauchen jeden Garda, den wir entbehren können. Ich musste Ihr Team für die nächste Zeit auf sechs Leute beschränken. In einer Woche denke ich noch einmal darüber nach, falls es keine neuen Entwicklungen gibt.« Kate nickte. Dowling zuckte die Schultern und wechselte wissende Blicke mit McGrath, als die Besprechung endete.

12.06 Uhr Zentralentbindungsklinik Luke Conway erfuhr direkt vom Gesundheitsminister, dass Jack McGrath von dem Fall abgezogen worden war. Es war die einzig erfreuliche Neuigkeit an diesem Vormittag gewesen. In der Klinik war man zutiefst bestürzt über die Entführung Gordon O'Briens. Man ließ sich keine Nachrichtensendung entgehen. Die Empörung wurde noch größer, als bekannt wurde, dass June Morrison, eine Mitarbeiterin aus den eigenen Reihen, bewusstlos ins Krankenhaus gebracht worden war. Nach Ansicht des behandelnden Arztes hatte der Knebel eine ausreichende Sauerstoffzufuhr

verhindert

und

die

Besinnungslosigkeit

herbeigeführt. Sky Television brachte in den Mittagsnachrichten die ersten Bilder aus Wicklow. Aus Hubschraubern aufgenommene Fotos zeigten Gardai, die das Grundstück mit Suchhunden durchstö220

berten. Die dunklen Uniformen waren auf dem schneebedeckten Boden nicht zu übersehen. Kreuz und quer vor dem Haus standen Einsatzwagen. Teleobjektive, auf die Fenster gerichtet, ließen die Männer der Spurensicherung in ihren weißen Overalls erkennen. Zwei uniformierte Gardai standen neben einem Dienstwagen, der den Eingang versperrte, und ließen nur Personen durch, die eine entsprechende Befugnis besaßen. In den Sky News wurde auch die Morduntersuchung in der Zentralentbindungsklinik erwähnt. Die Berichterstatter warfen die Frage auf, ob es eine Verbindung gäbe, was Luke Conway ein Stöhnen entlockte. KidnappingExperten, Pädiater, Expolizisten und wer sonst noch Fachmann sein mochte oder irgendeine Meinung zu dem Fall hatte, wurden ins Studio, vor die Kamera und das Mikrofon geholt. Die Aufnahmen von Harry O'Brien, wie er seine Frau im Rollstuhl in die Eingangshalle der Zentralentbindungsklinik schob, wurden an Nachrichtenagenturen in aller Welt übertragen und ausgestrahlt.

»Bestimmt wird es Ihnen eine Freude sein, dass diese junge, unvoreingenommene Frau nunmehr Detective Inspector McGrath abgelöst hat, Dr. Conway. Mit ihrer weiblichen Intuition und Einfühlsamkeit wird sie eine persönliche Note in die Ermittlungen bringen. Schließlich ist es eine Frauenklinik.« Luke Conway hatte dem Minister gedankt. Aber er war trotzdem sehr besorgt. Die Klinik befand sich wieder im Auge des Sturmes und war ein Nachrichtenthema, das in allen Medien breitgetreten wurde. Und Conways beste Hebamme, June Morrison, lag auf der Intensivstation und war, den letzten Nachrichten zufolge, immer noch bewusstlos. Vielleicht wird es wirklich

einfacher

sein,

mit 221

Detective

Hamilton

zurechtzukommen, dachte Conway. Mein ganzes Leben als Arzt habe ich es verstanden, mit Frauen umzugehen. Ich weiß, wie sie denken und sich verhalten. Auch wenn Hamilton Polizistin ist, werde ich sie schnell im Griff haben. Kurz vor dreizehn Uhr wartete Kate Hamilton mit Tony Dowling vor dem Büro des Chef-Arztes. Die beiden waren bereits die Einzelheiten des Falles, die Ergebnisse der Spurensicherung und die bisherigen Erkenntnisse durchgegangen. McGrath hatte Kate den gesamten Papierkram übergeben, der sich im Zuge der Ermittlungen angesammelt hatte. Später war Kate eine sehr aufmerksame Zuhörerin, als Dowling ihr die Schwierigkeiten erklärt hatte, was die Zusammenarbeit mit den Ärzten betraf; überdies hatte er ihr einige Einzelheiten anvertraut, die bisher nur ihm und McGrath bekannt gewesen waren. McGraths Kriegslist, einfach eine falsche Karte auszuspielen und eine baldige Verhaftung des Täters anzukündigen, missfiel Kate außerordentlich. Dass die Trumpfkarte ein leeres Blatt gewesen war, hätte sie nie vermutet. Je mehr sie darüber nachdachte, auf welche Art und Weise dieser Mordfall untersucht worden war, umso besorgter wurde sie. Es war wirklich an der Zeit, die Ermittlungen anders anzugehen, mit dem berühmten sechsten Sinn einer Frau. »Dr. Conway, ich bin Detective Sergeant Kate Hamilton. Ich gehöre zur Garda-Zentrale Store Street. Detective Sergeant Dowling kennen Sie ja bereits.« Conway erhob sich, streckte den Arm über den Schreibtisch aus und schüttelte Kate die Hand. Dowling nickte er zu. Als Conway sie musterte, bemerkte Kate, dass er sie nicht wieder erkannte. »Dr. Conway, ich wurde beauftragt, die Untersuchung des Mordes an Mary Dwyer zu leiten.« Conway zuckte bei dem Wort 222

Mord leicht zusammen. »Detective Sergeant Dowling hat mich mit den bisherigen Ergebnissen vertraut...« Conway unterbrach sie. »Gibt es denn irgendwelche Ergebnisse, Detective? Sind wir dieser baldigen Verhaftung, die uns Detective Inspector McGrath versprach, denn schon näher?« »Aus taktischen Gründen darf ich keine Einzelheiten erwähnen, Dr. Conway. Ich möchte Ihnen vorerst nur versichern, dass es auch unser Anliegen ist, diesen Fall so schnell wie möglich zu lösen. Nach dieser schrecklichen Entführung vergangene Nacht wurde jeder verfügbare Polizist in Dublin abgestellt, die Kidnapper zu suchen. Deshalb musste mein Team auf sechs Mann verringert werden.« »Das tut mir Leid«, log Conway. »Mit allem Respekt, Dr. Conway, aber das ist ein Grund mehr, dass Sie und die Ärzteschaft uns ohne Vorbehalte jede Form von Hilfestellung gewähren müssen. Ich habe weniger Leute für diesen Fall, sodass wir alle viel härter arbeiten müssen. Ich hätte gern Ihre persönliche Zusicherung, dass Sie Ihre bisher widerstrebenden Mitarbeiter dazu bringen, uns nach besten Kräften zu unterstützen. Auf diese Weise sorgen auch Sie dafür, dass Ihre Klinik wieder voll einsatzfähig ist, und wir können den Mörder finden.« Conway spreizte seine langen Finger und legte sie auf die Schreibtischplatte. Kate warf einen flüchtigen, faszinierten Blick darauf. Diese langen Finger haben mein Baby aus meinem Schoß geholt. »Ich versichere Ihnen, Detective Sergeant, dass ich und mein gesamtes Personal sogar Berge versetzen würden, um Ihnen zu helfen, diese Untersuchung zu Ende zu bringen.« Er lächelte. Es 223

war ein freundliches Lächeln, doch zu süß, klebrig süß. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen jetzt gleich ein paar Fragen stelle?« »Keineswegs. Bitte, fragen Sie.« Conway wirkte ausgesprochen selbstgefällig. Kate legte ihre Aktenmappe auf den Tisch, griff hinein, holte ein kleines schwarzes Notizbuch heraus und schlug es auf. Die Schriftstücke und Ausschnitte, die McGrath über den Fall zusammengestellt und ihr übergeben hatte, legte sie neben sich auf den Tisch. Dowling saß stumm neben ihr. »Ich bin die Ärzteliste durchgegangen.« Sie hielt inne und blickte auf. Conway nickte und stützte das Kinn auf die langen, jetzt verschränkten Finger. »Ja?«, sagte er sehr langsam, fast argwöhnisch. »Es ist nicht eine einzige Frau darunter.« Conway blinzelte verwirrt. »Verzeihung, das habe ich nicht ganz verstanden.« »Offenbar arbeitet nicht eine einzige Ärztin hier.« »Ja, und?« »Hat sich hier niemals eine Frau für die Stelle eines Facharztes beworben?« Tony Dowling rutschte plötzlich auf seinem Stuhl nach vorn. Er sah ziemlich benommen aus. »Oh, gewiss. Wir hatten mehrmals Bewerberinnen, wenn eine Facharztstelle ausgeschrieben wurde.« „Warum haben Sie dann keine Fachärztin in Ihrem Team?« Conway verlor allmählich die Fassung. »Weil die Bewerberinnen 224

nicht den hohen Ansprüchen gerecht wurden, die wir hier von unseren Ärzten erwarten!« Seine Stimme war nun schneidend scharf. »Aber die männlichen Bewerber erfüllten sie immer?« Conway fummelte an seiner Fliege und bemühte sich, seinen Zorn in Schach zu halten. »Detective Sergeant Hamilton, wären Sie so freundlich, mir zu sagen, was in aller Welt die Personalpolitik der Klinik mit Ihrer Morduntersuchung zu tun hat?« Dowling drehte sich im Stuhl herum, um seine junge Kollegin besser sehen zu können. Er war sichtlich verwirrt und besorgt. »Vielleicht hat es gar nichts damit zu tun, Dr. Conway; andererseits könnte es durchaus der Fall sein. Ich frage mich, ob es sich um eine von Ihnen persönlich aufgestellte Regel handelt, die verhindern soll, dass Bewerberinnen in dieser Klinik eine Facharztstelle bekommen.« Ich lüge. Ich möchte nur sehen, wie du dich windest, du Bastard. Ich habe mein Baby nicht zur Adoption freigegeben, hast du das je erfahren? »Das ist eine unerhörte Unterstellung, Detective! Was soll das Ganze?« Conway kochte vor Wut. »Es interessiert mich nun mal, weshalb ein fast zweihundert Jahre altes Krankenhaus, in dem hauptsächlich Frauen und Säuglinge behandelt werden, nie, nicht ein einziges Mal, eine Ärztin eingestellt hat. Ich finde die Frage ganz und gar nicht ungewöhnlich. Sie, Tony?« Dowling murmelte eine unbestimmte Antwort und versuchte, Kates Blick auszuweichen. Conway wollte etwas sagen, doch Kate kam ihm zuvor. »Wissen 225

Sie, seit wir hierher beordert wurden, um den Mord an Mary Dwyer aufzuklären, sehen wir uns einer Mauer des Schweigens gegenüber. Detective Inspector McGrath sagte mir, so etwas habe er in seiner ganzen Laufbahn nicht erlebt. Und er ist ein erfahrener und ausgezeichneter Kriminalbeamter.« Conway kochte immer noch, während er zuhörte. »Aber wie ich schon zu Anfang sagte, muss ich mit viel weniger Leuten an diesem Fall arbeiten. Sechs Detectives müssen jetzt die Arbeit bewältigen, für die ursprünglich zwölf Beamte abgestellt waren. Lassen Sie uns also die Grundregeln von vornherein klarstellen. Wir erwarten von nun an uneingeschränkte Kooperation, bis dieser Fall gelöst ist. Wird sie uns verweigert, sorge ich dafür, dass die Medien erfahren, welche Steine man uns hier in den Weg legt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie noch mehr negative Publicity verkraften können.« Tony Dowling traute seinen Ohren nicht. Trotz der Verärgerung über seine etwas zu forsche Kollegin hörte er sich den zunehmend heftigen Diskurs mit unbewegter Miene an. Conway sprang auf und beugte sich mit vor Wut tiefrotem Gesicht drohend über den Schreibtisch vor. »So etwas Unverschämtes musste ich mir in meinem ganzen Leben nicht bieten lassen! Ich werde sofort die Justizministerin anrufen und Sie, meine Liebe, so rasch von diesem Fall abziehen lassen, dass Sie sich vorher nicht mal mehr die Nase pudern können!« Kate packte die Unterlagen und ihr Notizbuch in ihre Aktentasche. Sie bedachte den zornbebenden Conway mit keinem Blick. Ihre Bewegungen waren gewollt langsam, so langsam, dass Conways gebrüllte Worte verklungen waren, ehe Kate antwortete. Als sie sprach, war ihre Stimme ruhig und beherrscht, 226

aber eisig. »Das halte ich für unklug, Dr. Conway. Sie müssen wissen, dass ich nicht ohne Grund ausgewählt wurde, die Leitung der Ermittlungen in diesem Fall zu übernehmen. Ich bin von einer Besprechung mit der Justizministerin direkt hierher gekommen. Es lag ihr sehr am Herzen, einen so wichtigen und schwierigen Fall einer Frau zu übertragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ministerin mich so schnell wieder entlässt, wie sie mich eingesetzt hat. Sie ist eine engagierte Feministin und sieht Frauen gern auf verantwortlichen Posten. Ich glaube nicht, dass sie erfreut wäre, wenn sie hören müsste, dass wir uns über die meines Erachtens sehr wichtige Frage streiten, weshalb es keine Ärztinnen in diesem Krankenhaus gibt. Es könnte sein, dass sie sich genauso darüber wundert wie ich, und dass sie diese Angelegenheit deshalb vielleicht im Parlament zur Sprache bringt. Was noch mehr negative Publicity für Sie bedeuten würde.« Conway ließ sich wutentbrannt in seinen Stuhl fallen. »Tatsächlich gibt es einen sehr wichtigen Grund, weshalb ich gefragt habe, warum in dieser Klinik keine Ärztinnen arbeiten.« Conway kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Um sich ja nichts entgehen zu lassen, rutschte Dowling so weit auf seinem Stuhl nach vorn, dass er beinahe herunterfiel. »Falls es in dieser Klinik üblich ist - ob mit Absicht oder nicht -, Frauen als nur für Heim und Herd verantwortlich zu betrachten, werden sich große Probleme für mich ergeben. Wenn ich Fragen stelle, erwarte ich Antworten. Falls jemand glaubt, mit mir sei leichter Kirschen essen als mit Detective Inspector McGrath, nur weil ich eine Frau bin, irrt er sich gewaltig. Ich möchte, dass Sie das Ihren Mitarbeitern klar machen, Dr. Conway. Ich werde hier bleiben, 227

bis der Fall gelöst ist. Und ich möchte ihn schnell lösen!« Conway starrte sie benommen an. „In diesem Fall steckt bereits sehr viel Arbeit, Dr. Conway«, fuhr Kate fort und deutete auf die dicken Bündel Unterlagen, die sie in ihre Aktentasche gestopft hatte. »Diese Arbeit soll doch nicht vergeblich gewesen sein, nur weil Sie alle sich nicht mit den neuen Gegebenheiten abfinden können. Wir wollen doch weitermachen, nicht wahr?« Sie lächelte ihn an und freute sich über sein offensichtliches Unbehagen. Dann klemmte sie sich ihre Aktenmappe unter den Arm und streckte die Hand über den Schreibtisch aus. Conway nahm sie und staunte über Kates festen Griff. Dowling plagte sich aus dem Stuhl. »Sergeant Dowling und ich begeben uns jetzt ins Labor, um dort das Personal zu vernehmen. Ich möchte, dass Sie ebenfalls dorthin kommen. Und ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Belegschaft nicht im Vorhinein unterrichten.« Kate ging zur Tür. Dowling folgte ihr wie ein Schoßhund. »Himmel, Kate ...«, begann er auf dem Flur, doch sie ergriff seinen Arm und drückte sich einen Finger der anderen Hand auf die Lippen. Dowling starrte sie nur an. Sie zählte bis zwanzig; dann öffnete sie noch einmal die Tür. »Ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn Sie Ihre Mitarbeiter nicht unterrichten, Dr. Conway. Wie ich bereits sagte. Wir sehen uns im Labor.« Conways Kinnlade klappte herunter. Er hielt den Hörer bereits in der Hand. Während Kate Hamilton und Tony Dowling kurz nach dreizehn Uhr über die Korridore der Klinik zum Labor gingen, stapfte Jack McGrath durch die Flure von Beechill und ließ sich die 228

Einzelheiten durch den Kopf gehen, die er über den KidnappingFall erfahren hatte. Er war kurz vor Mittag eingetroffen und hatte sich sofort mit den leitenden Beamten des örtlichen GardaReviers zur Besprechung zusammengesetzt. Um wie viel Uhr wurden Sie gerufen? Wie war es dort, als Sie eintrafen? Hat jemand den Rückzug der Kidnapper beobachtet? Hat jemand in der Gegend die Explosion gehört? Wurden in letzter Zeit Verdächtige in der Nähe des Hauses bemerkt? Wie sind die Kidnapper eingedrungen? Wann und wo wurden die ersten Straßensperren errichtet? Die Sofortmaßnahmen der Polizei hatten sich als völlig richtig erwiesen. Ein Rettungswagen hatte June Morrison innerhalb einer Stunde, nachdem die Gardai das Haus betreten hatten, zum nächsten Krankenhaus gebracht. McGrath lobte die Gründlichkeit und das rasche Handeln der hiesigen Polizei. Nun aber sah er sich dem ersten großen Hindernis bei den Ermittlungen gegenüber - Harry O'Brien. Big Harry schien nicht mehr bei klarem Verstand zu sein. Als Sandra O'Brien schließlich aus dem Bett gestiegen war, um ihr Kind zu stillen, war es der Druck der anschwellenden Milch in ihrer Brust gewesen, der sie geweckt hatte, nicht das Schreien eines hungrigen Babys. Sofort war sie beunruhigt, war zuerst ins Kinderzimmer gegangen und hatte festgestellt, dass das Bettchen leer war. Dann war Sandra angsterfüllt in das Zimmer geeilt, in dem June Morrison schlafen sollte. Zu ihrem Entsetzen fand sie June bewusstlos auf dem Boden vor. Nachdem Sandra den Knebel entfernt hatte, war sie benommen zum Arbeitszimmer ins Erdgeschoss hinuntergerannt, wo sie Big Harry und Theo Dempsey vorfand: Rücken an Rücken gefesselt und geknebelt, 229

Haar und Kleidung weiß gesprenkelt vom Deckenverputz. Als Sandra die beiden endlich befreit und erfahren hatte, was geschehen war, geriet sie dermaßen außer sich, dass sie von Zimmer zu Zimmer stürzte, schreiend Türen aufriss und verzweifelt nach ihrem Baby rief. Big Harry erging es nicht besser. Wie von Sinnen war er aus dem Haus gestürmt. Etwa eine halbe Stunde später griffen ihn die ersten Einsatzwagen, die nach Beechill eilten, unterwegs auf, halb erfroren und unzusammenhängendes Zeug stammelnd. Nur Theo Dempsey hatte klaren Kopf behalten. Der Ex-ArmySergeant, der zwei Einsätze mit der irischen Friedenstruppe im Libanon absolviert und so manches Schlimme erlebt hatte, war dafür ausgebildet, in Notfällen ohne Zögern zu handeln. Er rief sofort per Handy das Garda-Revier in Roundwood an, verständigte anschließend die Zentrale und veranlasste auf diese Weise die umgehende landesweite Fahndung nach den Kidnappern. Es war auch Dempsey, der June Morrison in die richtige Körperlage brachte, wie er es in den Erste-Hilfe-Kursen der Army gelernt hatte, und sie dadurch vor dem Ersticken bewahrte. Und schließlich gelang es ihm auch, Sandra davor zurückzuhalten, ebenfalls hinaus in die eiskalte Nacht zu stürmen. Umgehend rief Dempsey den hiesigen Arzt an, der sich mit seiner ruhigen, besonnenen Art bei diesem Chaos als große Hilfe erwies. Als der herumirrende, beinahe unzurechnungsfähige Harry O'Brien schließlich nach Beechill zurückgebracht worden war, hatte Theo Dempsey sich auch seiner angenommen und ihn dazu gebracht, in warme Kleidung zu schlüpfen. Nie zuvor hatte er seinen Chef so verzweifelt erlebt wie in diesem Augenblick, als er vor Kälte zitternd zwischen den beiden Gardai stand. Selbst an den 230

schlimmsten Tagen seiner Besäufnisse hatte Big Harry zumindest einen Rest von Vernunft bewahrt. Aber jetzt nicht mehr. Der Arzt war dermaßen besorgt gewesen, dass er Harry ein starkes, lange wirkendes Beruhigungsmittel spritzte und ihn von Theo Dempsey ins Bett stecken ließ. Sandra O'Brien konnte eine Stunde

später

hinzulegen,

überredet

nachdem

die

werden,

sich

Gardai

so

ebenfalls viele

wieder

brauchbare

Informationen aus ihr herausgeholt hatten, wie sie bekommen konnten. Jack McGrath stapfte im Arbeitszimmer hin und her, während er zuhörte, wie Theo Dempsey noch einmal über die nächtlichen Ereignisse berichtete. Dempsey wusste nicht mehr, wie oft er heute bereits die gleiche Geschichte erzählt hatte. »Es waren also vier. Zwei Große, ein Mittelgroßer und ein Kleiner. Und Sie sind sicher, dass der Kleine eine Frau war?«, fragte McGrath. »Ich konnte ihre Strümpfe, die geschwollenen Knöchel und die flachen Schuhe sehen. Die Füße waren zu klein für einen Mann. Ich weiß, das ist nicht viel, aber mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.« »Der kleinere Mann schien also der Anführer der Bande gewesen zu sein.« McGrath ging Dempseys Aussage noch einmal durch. »Ja. Sie haben kaum ein Wort gewechselt und sich hauptsächlich durch Nicken verständigt, als sie bei uns im Zimmer waren. Aber schließlich hat der kleine Mann geredet.« »Dubliner Akzent?« »Unverkennbar. Und sehr ausgeprägt.« »Aber Sie haben auch gehört, wie einer der anderen etwas sagte. Mit nordirischem Akzent. Sind Sie sicher?« 231

»O ja. Ich war mit Mr. O'Brien geschäftlich viel im Norden und erkenne einen nordirischen Akzent, wenn ich ihn höre. Der Mann hatte ohne Zweifel einen nordirischen Akzent. Unverkennbar.« McGrath wunderte sich nicht darüber. Er hatte es bereits vermutet, als er sich das Tor anschaute. Für die Sprengung war Semtex benutzt worden, was auf eine Verbindung zur IRA schließen ließ. Passt zum nordirischen Akzent, dachte er. Klemm dich dahinter. Es gibt nur wenige von dieser Terroristenmeute, über die wir nichts wissen. »Sonst noch was?« »Nicht viel. Es ging alles ziemlich schnell.« Dempsey sah sehr abgespannt aus. Sein Haar, das er im Bürstenschnitt trug, glänzte von Schweiß, und seine gewohnt aufrechte Körperhaltung war verschwunden. Er hatte nicht geschlafen, sich nicht gewaschen, nicht rasiert und hatte nichts gegessen. Dempsey machte sich sehr große Sorgen um seinen Boss. Nie zuvor hatte er Big Harry in so schrecklichem Zustand gesehen. McGrath ließ sich schwer in den Sessel hinter Harry O'Briens Schreibtisch fallen. Auf der Platte lag ein sauberes A4-Blatt. Verschiedene Buchstaben und Wortausschnitte aus Zeitungen waren darauf geklebt: Harrys Boy ... 3 Millionen Pfund ... oder Harrys Boy tot. Rasch handeln ... oder totes Baby. »Mehr hat die Bande nicht zurückgelassen? Sind Sie sicher? Haben die Entführer nichts davon gesagt, wie der Kontakt zu Mr. O'Brien hergestellt würde? Oder wann sie sich melden?« Dempsey schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.« »Haben sie auch nichts von einer Frist gesagt?« »Keinen Ton. Was immer in diesem Umschlag war - es war das Einzige, was sie dagelassen haben. Und zu Mr. O'Brien haben sie 232

auch nichts weiter gesagt, sonst hätte ich's gehört. Immerhin war ich mit ihm an den Stuhl gefesselt.« Die Tür zum Arbeitszimmer wurde langsam geöffnet. Sandra O'Brien, völlig verstört und verzweifelt, lehnte sich Halt suchend ,in den Türrahmen, schwankte aber trotzdem und wäre um ein Haar zusammengebrochen. Theo Dempsey rannte auf sie zu, um sie festzuhalten, ehe ihre Knie nachgaben. »Bringen Sie mir mein Baby zurück«, murmelte sie. »Bringen Sie mir mein Baby zurück.« Zwei weibliche Gardai nahmen sie Dempsey ab und führten sie langsam zu ihrem Bett zurück. McGrath und Dempsey wechselten Blicke, während sie Sandra hinterher schauten, als sie die Treppe hinauf verschwand. »Bleiben Sie hier«, wies McGrath Dempsey an. »In einer Stunde bin ich zurück. Halten Sie durch, falls diese Hundesöhne Verbindung aufnehmen. Von denen, die sich hier auskennen, sind Sie der Einzige, der noch ansprechbar ist.« Dempsey sank in einen Sessel und stützte den Kopf auf die Hände. Was für eine Nacht! Was für eine entsetzliche Nacht! Immer noch hörte Dempsey die Schreie des kleinen Gordon, als er in die eisige Nacht hinausgetragen wurde, und Sandras Rufe: »Wo ist mein Baby? Wo ist mein Baby?« während sie von Zimmer zu Zimmer stürzte und die Türen aufriss. Dempsey fühlte sich ausgelaugt, erschöpft, völlig fertig. Wo war das Baby?

27 14.24 Uhr Laboratorium, Zentralentbindungsklinik 233

Die Belegschaft der Klinik hatte sich einverstanden erklärt, auf das freie Wochenende zu verzichten, um liegen gebliebene dringende Arbeiten zu erledigen. In den Operationstrakten kehrte der gewohnte Arbeitsablauf ein. Auf den Stationen herrschte wieder reger Betrieb. Im Labor überschlug das Personal sich regelrecht, um die verlorene Zeit aufzuholen: Blut, Urin, Abstriche, Gewebeproben alles musste schnellstens abgenommen, untersucht und befunden werden. Da hatte Kate Hamilton ihnen gerade noch gefehlt. Aber sie mussten sich mit der Polizistin abfinden. Kate hatte beschlossen, um vierzehn Uhr dreißig im Beisein Luke Conways mit dem Personal im Labor zu sprechen. Vor der Labortür erklärte sie Conway, der innerlich immer noch vor Wut über ihre vormittägliche Begegnung kochte, wie sie vorgehen wollte. »Erst rede ich kurz zu allen, dann würde ich gern mit jedem einzeln sprechen.« Conway seufzte tief und blickte sie resigniert an. »Muss das ausgerechnet jetzt sein? Die Mitarbeiter finden gerade wieder halbwegs in die Normalität zurück. Und wir sind gewaltig im Rückstand, wissen Sie.« Kate wirbelte zornig zu ihm herum. »Jetzt! Sofort! Nicht morgen oder nächste Woche. Jetzt!« Conway verwunderte ihr Ausbruch nicht. Er wusste, dass er es mit einer streitbaren jungen Frau zu tun hatte, die im Moment am längeren Hebel saß. Das Personal drehte sich zu den dreien um, als sie das Labor betraten. Nervöse Blicke wurden gewechselt. Hamilton und Dowling gingen zu der Stelle, wo Mary Dwyers Leiche gefunden 234

worden war. Kate holte ihr schwarzes Notizbuch hervor, um Vergleiche mit ihren Eintragungen aus der Mordnacht anzustellen. Sie runzelte die Stirn. Dowling beobachtete sie, und der Hauch eines amüsierten Lächelns legte sich auf sein Gesicht. Im Labor wurde es ruhiger. Conway räusperte sich. »Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Wir müssen Sie alle kurz bei der Arbeit unterbrechen. In ein paar Minuten können Sie weitermachen.« Kate zählte acht Gestalten in weißen Kitteln an den Labortischen, vier Frauen und vier Männer. »Ah... ich möchte Ihnen Detective Sergeant Kate Hamilton vorstellen«, fuhr Conway fort. »Sie leitet jetzt die Untersuchung in dem Vorfall... äh ... dem Mord.« Er würgte fast an diesem Wort und machte eine Pause, als überlege er, wie er weitermachen solle. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er genau an der Stelle stand, wo Mary Dwyers Leiche gelegen hatte, und wider Willen starrte er darauf. Acht Augenpaare folgten seinem Blick. Die meisten Anwesenden schauderten, und zwei junge Frauen legten unwillkürlich die Hände um den Hals, als spürten sie den Würgegriff eines Phantoms. „Detective Hamilton möchte Ihnen etwas sagen«, endete Conway schließlich. Kate wartete, bis sie sicher war, die allgemeine Aufmerksamkeit zu haben. „Hallo. Tut mir Leid, Sie bei der Arbeit stören zu müssen. Ich weiß, dass Sie alle versuchen, wieder den gewohnten Ablauf in der Klinik herzustellen, und den ganzen Samstag und Sonntag zu arbeiten macht auch nicht gerade Spaß.« Sie schaute sich um und bemerkte manches nervöse Lächeln. »Aber je genauer ich mich mit den Informationen befasse, die wir bisher bekommen haben, 235

desto sicherer bin ich, dass etwas fehlt - etwas, das eigentlich ganz offensichtlich ist. Und ich glaube, es hat mit diesem Labor zu tun.« Ringsum wurden besorgte Blicke gewechselt. »Also, ich möchte, dass Sie noch einmal über alles nachdenken, was Sie bereits Detective Inspector McGrath erzählt haben. Gibt es irgendetwas, egal für wie unbedeutend oder abwegig Sie es halten, das Sie nicht erwähnt haben?« Sie hielt inne, um ihre Worte einwirken zu lassen. »Gibt es vielleicht eine Möglichkeit herauszufinden, woran Mary Dwyer in der Nacht, als sie ermordet wurde, gearbeitet hat? Irgendetwas, von dem wir nichts wissen? Könnte es sein, dass sie aus Gefälligkeit für einen Freund eine Untersuchung vorgenommen hat? Wieso wurde der Computer zertrümmert, an dem Mary Dwyer arbeitete? Es wurden mehrere Blätter von dem Papier herausgerissen, das der Drucker ausgespuckt hatte. Hat jemand von Ihnen eine Erklärung, warum das geschehen sein könnte? Und weshalb wurde auch der Drucker zertrümmert? Warum hat der Mörder sämtliche Blutproben zerschmettert oder auf den Boden fallen lassen? Wurden die Geräte und Gegenstände willkürlich zerstört, oder ging es dem Täter um eine ganz bestimmte Sache? Wollte er auf diese Weise vielleicht eine Information vernichten, die ein Gerät, eine Blutprobe, oder der Computerausdruck hätte verraten können?« Wieder hielt sie inne und betrachtete die Gesichter, musterte sie diesmal eingehend, genau wie Dowling. Beide waren sich später einig: Falls der Mörder unter den Mitarbeitern im Labor gewesen war, hatte er sich mit keinem Wimpernzucken verraten. Eine betroffenere, besorgtere Personengruppe war schwerlich zu finden. Kate fuhr fort: »Sind Ihre PCs vernetzt? 236

Wenn

ja,

haben

Sie

eine

Backup-Einrichtung

im

Zentralrechner?« »Ja, haben wir!«, rief jemand. Aller Augen wandten sich einem sehr jungen Gesicht voller Aknepusteln zu. Das dunkle, lange Haar des jungen Mannes war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und trug einen weißen Kittel, der schon bessere Tage gesehen hatte. Er fuhr fort: »Ich hab' schon mal versucht, das dem anderen Detective zu erklären.« Kate blickte auf Dowling. »Nein, nicht ihm. Dem anderen. Dem mit dem Schnurrbart.« »Detective Inspector McGrath?« »Weiß nicht, wie er heißt. Ich hab' versucht, es ihm zu erklären, aber er hat sich am Telefon mit jemand gestritten, und bevor wir es richtig mitbekommen hatten, war das Labor geschlossen, und niemand konnte mehr rein oder raus. Ich meine, was hat es für einen Sinn, uns um Mithilfe zu bitten, wenn Sie nicht mal zuhören, was wir zu sagen haben?« Luke Conway grinste. Kate wollte die Leute nicht noch mehr aufbringen. Sei vorsichtig, ermahnte sie sich. »Das tut mir Leid, Mr.... Entschuldigen Sie, wie war gleich Ihr Name?« »Hogan, Ben Hogan. Alle unsere Tests sind im Computer erfasst. Wir bekommen die Formulare mit den Proben und geben sämtliche Einzelheiten in die PCs auf den Arbeitstischen ein. Das Ganze wird dann ins Terminal übertragen. Es gibt ein automatisches Backup, falls mal der Strom ausfällt oder so was. Also, auch wenn Marys Laborcomputer zerschmettert wurde, ist alles, was sie eingegeben hat, noch gespeichert. Das gilt auch für die 237

Daten sämtlicher anderen PCs hier.« »Also ist alles, woran Mary Dwyer am Dienstag gearbeitet hat, im Zentralcomputer gespeichert und kann abgerufen werden?« »Selbstverständlich.« Kate wandte sich Conway zu und lächelte honigsüß. »Dr. Conway, ich weiß, dass ich Ihre Geduld strapaziere, aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ben ersuche, einen kleinen Computerdurchlauf für mich zu machen? Jetzt gleich?« »Das hätte alles schon viel eher erledigt werden können«, brummelte Conway, »hätte Detective Inspector McGrath seinen Job ordentlich gemacht.« »Das steht jetzt nicht zur Debatte.« Kate winkte Hogan heran. »Okay, Ben, machen wir uns an die Arbeit.« Während Dowling aufmerksam zuhörte, wurden ihm zwei Dinge klar: Erstens, wie froh er war, bald in den Ruhestand gehen zu dürfen. Diese ganze Terminologie - Vernetzung, Backups - war ihm zu hoch. Er tippte seine Berichte immer noch auf einer alten, ziemlich ramponierten Kofferschreibmaschine. Zweitens erkannte er, dass Kate Hamilton ein verdammt kluges Mädchen war. Und noch etwas kam ihm in den Sinn: Dass Jack McGrath vielleicht als Sündenbock würde herhalten müssen, falls diese Ermittlung in die Hose ging.

28 5.07 Uhr Das Cottage bei Kilcullen, Grafschaft Kildare Gordon O'Brien, fünf Tage und fünf Stunden alt, war ein sehr unglückliches Baby. 238

Ein Neugeborenes ist das empfindlichste und verwundbarste Wesen auf der Welt. Während der vergangenen neun Monate war Gordon O'Brien im Mutterleib gewachsen und war zu einem voll entwickelten Baby geworden. Er hatte sanft im schützenden Fruchtwasser im Schoß seiner Mutter geschaukelt. Er hatte ihre Bewegungen gespürt, ihren Herzschlag gehört, sogar ihre Stimme. Er hatte sich in einer warmen, liebevollen Atmosphäre befunden. Er war zufrieden gewesen, ungeboren zwar, aber glücklich; er war gewachsen und hatte sich normal entwickelt. Er war nie hungrig gewesen, nie verängstigt. Das alles hatte sich am Montag, dem 10. Februar 1997, geändert, dem Tag seiner Geburt. Er hatte um sein Leben gekämpft und beinahe verloren. Er war grob in diese Welt gezerrt worden und hatte zum ersten Mal Schmerz verspürt, als ihm Nadeln in die Haut gestochen wurden. Er hatte laute, besorgte Stimmen vernommen, den tröstenden Herzschlag seiner Mutter aber nicht mehr gehört und auch nicht ihre Stimme. In seiner Hilflosigkeit hatte er schreien wollen. Er hatte verzweifelt nach Atem gerungen, um überhaupt schreien zu können. Und endlich hatte er geschrien. Dann war sie wieder da. Er trank von ihrer Brust und hörte wieder ihr Herz, ihre Stimme. Er spürte zum ersten Mal ihre Berührung, als sie sein Gesicht und seinen Körper liebkoste und über sein Haar strich. Wieder war er zufrieden. Glücklich. Er hatte seine Mutter zurück. Jetzt war sie wieder fort. Und er kreischte auf seine hilflose Art. »Kannst du den verdammten Balg nicht zum Schweigen bringen?« Sam Collins' Geduld war fast zu Ende. Sie alle hatten vergangene Nacht kaum ein Auge zugetan. Die Begeisterung über die erfolgreiche Entführung hatte sie nicht einschlafen 239

lassen. Noch immer strömte das Adrenalin vom Donnern der Sprengung durch ihre Adern, vom erregenden Hochgefühl, als sie zurück nach Newbridge fuhren. Doch das Baby hörte einfach nicht auf zu schreien und zu kreischen. Sam Collins hatte genug. Selbst bei bester Laune konnte er Babys nicht ausstehen, und Klein Gordon ging ihm fürchterlich auf den Wecker. »Peggy? Verfluchte Scheiße, stell diesen Balg ab!« Sie alle waren gereizt. Tommy Malone hatte den ganzen Tag von Sender zu Sender geschaltet, damit ihm ja keine Nachrichten entgingen. Er wollte alles über ihre nächtliche Aktion erfahren. Wie viele Kriminelle war er versessen darauf, in den Zeitungen über sein neuestes Ding zu lesen, sich anzuschauen, was im Fernsehen darüber gezeigt wurde, und sich anzuhören, was die Radiosender brachten. Er wurde nicht enttäuscht. Die Nachrichten wurden in ernstem, ja düsterem Tonfall verlesen; es gab sogar eine anschließende

Sondersendung.

Die

Kidnapper

wurden

aufgefordert, das Baby unversehrt zurückzugeben, und man bat die Öffentlichkeit um sachdienliche Hinweise und Mithilfe. In den 18-Uhr-Nachrichten würde die Justizministerin eine Rede an die Nation halten. Sandra O'Brien und ihr Mann standen unter Polizeischutz und wurden ärztlich betreut; da beide noch unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln standen, waren sie nicht in der Lage, vor den Fernsehkameras selbst einen Appell an die Entführer zu richten. »Scheiße«, fluchte Tommy Malone. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Big Harry schlappmachte. »Na, hoffentlich ist er morgen wieder fit. Er soll sich verdammt nochmal beeilen. Ich kann diese kreischende Nervensäge nicht mehr ertragen. Hoffentlich wird Peggy damit fertig.« Vor fünfzehn Jahren hätte Peggy das mühelos geschafft, jetzt 240

aber fiel es ihr verdammt schwer. Selbst ihr ging das unentwegte Geschrei des Babys auf die Nerven. Sie steckte ihm Schnuller in den Mund, doch es half nichts. Sie versuchte, ihn zum Aufstoßen zu bringen, aber es funktionierte nicht. Sie machte ihm ein Fläschchen. Er nahm es nicht. Peggy hatte nicht übel Lust, Klein Gordon einen Klaps zu verpassen. Aber nicht, solange Tommy Malone in der Nähe war. Gordon O'Brien hatte schreckliche Angst. Statt des liebkosenden Streichelns seiner Mutter wurde er nun von rauen Händen berührt. Peggy versuchte, die Wärme der Mutterbrüste durch kalte Gummisauger zu ersetzen. Und statt der zärtlichen Stimme seiner Mutter hörte Gordon laute, grobe Verwünschungen. Wütende Stimmen. Seine Nase und seine Brust wurden bereits empfindlich. Der Rauch von Tommy Malones Zigaretten brachte ihn zum Husten und Schniefen. Malone schaltete das Radio aus. Das Baby schlief. Endlich mal ein bisschen Ruhe. Er bedachte Peggy Ryan mit einem drohenden Blick. Sieh zu, dass du ihn ruhig hältst, sonst... »Okay, wenn ich die Sache richtig sehe, ist Big Harry so fix und fertig, dass er das Geld frühestens Montag beschaffen kann. Das sind noch zwei Tage. Den ganzen Kram übers Radio könnt ihr vergessen. Ist bloß der übliche Stuss, den sie nach jedem großen Ding senden. Morgen sieht die Sache schon anders aus. Big Harry wird seinen Sohnemann wiederhaben wollen.« »Je schneller, desto besser. Der kleine Scheißer is' so laut wie 'ne Polizeisirene!« Moonface hatte ebenfalls genug von Gordon. Er bohrte in der Nase und wischte das zu Tage Geförderte an seiner Hose ab. 241

Malone beachtete ihn nicht. »Wir stecken hier fest, bis das Lösegeld bezahlt wird. Also macht das Beste draus. Ich fahr' jetzt mal schnell zum Einkaufen. Schreibt auf, was ihr wollt. Aber weder Bier noch Schnaps! Peggy bleibt beim Baby, die ganze Zeit!« Mist, dachte Peggy. »Keiner verlässt das Cottage. Auf jeden Fall, geht nicht weiter als ein kurzes Stück den Weg runter. Nicht weiter als die Hälfte. Niemand darf sehen, wer hier ist, oder sich fragen, was wir hier tun. Alles klar?« Drei Köpfe nickten. Ihre Besitzer verfluchten ihr Los. Ein verdammtes schreiendes Baby und nicht einmal eine Dose Bier zur Beruhigung der Nerven. »Kann ich mitkommen?«, bat Moonface. »Ich brauch' ein bisschen Luft. Deine beschissenen Glimmstängel stinken schlimmer als 'n Paar alte Socken.« Collins gefiel es nicht, Malone und Moonface aus den Augen zu lassen, doch er beschloss, den Mund zu halten. Ohne das Baby würden sie schon nicht verschwinden. Eigentlich schade, dachte er. Moonface verstaute Lebensmittel, Babynahrung und Windeln im Kofferraum des Volvo. „Verdammt, Tommy, warum muss ich das Zeug einkaufen?« • Weil ich alter Sack verdächtig aussehen würde, wenn ich Babysachen kaufen tät'. Haste denn bei den Nachrichten nicht aufgepasst? Jeder guckt jeden schief an, der Babyzeug kauft. Du bist im richtigen Alter für so was. Ich nicht.« Also stapfte Moonface im großen Quinnsworth-Supermarkt in Newbridge durch die Regalreihen auf der Suche nach Babymilch und Pampers. 242

Tommy Malone überflog derweil im Volvo die beiden Abendzeitungen. Er hatte für sensationelle Schlagzeilen gesorgt. Gekidnappt! Entführt! Der Evening Herald und die Evening Post hatten das Familienfoto, das im Foyer der Zentralentbindungsklinik geschossen worden war, groß auf der Titelseite gebracht. Im Innenteil wurde die Story mit weiteren Bildern und riesigen Fotos von Klein Gordon fortgesetzt. Er schlief zufrieden auf dem Arm seiner Mutter. Sein Köpfchen ragte aus dem Spitzenschal. Beide Zeitungen zeigten auch eine Karte von North Wicklow, auf der ein Pfeil zu sehen war, der auf Roundwood wies, außerdem Luftaufnahmen von Beechill und den dort stationierten Gardai. Dazu gab es Berichte vom Tatort mit Fotos der anwesenden Reporter, der Fernseh-Crews, sogar eine Nahaufnahme einer filmenden CNN-Crew. Reportagen über die Kidnapping-Story mitsamt einer Vorgeschichte von Harry O'Brien wurden live über sämtliche CNN-Kanäle ausgestrahlt, und jeder neue Bericht endete mit einer kurzen Zusammenfassung früherer Entführungen im Land. Diese Artikel las Malone lieber nicht, da sie ihn möglicherweise verärgern oder ihm Angst machen könnten. Er schaute Moonface hinterher, als dieser den leeren Einkaufswagen zurück zum Laden schob; dann rannte Malone zu einer Mülltonne und stopfte die Zeitungen hinein. »Haste die Zeitungen mitgenommen?« »Oh, Scheiße. Hab' ich hinten auf dem Kofferraum liegen lassen, als wir losgefahren sind. Müssen weggeflogen sein.« »Ja«, brummte Moonface. Aber gesehen hab' ich sie auf dem Kofferraumdeckel nicht, dachte er misstrauisch. Brian O'Callaghan bog zu spät um die Ecke; deshalb sah er nur 243

noch die hintere Stoßstange des Volvo, als er auf den Weg einbog. Sie sind immer noch hier, dachte er. Würde mich interessieren, wer die sind. Ben Hogan starrte verwirrt auf den Monitor. Er hatte die Datei mit sämtlichen Tests ausdrucken lassen, die am Dienstag, dem 11. Februar 1997, vorgenommen worden waren, und sie dann mit den Anträgen auf den Klinikformularen verglichen. Alle stimmten überein - bis auf einen. Für einen Test gab es kein Antragsformular. Hogan überprüfte die Angaben. Die Sache wurde noch komischer. Komisch im Sinne von merkwürdig, nicht im Sinne von lustig. Unter dem angegebenen Namen, der auf dem Monitor flimmerte - Joan O'Sullivan, Crumlin Crescent 249, Crumlin, geb. 27.2.76 -, war keine Patientin eingetragen. Er nahm eine Suche nach Namen vor, dann nach Geburtsdatum. Nichts. In den Klinikdateien gab es keine Joan O'Sullivan unter der genannten Adresse und dem genannten Geburtsdatum. Und nun kam das Allerkomischste: Es war weder vermerkt, wer die Blutprobe genommen hatte, noch war der Name des Arztes gespeichert, der den Test beantragt hatte. Was ungewöhnlich war, sehr ungewöhnlich. Nur wer den Test vorgenommen hatte, stand ziemlich sicher fest: Mary Dwyer. Denn wie auf dem Schirm zu lesen, war der Test um 21.23 Uhr, 11.2.97 eingetragen, als Mary Dwyer Dienst hatte - als Einzige im Labor. Ben spürte, wie sein Herz raste, als er zu seinem Büro zurückging. Er öffnete einen Aktenschrank und kramte darin, bis er gefunden hatte, was er suchte: die Liste von Namen und Testanträgen für die Blutproben im nunmehr zerbrochenen Reagenzglas-Gestell. Dann setzte er 244

sich und machte sich daran, Namen mit den gestellten Anträgen zu vergleichen. Am Ende der ersten Überprüfung stimmte ein Name nicht überein. Ben checkte ihn erneut. Wieder keine Übereinstimmung. Er rief Luke Conway an und bat ihn, noch einmal herunter ins Labor zu kommen. Möglichst sofort. Conway war binnen kürzester Zeit an Ort und Stelle. „Letzten Dienstagabend mussten wir die Namen auf den Reagenzgläsern zusammenstellen, erinnern Sie sich?«, sagte Hogan. „Sie wissen schon - auf den Gläsern, die zerbrochen auf dem Boden lagen.« Conway blickte Hogan nachdenklich an und fragte sich, was er entdeckt haben mochte. »Ja.« »Und wir mussten die Namen mit denen auf den Anträgen vergleichen.« »Ja.« »Tja, da ist was Komisches. Ich kapier's nicht. Einer der Namen stimmt nicht überein.« »Erklären Sie es langsam. Ganz, ganz langsam.« Kate Hamilton hatte das Team in die Bibliothek gerufen, damit alle gleich erfuhren, welches Problem sich ergeben hatte. Ben Hogan und Conway umrissen es in groben Zügen. Conway wirkte ziemlich deprimiert. Er war sich durchaus bewusst, welche Bedeutung Hogans Entdeckung hatte. »Mary Dwyer hat letzten Dienstag genau um einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig mit einem Aids-Test begonnen ...« »Genau?«, unterbrach ihn Kate. »Ja, es wird in den Computer eingegeben. Die genaue Minute, sobald die Untersuchung beginnt.« »Verstehe.« »Also, üblicherweise sind auf dem Testantrag der Name des be245

handelnden Arztes und die Station eingetragen. Wenn es sich um eine Patientin der Poliklinik handelt, wird >Poliklinik< auf dem Formular eingetragen. Auch die Initialen des Mitarbeiters, der die Probe genommen hat, in diesem Fall das Blut. Drücke ich mich verständlich aus?« Kate nickte. »Also, wenn wir einen Test durchführen, müssen wir wissen, ob er für eine Patientin ist, die bereits in unserer Datei erfasst ist, oder ob es sich um eine neue Patientin handelt. Steht sie bereits in der Kartei, müssen weniger Daten eingetragen werden. Man fügt lediglich den Antrag hinzu.« Hogan machte eine Pause und blickte Kate an. Sie bedeutete ihm, weiterzumachen. »Als Mary Dwyer mit dem Test begann, wird sie routinemäßig die Kartei durchgesehen haben, ob die Patientin bereits aufgeführt ist. Aber das war nicht der Fall.« Er spürte, dass alle an seinen Lippen hingen. Er schluckte und holte tief Atem. »Dann war es also eine neue Patientin«, meinte Dowling. »Bestimmt nicht so spät am Abend. Als neue Patientin hätte sie längst auf einer der Stationen sein müssen. Und selbst wenn man sie erst kurz zuvor eingeliefert hätte, wären ihre Daten bereits gespeichert gewesen. Vor allem aber ist es mehr als unwahrscheinlich, dass irgendjemand zu dieser nachtschlafenen Zeit einen Aids-Test hätte machen lassen. Nach der normalen Arbeitszeit werden Testanträge nur in Notfällen ans Labor weitergeleitet.« »Ist ein Aids-Test kein Notfall?«, erkundigte sich einer aus dem Garda-Team sichtlich erstaunt. »Nein. Ich kann mir vorstellen, dass Sie verwundert darüber sind, aber Aids-Tests sind teuer und Zeit raubend. Wir versuchen, sie 246

während der normalen Arbeitszeit vornehmen zu lassen. Ich habe noch nie gehört, dass irgendjemand einen Aids-Test während der Nachtstunden angeordnet hätte.« »Vielleicht kam die Patientin aus der Ambulanz«, gab Kate zu bedenken. »Nicht um einundzwanzig Uhr dreißig.« Hogan hatte sich alles genau durch den Kopf gehen lassen. Er wusste, wovon er redete. »Sprechstunden der Polikliniken sind um achtzehn, spätestens achtzehn Uhr dreißig zu Ende.« »Okay«, meinte Kate. Inzwischen war ihr klar, dass es hier um etwas Wichtiges ging. Etwas sehr Wichtiges. »Mary Dwyer machte also am späten Abend einen Aids-Test, was zwar nicht üblich ist, sich aber bestimmt irgendwie einrichten lässt. Ich meine ... nach allem, was man so hört, werden manchmal heimlich Tests für die Familie und Freunde gemacht. Das wissen Sie ja auch. So was kommt immer wieder vor.« »Das stimmt«, fiel nun Luke Conway ein, »aber nicht in den Nachtstunden, denn da wird ziemlich häufig kontrolliert, um unser Budget im Rahmen zu halten. Die meisten unerlaubten Tests werden durchgeführt, wenn im Labor Hochbetrieb herrscht. Dann fällt es bei den vielen anderen Untersuchungen nicht auf.« Kate dachte kurz darüber nach. »Okay, sonst noch was?« Conways verändertes Verhalten war ihr nicht entgangen. »Ja. Das Antragsformular für den Test ist nicht aufzufinden. Ben hat überall danach gesucht. Wir wissen nicht, welcher Arzt den Test verlangt hat. Und falls Mary Dwyer ihn für einen Freund oder sich selbst machen wollte, hätte sie ihn vorgenommen, ohne falsche Angaben in den Computer zu tippen. Sie hätte gar nichts eingetragen, sondern alles heimlich gemacht. Aber sie hat den 247

Test registriert.« »Warum hat sie nicht den Namen des Arztes eingegeben und ihre Initialen? Sie sagten, das sei so üblich.« »Richtig«, bestätigte Ben Hogan. Wieder wandten sich alle ihm zu. »Das tun wir immer, wenn die Anträge nicht vollständig sind. Es erspart uns unnötige Tipperei und Korrekturen. Wenn das Antragsformular nicht wie vorgeschrieben ausgefüllt ist, oder wenn man den Namen des beantragenden Arztes nicht entziffern kann - und glauben Sie mir, das kommt häufig vor -, warten wir mit dem Papierkram, bis alles geklärt ist.« Dowling war verwirrt. »Wollen Sie damit sagen, dass Mary Dwyer den Papierkram nicht erledigt hat, weil sie die Patientin nicht in der Klinikkartei finden konnte? Ich verstehe immer noch nicht. Wo ist denn der Knackpunkt bei dieser Sache?« »Es gibt mehrere«, erwiderte Conway. »Erstens hat Dwyer außerhalb der normalen Arbeitszeit einen Aids-Test durchgeführt, was äußerst ungewöhnlich ist. Zweitens, der Test wurde für eine Patientin beantragt, die nicht in der Klinik registriert ist. Drittens, das Antragsformular ist nicht auffindbar. Und viertens -und darauf wollte ich vor allem hinaus - fehlt auch die Blutprobe.« »Fehlt?« Kates Stimme hob sich um eine Oktave. »Ja, fehlt. Alle Proben werden aufbewahrt und gelagert. Ben und ich dachten, die Probe, die Dwyer untersucht hat, würde sich auf dem Fußboden befinden, in einem der zerbrochenen Reagenzgläser. Wir haben es mehrmals überprüft. Alle aufgeführten Proben waren vorhanden.« Kate, Dowling und die anderen Gardai wechselten Blicke. »Wohin ist Dwyers Probe verschwunden?« »Das weiß ich nicht. Aber sie war bestimmt nicht die ganze 248

Nacht im Labor. Denn noch in der Mordnacht und am nächsten Tag ist alles durchsucht worden. Jeder Abfalleimer, jede Mülltonne, jeder Behälter. Alles und überall. Das weiß ich deshalb so sicher, weil Ihr Inspector McGrath darauf bestanden hat, wegen der Suche fast die halbe Klinik zu schließen. Die Probe befand sich mit absoluter Sicherheit nicht im Labor.« »Dann hat der Mörder sie mitgenommen?« »Das ist jedenfalls meine Meinung.« »Wie war gleich die Adresse der Patientin?«, fragte John Doyle, einer der Detectives. Er lehnte an einem Bücherregal. Ben Hogan las sie vom Computerausdruck. »Crumlin Crescent 249, Crumlin.« »Würden Sie das bitte wiederholen?« Doyle beugte sich vor, um sicherzugehen, dass er es richtig verstand. »Crumlin Crescent 249, Crumlin.« »In Dublin? Wirklich hier in Dublin? Dublin 12?« Hogan blickte auf den Ausdruck. »Ich glaube schon. Hier steht allerdings Dublin 16.« Doyle richtete sich auf. »Da ist was faul, Kate. Da stinkt was zum Himmel. Früher, als Streifenpolizist, war Crumlin mein Revier. Ich kenne den Crumlin Crescent. Es ist eine kurze Sackgasse mit höchstens zwanzig Häusern, die einander gegenüberstehen. Die Nummer könnte im Höchstfall 19 oder 20 sein.« Schweigen. Luke Conway rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl. Ben Hogans Entdeckung konnte nur eines bedeuten. Conway brachte es kaum über sich, es auszusprechen. Doch Kate Hamilton ließ ihm keine Chance. »Wie sehen Sie das, Dr. Conway? Was schließen Sie daraus?« 249

Conway benetzte die Lippen und verschränkte die Finger. Ohne aufzublicken, antwortete er: »So wie ich es jetzt sehe, muss jemand aus der Klinik Mary Dwyer getötet haben.« Es wurde so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. „Warum hat jemand das getan?«, fragte Kate, wobei sie jedes Wort demonstrativ betonte. Conway ließ sich Zeit, um sich zu fassen. »Mary Dwyer war ein großartiges Mädchen, eine gute Laborantin. Sie war überaus pflichtbewusst und hätte niemals gegen die Bestimmungen verstoßen. Einen Aids-Test hätte sie zu dieser Stunde nur durchgeführt, wenn er ausdrücklich von einem Befugten verlangt worden wäre. Einer der Ärzte hätte das Reagenzglas und den Antrag zu ihr bringen können, oder eine der Schwestern, sogar einer der Pförtner - jeder, der für die Klinik arbeitet. Jeder hier im Hause hätte ein Antragsformular ausfüllen, seine eigene Blutprobe ins Labor bringen und Mary Dwyer sagen können: >Dr. Sowieso hat mich damit hergeschickt und lässt ausrichten, dass der Test noch heute durchgeführt werden muss.< Dwyer war ein sehr zuvorkommendes Mädchen. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie neben ihrer anderen Arbeit mit dem Test begann und erst zum Schluss dazu kam, sich um die Formalitäten zu kümmern.« Wieder herrschte für einen Augenblick Schweigen. »Das heißt also, dass jeder aus der Klinik letzten Dienstagabend ins Labor gekommen sein und Mary überlistet haben könnte, einen AidsTest vorzunehmen. Doch irgendwie hat sie dann Verdacht geschöpft und versucht, die Patientin über den Computer der Klinik zu überprüfen?« »Das vermute ich jedenfalls.« 250

»Aber warum wurde sie ermordet?« Dowling stellte die Frage, die allen durch den Kopf ging. Und alle wollten, dass Conway sie ihnen beantwortete. Warum wurde Mary Dwyer ermordet? »Ich glaube, weil sie etwas herausgefunden hat, das nicht bekannt werden sollte.« Kate Hamiltons Miene war düster. »Zum Beispiel?« »Dass die überprüfte Person Aids hat.« Kate knirschte mit den Zähnen. »Der Test war positiv.« Jedes Wort wurde auf den Mikrokassetten aufgezeichnet. Beim geringsten Laut nahmen die Recorder auf; setzte Schweigen ein, schalteten sie sich aus.

Dean Lynch wusste, wie man sie abhörte. Und er würde sich nichts entgehen lassen. „Wer immer es sein mag«, Kate Hamilton war wütend. Selbst auf der Mikrokassette war der wilde Zorn in ihrer Stimme zu hören, »ich hoffe, er wird im Höllenfeuer schmoren.« „Wer immer es sein mag, ich hoffe, er wird im Höllenfeuer schmoren.« Als Dean Lynch sich später diese Worte anhörte, bohrten sie sich wie Messer in seine labile Psyche. »Ich hoffe, er wird im Höllenfeuer schmoren.« Er spielte es immer und immer wieder ab. „Ich hoffe, er wird im Höllenfeuer schmoren.« Dean Lynch begann zu heulen wie ein waidwundes Tier. „Acht Mitarbeiter der Klinik haben für die Nacht von letzten Dienstag auf Mittwoch kein Alibi«, las Kate laut von ihren Notizen. »Ich weiß, es ist Samstag, und wir alle würden gern nach Hause gehen, aber wir wählen drei dieser Leute aus und nehmen sie zur Vernehmung mit in die Zentrale.« 251

Die lautlosen Verwünschungen waren beinahe zu spüren. „Da ist zunächst mal der Koch. Laut Vernehmungsprotokoll hat er eine ziemlich fadenscheinige Geschichte erzählt. Holt den Mann. Würden Sie ihn übernehmen, John?« Doyle nickte und nahm die entsprechende Niederschrift an sich, Paddy Holland hat kein Alibi. Er ist einer der Ärzte.« Kate hielt kurz inne, weil sie sich unerklärlicherweise seltsam verwirrt fühlte. »Ich übernehme ihn. Tony hilft mir. Einverstanden?« „Okay.« Dowling nickte. „Doch zuerst sollten wir uns einen Dr. Tom Morgan vorknöpfen. Dem Protokoll nach klingt seine Aussage ziemlich unglaubwürdig.« Tony Dowling blickte Kate bestürzt an. »Sollen wir heute Abend noch beide vernehmen?« Kate zuckte die Achseln. Es gefiel ihr ebenso wenig wie den anderen, am Wochenende Überstunden zu machen, aber sie spürte, dass sie jetzt am Ball bleiben musste. Sie griff nach ihrer Tasche. »Alle anderen können nach Hause gehen. Aber morgen, dreizehn Uhr, treffen wir uns wieder hier. Alle.« Stöhnen wurde laut. »Ja, ja, ich weiß, es ist Wochenende. Aber wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« Sie machte eine Pause. Sie wusste nicht, dass die Minirecorder sich ausschalteten. Sie sprach weiter. Die Recorder schalteten sich wieder ein. »Wir sollten auch diese Schwester, die die Stimme von dem Kerl gehört hat, noch einmal befragen. Sie soll sich die Vernehmungen anhören. Wir könnten sie in der Zentrale hinter einem Schirm sitzen lassen, während wir die Leute befragen. Vielleicht 252

hilft es ihrem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn sie die Stimme wieder hört. Noch was. Ich brauche rechtlichen Rat, wie es aussieht, wenn wir alle männlichen Belegschaftsmitglieder einem Aids-Test unterziehen. Auf diese Weise könnten wir den Fall vielleicht ganz schnell lösen.« Später, als Dean Lynch sich die Kassetten anhörte, machte er sich an dieser Stelle zum ersten Mal Sorgen. Bevor Kate Hamilton die Klinik verließ, führte sie noch ein folgenschweres Gespräch mit Luke Conway. Die Besorgnis des Chefarztes war unverkennbar. Der Albtraum wurde immer schlimmer, statt zu enden. »Ich würde gern alle männlichen Belegschaftsmitglieder auf Aids untersuchen lassen. Sobald wir den Befund haben, wird es sicher nicht lange dauern, bis der Fall aufgeklärt ist.« Conway schüttelte schwer den Kopf. »Ich denke auch schon darüber nach, seit Ben Hogan mich eingeweiht hat.« Er blickte Kate an, und sie spürte seine tiefe Besorgnis. »Aber es gibt da zwei Probleme«, fuhr er fort. »Erstens wird die Hölle los sein, wenn bekannt wird, dass in dieser Klinik vielleicht jemand HIV-positiv ist. Innerhalb von Minuten werden sich die Stationen leeren.« Er hielt inne, als er sich dieses Bild vor Augen führte. »Zweitens muss jede Person, die auf Aids untersucht wird, ihr Einverständnis geben. Das könnte rechtliche Schwierigkeiten nach sich ziehen. Ich muss bei einem unserer Anwälte Rat einholen.« Er stand auf, um zu gehen. »Auch Sie sollten am besten Ihre Anwälte einschalten. Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass das Gesetz sich als Hemmschuh erweisen könnte. Ich bin jedenfalls sicher, dass einige unserer Ärzte rechtlichen Rat einholen, bevor sie einer Blutuntersuchung zustimmen. Und das geht nicht von heute auf 253

morgen.«

29

18.01 Uhr Studio 4, RTE Television Centre Donnybrook, Dublin 4 »Kennmelodie ab!« Die Kennmelodie der 18.01-Nachrichten erklang, das 18.01Nachrichtenlogo erschien. »Schnitt. Intro-Clip!« Der Monitor zeigte im Zeitlupentempo, wie Harry O'Brien seine Frau in die Eingangshalle der Zentralentbindungsklinik schob. Die Kennmelodie erklang weiter. Auf den Fernsehschirmen im ganzen Land lief der Clip mit Ton, doch ohne Kommentar. Harry O'Brien stellte sich hinter den Rollstuhl und ließ den Blick durch die Halle schweifen. Die Reporter riefen ihre Fragen, brachten die Kameras in Position. Immer noch kein Kommentar. June Morrison erschien mit Gordon O'Brien. Das Baby war in einen Klöppelspitzenschal gehüllt. Ein neuerliches Blitzlichtgewitter. Dann, in Zeitlupe, die rührende Szene, als June der glückstrahlenden Mutter das Baby in die Arme legte. Sandra O’Brien hielt das kleine Bündel ganz sanft und schaute liebevoll auf das nahezu vermummte winzige Köpfchen. Harry O'Brien blickte über Sandras Schulter und schob mit einer Fingerspitze behutsam den Schal aus dem Gesicht des Kleinen, damit es besser zu sehen war. Kameras blitzten. Die Zuschauer konnten zwar das Blitzgewitter sehen, nicht aber den Donnerschlag hören, der bevorstand. Immer noch kein Kommentar, nur die Blitzlichter und die Kennmelodie. Harry 254

O'Brien richtete sich auf und legte beide Hände auf die Rückenlehne des Rollstuhls. Die Kamera zoomte das Gesicht Sandra O'Briens heran, als sie langsam aufblickte. Dann das Lächeln, das unbezahlbare Lächeln im flackernden Schein der Blitzlichter. Die Kamera fuhr wieder zurück, bis die ganze Familie im Bild war. Big Harry, seine schöne Frau und ihr Neugeborenes. Anhaltendes Blitzlichtgewitter erhellte die Szene. Standbild. Kommentar. »Der neugeborene Sohn von Harry und Sandra O'Brien wurde heute in den frühen Morgenstunden vom Anwesen der O'Briens in der Grafschaft Wicklow entführt.« Der Tonfall des Nachrichtensprechers hätte einem Geistlichen bei einer Grabrede zur Ehre gereicht. Es gab kaum einen Fernseher im Land, auf dem nicht die Nachrichten liefen. In Pubs und Spielhallen, in Clubs und Sportzentren sammelten die Menschen sich vor den Fernsehgeräten und versuchten einander zur Seite zu schieben, um nur ja keine Einzelheit zu versäumen. »Kurz vor Mitternacht drangen drei maskierte Bewaffnete ins Haus ein, fesselten die Bewohner und nahmen das schlafende Baby aus dem Bettchen. Das Eingangstor wurde vermutlich mit Plastiksprengstoff in die Luft gejagt. Die Entführer entkamen in einem Wagen mit Allradantrieb, der später ausgebrannt auf dem Parkplatz des Stand Hotels am Curragh, Grafschaft Kildare entdeckt wurde. Eine Hebamme aus der Zentralentbindungsklinik, die sich im Hause der O'Briens aufhielt, wurde bewusstlos aufgefunden und liegt derzeit auf der Intensivstation im Allgemeinen Krankenhaus von Wicklow. Die Gardai bitten die Öffentlichkeit um Mithilfe und sachdienliche Hinweise, die zur 255

Festnahme der Täter führen können. Vermutlich handelt es sich bei den Entführern um eine Bande aus Dublin. Außer den drei bewaffneten war noch ein vierter Täter beteiligt, wahrscheinlich eine Frau. Bisher haben die Gardai noch keine Einzelheiten über Lösegeldforderungen verlauten lassen.« Frauen drückten ihre Kinder an sich, Männer fluchten. Es war das schlimmste Verbrechen in der Geschichte des Landes, schlimmer noch als die Bombenanschläge in Monaghan und Dublin Mitte der siebziger Jahre, schlimmer als all die Schießereien und Messerstechereien und sonstigen Gräueltaten. Es ist ein Baby, um Himmels willen! Er ist doch erst ein paar Tage alt, der arme kleine Scheißer! Alle machten ihrer Empörung Luft; Stimmen wurden laut, dass die Kidnapper, sobald sie geschnappt waren, gehängt oder vor ein Erschießungskommando gestellt werden sollten. Die öffentliche Empörung war unverkennbar. Wieder einmal stehen wir mit negativen Schlagzeilen im Mittelpunkt des Interesses der ganzen Welt! Gerade jetzt, als wir hoffen konnten, dass nach den erfolgreichen politischen Verhandlungen wieder Normalität einkehrt, geschieht so etwas. Diese Hundesöhne haben Schande über uns gebracht! Der Nachrichtensprecher fuhr fort, den Ablauf der Ereignisse zu kommentieren. Clips wurden eingeblendet: Gardai auf dem O'Brien-Grundstück, aufgenommen aus Hubschraubern, die über die noch schneebestäubten Wicklower Höhen kamen. Es hätte beinahe eine Werbesendung für Urlaub in Irland sein können, so schön sahen die bewaldeten Berge und Täler aus. Die Berichterstattung

wurde

von

eingeblendeten

Aufnahmen

Beechills begleitet, von Bildern des Garda-Reviers in der Stadt 256

Wicklow und einer Szene mit Jack McGrath, wie er in einen Streifenwagen stieg, ohne die Mikrofone zu beachten, die man ihm vor die Nase hielt. »Wurden Spezialeinheiten eingesetzt? Haben die Gardai irgendwelche Hinweise? Wie geht es Harry O'Brien? In welcher Verfassung ist seine Frau? Wurde irgendjemand verletzt? Gibt es schon Lösegeldforderungen?« »Kein Kommentar.« Anschließend wurde wieder ins Studio geschaltet, wo Interviews mit Oppositionspolitikern geführt wurden, die kein gutes Haar an der Justizministerin ließen. Rasch entbrannte eine hitzige Debatte, als die Experten einander widersprachen, was die Regierung ihrer Meinung nach in dieser Sache unternehmen sollte. Viel heiße Luft und deftige Worte, aber keine Spur von gesundem Menschenverstand. Die Politiker waren so sehr damit beschäftigt, nach künftigen Wählern zu schielen und politische Punkte zu sammeln, dass es sie gar nicht zu kümmern schien, was mit Gordon O'Brien geschah und ob er womöglich aus der Liffey gefischt würde. Eine Ermordung des Kindes hätte der Opposition wahrscheinlich sogar geholfen und ihr Munition verschafft, die Regierungsmacht zurückzuerobern und eine öffentliche Untersuchung vorzunehmen. Mit düsterem Gesicht und in dunklem Kostüm richtete Alice Martin aus dem Fernsehstudio des Däil, des Parlaments, eine Rede an die Nation. Es war eine schöne Ansprache, beinahe poetisch und mit sehr viel Gefühl. Am Ende vergoss sie sogar ein paar telegene Tränen. Sie blickte an der Kamera vorbei, griff in eine Tasche ihres Kostüms und zog ein weißes Taschentuch heraus. Sie tupfte sich die Augen und ließ die Schultern leicht be257

ben. Dann richtete sie weitere eindringliche Appelle an die Entführer und endete schließlich mit einem Gebet - einem wohlbekannten, guten alten katholischen Gebet. »Danke. Und möge Gott dich behüten, Gordon O'Brien, wo immer du auch bist.« Es war eine großartige, fast bühnenreife Vorstellung. »Würde mir jemand einen Drink bringen?«, bat Justizministerin Alice Martin, nachdem sie geendet hatte. »Was meint ihr, wie das angekommen ist? Ich hoffe, ich habe mein Make-up nicht ruiniert.« Dean Lynch sah sich die Nachrichten an. Jemand stiehlt mir die Show! »Ist dein Daddy zu Hause?«Kate Hamilton und Dowling standen an der Tür des prächtigen Backsteinhauses in Sandymount, in dem Dr. Tom Morgan wohnte - oder angeblich wohnte. Jedenfalls war hier die von ihm genannte Adresse. Während sie warteten, traten Kate und Dowling mit den Füßen auf, um die beißende Kälte zu vertreiben. „Wer is' es?«, rief eine alkoholschwere Frauenstimme. Der kleine Junge blickte besorgt über die Schulter. »Weiß nich'.« Schritte näherten sich, stolpernde Schritte. »Geh rein.« Eine Hand packte den Jungen grob an der Schulter und zog ihn ins Haus, während gleichzeitig die Tür ein Stück weiter aufschwang und eine Frau zum Vorschein kam, die ihre »besten Jahre« längst hinter sich hatte. Zwischen ihren Lippen steckte eine Zigarette, und ihre Rechte hielt eine Wodkaflasche. Sie musterte ihre beiden ungebetenen Besucher von oben bis unten. »Wer sin' Sie?« Ehe Kate antworten konnte, bekam die Frau einen Hustenanfall. Halt suchend stützte sie sich mit der rechten Hand an den Türrahmen, achtete jedoch darauf, keinen Tropfen vom kostbaren Wodka zu verschütten. »Was woll'n Sie?« 258

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Detective Sergeant Kate Hamilton von der Garda-Zentrale Store Street. Das ist Detective Sergeant Tony Dowling. Wir würden gern mit Ihrem Mann sprechen, falls er zu Hause ist.« Die Antwort der Betrunkenen bestand in einem schrillen Lachen, das von einem neuerlichen Hustenanfall unterbrochen wurde. Sie ließ die Tür los, die weiter aufschwang, wodurch drei Kinder mit verängstigten Gesichtern zum Vorschein kamen. Es waren zwei Jungen von etwa sieben und fünf Jahren und ein sehr hübsches kleines Mädchen, bestimmt nicht älter als drei. Die Kinder weinten, waren völlig verstört. »Warum suchen Sie ihn nich' im Rotlichtviertel, wo er wahrscheinlich jede Nutte vögelt, die grade ohne Freier ist.« Die Bitterkeit und Wut in ihrer Stimme waren nicht zu überhören, und ohne ein weiteres Wort schlug sie Kate und Dowling die Tür vor der Nase zu. Dr. Tom Morgan war offenbar nicht zu Hause. Kate klopfte noch einmal, während Dowling wieder heftig mit den Füßen auftrat und in die Hände blies, um sich gegen die beißende Kälte zu wehren. Die Tür wurde wieder spaltweit geöffnet, und die Frau lehnte sich an den Rahmen. »Wie lange woll'n Sie mich noch belästigen? Er ist nich' da. Das hab' ich Ihnen doch gesagt!« Kate drückte leicht gegen die Tür. Sie spürte, wie die Frau sofort Gegendruck ausübte. »Es tut mir Leid, dass ich Sie belästigen muss, aber es dauert wirklich nicht lange. Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Dürfen wir hereinkommen?« »Nein.« Sie sagte es zwar schleppend, doch mit unmissverständlichem Nachdruck. »Wenn Sie etwas fragen wollen, tun Sie es 259

hier.« »Himmel, Kate, mach schon«, drängte Dowling. »Ich bin am Erfrieren.« »Mrs. Morgan ... Sie sind doch Mrs. Morgan?« »Ja. Ich bin Mrs. Morgan. Auch wenn ich nich' viel davon merke.« »Mrs. Morgan«, fuhr Kate rasch fort, um das bisschen Kooperationsbereitschaft zu nutzen. »Wir versuchen ein paar Dinge zu klären. Es geht um das junge Mädchen, das in der Klinik ermordet wurde. Ich bin sicher, Sie haben davon gelesen.« Falls Mrs. Morgan davon gelesen hatte, ließ sie es nicht durchblicken. Sie schwankte leicht und klammerte sich an den Türrahmen. »Reden Sie schon.« »Wir möchten gern etwas nachprüfen, das Ihr Mann uns gesagt hat.« »Was hat er Ihnen denn gesagt?« Kate schlug ein Notizbuch auf und bemühte sich, die Eintragung zu entziffern. Plötzlich flammte das Eingangslicht auf, und Kate konnte Tom Morgans Frau zum ersten Mal deutlich sehen. Sie besaß ungefähr ihre Größe, doch ihr Gesicht war verhärmt und von Falten und Runzeln gezeichnet. Das strähnige blonde Haar hing wirr bis auf die Schultern, und ihr Jogginganzug stank nach Zigarettenrauch und verschüttetem Wodka. Die Frau bemerkte, dass Kate sie musterte, und trat rasch ein Stück zurück. Kate blickte zur Lampe hinauf und lächelte. »Danke.« „Schon gut. Mach'n Sie endlich weiter. Was woll'n Sie wissen? Mir wird kalt, wenn ich hier so rumstehe.« Ihr Mann hat ausgesagt, dass er an dem Abend, als Mary Dwyers 260

ermordet wurde, im Kino war. Können Sie sich an diesen Abend erinnern? Haben Sie Ihren Mann begleitet? Oder erinnern sich, wann er ausging?« Wieder lachte die Frau schrill und trunken. »Im Kino? Großer Gott, ich glaub' es nicht. Ausgerechnet im Kino! Der Mistkerl würde keine einzige Vorführung durchhalten, selbst wenn man ihm Geld dafür gäbe. Ich weiß nich', wo er an dem Abend und in der Nacht war, aber ganz bestimmt nich' hier, und erst recht nich' in einem Kino.« Wieder schmetterte sie Kate die Tür vor der Nase zu. Tony Dowling rieb sich die vor Kälte fast schon steifen Hände. – „Charmante Dame, nicht wahr?« Kate zog die Brauen zusammen. Dr. Tom Morgan musste auf jeden Fall noch einmal vernommen werden.

9.47 Uhr In einem Telefonhäuschen in Sandymount Green wählten die in Gummihandschuhen steckenden Finger von Dean Lynch eine Nummer. „Hallo?« „Ich möchte mit John sprechen.« Pause. Deutlich vernehmbares Atmen am anderen Ende der Leitung. „John hier.« Wachsam. Argwöhnisch. »Hallo, John. Hier ist Bobby.« Gedämpftes Lachen. „Ich dachte es mir schon, Bobby-Boy. Dachte mir, den Akzent kenn' ich. Sie rufen früher an als erwartet.« „Ich habe ein Problem.« „Haben wir alle, Bobby-Boy, haben wir doch alle. Wir leben in 261

schwierigen Zeiten.« Kurze Pause, zu kurz für Lynch, um weiterzureden. »Was gibt's?« »Ich brauche eine Waffe.« Lange Pause. Schließlich: »Kein Problem, Bobby-Boy. Wenn die Bezahlung stimmt, kriegen Sie, was Sie wollen. Ich besorg' Ihnen 'nen Sherman-Panzer, wenn Sie damit umgehen können.« Lynch hörte ein Geräusch, das ein Lachen gewesen sein könnte. »Ich brauche eine kleine Waffe.« »'ne Handfeuerwaffe?« »Ja.« »Zur Verteidigung oder für den Angriff? Haben Sie vor, Ihren eigenen kleinen Krieg anzufangen, Bobby-Boy?« »Ich muss vielleicht sichergehen.« Kurzes Lachen. »Muss sichergehen. Das gefällt mir, Bobby-Boy. Das gefällt mir.« Der Cockney-Akzent war weniger auffällig als sonst. »Können Sie mir eine Waffe besorgen?« »Kein Problem, Bobby-Boy. Kein Problem. Ich weiß genau die richtige für Sie. Wollen Sie die Knarre mit nach Hause nehmen?« »Ja.« »Sie wollen was Unauffälliges, das Sie leicht mit sich tragen können?« »Ja.« »Überlassen Sie alles mir, Bobby-Boy. Überlassen Sie alles mir.« Kurze Pause. »Wann brauchen Sie die Waffe?« »Kann ich sie morgen bekommen?« »So auf die Schnelle, Bobby-Boy? Sie geben mir doch sonst immer 'ne Menge Zeit. Ist da was Größeres im Busch?« »Schon möglich.« 262

»Ist gut, Bobby-Boy. Rufen Sie mich an, sobald Sie auf dem Flughafen sind. Um wie viel Uhr werden Sie voraussichtlich eintreffen?« »Am späten Vormittag.« »Also, bis dann, Bobby-Boy. Bis dann. Die Kanone kostet Sie 'nen Tausender. Und noch einen für Munition und 'ne Tasche.« „Also bis morgen.« Brauchen Sie sonst noch was?« »Nein.« Ohne ein weiteres Wort legten beide auf. In Gedanken versunken kehrte Dean Lynch zu seiner Wohnung zurück. Es waren tiefe, sehr tiefe Gedanken. Und finstere. Sehr, sehr finstere. Den ganzen Tag schon fühlte er sich schrecklich. Er schwitzte sogar bei dieser Kälte. Sein Mund war wieder wund, und er hatte nicht den geringsten Appetit. Er fühlte sich grauenvoll. Ich sterbe. Doch er wollte nicht allein sterben. Die Türglocke von Dr. Paddy Hollands zweistöckigem Reihenhaus aus rotem Backstein klingelte genau um zweiundwanzig Uhr dreißig. Ein kleiner, schmaler Streifen Garten, in dem ein paar winterkahle Rosenbüsche ums Überleben kämpften, trennte das Haus vom Bürgersteig. Von einer kleinen, halb offenen Gartentür führte ein schwarzes Geländer zur Haustür. Kate Hamilton und Tony Dowling waren gleich nach der Befragung von Mrs. Morgan zu Holland gefahren. Sie hatten sich geeinigt, dass sie nur dann versuchen wollten, den Arzt noch heute zu vernehmen, wenn sie in seinem Haus Licht brennen sahen. Dowling seufzte, als sie vorfuhren. Nicht nur, dass Licht 263

in einem der Fenster brannte, die zur Straße lagen, auch die Gardinen waren nicht zugezogen. So konnten er und Kate deutlich den hoch gewachsenen Paddy Holland an einem Tisch sitzen sehen. Er bat sie herein, entschuldigte sich, dass nicht aufgeräumt war, und bat die Beamten, leise zu reden, um die Kinder nicht zu wecken. Wie schon bei der ersten Vernehmung verspürte Kate auf Anhieb ein Gefühl der Sympathie für Paddy Holland. Außerdem fühlte sie sich in seinem Haus sofort wohl. Sie sah das Chaos, wie nur Kinder es hinterließen. Zwei schlammbespritzte Fahrräder lehnten an der Wand der Diele, und Fahrradschutzhelme lagen achtlos hingeworfen in halber Höhe auf den Treppenstufen. Eine Tür führte in die Küche; sogar in dem trüben Licht sah Kate, dass auf dem Tisch benutztes Geschirr stand. Eine verwandte Seele, dachte sie. Hier wohnt jemand wie ich, der sich plagt, seinen Kindern ein Zuhause zu geben und gleichzeitig in seinem Beruf ganze Arbeit zu leisten. »Wie alt sind Ihre Kinder?«, fragte sie, um das Eis zu brechen. Sie hatte sofort Hollands Besorgnis gespürt, weil die Polizei ihn so spät am Abend noch aufsuchte. »Anna ist sieben, Laura neun. Es sind wirklich liebe Mädchen. Aber sie verstehen es, mich um den Finger zu wickeln. Ich bring's einfach nicht fertig, sie strenger zur Ordnung anzuhalten.« Holland lächelte verlegen. »Und bis ich sie abends im Bett habe, vergeht eine halbe Ewigkeit. Dann bleiben mir nur noch ein paar Stunden, um aufzuräumen, die Arbeit zu erledigen, die ich mir aus der Klinik mitbringe, und mich aufs Ohr zu legen.« Er nahm die Brille ab, hauchte auf die Gläser und putzte sie mit dem Ende 264

seiner Krawatte. »Tut mir Leid, Sie jetzt noch zu stören. Wir werden schnell machen.« Kate und Dowling lehnten den angebotenen Tee ab, als sie sich Hollands Aussage anhörten und mit ihren Aufzeichnungen verglichen. Alles stimmte überein. Jegliche Zweifel, was Hollands Alibi für die Nacht von Mary Dwyers Ermordung betraf, waren rasch aus der Welt. Holland erklärte, er habe an jenem Abend mehrere Anrufe gemacht, davon zwei zur ungefähren Tatzeit. Als Dowling ihn fragte, ob er damit einverstanden sei, die Unterlagen der Telefongesellschaft überprüfen zu lassen, reagierte Holland sogar erleichtert. Er war froh, dass es eine Möglichkeit gab, seine Aussage zu bestätigen. »Ich vermute, dieser Mord hat zu erheblichen Problemen in der Klinik geführt«, sagte Dowling schließlich in der Hoffnung, noch irgendetwas Brauchbares zu erfahren. »O ja«, bestätigte Holland. Er saß auf einem Sofa, ein Bein über das andere geschlagen. Er sah erschöpft aus, und seine Stimme klang müde. Paddy Holland war größer als Kate und zweiundvierzig Jahre alt, machte aber einen viel jüngeren Eindruck. Er trug Jeans, ein kariertes Hemd und eine ziemlich abgetragene, langärmelige Strickweste zum Schutz gegen die Kälte. In einem offenen Kamin neben dem Sofa brannte ein Gasfeuer. Um sich aufzuwärmen, zog Dowling seinen Sessel ein Stück näher heran. Holland schlüpfte aus einem Wildlederstiefel und massierte sich kurz die Zehen, ehe er den Stiefel wieder anzog. »Die Schwestern haben ziemliche Angst. Zwei weigerten sich bereits, Nachtdienst zu machen, weil sie sich vor der Dunkelheit auf den Fluren fürchten.« Er schaute Kate an und bemerkte, dass 265

sie plötzlich den Blick von ihm wandte. Ihre ringlosen Hände spielten nervös mit Kugelschreiber und Notizbuch. „Und ich musste versuchen«, fuhr Holland fort, »Anna und Laura alles zu erklären. In der Schule hat jemand ihnen irgendwelche Schauermärchen erzählt. Als ich nach Hause kam, warteten die beiden weinend auf mich, weil man ihnen gesagt hatte, ich würde als Nächster umgebracht.« Er schüttelte bedrückt den Kopf. »Kinder und ihre Übertreibungen.« Kate nickte mitfühlend. „Die ganze Sache hat schreckliche Auswirkungen auf einige Mitarbeiter und ihre Familien«, fügte Holland schließlich hinzu und schaute wieder Kate an, die ihn genau beobachtete. Diesmal wich sie seinem Blick nicht aus. »Aber Sie haben ja keine Kinder. Deshalb können Sie das wahrscheinlich nicht richtig verstehen«," schloss er. Tony Dowling versuchte diese ungewollte Taktlosigkeit zu überspielen, indem er heftig hustete. „Da täuschen Sie sich«, entgegnete Kate. Sie stand auf, um zu gehen. »Ich habe einen vierjährigen Sohn.« Holland war sichtlich verlegen. Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch Kate kam ihm zuvor. „Schon gut, Sie konnten es ja nicht wissen. Sein Vater und ich wollten heiraten, aber er starb.« Dowling starrte verlegen auf seine Hände. Eine kurze, bedrükkende Stille breitete sich aus. Schließlich sagte Holland: »Darf ich fragen, wie er ums Leben kam?« Kate verstaute ihr Notizbuch in der Aktenmappe und steckte den Kugelschreiber in ihre Jacke - alles, um sich abzulenken. Dann 266

aber blickte sie auf, schaute Holland an. Ihren Zügen war nichts anzumerken, auch wenn sie innerlich aufgewühlt war. Sie hatte sich voll im Griff. So erschöpft und müde sie war - sie sah die Besorgnis und das Mitgefühl in Hollands Augen. »Er wurde bei einer Drogenrazzia in Boston niedergeschossen. Ich war eine Zeit lang seiner Dienststelle zugeteilt. Angeblich war es eine routinemäßige Festnahme, was sich leider als Irrtum erwies. Er war auf der Stelle tot.« »Das tut mir Leid.« »Schon gut. Ich weiß, dass Sie Ihre Frau verloren haben. Ich kenne Ihr Vernehmungsprotokoll. Sie wissen, wie es ist, wenn man einen anstrengenden Beruf hat, seine Kinder großziehen und für sie da sein muss und gleichzeitig seine Unabhängigkeit bewahren möchte.« Holland wirkte erstaunt angesichts der tiefen Einblicke Kates in sein Privatleben und seine Gedanken und Gefühle. »Lohnt es sich für Sie, Detective Sergeant? Ich jedenfalls frage es mich manchmal. Sie auch? Lohnt es sich?« »Lohnt es sich für Sie?« Kate fühlte sich unsicher, was sie selbst betraf, und war verlegen, weil sie ihr Innerstes so offen vor Tony Dowling ausbreitete. »Ja. Die Klinik und meine Kinder sind mein Leben. Sie sind alles, was ich habe. Und die Klinik ist wichtiger als wir alle. Wichtiger als alle Mitarbeiter zusammen, einschließlich der besten Ärzte. Die Klinik dient den Einwohnern Dublins seit zwei Jahrhunderten, nicht erst seit zehn Jahren oder fünfzig. Und sie dient den Reichen und Armen gleichermaßen. Sie ist mehr als eine Entbindungsklinik, sie ist eine nationale Institution. Und jetzt hat so ein Schweinehund sie in die Knie gezwungen.« Zorn lag in 267

seiner Stimme. Tony Dowling beobachtete die zwei und hörte schweigend zu. Er spürte die verletzten Gefühle beider - und fast auch ihr Leid. »Netter Kerl«, sagte Dowling, als Kate und er wieder im Wagen saßen. Kate war froh, dass die Dunkelheit ihr Erröten verbarg. Während Dowling wartete, bis er bei dem starken Verkehr in die Donnybrook Road einbiegen konnte, grinste er. »Und er hat keine Frau.« Kate wartete, bis der Wagen sicher auf der Hauptstraße fuhr. »Jetzt gehen Sie ein bisschen zu weit, Tony.« Die beiden lächelten einander kurz zu.

Kurz vor Mitternacht machte Tommy Malone seinen ersten Vorstoß in Richtung Lösegeld. Er fuhr nach Kilcullen und parkte mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf der Hauptstraße in der Nähe des Telefonhäuschens. Er wartete zwanzig Minuten. Während dieser Zeit ließ niemand sich auf der Straße sehen. Nur zwei Wagen fuhren vorüber. Das Telefon klingelte einmal. Malone hängte den Hörer ein und wählte erneut dieselbe Nummer. Schließlich antwortete eine schläfrige Stimme am anderen Ende. »Ist Theo Dempsey da?« Malone hatte ein Tuch um die Sprechmuschel gewickelt, um seine Stimme unkenntlich zu machen. Nach einer Pause: »Nein, er ist nicht zu Hause. Wer spricht denn da?« »Könnten Sie ihm was ausrichten?« »Wer spricht da, bitte?« Die Stimme klang jetzt hellwach. „Hören Sie ganz genau zu, was ich zu sagen hab'. Ich werd's 268

nicht wiederholen. Hören Sie?« Längeres Schweigen am anderen Ende der Leitung. „Sind Sie noch dran?« Malone bemühte sich, den Zorn aus seiner Stimme zu halten. „Ja.« «Sagen Sie Theo, er soll seinem Boss Folgendes ausrichten: Wenn er sein Baby wiederhaben will, muss er drei Millionen in bar zahlen. Drei Millionen. Bar. Sagen Sie Theo, ich ruf ihn morgen wieder hier an. Sagen Sie ihm, er soll Big Harry Dampf machen, denn wir wollen das Geld spätestens am Dienstag. Wenn ich morgen anrufe, sag' ich Theo, wie wir's übernehmen werden.« Am anderen Ende schrieb Theo Dempseys Frau Marie alles mit, so schnell sie konnte, und versuchte zugleich, sich jedes Wort einzuprägen. Dann rief sie in Beechill an.

Siebter Tag 30

Sonntag, 16. Februar 1997, 4.37 Uhr Eine kleine Hand streifte über Kate Hamiltons Gesicht. »Mom, ich hab Angst.« Halb im Schlaf zog sie Rory zu sich unter die Decke. Er kuschelte sich an sie, steckte den Daumen in den Mund und schlief wieder ein. Kate rutschte ein wenig zur Seite, um etwas mehr Platz zu haben; dann drehte sie sich auf den Rücken und starrte zur Zimmerdecke. Sie lauschte dem heftigen Wind, der ein Unwetter heranwehte. Minuten später donnerte es bereits, und kurz darauf prasselte heftiger Regen auf ein Oberlicht. In Augenblicken wie diesem empfand Kate die Einsamkeit besonders stark. Sie schaffte sich 269

noch etwas mehr Platz, indem sie das schlafende Kind ein weiteres Stückchen zur Seite schob. Als sie bemerkte, dass Rory sich in der Dunkelheit rührte, hielt sie inne. Dann atmete er wieder tief und regelmäßig. Du bist alles, was ich habe, Rory. Du und Großvater. Tränen brannten hinter den geschlossenen Lidern, und für einen flüchtigen Moment schob sich Paddy Hollands Gesicht vor Kates inneres Auge. Sie drehte sich auf die Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Eine kleine Hand zog ihr Gesicht zur anderen Seite zurück. Rory war wach. »Mach die Augen zu, Rory. Es ist noch sehr früh. Mom möchte schlafen.« Rory streifte Ted über Kates Gesicht. »Schlaf weiter, Rory. Hör auf. Hör auf damit. Mom ist sehr müde.« Blinzelnd schaute sie auf die Anzeige des Digitalweckers und seufzte: »Schlaf weiter, Rory.« Rory legte einen Arm auf Kates Schulter und schloss die Augen. Er war zufrieden. Er war bei seiner Mutter. Er konnte ihre Wärme spüren, ihren Atem hören.

Gordon O'Brien konnte es nicht. Auch er war wach, und er weinte. Er hatte Hunger und Angst und wusste auf seine Weise, dass etwas nicht stimmte. Es gab keine Geborgenheit für ihn, keine Zärtlichkeit. Es gab keine Muttermilch, keine Brust, an die er sich schmiegen konnte, während er trank. Der Herzschlag seiner Mutter war nicht zu hören, noch spürte er die Wärme ihres Atems an seiner Wange. Er schrie laut. Zu laut. »Halt's Maul, du Balg.« Peggy Ryan bedauerte es bereits, sich auf diese Sache eingelassen zu haben. Jesses, ich bin zu alt, mitten in der Nacht aufzustehen, Säuglinge zu füttern und zu wickeln und sie rumzutragen, damit sie nicht brüllen. Sie steckte dem Kleinen eine halb gewärmte Flasche Babymilch in den Mund und zog sich den 270

Schlafsack enger um die Schultern. Jesses, es friert. Wir sollten zusehen, dass wir aus diesem Loch rauskommen, bevor wir uns alle den Tod holen. Doch nicht nur die klamme Kälte und der muffige Geruch machten Peggy zu schaffen, auch der Gestank von Tommy Malones Zigaretten, der überall dick in der Luft hing. Was für ein Loch! Etwa um die gleiche Zeit starrte Dean Lynch in den riesigen Spiegel seines Fitnessraums und betrachtete seinen nackten Körper. Der Ausschlag breitete sich aus. Er hatte ihn erst vor zwei Tagen bemerkt; aber es war natürlich möglich, dass er ihn schon länger hatte. Die Flecken waren rot und schuppig und befanden sich hauptsächlich an der Brust, wo sie die Tätowierung fast völlig bedeckten, und auf dem Rücken, soweit er ihn sehen konnte. Auch die Stirn und die Augenbrauen würden bald davon befallen sein. Die Krankheit schreitet voran. Sie hat dich voll erwischt, Dean, alter Junge. Du musst schneller machen. Du hast noch allerhand zu erledigen. Da ist diese kleine Schwester. Und dieser neue weibliche Detective. Dieses Luder. Ich werde in der Hölle schmoren, nicht wahr? Aber ich nehme jemand mit. Das Telefon läutete. Lynch fuhr zusammen. Mit hämmerndem Herzen riss er den Hörer von der Gabel. „Dr. Lynch?« „Am Apparat.« „Tut mir Leid, Doktor, Sie so früh zu wecken, aber wir haben auf Entbindungsstation drei im Ostflügel eine komplizierte Querlage. Dr. Sharif muss gerade bei einem anderen Notfall einen Kaiserschnitt vornehmen. Es ist niemand im Haus, der damit fertig wird.« 271

»Ich bin in zehn Minuten da.« Das kam ja wie gerufen. So ein Glück.

5.32 Uhr Es war eine schwierige Entbindung, aber kein Problem für einen Arzt wie Lynch. Die Mutter, eine dreiunddreißigjährige Zweitgebärende, versuchte ein Baby von über vier Kilo Gewicht zu entbinden. Die starken Wehen ermüdeten sie sehr. Der Kopf des Kindes war in Querlage im Becken stecken geblieben; der Rücken des Ungeborenen schaute nach vorn. Der Kopf des Babys wollte falsch herum in diese Welt, und das ging nicht. Nur ein fähiger und erfahrener Geburtshelfer konnte den Kopf drehen und auf diese Weise eine normale Entbindung einleiten. Glücklicherweise war die Frau durch Epiduralanästhesie örtlich betäubt worden und spürte nicht, was in ihrem Körper vor sich ging. Lynch schob die Kielland-Zange bis zum Kopf des Babys und um die Kopfseiten herum. Nachdem er die Zangenblätter arretiert hatte, zog er sanft, um für festen Halt zu sorgen. Dann, im Einklang mit den Wehen, drehte er den Kopf behutsam herum und zog ihn in die richtige Lage tief im Becken der Mutter, schließlich kam das Kind ohne weitere Komplikationen auf die Welt. Doch während dieser Minuten wurde Lynch bewusst, wie anstrengend die Arbeit für ihn geworden war. Normalerweise fühlte er sich nicht so erschöpft; so schwierig war diese Entbindung nicht. Er bemerkte auch, wie stark er schwitzte. Sehr stark. Bevor er die Entbindungsstation verließ, holte er sich drei Skalpellgriffe aus dem Depot, dazu drei Klingen, Größe dreiundzwanzig. 272

6.12 Uhr Er stahl sich in die Bibliothek und nahm eines der medizinischen Fachbücher an sich, das seine Mikrorecorder enthielt. Er hatte Pläne damit.

6.27 Uhr Vorsichtig öffnete er die Tür zum Büro der Oberschwester. Es war leer, und kein Licht brannte. Er vergewisserte sich, dass sich niemand auf dem Flur aufhielt, der ihn sehen oder gar aufhalten könnte, ehe er die Tür von innen hinter sich schloss. Mit einer Taschenlampe leuchtete er die Wände ab, bis er gefunden hatte, was er suchte: den Dienstplan der Schwestern. Er knipste die Lampe eine Zeit lang aus und lauschte. Die einzigen Geräusche waren sein eigener Atem und das Hämmern seines Herzens. Beruhigt schaltete er die Taschenlampe wieder an und las, bis er den gesuchten Namen fand: Schwester Sarah Higgins, Apartment 7, The Hawthorns, Rock Road, Blackrock. Er schrieb sich Adresse und Telefonnummer auf den Handrücken. Dann las er weiter: Sonntag, 16.2.97: Dienst von 14-23 Uhr. Er lächelte im Dunkeln. 7.49 Uhr Er war wieder in seiner Wohnung und betrachtete sein Spiegelbild. Es war perfekt. Seine übliche Verkleidung, kohlschwarze, gut sitzende Perücke mit streng zurückgekämmtem Haar, das im Nacken über den Kragen reichte und sein eigenes, ergrautes Haar völlig bedeckte. Nichts, absolut nichts davon schaute heraus. Er klebte sich mit Mastixharz einen dichten schwarzen Schnurrbart an und drückte fest darauf, bis er sicher sein konnte, dass der 273

falsche Bart hielt. Dann setzte er sich eine dicke schwarze Hornbrille mit Gläsern aus normalem Fensterglas auf und schob sie in die richtige Lage. Er zog eine saubere Sportjacke, bequeme Hose und einen Rollkragenpullover an, alles schwarz. Später würde er sich einen dunkelgrauen Schal um die untere Gesichtshälfte binden, um sich gegen die Kälte zu schützen und seine Maskerade zu vervollständigen. Schließlich streifte er schwarze Lederhandschuhe über und schlüpfte in einen dicken Wintermantel. Jetzt kann ich es angehen. Dean Lynch lächelte schmal. Er machte es immer so, wenn er London John besuchte. Stets war er vorsichtig, wachsam, und die Kunst der perfekten Verkleidung und Tarnung beherrschte er inzwischen bis ins Detail. Er war zweimal am selben Tag in unterschiedlicher Verkleidung nach London geflogen, und niemand auf den Flughäfen oder in den Maschinen hätte ihn wiedererkannt. London John hatte ihm vor langer Zeit dazu geraten. Er war es auch gewesen, der die Perücke für ihn hatte anfertigen lassen, die Brille, den Schnurrbart, alles nach Maß. „Lassen Sie keinen wissen, was Sie tun, Bobby-Boy. Bleiben Sie auf Distanz. Lassen Sie die Mädchen nie Ihr Gesicht sehen.« Sie sahen es nie. Das Einzige, was sie je sahen, waren die schwarze Perücke, der schwarze Schnurrbart und die Hornbrille. Und die Augen. Es waren die Augen, die den meisten Mädchen Angst einjagten. Er hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter, nur um sicherzugehen. Doch er hatte bereits mit Dr. Sharif abgesprochen, dass dieser alle eventuellen Notfälle für ihn übernahm, wie sie üblicherweise nur in der Gynäkologie auftraten. Er hatte 274

erklärt, dass er sich den Tag freinehme, um sich auszuruhen und vielleicht abends ins Kino zu gehen. Der Film fing um zehn nach zehn an und dauerte bis Mitternacht, was hervorragend in seinen Plan passte. Er erwähnte es ganz beiläufig in Anwesenheit von Dr. Sharif und ein paar Schwestern, als sie nach der Zangengeburt im Aufenthaltsraum des Ostflügels Tee tranken. Er bewunderte sich selbst, wie raffiniert er sein Alibi aufbaute. Er spähte durch den Spion der Wohnungstür. Niemand befand sich auf dem Flur draußen. Er schaltete die Alarmanlage ein, dann die Backup-Alarmanlage, bevor er hinausging und die Wohnungstür hinter sich schloss. Dann stieg er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Er blieb stehen und schaute sich noch einmal um. Dann ging er in Richtung Feuertür. Ehe er sich durch die Tür nach draußen begab, befestigte er einen schmalen Metallstreifen, ungefähr fünfzehn Zentimeter lang und knapp einen halben Zentimeter breit, am inneren Türrahmen. Die Tür ließ sich jetzt zwar noch schließen, aber nicht mehr absperren. Er hatte das schon viele Male getan. Er wusste, wie man in Wohnungen hinein- und wieder herauskommen konnte, ohne die Haustür zu benutzen. Es war ein sehr nützlicher Trick. Lynch schlenderte über die Baggot Street und stoppte ein Taxi. »Zum Flughafen, bitte.« Das waren die einzigen Worte, die der Taxifahrer während der 30-Minuten-Fahrt aus Lynch herausbekam, obwohl er mehrmals versuchte, mit seinem Fahrgast ein Gespräch zu beginnen. Der Fahrer wurde wortlos in bar bezahlt. Dämlicher Scheißkerl, fluchte er im Stillen, als er ohne Trinkgeld weiterfuhr. Lynch kaufte sich ein Ticket für den nächsten Flug nach Heathrow und gab seinen Namen als Julian Nutley an. Er saß am Fenster und 275

starrte während des gesamten Fluges auf die Wolken, ohne nach rechts oder links zu blicken. Die Flugbegleiterin beachtete er nicht. »Kaffee, Sir?« »Nein.« »Zeitung, Sir?« »Nein.« Seltsamer Typ, dachte die Stewardess.

11.24 Uhr „Hallo?« „Ich möchte mit John sprechen.« Pause. Deutlich vernehmbarer Atem am anderen Ende der Leitung. “John hier.« “Hallo, John. Hier Bobby. Ich bin angekommen.«

13.17 Uhr London John saß im Foyer des Hilton Hotel in der Park Lane und las die Sunday Times, deren Titelseite voll war von Schlagzeilen und Berichten über die Entführung des O'Brien-Babys. London John las mit großem Interesse, obwohl es ihm im Grunde völlig egal sein konnte; doch er fand es immer faszinierend, was andere sich so alles einfallen ließen, um zu Geld zu kommen. London John war ein hoch gewachsener, gut aussehender Cockney Ende fünfzig. Sein graues Haar war modisch kurz geschnitten; im Nacken war es gerade so lang, dass es den Kragen seines steifen weißen Oberhemds bedeckte. Er trug einen marineblauen Anzug, darüber einen ebenso blauen Mantel aus Kaschmir und 276

Wolle und dazu einen roten Kaschmirschal. Eine Clubkrawatte rundete das Bild ab und verlieh ihm das saloppe Aussehen eines Mannes, der soeben in sein Mercedes-Cabrio steigt, um zu seiner Wochenendvilla in East Anglia zu fahren. Nur dass London John, hätte man ihn gebeten, es auf der Karte zu zeigen, nicht einmal gewusst hätte, wo East Anglia lag. Er war ein echter Londoner, der

sein

heimisches

Territorium

allenfalls

für

kurze

Geschäftsreisen nach Amsterdam oder in die Türkei verließ. London John war ein bedeutender Geschäftsmann, der fast den gesamten Pornografie- und Drogenmarkt — harte Drogen - in South London kontrollierte. Als Halbwüchsiger hatte London John sich zuerst in den Londoner Lasterhöhlen herumgetrieben; dann hatte er sich mit Pornografie sein Geld verdient, und schließlich mit Zuhälterei. Er hatte sich mit Teenagern angefreundet, Mädchen

und Jungen, die sich in

Soho

herumtrieben, hatte ihnen eine Bleibe angeboten und Geld und hatte sich schließlich ihr Vertrauen erkauft. Es dauerte nicht lange, bis sie völlig von ihm abhängig waren. Im Laufe von zehn Jahren hatte London John sich einen beachtlichen Ruf in der Hardcore-Szene geschaffen. Dann stieg er ins Drogengeschäft ein. Mit dem Geld, das der Stoff ihm einbrachte, konnte er sich Konkurrenten und Möchtegern-Anwärter auf den Thron seines ständig wachsenden Imperiums vom Hals halten. Außerdem musste er einen Schlägertrupp bezahlen, der Schulden für ihn eintrieb. 1996 stand London John bereits in dem Ruf, fast alles beschaffen zu können. Natürlich war er nicht billig; schließlich war er Geschäftsmann. Er konnte Jungen und Mädchen jeden Alters und Drogen aller Art besorgen. Er konnte auch mit jeder Art von Schusswaffen dienen; falls erwünscht, auch mit den 277

Burschen, die damit umzugehen verstanden. Doch alles gegen teures Geld. Dean Lynch war London John zum ersten Mal in einem Sexschuppen in Soho begegnet. Er war dabei gewesen, die Fühler nach einem Dealer auszustrecken, der ihn nicht übers Ohr haute. London John, der über Mittelsmänner von Lynch hörte, ließ ihn gründlich überprüfen. Nachdem seine Leute Lynch für unbedenklich befunden hatten, wurde ein Treffen arrangiert, und damit begann eine lohnende Geschäftsverbindung. Keine Namen wurden gewechselt, nur Kodebezeichnungen: London John. Bobby. Einfach und unverfänglich. Für Bargeld besorgte London John seinem Kunden aus Dublin so viel Heroin und so viele Mädchen, wie er wollte. Dean Lynch war ein gern gesehener Kunde,

der

prompt

bezahlte.

Als

Arzt

an

der

Zentralentbindungsklinik verdiente er ordentlich, und er hatte kaum Ausgaben, sodass er sich seine kleinen Ausflüge problemlos leisten konnte. Wenn Lynch irgendetwas brauchte, rief er zwei Wochen zuvor die Nummer an, die London John ihm gegeben, die Lynch aber nirgends notiert hatte. Seine Bestellungen waren unmissverständlich: anfangs Heroin, eine bestimmte Menge zum gängigen Preis. Als Lynch schließlich Vertrauen zu seinem Dealer gefasst hatte, äußerte er einen zusätzlichen Wunsch. Mädchen. Immer etwas ältere, immer mit dunklem Haar und etwas größer als er selbst. Für London John klangen diese Wünsche durchaus nicht abwegig. Tatsächlich hatte er es mit so vielen Perversen zu tun, dass Lynch ihm geradezu erfrischend normal schien. »Ich möchte ein dunkelhaariges Mädchen, Mitte dreißig oder älter, aber nicht über vierzig. Sie soll sich die Lippen dick mit 278

tiefrotem Lippenstift anmalen.« »Was immer Sie möchten, Bobby-Boy. Sie sind der Kunde. Von mir bekommen Sie stets, was Sie bestellen.« Die Bestellungen änderten sich nie. Einige Mädchen baten anschließend, sich nie mehr mit Lynch treffen zu müssen, während andere der Meinung waren, dass sie bei ihm ihr Geld leicht verdienten. »Er hat bloß da gesessen und mich zwei verdammte Stunden angeglotzt«, berichtete eines der Mädchen London John. Sie war eine der wenigen, die Glück hatten. Alle Berichte der Mädchen hatten eines gemein: Lynch erschreckte sie zu Tode. Der Typ war gefährlich. Seine Augen waren voller Hass. Dann wurde Lynch gewalttätig, und mit jedem Besuch wuchs seine Brutalität. Es wurde so schlimm, dass London John nur noch Junkies zu Lynch schickte - drogenabhängige Mädchen, die so verzweifelt Geld brauchten, dass sie fast alles mit sich machen ließen. Doch Lynch hatte das letzte Mädchen grauenvoll zugerichtet. Es hatte London John mehr als dreihundert Pfund gekostet, sie in der Privatklinik, in die er alle seine Mädchen und Jungs schickte, einer kosmetischen Operation unterziehen zu lassen. Der leitende Arzt gehörte ebenfalls zu einem seiner bevorzugten Kunden. »Wer immer das getan hat, muss durchgedreht haben«, erklärte er London John nach einem Schuss Heroin. »Er hat ihr die Nase gebrochen und fast den ganzen Skalp vom Kopf gerissen. Ich habe Stunden gebraucht, das Mädchen zusammenzuflicken.« Deshalb hatte London John beschlossen, ein ernstes Wort mit Bobby zu reden. Er hatte die Gewohnheiten seines Kunden stets im Auge behalten. Bobby nahm immer mehr Heroin, und seine Anrufe kamen immer häufiger und in immer kürzeren Abständen. Hatte Bobby vor vier Jahren höchstens alle zwei Monate 279

angerufen, so meldete er sich inzwischen jede zweite Woche. Aber das war nicht der eigentliche Grund, dass London John sich jetzt Sorgen machte. Mich wundert das ganz und gar nicht, dachte er nach dem Anruf vom Abend zuvor. Der kleine Drecksack hängt jetzt schon fast dauernd an der Nadel. Na ja, was soll's; außerdem ist es seine eigene Beerdigung. Er kennt das Spiel, und er kennt die Regeln. Und die Mädchen sind unwichtig; sie sind sowieso nur Abschaum. Aber es gefällt mir nicht, dass der Mistkerl sich das Recht nimmt, sie so zuzurichten. Es kostet mein Geld. Schließlich kann ich die Weiber längere Zeit nicht gebrauchen. Der Kerl kommt mich immer teurer. Wenn das so weitergeht, kostet Bobby-Boy mich Geld, und das kann ich nicht hinnehmen. Das muss ich ihm sagen. Nicht zu unfreundlich, schließlich ist heute Sonntag. Außerdem war Bobby lange Zeit ein guter Kunde. Er kommt schon länger zu mir als die meisten anderen und hat immer sofort und ohne Feilschen bezahlt. Trotzdem, dieser kleine Drecksack muss in die Schranken gewiesen werden. Er muss wissen, wie teuer er mich kommt und dass er sich bremsen muss. London John las weiter. Ihm fiel ein Artikel über einen Mord auf, der in der gleichen Klinik verübt worden war, in der das entführte O'Brien-Baby das Licht der Welt erblickt hatte. Auf einem der Fotos, die zum Artikel gehörten, waren zwei Personen zu sehen, welche die Freitreppe der Klinik herunterstiegen. Blinzelnd betrachtete London John das Bild. Auf eine der beiden Personen starrte er mit besonderem Interesse. Er ging mit der Zeitung zu einem der großen Fenster des Foyers, um besseres Licht zu haben. Noch einmal betrachtete er die Aufnahme eingehend, ehe er die Zeitung in einen Papierkorb warf. Wenn ich ein Spieler 280

wäre, dachte London John, würde ich einen Riesen darauf setzen, dass der Typ auf der Treppe Bobby-Boy ist.

Lynch setzte sich neben John auf das weiche, teure Sofa mitten im Hotelfoyer. London John tat, als betrachte er seine Hände. Der Wirkung wegen spreizte er die Finger. „Schön, Sie wiederzusehen, Bobby-Boy. Wollen wir zu Mittag essen?« „Ich habe keinen Hunger.« London John drehte sich prüfend zu dem Mann um, der viel kleiner war als er und still auf dem Sofa neben ihm saß. »Sie sollten essen, Bobby-Boy. Sie haben abgenommen, seit ich Sie das letzte Mal gesehen hab'. Machen Sie Diät?« »Ich habe ganz einfach keinen Hunger.« London John rief ein Taxi. Während der ganzen Fahrt sprachen sie kein Wort. Sie stiegen an der Rückseite von Harrods aus. Mit Lynch an seiner Seite schlenderte London John die Basil Street entlang zur Walton Street und in die Lennox Gardens zu seinem dort geparkten Saab. Sie fuhren zur Kensington Road, dann über die Kensington High Street nach Hammersmith, wo London John ein zweigeschossiges Reihenhaus mit Souterrain besaß. In diesem Haus wickelte er den Großteil seiner Geschäfte ab; hier bewahrte er seine Schusswaffen auf und lagerte seine Ware. Wie viele Verbrecher, die sich bei ihren Geschäften nicht selbst die Hände schmutzig machten, wohnte London John ein gutes Stück von seinem Wirkungskreis entfernt. Er besaß eine luxuriöse Wohnung in Holland Park, wo er seine Freizeit mit der Frau verbrachte, der gerade seine Gunst gehörte und die sich nicht für seine Haupteinnahmequelle interessierte: Heroin und Kokain. Das Souterrain und der Keller des Hauses in Hammersmith be281

saßen zu beiden Seiten doppelte Wände aus Ziegeln mit spezieller Schalldämpfung, die unmittelbar an die Nachbarhäuser angrenzten. Diese kleinen Extras waren erst nach dem Hauskauf hinzugekommen - wie auch ein Raum mit einer vier Meter langen, zwei Meter breiten und drei Meter tiefen Sandgrube. In diesen Kellerraum probierte London John seine Schusswaffen aus. Und tötete seine Feinde. »Ich hab' 'ne Walther PPK für Sie.« London John erklärte seinem Kunden die Waffe. Lynch beobachtete gespannt, wie London John sie auf die linke Handfläche legte. »Ist 'ne 7,65-Millimeter Automatik.

Wiegt etwa ein Pfund,

ist also

'n echtes

Leichtgewicht. Und sie ist klein, wie Sie sehen, ungefähr fünfzehn Zentimeter lang, und unauffällig zu tragen. Sie gilt zwar als altmodisch, ist aber 'ne verdammt zuverlässige Kanone. War früher bei den Bullen sehr beliebt, aber die sind inzwischen moderner bewaffnet. Trotzdem - ich ziehe diese Pistole immer noch vielen anderen vor. Klein, leicht und verlässlich.« Er zählte die Vorzüge der Waffe auf, als wäre er ein Vertreter, der einer Hausfrau einen Mikrowellenherd aufschwatzen wollte. »Ein Problem gibt's allerdings mit der Knarre.« Lynch blickte misstrauisch auf. London John schaute kurz in seine Augen. Psycho, dachte er. Der Typ hat sie nicht alle. »Sie kann klemmen. Die Patronen können im Magazin stecken bleiben und nicht in die Kammer gelangen. Oder sie bleiben in der Kammer stecken und können nicht richtig abgefeuert werden.« Metall klickte gegen Metall, als würde eine Patrone in die Kammer gleiten; dann drückte London John bedächtig ab. Der Hammer schlug auf eine leere Kammer. 282

»Die Pistole muss vollkommen sauber gehalten werden, genau wie die Patronen. Das kleinste bisschen Schmutz kann die Magazinfeder blockieren, sodass die Patronen nicht in den Ladungsraum transportiert werden. Verstehen Sie?« Lynch nickte. »Und Sie müssen auch auf die Patronen achten. Sie dürfen auf keinen Fall zu heiß oder zu kalt werden. Halten Sie sie sauber, und stecken Sie niemals eine Patrone ins Magazin, die auf den Boden gefallen ist, ohne sie vorher gründlich zu reinigen. Klar?« Wieder nickte Lynch. Er nahm nicht einen Moment die Augen von der Pistole in London Johns Hand. London John reichte Lynch ein Ersatzmagazin und zeigte ihm, wie er die Patronen einlegen musste. Es ging ganz leicht. »Laden Sie immer nur sieben Patronen ins Magazin. Versuchen Sie nie, eine achte reinzuschieben. Das würde den Federmechanismus überfordern. Wenn Sie 'nen Extraschuss wollen, laden Sie erst.« Lynch blickte London John fragend an. »Füllen Sie das Magazin genau so, wie ich es Ihnen gezeigt habe. Dann erst schieben Sie's ein und laden 'ne Patrone in die Kammer.« Ein metallisches Klicken war zu hören. »Jetzt können Sie eine Patrone abfeuern, okay? So, und nun nehmen Sie das Magazin wieder raus. Weil nur noch sechs Patronen drin sind, können Sie 'ne weitere einlegen.« Seine langen, schlanken Finger waren geübt in der Handhabung der Waffe. »So, und jetzt können Sie acht Schuss in Folge abfeuern statt nur sieben.« Er lächelte. »Guter Tipp, nicht?« Lynch wirkte beeindruckt. »Aber wenn Sie die Knarre benutzen, versuchen Sie nicht, eine Kugel gleich nach der anderen abzufeuern, wie man's in Western sieht. Feuern Sie langsam und bedächtig. Drücken Sie behutsam 283

auf den Abzug, und warten Sie mindestens zwei Sekunden, bevor Sie wieder abdrücken. Ballern Sie nicht planlos rum. Immer schön die Kontrolle behalten.« Lynch kratzte sich an der Nase und bestätigte mit einem leichten Kopfnicken, dass er verstanden hatte. London John reichte ihm die Pistole. Lynch wog sie prüfend erst in der einen, dann in der anderen Hand, dann wieder in der ersten, um sich mit dem Gewicht der Waffe vertraut zu machen und damit, wie sie in der Hand lag. Er betrachtete sie eingehend, sah sich die Kammer an, den Federverschluss, das Einsteckmagazin. »Also, Bobby-Boy, wenn Sie mit der Knarre schießen wollen, sollten Sie sie erst mal ausprobieren. Es hätte wenig Sinn, wenn Sie das Ding benutzen möchten und dann nichts vom Schießen verstehen, stimmt's?« Lynch blickte auf. Er wechselte die Waffe immer noch von einer Hand in die andere. London John trat an einen Schrank. Er setzte einen Ohrenschutz auf und reichte auch Lynch einen. In seiner Rechten hielt er eine kleine Schachtel mit scharfer Munition. So, wie er es Lynch zuvor gezeigt hatte, schob er die Patronen ins Magazin. Lynch beobachtete ihn mit beinahe spürbarer Intensität. »Also, BobbyBoy. Wenn Sie sichergehen wollen, machen Sie lieber gleich alles richtig. Beim Schießen müssen Sie sich so hinstellen, wie man es in Spielfilmen sieht. Die Beine gespreizt. Beide Hände an der Waffe. Eine Hand für den Abzug, die andere, damit die Knarre nicht wackelt.« London John nahm die richtige Haltung ein. »So ist die Handstellung, die man >Tasse und Untertasse< nennt. Die Tassenhand hält die Schusswaffe mit dem Zeigefinger am Abzug. Die Unter284

tassenhand ist unter dem Magazin und hält die Waffe ruhig. Klar?« Die Pistole verschwand fast in London Johns großen, schlanken Händen. »Zielen Sie auf die Brust, 'nen Kopfschuss sollten Sie gar nicht erst versuchen. Den Kopf kann man schnell abducken. Ist verdammt schwer zu treffen. Aber den Körper aus der Schusslinie zu kriegen ist viel schwieriger.« Dean Lynch war ein Vorbild an Aufmerksamkeit. Wieder nahm London John Schießhaltung an und redete aus dem Mundwinkel zu seinem Schüler. Beide hatten sie ihre Mäntel und Jacketts ausgezogen, die sie bei ihren Schießübungen behindert hätten. Ein Profikiller lehrte einen Arzt das Töten. »Wenn Ihr potentielles Opfer Ihnen den Rücken zugedreht hat, schießen Sie sofort. Schaut der Typ Sie jedoch an, halten Sie die Knarre an der herabhängenden Hand gesenkt, bis zur letzten Sekunde. Brüllen Sie. Schreien Sie so laut Sie können, um den Typen abzulenken. Er wird sich fragen, was los ist. Der Typ ist so verwirrt, dass er nicht mehr ausweichen kann, wenn er plötzlich sieht, dass der gute Bobby-Boy ihm eins verpassen will.« Lynch rührte sich nicht. Seine Augen hafteten starr auf der Schusswaffe. »Betätigen Sie den Abzug. Drücken Sie ganz langsam und gleichmäßig, Bobby-Boy. Sie werden sich wundern, wie schnell diese Dinger feuern. Deshalb nicht am Abzug reißen, damit's schneller geht. Es geht ganz von selbst. Also, nichts überstürzen. Sie würden nur danebenschießen. Falls die Zeit reicht, Ihr Ziel anzuvisieren, dann tun Sie's. Die Visiereinrichtung ist vorne und hinten am Lauf. Und denken Sie nicht an den Knall. Das lenkt Sie nur ab, und Sie halten zu tief und ballern daneben.« Lynch blickte das erste Mal auf. Er hatte seine Fensterglasbrille abgenommen, und London John konnte seine Augen nun deutlich 285

sehen, sogar in der Düsternis des Kellerraums. Zum ersten Mal beschlich ihn ein ungutes Gefühl. »Setzen Sie den Ohrenschutz auf.« London John zielte auf die Sandgrube und drückte leicht auf den Abzug. In dem kleinen Raum dröhnte die Schussdetonation ohrenbetäubend laut. John beobachtete Lynchs Reaktion. Es gab keine. Lynch starrte nur auf die Schusswaffe, dann auf den kleinen Krater in der Sandgrube. »Schauen Sie nochmal zu«, forderte London John Lynch auf. Erneut nahm er die Schießhaltung ein und feuerte drei Kugeln rasch hintereinander ab. Die schalldichten Wände konnten die Schussdetonationen nicht dämpfen, und Lynch klingelte es in den Ohren. "Versuchen Sie's jetzt selbst.« Lynch lud die Waffe, ließ London John jede Bewegung beobachten. Dann nahm er Schießhaltung ein und hielt die Pistole in einer Hand, während die andere die Waffe stützte. Sein Zeigefinger verharrte am Abzug. »Jetzt!«, rief London John. Lynch drückte ab. Die Pistole ruckte heftig in seinen Händen. London John lächelte und legte beide Hände über die Lynchs, um ihm zu zeigen, wie er es machen musste. »Jetzt!« Wieder drückte Lynch ab, und die Hände beider Männer spürten den Schlag. Diesmal aber ruckte die Waffe nicht so heftig. „Und jetzt allein.« Lynch feuerte noch vier Schuss ab und dämpfte den Rückstoß, so gut er konnte. London John nahm den Ohrenschutz ab, und Lynch tat es ihm gleich. »Okay. Laden Sie nochmal. Diesmal schießen Sie ohne Ohren286

schutz.« London John streifte den seinen allerdings über und beobachtete, wie Lynch das Magazin lud und eine Patrone in die Kammer gleiten ließ. Er lernte schnell. Lynch wandte sich wieder der Sandgrube zu, zielte und drückte ab. Er schoss noch zweimal; dann hielt er inne und sagte, er wolle den Ohrenschutz zurück. Er setzte ihn auf, feuerte, und mit tanzendem Sand rund um die Einschusslöcher bildeten sich vier weitere Krater. »Sie machen das gut, Bobby-Boy. Wirklich gut.« London John war sehr zufrieden mit seinem Schüler. »Ich habe Ihnen auch einen Spezialkoffer besorgt, in dem Sie die Knarre samt Munition unauffällig transportieren können, BobbyBoy.« London John ging zur hinteren Seite des Raumes und öffnete einen Schrank. Mit einem Samsonite-Aktenkoffer aus braunem Leder kam er zurück. Er drückte auf das Schloss, öffnete den Deckel. Der Koffer war mit den üblichen Dingen gefüllt, die ein Geschäftsmann bei sich hatte. In einem transparenten Deckelfach steckte eine Geschäftskarte. Als Name war Andrew Kelly angegeben, dazu eine Adresse in Hammersmith mit falscher Telefon- und Faxnummer. Laut Karte war Andrew Kelly Vertreter für Computersoftware im Dienst einer Firma in Southampton, die es allerdings nur auf dem Papier

gab

und

die

ebenfalls

eine

falsche

Fax-

und

Telefonnummer besaß. Im Koffer lagen Hochglanzbroschüren über Software - vor allem Material über Windows 95 -; außerdem ein A4-Notizblock, Kugelschreiber und drei dicke rote, grüne und schwarze Marker. Im Deckelfach steckten Papiere, die weit genug herausragten, dass die mit Kugelschreiber darauf gekritzelte Schrift deutlich zu sehen war. Der Boden des Koffers 287

mit dem festgeklebten Filzfutter sah ganz normal aus. »Der Zwischenboden lässt sich in einem Stück hochheben. Sehen Sie die Metallverstärkungen in den Ecken?« Lynch betrachtete sie und nickte. Wieder beobachtete er gespannt. »Sie lassen sich wegziehen.« London John zog die Verstärkungen ab. Darunter befanden sich vier kleine Schrauben. »Die Schrauben halten den Zwischenboden.« Er reichte Lynch einen Minischraubenzieher. Die Schrauben ließen sich mühelos lösen, und Lynch wollte den Zwischenboden herausheben. Doch er klemmte leicht, und Lynch musste den Koffer ein wenig schütteln. Plötzlich löste sich der Zwischenboden in einem Stück und gewährte den Blick auf das eingelassene Fach darunter, das die Form der Waffe aufwies; in ein weiteres Fach passte eine Schachtel Munition. Es war eine perfekte Konstruktion, die es unmöglich machte, dass sich nicht bei unsanfter Handhabung ein Schuss von selbst löste. „Was sagen Sie dazu, Bobby-Boy? Tolle Sache, was?« Lynch nickte. Wortlos legte er die Pistole und die Munitionsschachtel in die maßgeschneiderten Fächer. Beides saß wie angegossen. Trotzdem drückte er sicherheitshalber noch das bereitliegende Klettband darüber. London John schaute zu. »Nehmen Sie den Koffer auf gar keinen Fall als Handgepäck an Bord. Die Scanner würden die Waffe anzeigen. Lassen Sie den Koffer im Frachtraum befördern, und holen Sie ihn als Reisegepäck ab. Er hat ein Zahlenschloss. Die Kombination steht auf der Ecke dieser Broschüre.« Er wies darauf. Blinzelnd beugte Lynch sich tief darüber und prägte sich die Nummer ein. Er schloss den Koffer und gab die Kombination aufs Geratewohl ein. Dann versuchte er, den Koffer zu öffnen. Vergeblich. 288

Erst als er die genaue Reihenfolge der Kombination eingab, sprang das Schloss auf. London John beobachtete jede Bewegung, während er überlegte, wann er zur Sache kommen sollte. „Wann wollen Sie denn zuschlagen, Bobby-Boy?« Lynch schwieg. Behutsam legte er eine noch ungeöffnete Schachtel Patronen ins Formfach und zog das Klettband darüber. „Ich hab' die heutige Morgenzeitung gelesen, Bobby-Boy. Ihr Heimatland geht wirklich vor die Hunde. Jetzt entführt man dort schon Neugeborene.« Lynch schwieg. Er legte die Pistole ins Fach und bewunderte, wie exakt es geformt war. Er nahm die Waffe wieder heraus und überprüfte die Kammer. Eine Patrone steckte noch darin. Unbenutzt. Scharf. »Da stand auch was über einen Mord in einem der Krankenhäuser.« Lynch erstarrte. »Mit einem Foto des Krankenhauses, Bobby-Boy. Von zwei Männern, die eine Freitreppe runterkommen. Einer sieht genauso aus wie Sie.« Lynch drehte sich um und blickte zu London John auf. Zum ersten Mal mit einem dünnen Lächeln auf den Zügen. »Ach? Wirklich?« »Ja, wie aus dem Gesicht geschnitten, Bobby-Boy. Sie wollen doch nicht etwa in diesem Krankenhaus zuschlagen? Noch einmal?« Vielleicht hätte es Lynch nicht so viel ausgemacht, hätte London John nicht »noch einmal« gesagt. Aber er sagte »noch einmal«, 289

und Lynch befürchtete, dass London John bereits zu viel wusste. »Vorsicht!« Der gellende Schrei überraschte London John. Er fuhr herum, als wäre plötzlich jemand hinter ihm aufgetaucht. Er hatte sich erst halb umgedreht, als ihm klar wurde, dass er Bobby-Boy falsch eingeschätzt hatte. Völlig falsch. Die Wände hallten von der Schussdetonation wider. Doch diesmal war es nicht Sand, der spritzte. Diesmal war es London Johns Hirn, als die Kugel dicht unter dem linken Auge eindrang und hinten rechts im Nacken wieder austrat. »Man sollte den Mund nie zu weit aufmachen!«, rief Lynch zu dem wild zuckenden Sterbenden in die Sandgrube hinunter. Aus der Einschuss- und Austrittswunde sprudelte das Blut. »Und die Rechte nie wissen lassen, was die Linke tut!« Er verstaute die Walther und die Munitionsschachtel in den Formfächern und legte behutsam den Zwischenboden zurück. Das Gurgeln und Röcheln, London Johns letzte Lebenszeichen, beachtete er nicht. Er

schraubte

das

Zwischenfach

fest

und

drückte

Metallverstärkungen in die Ecken. Dann überprüfte er

die rasch

noch das Zahlenschloss, bevor er den Kofferdeckel schloss und die Kombination eingab. Er schaute sich um, fand den Autoschlüssel und sagte London John Lebewohl, ehe er hinaus in die bitterkalte Luft trat, den Schal bis über die Nase gewickelt. Mit London Johns Saab fuhr er nach Heathrow und buchte unter dem Namen Andrew Kelly einen Last-Minute-Flug nach Dublin. Der Aktenkoffer wurde als Reisegepäck im Frachtraum verstaut. Lynch tätschelte das Bündel Geldscheine in seiner Brusttasche, die zweitausend Pfund in bar, die London John jetzt nicht mehr brauchte. Einen Teil davon gab er in den Läden am Flughafen 290

aus. „Kaffee, Sir?« „Nein.« „ Zeitung, Sir?« "Nein.« Komischer Kauz, dachte diesmal eine andere Stewardess.

31

15.17 Uhr Vernehmungszimmer, Garda-Zentrale, Store Street Am Sonntagnachmittag, dem 16. Februar 1997, glaubten Kate Hamilton und ihr Team, die sich im Verhörraum der GardaZentrale Store Street aufhielten, auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein. Der Anruf war um neun Uhr dreißig an diesem Morgen gekommen und vom Diensthabenden eingetragen worden. Eine Frau hatte sich gemeldet. Sie war zutiefst beunruhigt gewesen und hatte den Garda angefleht, ihren Namen geheim zu halten. Er versprach ihr zu tun, was in seiner Macht stand. »Was haben Sie denn für eine Information? Ich habe auf die Dienstleitung geschaltet. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass jemand mithört. Wenn Sie auflegen, weiß niemand außer Ihnen und mir, um was es sich handelt.« »Es ist wegen des Mädchens, das in der Klinik ermordet worden ist.« »Ja?« »Ich hab' gestern Abend im Fernsehen gesehen, wie sie zur Kirche überführt wurde. Ihre armen Eltern! Gott schütze sie. Sie waren völlig fertig.« 291

»Ja. Es ist ja auch eine schreckliche Tragödie.« Am anderen Ende der Leitung war heftiges Weinen zu hören. Der Garda schwieg, doch alles wurde aufgenommen. Schließlich erkundigte er sich: »Wissen Sie etwas über dieses Mädchen? Oder irgendetwas, das uns bei den Ermittlungen helfen könnte?« Wieder ein Schluchzen. »Sind Sie sicher, dass keiner mithören kann?« Schluchzen. »Machen Sie sich keine Sorgen. Diese Leitung kann niemand abhören. Was Sie mir auch erzählen, wissen nur wir zwei.« »Ich glaube, mein Mann hat das Mädchen umgebracht. O Gott!« Wieder begann die Frau zu weinen. »Würden Sie mir Ihren Namen nennen?« Die Antwort war lautes Schluchzen. »Warum glauben Sie, dass Ihr Mann das Mädchen getötet hat?« Dann quoll es aus ihr heraus. »Er ist brutal, so schrecklich brutal. Er säuft wie ein Loch und verprügelt mich. Dauernd verschwindet er und kommt manchmal die ganze Nacht nicht heim. Und dann erzählt er mir, wie er die Schwestern in der Klinik vögelt... er arbeitet im Krankenhaus. Als Koch. Manchmal, wenn er nach Hause kommt, fesselt er mich und beschreibt mir ganz genau, was er getan hat... ob ich das glauben kann oder nicht. In der Nacht, als das Mädchen umgebracht wurde, kam er gar nicht nach Hause, erst in der Nacht darauf. Er war stockbesoffen und hat mich geschlagen. Hat mir gedroht, dass es mir genauso ergehen wird wie diesem Mädchen. >Reiß dich zusammen<, hat er gebrüllt, >sonst wachst du auch mit 'nem Skalpell im Hals auf. Ich mach's mit dir wie mit dieser anderen Schlampe!<« Der Diensthabende schnitt alles mit. »Er bringt mich um, wenn er rausfindet, dass ich Ihnen das alles 292

erzählt hab'. Sagen Sie bitte, bitte niemand, dass ich Ihnen das erzählt hab'. Er bringt mich um!« Und nun saß Anthony Francis O'Loughlin, Koch in der Zentralentbindungsklinik Dublin, der kein Alibi für die Nacht von Mary Dwyers Ermordung hatte, im Vernehmungsraum und wurde verhört. In der ersten Stunde nahm Dowling ihn sich vor. Er ging die Aussage des Mannes durch, die keinen Sinn ergab und sich ganz anders anhörte als die, die er bei der ersten Vernehmung gemacht hatte. Dann wurde O'Loughlin störrisch und weigerte sich, überhaupt noch etwas zu sagen. Also machte Dowling ihn darauf aufmerksam, dass jemand gehört habe, wie er damit geprahlt hatte, das Mädchen getötet zu haben. Anthony Francis O'Loughlin reagierte fassungslos. Er begann zu zittern, wurde kreidebleich. Offenbar hatten die Worte ihn wie ein Schlag in die Weichteile getroffen. »Welcher Idiot hat Ihnen diesen Scheiß erzählt?« O'Loughlin war ein schmächtiger Bursche, der nach Bratenfett roch. Er trug noch seine Arbeitskleidung, Pepitahose, ein weißes T-Shirt mit vielen Flecken und eine mit Fett bespritzte Jeansjacke.

Dowling

tippte

sich an

die

Nase.

»Meine

Informanten, Tony. Sie sagten mir, dass Sie genau wissen, wie Mary Dwyer ermordet wurde. Jedenfalls wissen Sie mehr als wir, Tony. Sie haben herumposaunt, auf welche Weise Mary Dwyer getötet wurde. Niemand kennt so viele Einzelheiten wie Sie. Also erzählen Sie mir schon, warum Sie es getan haben, Tony.« »Leck mich!«, brüllte Anthony Francis O'Loughlin, der nur zu Hause den starken Mann markierte. Dowling saß ihm gegenüber am Vernehmungstisch. Kate Hamilton lehnte ein gutes Stück hinter O'Loughlin an der Wand. 293

John Doyle rauchte und behielt aus der gegenüberliegenden Ecke alles im Auge. Er konnte O'Loughlin sehen und sorgte dafür, dass dieser auch ihn sehen konnte. Doyle und Dowling wechselten sich beim Verhör ab und begannen O'Loughlin zu zermürben. Er wurde müde, ja, erschöpft. Er hatte die Nacht zuvor eine ausgedehnte Kneipentour gemacht und fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Jetzt saß er bei der Polizei und wurde über einen Mord ausgequetscht, den er nicht begangen hatte. Jedenfalls, soweit er sich erinnern konnte. »Warum haben Sie das Mädchen ermordet, Tony? Was hat Mary Dwyer Ihnen getan? Sie abblitzen lassen? Gesagt, dass Sie sowieso keinen hochkriegen?« Doch je länger das Verhör dauerte, desto deutlicher wurde allen, dass Anthony Francis O'Loughlin nicht der Mörder gewesen sein konnte. Er hatte eine große Klappe, aber kaum einen Funken Verstand. Er hätte eine Spur zerbrochener Reagenzgläser vom Labor bis zu seiner Haustür hinterlassen. Was für eine Zeitverschwendung. Ein ganzer Tag vergeudet.

Aber nicht für Dean Lynch. Während Kate Hamilton und ihr Team der falschen Fährte nachgingen, befand der wirkliche Mörder sich wieder in seiner Wohnung und plante seinen nächsten Zug. Und er prahlte damit nicht in Kneipen herum. Tommy Malones Anruf bei Theo Dempsey in der vergangenen Nacht brachte ein wenig Licht in die Entführungsermittlungen. 294

Jack McGrath und seine Männer wussten nun, dass sie es mit einer entschlossenen Gang zu tun hatten. »Kaum jemand kennt meine Rufnummer«, erklärte Dempsey ihnen. »Ich stehe nicht im Telefonbuch. Ich habe schon seit Jahren eine Geheimnummer. Wer sich mit mir in Verbindung setzen will, muss die Zentrale in der Dawson Street anwählen. Außerhalb der Familie kennen nur wenige diese Nummer.« Dempseys Frau und die drei halbwüchsigen Söhne wurden daraufhin einer zermürbenden Befragung durch die Jaguar-Truppe unterzogen. Wer kennt Ihre Telefonnummer? Hat vor kurzem irgendjemand, den Sie nicht kannten, angerufen? Irgendjemand, der behauptete, sich verwählt zu haben? Hat einer von euch einer Freundin seine Nummer gegeben? Einem Kameraden aus der Fußballmannschaft? Oder dem Trainer? Ihre Antworten wurden überprüft, dann noch einmal gecheckt und die genannten Namen zur weiteren Überprüfung ins Computernetz des GardaHauptquartiers eingegeben. Dann wurde das gesamte Personal in Beechill und in der Zentrale der O'Brien Corporation eingehend verhört, um festzustellen, ob es in die Sache verwickelt sein könnte, oder ob es leichtfertig mit vertraulichen Informationen umgegangen war. Zwanzig zusätzliche Detectives wurden eingesetzt und arbeiteten den ganzen Tag, um den Aussagen nachzugehen. Betty Nolan und die anderen nur stundenweise beschäftigten Raumpflegerinnen hingegen wurden nur flüchtig überprüft. Man zog ernsthaft in Betracht, ob die Entführung nicht vielleicht der Schachzug eines Konkurrenten sein könnte, um O`Briens Unternehmen in Misskredit und finanzielle Schwierigkeiten zu bringen. Die Evening Post spekulierte in ihrem Wirtschaftsteil 295

über die Expansionsbestrebungen der O'Brien Corporation und die

Verhandlungen

mit

einem

kleinen

englischen

Pharmaunternehmen sowie dessen heftigen Widerstand gegen eine Fusionierung. War die Entführung von jemandem aus der englischen Firma geplant und finanziert worden? Die Morning Post mahnte zur Vorsicht, voreilige Schlüsse zu ziehen, machte aus dieser Spekulation aber trotzdem eine verkaufsträchtige Story. Dann prahlte einer von Harry O'Briens Exmanagern, der vor Monaten gefeuert worden war, in einem Pub vor jedem, der es hören wollte, dass er an der Entführung beteiligt sei und genau wisse, wo die Bande sich versteckt hielt. Jemand hörte dem Mann tatsächlich zu, und ehe er eine Chance hatte, nüchtern zu werden, fand der Exmanager sich an einem Tisch im Garda-Revier Waterford einem der Jaguar-Leute gegenüber. Erst nach sechs Stunden durfte er nach Hause gehen. Alle Spuren wurden verfolgt, alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Jack McGrath und seine Männer liefen sich die Hacken ab, jedem Hinweis nachzugehen. Die Häuser um Roundwood wurden abgeklappert und die Bewohner gefragt, ob sie etwas Verdächtiges oder auch nur Ungewöhnliches gesehen hätten oder von Fremden nach dem Weg zu irgendeinem Ziel in der Gegend gefragt worden seien. In Schuppen, Nebengebäuden und Cottages in einem Umkreis von acht Kilometern um Beechill wurde das Unterste zuoberst gekehrt. Der Wohnwagen-Campingplatz in Roundwood wurde durchsucht und der Besitzer nach neuen Campern befragt. Bei privaten Vermietern und in Pensionen überprüfte man die offiziellen Gästebücher und auch die, die vor dem Finanzamt versteckt wurden. Einige polizeibekannte Kri296

minelle in der Gegend wurden verhört, unter Polizeiaufsicht entlassen, und ihre Telefone angezapft. In Beechill und in Theo Dempseys Haus versah man die Apparate mit Fangschaltungen und beauftragte die Telefongesellschaft, die Nummer jedes Anrufers umgehend zu melden. Jack McGrath wollte, dass Dempsey zu sich nach Hause fuhr und auf den nächsten Anruf der Entführer wartete. »Diese Typen wollen Sie als Mittelsmann benutzen, da bin ich mir sicher. Welchen anderen Grund könnte es geben, bei Ihnen anzurufen? Sie müssen am Telefon warten und dafür sorgen, dass Sie lange genug reden, wenn die Bande sich wieder meldet.« Dempsey gefiel das gar nicht. »Das kann ich nicht. Das geht nicht. Sie wissen doch, in welchem Zustand sich mein Chef befindet. Er steht am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Ich habe ihn an der Hausbar ertappt. Dabei hat er die letzten drei Jahre keinen Alkohol mehr angerührt. Sandra hat vorsichtshalber alles aus dem Haus schaffen lassen, das auch nur den geringsten Alkoholgehalt aufweist.« Sandra hielt sich tapfer, obwohl ihr Körper rebellierte. Ihre Brüste schmerzten von der Milch, die sich gestaut hatte, und ihre Operationsnaht brannte wie Feuer. Am meisten aber schmerzte ihr Herz aus Verlangen nach dem kleinen Gordon. Sie wollte ihn zurück, um jeden Preis. „Harry, wir müssen das Lösegeld bezahlen!« Sie saß mit ihrem Mann auf der Bettkante im ehelichen Schlafzimmer und versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. „Er ist noch zu klein, Harry. Er ist ein Neugeborenes! Wenn sie ihn nicht richtig versorgen, könnte er sterben, ehe die Polizei ihn findet. Wir müssen bezahlen, was immer sie fordern, Harry!« Sie 297

sank vor ihrem Ehemann auf die Knie und nahm flehend seine Hände in die ihren. Es war das erste Mal, dass sie ihn um etwas bat, ihn anflehte. Doch seine Augen waren stumpf, wie leblos. Er schwieg und starrte ins Leere. »Harry, bitte, komm zu dir!« Sandra fasste ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Wir müssen schnell handeln! Wir müssen unser Baby zurückbekommen!« Sie war verzweifelt, am Rande der Hysterie. „Hol Theo.« Es waren die ersten vernünftigen Worte Harry O'Briens seit Tagen. »Hol Theo herauf. Er weiß bestimmt, was getan werden muss.« Jack McGrath beobachtete, wie Theo Dempsey Sandra in den ersten Stock folgte. Dann sah er, wie Dempsey eine Viertelstunde später mit frischer Energie am Fuße der Treppe auftauchte. Er schien es sehr eilig zu haben und verschwand in Big Harrys Arbeitszimmer. Minuten später war ein Fax nach London unterwegs. Jack McGrath spürte, dass hinter seinem Rücken irgendetwas ins Rollen kam.

32

17.17 Uhr Das Cottage bei Kikullen Gordon O'Brien bekam den ersten Anfall gegen Mittag, nach seinem dritten Fläschchen an diesem Tag. Es war nur ein leichter Anfall verglichen mit jenen, die noch folgen sollten. So verängstigt und vergrämt er auch war, brauchte er doch regelmäßig seine 298

Fläschchen, und sein Hungergeschrei gellte alle vier Stunden. Doch als Peggy Ryan ihm den Sauger seines Mittagsfläschchens in den Mund gesteckt hatte, drehte der Kleine den Kopf zur Seite, als wolle er die Flasche abschütteln. Nach zwei, drei Schluck schlug er mit den Ärmchen um sich; sein Gesicht wirkte schmerzverzerrt. Heftig stieß er mit den winzigen Beinchen im Strampelanzug. Seine Knie waren angezogen. Er schrie jämmerlich. Gordons Kreischen erfüllte das kleine Cottage, und Peggy Ryan musste den Jungen eine Stunde auf dem Arm umhertragen, ehe er endlich erschöpft einschlief. Rasch legte sie ihn trocken und murmelte und fluchte vor sich hin, zuerst leise, dann lauter. Moonface beobachtete sie. Genau wie Sam Collins. Beide hatten genug von Peggy. Hatte sie das Fläschchen richtig zubereitet? Behandelte sie das Baby richtig? Und konnte sie nicht endlich aufhören, Selbstgespräche zu führen? Doch nicht nur von Peggy hatten Collins und Moonface die Nase voll, auch vom Cottage. Obwohl in der Küche das Feuer nie erlosch - ebenso wenig die elektrischen Heizöfen in den anderen Zimmern -, war es immer noch klamm und roch modrig. Eine zerbrochene Fensterscheibe in einem Zimmer ließ eisige Luft ins Innere, sodass sie ihre Mäntel und die warmen Sachen anbehalten mussten. Außerdem zog es durch Haus- und Hintertür. Zu allem Überfluss sah Moonface eine Maus auf der Toilette. Wild trat er gegen die Wände. »Komm raus, du kleines Miststück«, brüllte er und richtete eine Pistole auf das Loch, das er in der Fußleiste entdeckte. Erst der Geruch von Eiern mit Speck, die Peggy zum Tee zubereitet hatte, verhinderte Schlimmeres und ließ wieder eine etwas entspanntere Stimmung im Cottage aufkommen. Tommy Malone 299

war fort gewesen und kehrte mit einem Stoß Sonntagszeitungen zurück. Er sah ein, dass es wenig Sinn hätte, die öffentliche Empörung vor den anderen Angehörigen seines A-Teams zu verbergen, Früher oder später würden sie es ohnehin erfahren. Da war es besser, er machte sie gleich darauf aufmerksam - und gleich mit seiner persönlichen Meinung dazu. „Leute, wir haben voll ins Schwarze getroffen!« Er drückte Moonface die Sunday Independent in die Hand, Collins die Sunday Post, während er selbst die Sunday Tribüne las. Peggy Ryan konnte lediglich die Fußball-Ergebnisse auf den Rückseiten sehen. Sie begann wieder, wirres Zeug vor sich hin zu murmeln. Aufgeregt tauschten die anderen die Zeitungen untereinander aus und verschlangen alles, was mit der Entführung zu tun hatte. Sie lachten über die Mutmaßungen und falschen Beschreibungen ihrer Personen. In einem der Berichte bezeichnete man Sam Collins als Kopf der Bande und hielt ihn für einen ehemaligen Sprengstoffexperten der IRA aus Derry. Moonface wurde als »brutale Bestie« beschrieben, die June Morrison misshandelt und im Koma hatte liegen lassen, was allgemeine Heiterkeit erregte. Collins forderte Moonface grinsend auf, ihnen eine Vorstellung als Monster zu geben. Peggy Ryan warf wütend ein: »Wenn du den Balg weckst, kannst du was erleben!« Collins funkelte sie an, und Peggy starrte wütend zurück. Tommy Malone bemerkte es und trat dazwischen, um wieder für Ruhe zu sorgen. Insgeheim machten sie alle sich Sorgen wegen June Morrison. Das hätte nicht passieren dürfen. Doch jeder der drei Männer hatte noch einmal nach ihr gesehen, bevor sie die Villa 300

der O'Briens verlassen hatten - und alle drei wussten, dass des einen Schuld ebenso groß war wie die des anderen. Dass Peggy keine Zeitungen bekam, lag nicht etwa daran, dass die Reporter sie nicht erwähnt hätten. Im Gegenteil. Gardai fahnden nach geheimnisvoller Frau im Kidnapping-Fall. Welche Frau tut so etwas? Gewissenlose Menschenräuberin! Eine der englischen Boulevardzeitungen hatte ein Foto von Gordon O'Brien in seinem inzwischen berühmten Klöppelspitzenschal veröffentlicht. Darüber befand sich die Abbildung eines Händepaares, das wie eine Falle zuschnappte. Irische Polizei sucht Kidnapper-Flittchen! Sie nahmen kein Blatt vor den Mund. Es war ein gefundenes Fressen für die Revolverzeitungen und deren Schreiberlinge. Eine Sensationsstory, wie sie im Buche stand, genau richtig zum Ausschlachten. Eine Zeit lang war es still im Cottage. In die Zeitungen vertieft, saß das A-Team vor dem Kohlen-und-Brikett-Feuer in der Küche. Moonface schlug den Sportteil auf und las über das Fußballländerspiel Irland gegen England am kommenden Mittwoch. Er hatte bereits Karten für das Spiel und konnte jetzt nur noch hoffen, dass die Sache bis dahin über die Bühne war. Peggy kochte eine Kanne Tee, während Tommy Malone etwas über Big Harry las, das ihm gar nicht gefiel; es könnte alles verzögern. Das kann ich wirklich nicht gebrauchen, dachte Malone. Er war sich der gespannten Verhältnisse im A-Team durchaus bewusst. Das Cottage war zu klein; ständig stand einer dem anderen im Weg, und schon wegen Kleinigkeiten kam es zu Streitereien. Und sie alle hielten das Babygeschrei nicht mehr aus. Stundenlang schien es in ihren Ohren zu gellen. Daran hatte er nicht gedacht. Daran hatte er absolut nicht gedacht. Verstohlen betrachtete er jeden. 301

Moonface hielt sich ziemlich gut. Collins wurde zusehends gereizter, aber noch beherrschte er sich. Peggy sah schrecklich aus. Das kreischende Baby machte sie fertig. Himmel, wir haben den Balg erst zwei Tage, und schon wollen sie ihn loswerden. Tommy Malone las den Bericht über Big Harry zum zweiten Mal, und seine Sorgen wurden noch größer. Es war höchste Zeit, die ganze Sache zu beschleunigen, ehe Big Harry völlig durchdrehte. Sie mussten ihn aufrütteln, ihn dazu bringen, dass er sich Bares beschaffte. Lange hielten sie es in diesem verwahrlosten Schuppen nicht mehr aus. Höchste Zeit, mit Phase zwei ihres Unternehmens zu beginnen. Malone blickte Collins an und beschloss, ihn statt Moonface zu nehmen, den er eigentlich für die meisten Botengänge vorgesehen hatte. Collins brauchte eine Ablenkung. Er musste eine Weile raus aus dem Cottage, vor allem, wenn das Kind wieder zu schreien begann. „Okay«, sagte Malone in die Stille. »Wird Zeit, dass wir ein bisschen Dampf machen.« Alle blickten auf. »Wir schießen jetzt Fotos. Martin, setz deine Tarnmütze auf. Wir werden ein paar Polaroidbilder knipsen.« Peggy Ryan protestierte dagegen, das Baby zu wecken, doch Malone wollte die Bilder machen, solange Gordon schlief. Vor allem wollte er keine Aufnahmen von einem schreienden Kind. Es ist schon schlimm genug, wie es ist, dachte er. Himmel, wenn die Zeitungsfritzen auch noch ein Bild in die Hand bekommen, auf dem der kreischende Balg zu sehen ist, lyncht man uns! Also zog Moonface seine Skimütze über, und Peggy hob Gordon O'Brien aus dem Reisebettchen - so behutsam, als wäre er aus kostbarem Kristall. Sie legte das schlafende Bündel in Moonface' Pranken. Das Baby warf die Ärmchen hoch, verzog das Gesicht und nieste, 302

wachte aber nicht auf. Tommy Malone machte ein Polaroidfoto. Alle warteten, bis das Bild langsam aus der Sofortbildkamera hervorkam. Es war eine gelungene Aufnahme: der maskierte Moonface mit dem Baby und daneben die Sunday Post, die Collins hielt, der auf dem Bild nicht zu sehen war. Die Balkenüberschrift zeigte das heutige Datum. „Wir sollten den Scheißer in den Schal wickeln, Tommy«, riet Peggy Ryan. »Er könnte irgendein Baby sein. Aber mit dem Schal wissen alle, dass es der kleine O'Brien ist.« Malone, Collins und Moonface blickten Peggy staunend an. „Da haste Recht, Peggy«, lobte Tommy Malone. »Du denkst mit. Prima.« Malone schoss noch drei Bilder; diesmal war das schlafende Baby in den berühmten Spitzenschal gewickelt. Und Moonface sah beängstigend aus: einschüchternd muskulöse Arme und ein dicker Schädel mit Stiernacken unter einer schwarzen Skimütze mit Schlitzen für Augen, Nasenlöcher und Lippen. Das ziemlich schwerfällige Hirn, das sich fragte, ob die Sache bis zum großen Fußballspiel endlich vorbei sein würde, war auf dem Foto allerdings nicht zu sehen. Malone forderte Collins auf, mit ihm zu kommen. »Verdammt, Tommy, du hast gesagt, ich soll die Verteilung machen!«, protestierte Moonface. »Ab morgen. Von morgen an wirst du Polaroidfotos in ganz Dublin verteilen. Dann brauchen wir das Motorrad. Du wirst den ganzen Tag von hier weg sein. Aber Sam braucht auch mal frische Luft.« »Da hast du verdammt Recht!«, bestätigte Collins. Sein nordirischer Akzent reizte Moonface' Ohren. »Das wird auch verdammt nochmal Zeit!« 303

Sie zogen sich wärmer an, stiegen in den Volvo und fuhren ganz langsam, beinahe im Schritttempo auf der schmutzigen Eisschicht den Zufahrtsweg hinunter. Collins saß am Steuer, wodurch Malone die Gelegenheit zum Nachdenken bekam.

Von seinem Cottage aus sah Brian O'Callaghan die Scheinwerfer. Sie sind immer noch da. Wer sind diese Leute? Er griff wieder nach der Sonntagszeitung und las weiter. Im Vordergrund standen die Entführungsgeschichte und ein Bericht über die Ermittlungen im Klinikmord. O'Callaghan sog durch seine dritten Zähne am Pfeifenstiel und schickte ein stummes Gebet zum Himmel, Gordon O'Brien möge wohlbehalten zurück zu seinen Eltern kommen.

Malone beschloss, alle vier Polaroidfotos in Dublin zu verteilen, weit entfernt von Kilcullen, um die Gardai zum Narren zu halten. Ein Bild warfen sie in einen Briefkasten in der Gardiner Street, der erst am nächsten Tag geleert wurde. Ein anderes fiel durch den Briefschlitz der Sunday Post am Burgh Quay. Das dritte landete im Briefkasten von Dillon's Pub in Clonskeagh. Das letzte schließlich warf Malone in den Postkasten vor der Zentrale der O'Brien Corporation in der Dawson Street. Dann rief er von einem Telefonhäuschen im Stadtzentrum von Tallaght die Nummer an, die für interne Gespräche der Garda reserviert war. Nachdem Malone sicher sein konnte, dass der beschränkte Bulle am anderen Ende der Leitung die Einzelheiten richtig notiert hatte, wählte er gleich darauf die Nummer von Theo Dempsey. „Sie haben bis morgen Zeit, das Geld zu beschaffen. Finden Sie sich schon mal damit ab, dass Sie sich von der Knete trennen 304

müssen, wenn Sie den Balg zurückhaben wollen. Ich ruf morgen Nachmittag wieder an und sag' Ihnen, wohin Sie's bringen müssen.« Als Malone den Hörer einhängte, hörte er noch, wie Dempsey scharf die Luft einsog. Als der Volvo die Rückfahrt nach Kilcullen antrat, fuhren Streifenwagen mit kreischenden Reifen zu allen vier Kästen, in denen nach Aussage des Kidnappers Fotos vom Baby zu finden waren. Jack McGrath hörte sich die Bandaufnahme mit Tommy Malones verstellter Stimme an. Und Gordon O'Brien schrie im Cottage gellend seinen Schmerz hinaus, als er eine neue Kolik hatte. Peggy Ryan trug ihn wieder umher und führte ununterbrochen Selbstgespräche, als würde sie sich auf einen Redewettbewerb vorbereiten. Moonface hatte einen Walkman eingeschaltet und hörte sich über Kopfhörer eine alte U2-Aufnahme an. Er hatte genug. Er bohrte so heftig in seiner Nase, dass sie zu bluten anfing. In Beechill saß Harry O'Brien stumm und regungslos in der Nähe der Haustür, seit er vom zweiten Anruf der Kidnapper erfahren hatte. „Ich warte darauf, dass mein Baby heimkommt«, hatte er einem mitfühlenden und besorgten uniformierten Garda erklärt. Der junge Polizist nahm O'Brien gegenüber Platz und beobachtete ihn wie ein treuer Wachhund. Während der große Mann im Erdgeschoss saß, wurde Sandra O'Brien im ersten Stock von einer jungen uniformierten weiblichen Garda bewacht und getröstet, die selbst ein Baby hatte und immer wieder zu Hause anrief - fast jede Stunde -, um sich zu vergewissern, dass mit ihrem Töchterchen alles in Ordnung sei. 305

So war es im ganzen Land. Jede Nachrichtensendung wurde aufmerksam verfolgt. Eine ganze Nation bangte um das O'BrienBaby und hoffte aus tiefster Seele, dass endlich das erlösende Wort gesprochen wurde und das Entführungsdrama ein gutes Ende nahm. Einige Leute konnten es nicht mehr ertragen, die beunruhigenden und aufwühlenden Nachrichten im Fernsehen zu verfolgen; zu sehr strapazierte das Geschehen ihre Nerven und Gefühle. Viele andere wiederum wollten einfach nicht glauben, was sich abspielte. Es war wie ein böser Traum, der Albtraum einer ganzen Nation. Topmanager setzten sich mit ihren Unternehmenszentralen in aller Welt in Verbindung und ersuchten um eine Versetzung, da ihre Frauen sich weigerten, in Irland zu bleiben. Wer es sich leisten konnte, verpflichtete Bodyguards; neue Leibwächter wurden eingestellt, alte genau überprüft, um jedes Sicherheitsrisiko auszuschalten.

20.27 Uhr »Liest du mir eine Geschichte vor, Mom?« Rory hielt ein neues Buch aus der Reihe Tommy der Lokomotivführer an sich gedrückt, das Kate dem Jungen aus schlechtem Gewissen mitgebracht hatte, weil sie den ganzen Tag fort gewesen war. Großvater hatte einen bedeutungsvollen Blick auf die Uhr geworfen, als Kate erschöpft nach Hause kam. Das Haus war ein Schlachtfeld. In jedem Zimmer lag in wilder Unordnung Spielzeug herum, und auf der Couch lagen Seiten aus einem Malblock, bedeckt mit Rorys kindlichem Gekritzel. Großvater hatte sich offenbar alle Mühe gegeben, Rory bei Laune zu halten. »Fang mir jetzt nicht damit an. Ich hatte einen schrecklichen Tag. Ich bin müde. Ich 306

habe Hunger. Mir reicht's!« Kate hatte allen Grund für ihre schlechte Laune. Rechtsberater der Garda hatten ihr die Auskunft erteilt, jeder Aids-Test müsse auf freiwilliger Basis erfolgen. Wollte Kate also bestimmte Personen diesem Test unterziehen lassen, hätten diese das Recht, sich vorher mit ihrem Anwalt zu beraten. Alles, was sie vorschlug, erwies sich als schwierig und umständlich. Den Tränen nahe, ließ Kate sich in einen Sessel fallen, und Rory kletterte auf ihren Schoß. Sie streichelte seine Wange, fuhr ihm durchs Haar und küsste ihn auf die Stirn. Dann schlüpfte sie aus ihren durchgeweichten Schuhen und den durchnäßten Überhosen und ließ sie achtlos auf den mit Spielzeug übersäten Fußboden fallen. »Hi«, sagte sie. Rory spürte, dass etwas nicht stimmte. Er steckte den Daumen in den Mund, zog Ted unter seinem Schlafanzug hervor und rieb ihn über das Gesicht der Mutter. Kate küsste Rory und versuchte das Bild seines Vaters zu verdrängen, das sie immer öfter in dem Jungen sah, je größer er wurde. „Hat Rory schon zu Abend gegessen?« In der Küche briet der Großvater Speck und Eier. Er antwortete mit einem lauten »Ja«. Kates Magen knurrte, als ihr der Geruch des Essens in die Nase stieg, und Rory kicherte. Kate stimmte mit ein, und sie schmiegten sich glücklich und zufrieden aneinander. Kates Blick fiel auf die Sonntagszeitung mit den Schlagzeilen über die Entführung, und unwillkürlich drückte sie Rory fester an sich. Als Großvater die Eier mit Speck brachte, schliefen Mutter und Sohn eng umschlungen im Sessel. Er betrachtete die zwei 307

und beschloss, sie nicht zu wecken. Stattdessen setzte er sich an den Tisch und aß die Eier mit Speck selbst. Beim Essen blickte er wieder auf die beiden. „Gott, was ist das für ein Leben für Kate, dachte er. Wie lange kann sie noch so weitermachen, ohne dass sie zusammenklappt?

Dean Lynch stand vor dem großen Spiegel im Fitnessraum in seiner Wohnung. Er hatte die Absicht, Kate Hamiltons Arbeitspensum zu verringern. In Schießstellung hielt er die Walther PPK und ließ den Hammer gegen eine leere Kammer schlagen, wie schon seit fast einer Stunde. Lynch wollte sich an die Pistole gewöhnen, an ihr Gewicht, den Mechanismus. Er bereitete sich nun auf Phase zwei seines Plans vor und wollte die Waffe bald einsetzen. Er konnte es kaum erwarten. Langsam senkte er die Pistole und betrachtete seinen Körper. Ich nehme tatsächlich ab, dachte er. London John hat Recht. London John hatte Recht.

33 22.05 Uhr Savoy-Kino, O'Connell Street Dean Lynch stand in der Schlange, unübersehbar wie ein Leuchtturm in seinem grellgrünen Jogginganzug, einem gelben Rolli und einer roten Baseballkappe, auf der in schwarzen Buchstaben Chicago Bears stand. Dazu trug er weiße Joggingschuhe und gelbe Fäustlinge. Er hatte die Sachen in den Läden am Flug308

hafen Heathrow von dem Geld gekauft, das eigentlich für London John gedacht war. Auch eine billige Sporttasche hatte Lynch erworben, ganz in Schwarz, die er neben sich abgestellt hatte, während er sich schrittweise in der Schlange voranbewegte. In der Sporttasche befanden sich seine schwarze Perücke, die Fensterglasbrille, der falsche schwarze Schnurrbart, ein schwarzer Rolli, ein schwarzer Jogginganzug, schwarze Socken und schwarze Joggingschuhe; außerdem zwei Paar Latexhandschuhe, seine Walther-PPK Automatik und zwanzig Schuss Munition, sorgfältig verpackt. In ein Frottiertuch war ein Drei-KiloHammer eingewickelt, den er am Abend zuvor in Woodies Eisenwarenhandlung gekauft hatte; dazu ein Meter feste blaue Schnur. Die Schnur war schon einsatzbereit. An einem Ende befand sich ein straffer Knoten, durch den Lynch das andere Ende hindurchgezogen hatte, sodass die Schnur nun wie ein Minilasso aussah, das sich leicht über einen Kopf werfen und um einen Hals ziehen ließ. Und noch etwas hatte er in der Tasche: sein piece de resistance, sein Markenzeichen. Im Savoy lief zurzeit eine Reihe von Spätvorstellungen mit Filmen von Francis Ford Coppola. In dieser Woche war es die Trilogie von Der Pate. In letzter Minute kamen noch viele Kinogänger aus den Bussen, die an der O'Connell Street hielten. Lynch blickte sie strahlend an, als wäre er nicht ganz zurechnungsfähig. Einen offenbar Halbirren wie ihn konnten die Leute gar nicht übersehen. „Tut mir echt Leid, aber kleiner hab' ich's nicht.« Lynch schob der Kassiererin einen Fünfzigpfundschein zu. Sie blickte ihn ungehalten an, und er lächelte honigsüß zurück und nahm seine 309

Baseballmütze ab, damit sie sein Gesicht besser sehen konnte. Du wirst dich an mich erinnern, nicht wahr? Wenn sie dich fragen, erinnerst du dich an mich, nicht wahr? „Haben Sie wenigstens ein Fünfzigpencestück?«, fauchte die Kassiererin. „Nee. Nur den Schein. Ich hab' vergessen, Kleingeld einzustecken.« Die Leute in der Schlange hinter ihm wurden ungeduldig. Lynch drehte sich um, setzte eine entschuldigende Miene auf und ermöglichte es den Wartenden, sich sein Gesicht genau einzuprägen. Er erntete eine Menge böser Blicke, und die Kassiererin starrte ihn mit unverhohlener Verachtung an. Schießlich nahm Lynch seine Karte und das Wechselgeld und schob die Sporttasche mit dem Fuß von der Kasse weg. Er wartete, bis einige weitere Personen Karten gekauft hatten und die Schlange noch gewachsen war. Dann schwand sein strahlendes Lächeln. Mit gesenktem Kopf nahm er seine Tasche auf und ging zu den WCs. Die Herrentoilette war leer. So ein Glück. Schon wieder. Als die Eingangshalle dicht mit den Kinogängern gefüllt war, die sich auf den Treppen zu beiden Seiten des Saales zum Vorführraum hinaufdrängten, war Lynch bereit. Die auffällige, grellbunte Kleidung befand sich nun in der schwarzen Sporttasche, und ein kleiner Mann in Schwarz trat aus einer der Kabinen. Er begutachtete sich im Spiegel und verließ die Toilette, wobei er sich verstohlen umsah, ob irgendjemand den Blick auf ihn richtete. Kurz darauf befand er sich wieder auf der O'Connell Street und bahnte sich einen Weg durch die Menge, diesmal mit gesenktem Kopf. Niemand beachtete ihn. Niemand interessierte sich auch 310

nur im Mindesten für den kleinen Mann in Schwarz - mit der dunklen Kleidung, der schwarzen Seele und den finsteren Absichten. Lynch bog rasch um die Ecke zur Eccles Street, wo sein BMW parkte, und vergewisserte sich, dass die beiden Alarmanlagen richtig eingestellt waren. Dann winkte er einem Taxi, um sich zum Blackrock-Krankenhaus fahren zu lassen. Er wolle dort eine Bekannte besuchen, sagte er zum Fahrer. »Ihr musste der Blinddarm rausgenommen werden«, fügte er rasch hinzu, ehe der Taxifahrer seiner Neugier freien Lauf ließ. Während der gesamten Fahrt ärgerte er sich, dass er die Szene in Der Pate I nicht sehen konnte, in der Luca Brazi von hinten erdrosselt wurde. Er malte sich die Szene aus. Ob es wohl so sein wird? Er blickte auf die Uhr. 23.30. Ob es wohl so sein wird? Werden ihre Augen hervorquellen wie die von Luca Brazi? Unterwegs wurde das Taxi kurz an einem Garda-Kontrollposten angehalten, der nach Gordon O'Brien suchte. Die Gardi winkten sie durch, ohne auch nur einen Blick auf die Insassen zu werfen, und Lynch atmete insgeheim erleichtert auf. Der Taxifahrer ließ sich nun über die Entführung aus, beklagte ganz allgemein die Zustände, die im Land herrschten, und schimpfte auf die verdammte Regierung, die nicht einmal ein Preispissen in einer Brauerei organisieren könnte. Doch bei diesem Fahrgast waren alle seine Kommentare und sein Zorn vergeudet. Lynchs Gedanken waren ganz woanders. Er war sich nicht einmal bewusst, dass die Aufmerksamkeit des Landes, ja der ganzen Welt, auf das Baby gerichtet war, dem er ins Leben geholfen hatte. Er hatte es vollkommen vergessen. Ihn beschäftigte etwas ganz anderes. Er 311

hatte sein eigenes Süppchen zu kochen. Vor dem Blackrock-Krankenhaus stieg er aus und tat so, als ob er zum Eingang schlendern würde, bis das Taxi außer Sichtweite war. Dann ging er mit langsamen, aber entschlossenen Schritten über die Rock Road zu dem Apartmenthaus, wo Schwester Sarah Higgins wohnte. Es war eisig kalt; sein Atem dampfte, und der beißende Rauch von Torffeuer stieg ihm in die Nase. Lynch hatte sich zuvor schon hier umgeschaut. Früher war das Gebäude, das »The Hawthorns« genannt wurde, ein eindrucksvolles, hochherrschaftliches Haus gewesen, ein Stück von der verkehrsreichen Rock Road entfernt. Jetzt war es in mehrere Mietwohnungen aufgeteilt, mit eigenen Autostellplätzen für jede Wohnung auf der Rückseite. Jeder Stellplatz hatte die gleiche Nummer wie das entsprechende Apartment. Es gab acht Wohnungen. Die Stellplätze für die Apartments sieben und acht waren durch den mächtigen Stamm einer riesigen Kastanie getrennt. Ihre winterkahlen Äste hingen über die geteerten Parkplätze. Der Dienst von Schwester Higgins begann nach vierzehn Uhr. Lynch hatte bereits fünfmal zu verschiedenen Tageszeiten in ihrer Wohnung angerufen. Nach vierzehn Uhr war der Hörer nie abgehoben worden. Vorsichtshalber wählte Lynch die Nummer noch einmal, diesmal von der Telefonzelle in Mooney's Pub, nur zweihundert Meter von der Wohnung entfernt. Auch diesmal nahm niemand den Hörer ab. Er blickte auf die Uhr. 23.05. „Wir schließen, Gentlemen. Wollt ihr denn gar nicht nach Hause. Oder wisst ihr nicht, wohin?« Der Barkeeper von Mooney's Pub jedenfalls wollte endlich Feierabend machen und sich mal so richtig ausschlafen. Sich erholsamen, friedlichen Schlaf gönnen. Friedlichen Schlaf wollte Lynch auch Schwester Higgins ver312

schaffen. Ewigen Schlaf. Lynch hatte beschlossen, die Walther PPK nicht zu benutzen. Er hätte es liebend gern getan und war sehr, sehr enttäuscht, dass es nicht ratsam war. Bitter enttäuscht, verärgert aus Enttäuschung; nein, regelrecht zornig vor Enttäuschung! Doch er sah ein, dass ein Schuss zu laut sein würde. Es wäre wirklich idiotisch, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sich möglicherweise sogar unnötig in Gefahr zu bringen, gefasst zu werden. Und wenn diese Nacht vorüber ist, gibt es noch mehr zu tun, sagte er sich. Noch viel mehr! Er stand hinter dem dicken Stamm der Kastanie, die schwarze Sporttasche zu seinen Füßen, auf der die Pistole lag - geladen, für den Notfall. Beide Hände steckten in Gummihandschuhen, und die Finger einer Hand umklammerten den Griff des Hammers. Das blaue Lasso lag auf dem Boden, starr vor Kälte. Plötzlich durchdrang das Licht von Scheinwerfern die Schwärze über den Pkw-Stellplätzen. Lynch blickte rasch auf die Uhr. 23.17. Himmel, sie ist früh dran! Sein Herz raste vor Anspannung. Verdammt, sie fährt zum falschen Parkplatz! Ein Toyota Corolla bog auf Platz 3 ein. Zwei Personen stiegen aus, ein junger Mann und eine jüngere Frau. Die Wagentüren wurden zugeschlagen, und

Lynch

hörte

die

elektrische

Türschlossverriegelung

einrasten. Der Mann eilte vorn um den Wagen herum auf die andere Seite und umarmte seine nun kichernde Mitfahrerin stürmisch. Augenblicke später widmeten sie sich leidenschaftlichem Petting, die Zungen tief im Mund des anderen. Lustvolles Stöhnen drang durch die Nachtluft. Scheiße! Beinahe hätte Lynch es gebrüllt. Scheiße! Die junge Frau lehnte nun an der Wagenseite. Der Fahrer hatte die Hände in ihrem Mantel und 313

bedrängte sie stürmisch. Lynch bückte sich nach der Walther PPK. In seiner Verzweiflung war er bereit, die Waffe zu benutzen. Plötzlich löste sich die junge Frau von ihrem Begleiter, lachte aufreizend und rannte los, jedoch stets darauf bedacht, dass er sie rasch einholen konnte. Der Mann lief ihr nach, packte sie und drückte sie dann wieder fest an sich, und gemeinsam taumelten sie zur Hintertür, wobei sie sich wieder wild küssten. Lynch entspannte sich. Als er hörte, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde, legte er die Pistole vorsichtig zurück auf die Sporttasche und vergewisserte sich, dass niemand sonst zu den Pkw-Stellplätzen gekommen war. Das Warten ging ihm allmählich auf die Nerven. Es war eisig, und die Kälte schien in seine Knochen zu dringen. Er spähte auf die Uhr und konnte sie im Licht der Straßenbeleuchtung ablesen.

23.37 Uhr Komm schon, Schwester Higgins, wo bleibst du so lange? In einer

der

Wohnungen

wurde

in

einem

Zimmer

Licht

eingeschaltet. Als Lynch kurz dorthin blickte, konnte er gerade noch die leidenschaftlichen Turteltauben erkennen, ehe sie die Gardinen vorzogen. Gerade als das Licht hinter dem Fenster erlosch, wurden die Stellplätze von den Scheinwerfern eines Mazda 626 erhellt, den Schwester Higgins fuhr. Der Wagen rollte langsam auf Platz sieben, neben der Kastanie. Die Innenbeleuchtung flammte auf, und Lynch konnte sehen, wie die junge Schwester einen Schlüsselring aus ihrer Handtasche fischte. Dann erlosch das Innenlicht, und die Fahrertür wurde 314

geöffnet. Ein weißer Schwesternschuh kam zum Vorschein, gefolgt von einem Bein in weißen Strümpfen - ein langes, weiß bestrumpftes Bein -, dann eine weiße Schwesterntracht, zu drei Vierteln von einem dick gepolsterten dunklen Anorak bedeckt. Schwester Sarah Higgins drehte sich zur Fahrertür um, schaltete die Alarmanlage ein und schloss die Tür ab. Die Warnlichter schalteten sich zweimal ein und aus. Schwester Higgins hustete, als ihr die eisige Nachtluft in die Kehle drang, und zog den Anorak straffer um den Oberkörper. Sie wandte sich der hinteren Haustür zu und stockte plötzlich. Hinter ihr war ein leises Rascheln zu vernehmen, fünfzehn Minuten später saß Dean Lynch in einem Taxi auf dem Weg zu Dublins City Centre. Er hatte den Fahrer auf der Rock Road herangewunken und sein Fahrtziel gemurmelt, ehe er die schwarze Tasche auf den Rücksitz gestellt hatte und eingestiegen war. Dem Taxifahrer störte es ganz und gar nicht, dass sein Fahrgast sich in Schweigen hüllte. Es war seine letzte Fahrt in dieser Nacht, und er war froh, endlich nach Hause zu kommen. Außerdem hatte er sich schon den ganzen Tag den Mund fusselig geredet, um seine dämlichen Fahrgäste zu unterhalten. Lynch traf rechtzeitig vor dem Savoy ein, sodass er sich unter die Leute mischen konnte, die nach Ende der Filmvorführung aus dem Gebäude strömten. Mit gesenktem Kopf stemmte Lynch sich gegen die Flut, kämpfte sich zu den Toiletten im Parterre durch. In einer leeren Kabine zog er sich wieder um und erschien erneut in dem grellgrünen Jogginganzug und der Chicago-Bears-Baseballmütze. Die schwarze Sporttasche trug er so unauffällig wie möglich. Er sorgte dafür, dass der Angestellte, der seine Karte abgerissen hatte, ihn wieder sah. »Geiler Film«, sagte Lynch begeistert. 315

»Scher dich zum Teufel«, murmelte der Mann so leise, dass Lynch es nicht hören konnte. »Schwachkopf.« Lynch fuhr in seinem BMW langsam nach Ballsbridge zurück und hielt unterwegs nur an, um einen Teil der belastenden Beweisstücke in verschiedene Mülltonnen zu werfen. Seiner Meinung nach hatte Dean Lynch wieder gute Arbeit geleistet.

Achter Tag 34 Montag, 17. Februar 1997, 5.17 Uhr Du kommst heute spät, dachte Kate Hamilton, als Rorys Gegenwart in ihr Bewusstsein sickerte. Sie spürte, wie er sich an ihr kuschelte, nach ihrem Gesicht tastete und es herumdrehte, dass er hineinschauen konnte. Den Daumen im Mund und Ted an der Hand legte Rory sich zufrieden neben Kate. Kurz darauf wurde sie ganz aus dem Schlaf gerissen. „Mom, schenkst du mir ein Hündchen?« Sie seufzte und drehte sich auf die andere Seite. »Schlaf weiter. Schlaf weiter. Es ist viel zu früh. Schlaf.« Auch in Kilcullen war es zu früh; dennoch war das A-Team hellwach und ausgesprochen mieser Laune. Gordon O'Brien hatte nicht gut geschlafen. Kurz nach Mitternacht hatte er brav getrunken, war dann aber um 4 Uhr 47 hungrig; aufgewacht und schrie nach dem Fläschchen. Peggy Ryan hatte es in wenigen Minuten fertig, doch schon nach dem ersten 316

Schluck kamen die Krämpfe wieder. Jemand schien mit einem Skalpiermesser durch Gordons Bauch zu schneiden, und er schrie aus Leibeskräften. Die kleinen Beinchen strampelten wild; er krümmte sich, und seine winzigen Fäuste zuckten vor Schmerz. „Jesses Maria«, entfuhr es Peggy. »Jesses Maria, nicht schon wieder.« Sie nahm Gordon auf und schritt fluchend und im Selbstgespräch mit dem Kleinen hin und her, schaukelte ihn auf und ab, hielt inne, um den kleinen Bauch zu massieren, der hart wie ein Brett war, legte sich Gordon an die Schulter und klopfte ihm auf den Rücken. Nichts half. Gordon O'Brien kreischte. Seine Schreie hallten von den Hüttenwänden wider und drangen durch die Kissen, die Moonface, Malone und Collins sich verzweifelt auf die Köpfe pressten. Vergeblich. Die Schreie des schmerzgepeinigten Säuglings durchdrangen alles. Hinzu kam, dass Peggy mit dem Kind an der Schulter ins Zimmer der Männer stürmte und keifte: »Nehmt mir den Balg ab, bevor ich ihn abmurkse!« Was keiner tat. Binnen kürzester Zeit war das A-Team fluchend und schimpfend auf den Beinen. Moonface flüchtete vor dem Lärm auf die Toilette und trat mit der Schuhspitze immer wieder gegen das Mauseloch. »Raus mit dir, du kleines Sauvieh, komm schon!« Sam Collins setzte sich an den Küchentisch, befingerte nervös seinen Ohrring und fragte sich, wie weit das alles denn noch gehen würde. Peggy eilte mit dem Baby zur Hintertür, um den finsteren, Furcht einflößenden Blicken der Männer zu entgehen. Wäre es nicht so kalt gewesen, hätte sie sich über die Felder davongemacht und die ganze Chose sausen lassen. »Tommy, wär's nicht besser, wenn wir den kleinen Schreihals zurückbringen und alles abblasen?« Moonface hatte genug. Ein halbes Dutzend 317

bewaffneter Banküberfälle wären ihm lieber gewesen als dieses Desaster. Ein Überfall war in null Komma nichts über die Bühne, das Geld rasch geteilt, und jeder konnte verschwinden und die Früchte seiner Arbeit genießen. Aber diese Warterei hielt ja kein Schwein aus. Sam Collins zupfte an seinem Ohrring, während er zuhörte. Gespannt auf die Antwort, beobachtete er Tommy Malone. »Kommt nich' in die Tüte. Wir stecken schon zu tief drin. Früher oder später sind uns die Bullen auf den Fersen. Und was hätte es für 'n Sinn, die Sache anzufangen und dann nicht abzukassieren?« Moonface zuckte die Schultern. Er hatte die Schnauze voll. Bis obenhin. Wie es aussah, würden sie wahrscheinlich die ganze Woche mit dem verfluchten Schreihals zusammenhocken; außerdem war am Mittwoch das Länderspiel. Moonface setzte sich an den Küchentisch, der voll mit schmutzigem Geschirr stand. Zigarettenstummel lagen in leeren Milchflaschen, und überall war Asche. Moonface roch saure Milch aus einer der Flaschen und verzog das Gesicht. Irgendwas muss geschehen, Tommy«, warf Sam Collins seine Stimme in die Waagschale. »Das Geschrei macht uns alle verrückt. Wenn der Scheißer älter wäre, würde ich ihm ein paar scheuern, dass ihm die Lust an der Brüllerei vergeht.« Seine Stimme klang gereizt. An der Hintertür wurde das Gekreische noch lauter, als Peggy Ryan das Baby heftig schüttelte. Auch sie war mit der Geduld am Ende, und aus ihrem beschwichtigenden Zureden wurden laute Flüche, was das Kind noch mehr in Angst versetzte. Erneut kreischte es los, und zum ersten Mal rutschte Peggy Ryan die Hand aus. Der unerwartete Schlag ließ Gordon für einen Moment 318

verstummen. Dann schrie er mit aller Kraft, durchdringender als je zuvor. Er schrie um Hilfe. Peggy hob die Hand zu einem zweiten, wuchtigeren Schlag, hielt aber inne, als Malone in der Tür erschien. Leg den Kleinen ins Bett, Peggy. Laß ihn schreien. Er wird schon aufhören.« Peggy wich Malones Blick aus. Nicht zum ersten Mal fragte sich auch Tommy Malone, ob alles gut gehen würde. Lange würde sein ATeam der Situation nicht mehr gewachsen sein. Höchste Zeit, dem alten Harry mit ein paar weiteren Fotos Feuer unterm Hintern zu machen, dachte er: Diese Sache muss zu einem raschen Ende gebracht werden! In Beechill nahm sich auch Harry O'Brien vor, das Drama so schnell wie möglich zu beenden. Er hatte den Zeitpunkt der Lösegeldübergabe von Theo Dempsey erfahren und mit Sandras Zustimmung beschlossen, zu zahlen. Jack McGrath hatte vorgeschlagen, dass Sandra im Fernsehen an die Entführer appellierte, das Kind zurückzugeben, was von den O'Briens jedoch abgelehnt wurde. Big Harry hatte bereits Security Risks verständigt, die englische Versicherungsgesellschaft, bei der er gegen Entführung versichert war - zu Anfang nur er selbst; nach der Heirat war auch Sandra dazugekommen, und vor zwei Monaten der noch ungeborene Gordon. Damals hatten sie sogar darüber gescherzt. »Lieber Gott, er ist noch gar nicht auf der Welt und schon versichert«, hatte Sandra eines Morgens im Bett gesagt, als sie beobachteten, wie das Ungeborene in ihrem Leib strampelte. »Ich weiß. Ich weiß, dass es verrückt ist. Aber wenn ich mir ansehe, was in diesem Land alles passiert, ist mir wohler, wenn er 319

vom ersten Schnaufer an versichert ist.« Big Harry hatte beide Hände auf Sandras Bauch gelegt, um die Bewegungen des Babys zu spüren und über das Wunder des Lebens nachzugrübeln. So war der ungeborene Gordon O'Brien in die Versicherung mit aufgenommen worden. Und nun war der Augenblick gekommen, sie in Anspruch zu nehmen.

7.27 Uhr Traumzeit. Manchmal, wenn Rory noch schlief und ihr ein paar kostbare Augenblicke blieben, bevor sie zur Arbeit musste, lag Kate neben ihm, lauschte seinem Atmen, strich ihm übers Haar, überwältigt vom Wunder des Lebens. Dann schweiften ihre Gedanken zurück zu dem Tag, als sie ihn geboren hatte. Sie erinnerte sich an sein runzliges Gesicht, seinen ersten Schrei, an das Gefühl, als sie den kleinen Körper das erste Mal berührt hatte. Sie lag da und dachte über dieses Wunder nach und wie Rorys Geburt ihr Dasein von Grund auf verändert hatte. Sie war nicht mehr allein, und ihr ganzes Leben gehörte nun dem Kind. An diesem Morgen war Kate erneut in dieses Mysterium versunken, während sie Rorys kleinen schlafenden Körper hochhob, um den Jungen zu wecken. »Mom, kann ich ein Hündchen haben?« Ende der Traumzeit. Er ließ nicht locker, während Kate unter der Dusche stand, während sie sich das Haar trocknete, während sie sich zurechtmachte, während des ganzen Frühstücks. »Nein, Rory. Zum letzten Mal, nein. Wir haben nicht genug Platz für ein Hündchen. Und ich habe nicht die Zeit, es abzurichten und ständig hinter ihm her zu putzen.« „Aber ich kann mich doch um ihn kümmern. Ich mach' auch 320

sauber, wenn er auf den Boden macht.« Kate legte den Löffel klirrend, mit allem Nachdruck auf den Tisch und blickte dem Jungen fest in die Augen. »Nein, Rory. Zum allerletzten Mal, nein. Ich will jetzt nichts mehr davon hören. Iß dein Frühstück. Wir sind spät dran.« Dicke Tränen rollten über Rorys Wangen, während er schluchzend von seinen Cornflakes aß. Dann holte er zum Todesstoß aus, mitten ins Herz. „Ich hab' keinen zum Spielen. Du bist ja nie da. Keiner spielt mit mir. Ein Hündchen wäre wenigstens immer bei mir.« Sie nahm ihn in den Arm und weinte mit ihm, bis es fast zu spät war, sich auf den Weg zu machen. Kate verfiel in hektische Aktivität, bis der Junge angezogen war, bis die Sandwiches eingepackt waren, bis er ein letztes Mal Pipi gemacht hatte und dann endlich im Auto saß. Sie schnallte ihn sorgfältig an, drückte ihm Ted in die Hand und sah, wie der Daumen in seinem Mund verschwand. Sie beschloss, Rory selbst zum Kindergarten zu bringen, und läutete, um es ihrem Vater zu sagen. Er würde Rory abholen, das Abendessen zubereiten, mit dem Jungen spielen und später dann auch noch Kates Abendessen kochen. O Gott, dachte sie, das kann nicht mehr lange so weitergehen. Kurz nach neun saß Kate Hamilton in der Bücherei der Zentralentbindungsklinik Tony Dowling gegenüber. »Rory will ein Hündchen.« „Also, Kate, ich will ja kein Spielverderber sein, aber schaffen Sie sich keinen jungen Hund an, wenn Sie halbwegs bei Verstand sind.« Dowling entstammte einer Bauernfamilie aus Cavan und war mit Hunden aufgewachsen, mit richtigen Hunden. »In der Stadt, zwischen Häusern und Autos - das ist kein Leben 321

für einen Hund. Hunde brauchen Auslauf und Freiheit. Sie wollen Kaninchen und Hasen und Wiesel und Füchse jagen und nicht den

verdammten

Verkehr auf einer zweispurigen

Durchfahrtstraße.« Kate hörte nur mit halbem Ohr zu. Schwester Higgins hätte sie hier um Punkt neun treffen sollen. Sie warf einen Blick auf die Uhr und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Dowling zu. »Stadthunde kommen immer zu kurz. Stets werden sie zurückgepfiffen, haben keinen richtigen Auslauf. Bei Fuß, sitz, lieg, gib Pfötchen, und was ihnen sonst noch eingetrichtert wird. Ein Hund auf dem Land ist ganz was anderes.« Er geriet beinahe ins Schwärmen. »Die Hunde auf dem Land sind meist schwarze Collies mit einem weißen Fleck an der Schnauze oder am Kopf. Sie lungern auf den Höfen oder am Straßenrand, haben stets ein Ohr gespitzt und wetzen los, wenn sich irgendwo was rührt. Diese Hunde haben so etwas wie Persönlichkeit und Klasse. Stadthunde sehen alle so aus, als müssten sie zum Psychiater.« Er lachte kurz darüber. »Sie haben Ei auf Ihrer Krawatte«, erwiderte Kate, während sie zum dritten Mal ungeduldig auf die Uhr blickte. »Wo, zum Teufel, bleibt diese Schwester?« Dowling begann an dem Fleck zu kratzen. »Wissen Sie, was ich mir gedacht habe, als ich heute Morgen herkam?« Kate wählte Schwester Higgins' Nummer auf ihrem Handy und lauschte auf das Läuten. »Was?« »Wir sollten uns auf den Stationen gründlich umsehen und uns selbst ein Bild von allem machen. Vielleicht stoßen wir auf irgendwas, das wir bis jetzt übersehen haben. Ich hab' das verdammte Gefühl, die Ärzte wissen mehr, als sie uns sagen.« 322

Kate lauschte dem fernen Läuten. Niemand nahm ab. »Vielleicht steckt sie irgendwo im Verkehr fest. Es war ziemlich schlimm von Blanchardstown bis hierher. Überall Straßensperren wegen des entführten Babys.« »Ja, vielleicht haben Sie Recht.« Kate studierte ihre Aufzeichnungen. »Da sind zwei Ärzte, soweit ich es sehe, die wir umgehend zu einem Aids-Test veranlassen sollten, falls es sich machen lässt. Die beiden gefallen mir nicht.« Dowling lachte. »Nur zwei? Da sind Sie besser als Jack McGrath. Dem hingen alle Ärzte zum Hals raus.« Kate lächelte. »Morgan und Lynch. Morgan hat gelogen, da bin ich mir sicher. Seine Frau hat es mehr oder weniger durchblicken lassen, als wir anriefen. Und er selbst ist uns seither aus dem Weg gegangen. Ich habe John Doyle zweimal zu ihm geschickt, beide Male vergeblich. Und die Geschichte von dem anderen, von diesem Lynch, ist mir ein bisschen zu perfekt. Ich finde, wir sollten die beiden heute zu uns in die Zentrale bestellen und fragen, warum sie uns mit dem Aids-Test hinhalten. Die Schwester soll sich ihre Stimmen anhören.« Kate nahm ihre Tasche. »Ich sehe mich um, bis sie kommt. Treffen wir uns um zehn wieder hier.« »Wo kann ich Sie erreichen, falls ich Sie brauche?« Kate war schon halb draußen und hielt auf dem Flur Ausschau nach Schwester Higgins. »Bei Dr. Tom Morgan. Ich werde dem werten Herrn auf die Finger klopfen.« Dowling lachte unterdrückt. »Nach allem was ich gehört habe, sollten Sie verdammt gut darauf achten, wo er seine Finger hat.« Dr. Tom Morgan war in seiner Privatpraxis. Kate fragte erst einen Pfleger nach dem Weg, dann eine Schwester, bis sie fündig 323

wurde. Leise öffnete sie die Tür zum Wartezimmer, um die Patientinnen nicht unnötig auf sich aufmerksam zu machen, nachdem bereits Jack McGraths plumpe Polizeipräsenz für so viel Unruhe gesorgt hatte. Du meine Güte, dachte Kate. Als ich das letzte Mal zu einem Gynäkologen musste, ließ ich mir zuvor die Beine enthaaren. Im ersten Augenblick dachte sie, sie hätte sich in der Tür geirrt. Es sah gar nicht wie der Warteraum einer Arztpraxis aus. Sie trat noch einmal auf den Flur, um das Türschild zu lesen. Doch da stand es, in schicker marineblauer, kursiver Schrift auf einem grellgelben Schild: Dr. Tom Morgan, Poliklinik. Doch als Kate wieder ins Zimmer trat, hatte sie eher das Gefühl, in einer Modelagentur zu sein. In dem eher kleinen Raum saßen fünf junge Frauen mit langen schlanken Beinen. Es war ziemlich offensichtlich, dass jede sich besonders sorgfältig herausgeputzt hatte. Eine trug einen kurzen engen Lederrock, den sie bis an die Grenze der Schicklichkeit hochgezogen hatte. Sie hatte die Beine verführerisch übereinander geschlagen. Zwei andere klimperten mit langen schwarzen Wimpern über den Seiten von Modezeitschriften. Sie trugen hautenge Jeans. Eine andere wiederum hatte sich mit dem letzten Schrei von Paul Costello ausstaffiert und war rastlos bemüht, ihr Haar ins günstigste Licht zu schütteln. Alle fünf blickten auf, als Kate eintrat, und musterten sie eingehend von oben bis unten. Dann kehrten die Blicke scheinbar zu den Zeitschriften zurück. Die fünf belauerten einander wie Raubkatzen mit eingezogenen Krallen, bereit, der anderen beim geringsten Anlass das Gesicht zu zerkratzen. Dr. Tom Morgans Arzthelferin erschien in der Tür seines Sprechzimmers. Sie war der absolute Blickfang mit ihrem langen blonden Kraushaar, das 324

über das Top eines cremefarbenen Baumwollbodys fiel, welcher ihre jungen Brüste augenfällig zur Geltung brachte - wovor ihre Rivalinnen im Zimmer die Augen nicht verschließen konnten. Sie trug einen wadenlangen Faltenrock zu hellbraunen Schuhen und sexy Strümpfe mit kleinen funkelnden Steinen, die den Blick auf sich zogen. Und der Blick, den sie am häufigsten auf sich zogen, stammte von Dr. Tom Morgan. Jede Frau, die zu Dr. Morgan kam, hasste seine Helferin und stellte sich heimlich vor, was die beiden wohl trieben, wenn die Sprechstunde vorbei war. Hinter vorgehaltener Hand wurde erzählt, man hätte beide eng umschlungen auf einer Krankenhausparty gesehen, und ein andermal sei das Mädchen mit gerötetem Gesicht und verlegen aus dem Behandlungszimmer gerannt, als ein unerwarteter Besucher auftauchte. »Anne Cantwell? Sie sind die Nächste.« Eine der Frauen stand auf, glättete ihren zerknitterten Rock, schüttelte ihr Haar zurück und betrat das Behandlungszimmer. Ihr Gang hatte etwas von einer Katze, die eine Beute ausgemacht hat. Kate beobachtete diese Menagerie fasziniert und abgestoßen zugleich. »Kann ich Ihnen helfen?« Aller Augen wandten sich ihr zu. »Ich möchte mit Dr. Morgan sprechen.« »Haben Sie einen Termin?« Nein.« Sie legte ihre Karte auf den Empfangstisch. Die Blonde studierte sie kurz. Wenn Sie sich bitte einen Moment gedulden. Ich spreche mit ihm, sobald er mit der Patientin fertig ist.« Die wartenden Frauen musterten Kate Hamilton. Wer ist diese Frau mit dem hübschen Gesicht und dem strengen blauen Kostüm? Stille senkte sich über den Warteraum, die nur von den 325

trommelnden Fingern der blonden Arzthelferin unterbrochen wurde. Tom Morgans Behandlungszimmer verriet die Großzügigkeit der Pharmaindustrie Irlands. Ein Kalender an der Wand hinter seinem Stuhl zeigte nicht nur das Datum an, sondern wies auf die Rolle der Hormonersatztherapie bei Frauen in den Wechseljahren hin. Zwei Behälter mit Kugelschreibern verrieten, dass moderne junge Frauen Disodene zur Empfängnisverhütung benutzten. Ein Notizblock auf dem Schreibtisch war am Rand mit den Logos und Namen einer Reihe von Firmen bedruckt, die Produkte auf dem gynäkologischen Sektor anboten. Der Füller, mit dem er schrieb, warb für das neueste Mittel gegen Menstruationsbeschwerden, und selbst die Seife und das Handtuch trugen die Firmennamen pharmazeutischer Unternehmen. Nur ethische Selbstbeschränkung der Pharmaindustrie bei Anzug, Hemd und Krawatte von Armani verhinderte, dass Tom Morgan wie ein Formel-1-Rennfahrer beim Boxenstop aussah: eine wandelnde Litfasssäule. "Guten Morgen, Detective Hamilton. Wie ich hörte, wollten Sie mich gestern Abend sprechen. Meine Sprechstundenhilfe sagte mir, dass auch einer Ihrer Beamten mich zu erreichen versuchte, es geht um irgendeinen Bluttest?« Morgan klang besorgt und hilfsbereit. Die ganze Sache schien ihn im höchsten Maße zu verwundern, wenn man die tiefen Falten auf seiner hübschen Stirn richtig deutete. »Tut mir Leid, ich war ein paar Tage nicht in der Stadt und konnte mich nicht bei Ihnen melden.« Kate musste zugeben, dass Morgan verdammt attraktiv aussah, Er besaß das Gesicht und die Figur eines Adonis - und wahrscheinlich auch die anderen Köperteile. Jede Bewegung war eine sexuelle 326

Herausforderung, als er das Kinn auf seine langen, feingliedrigen Finger stützte und Kate in die Augen blickte. »Aber jetzt haben Sie mich ja gefunden«, fuhr er lächelnd fort. »Was kann ich für Sie tun?« Bevor Kate ein Wort sagen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und Tony Dowling stürmte herein. Sein Gesicht war kreidebleich. »Kate, ich muss sofort mit Ihnen sprechen. Kommen Sie. Es ist etwas passiert.« Es war das leidenschaftliche Pärchen, dem zuerst auffiel, dass bei Schwester Higgins nebenan etwas nicht stimmte. Das ständige Läuten des Telefons weckte die beiden aus einem kurzen Schlummer nach einer langen Nacht ungetrübter Freuden. Das Läuten hörte auf und begann erneut, immer wieder. Es riss die beiden aus dem Schlaf und nervte sie, als sie wach waren. »Normalerweise ist Higgins um diese Zeit schon aus dem Haus«, murmelte er, während sich eine Hand zwischen seinen Schenkeln hinauftastete. »Noch einmal?« »Ja.« »Du bist ein Tier.« »Unbestritten.« Aber das Telefon läutete wieder, und die Stimmung war dahin. Er glitt aus dem Bett und ging zum Fenster, um nachzusehen, ob Higgins' Wagen fort war. Nein, da stand er noch. Er wischte mit einem Zipfel des Vorhangs über das beschlagene Glas. »Sie muss noch da sein.« Als er sich umwandte, bemerkte er etwas aus den Augenwinkeln. Er wischte mit einem größeren Stück Vorhang einen größeren Teil der Scheibe ab. Dann fiel ihm der rote Fleck neben dem 327

geparkten Wagen auf. Es war ein großer roter Fleck, an dessen Rand irgendetwas lag, das von hier wie ein Hammer aussah. Er kniff die Augen zusammen, um den Wagen besser zu sehen, und bemerkte, dass die Scheiben vollkommen beschlagen waren. Einen Augenblick wandte er sich ab und versuchte sich darüber klar zu werden, was er gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf. Ein wenig beunruhigt starrte er noch einmal zum Wagen hinaus, und das Gefühl der Beklommenheit wurde stärker. Ich bin gleich zurück. Ich geh' nur mal eben zum Parkplatz. Es dauert nur einen Moment.« Sie hatte das Bettzeug zur Seite gezogen und die verlockenden Körperbereiche für die ersehnte Morgenaktivität enthüllt. »Beeil dich. Ich rühr' mich nicht von der Stelle.« Er schlüpfte in einen dicken Pullover und seine Hausschuhe; dann zog er noch seinen Morgenmantel über. Sie ging zum Fenster. Als er in ihr Blickfeld kam, sah sie seinen Atem in der kalten Luft weiße Wölkchen bilden, und er hatte beide Hände in den Ärmeln des Morgenmantels vergraben. Sie klopfte ans Fenster, doch er schien es nicht zu hören. Sie sah, wie er sich langsam, ganz langsam auf den Wagen zu bewegte. Schließlich beugte er sich hinab, um irgendetwas auf dem Boden in Augenschein zu nehmen. Dann bewegte er sich zur Seite, zu einer anderen Stelle. Langsam richtete er sich wieder auf, den Blick auf den Boden geheftet. Sie klopfte erneut ans Fenster, stärker diesmal, doch er wandte sich nicht um. Sie beobachtete, wie er zurücktrat, immer noch den Blick auf den Boden geheftet. Langsam, fast in Zeitlupe, ging er um den Wagen herum zur Beifahrerseite und versuchte, ins Innere zu blicken, wobei er mit einem Ärmel über das Glas wischte. Auf sämtlichen glatten Flächen, auf dem Gras und 328

den Zweigen der Bäume hatte sich Reif gebildet. Plötzlich fuhr er zum hinteren Fenster der Beifahrerseite herum und rieb heftig mit dem Ärmel an der Scheibe. Er richtete sich abrupt auf, und sein Atem dampfte in kurzen raschen Stößen. Er starrte erneut ins Wageninnere. Dann rannte er los wie von Furien gehetzt, dass er sogar einen Schuh verlor. Was, zum Teufel, tut er da draußen? Was ist denn los? Was hat er gesehen?

Hamilton und Dowling erschienen kurz vor elf. Drei gelb gestreifte Einsatzwagen trafen mit Blaulicht ein und hielten auf dem Parkplatz der Wohnanlage. Sechs uniformierte Gardai stapften energisch über den Platz, um sich warm zu halten. Einer redete in ein Funksprechgerät. Die Tür der Fahrerseite eines der Polizeifahrzeuge stand offen, und eine raue Stimme dirigierte die Bewegungen des Einsatzteams. Die dünnen Schatten von Ästen fielen über den Parkplatz, als die Sonne hinter einer Wolke hervorkam. Die plötzliche Helligkeit blendete, und jeder auf der Straße musste die Augen abschirmen, um etwas sehen zu können. Kate wusste bereits, dass es sich um Schwester Higgins' Wagen handelte. Über ihr Handy erfuhr sie, dass durchs hintere Fenster ein Körper im Inneren des Autos zu sehen war. Ein Bein lag in verkrümmter Haltung auf dem ganz nach vorn geklappten Sitz. Ein regloses Frauenbein in weißem Strumpf, mit roten Flecken. Wer immer die Frau war, es sah nicht gut für sie aus. Und Kate hätte ihre Seele verwettet, dass es Schwester Higgins war. Eine sich nähernde Polizeisirene verriet, dass die Gerichtsmedizin im Anrollen war. 329

Dowling redete auf einen uniformierten Gardai ein, der auf ein Fenster der Wohnanlage deutete. Dort oben blickte eine GardaBeamtin aus einem zur Lüftung spaltweit geöffneten Fenster. Dem leidenschaftlichen Pärchen war alle Lust vergangen: Er zitterte immer noch, trotz drei dicker Pullover und der voll aufgedrehten Heizung. Sie saß stumm auf einem Stuhl in der Küche und rauchte eine Zigarette nach der anderen. »Kate? Kate? Ich geh' mal rauf und rede mit dem jungen Mann, der das Blut entdeckt hat.« Kate nickte und zog fröstelnd ihren dunkelblauen Mantel enger um sich. Ein Garda-Minibus hielt mit kreischenden Reifen und Sirenengeheul nur einen Meter vor ihren Füßen. Die schwarze Tür wurde geöffnet, und Gerichtsmediziner Dr. Noel Dunne und die Leute von der Spurensicherung traten heraus, zwei Männern in weißen Overalls über dicken Pullovern und Überhosen, gefolgt vom Fotografen Dan Harrison mit schussbereiter Nikon. Dunne setzte widerstrebend einen Fuß auf die Straße, dann den anderen, beugte sich wieder ins Fahrzeug und zog zwei schwarze Arzttaschen an den Rand des Ausstiegs. Müde öffnete er eine und kramte fluchend und murrend darin, bis er endlich fand, was er suchte. Erneut beugte er sich in den Wagen und brachte einen dicken Ölzeugmantel zum Vorschein, den er zum Schutz gegen die Kälte anzog. Er richtete sich auf, streckte den Rücken, und machte sich an die Arbeit. Er hatte ein Diktiergerät und ein Klemmbrett für A4-Bögen dabei. »Schirmt den Wagen ab«, schnaubte er. Zwei uniformierte Gardai sprangen ins Fahrzeug und erschienen einen Augenblick später wieder. Sie stellten eine zusammenfaltbare gelbe Plastikabschirmung auf. Einer der Spurensicherungsleute befestigte 330

bereits das gelbe Garda-Einsatzband an einer Kastanie und mehreren Absperrungsstangen. Nach wenigen Minuten war Schwester Higgins' Mazda 626 vor neugierigen Blicken verborgen. »Dr. Dunne, ich bin Detective Sergeant Kate Hamilton. Wir sind uns kurz an dem Abend begegnet, als Sie in die Zentralentbindungsklinik gerufen wurden.« Dunne musterte sie mit unverhohlener Feindseligkeit. Kate ignorierte sein Verhalten. »Ich habe die Morduntersuchung in der Klinik übernommen.« Sie vergewisserte sich, dass er es gehört und verstanden hatte. Besonderen Wert legte sie auf die Betonung des Wortes »übernommen«. »Ich habe Grund zur Annahme, dass die Leiche im Fond des Wagens mit dieser Untersuchung zu tun hat.« Dunne starrte sie an. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft; er sah wie ein Feuer speiender Drache aus. »Sie haben die Ermittlungen von Detective Inspector McGrath übernommen?« "Ja. Ihm wurde der Kidnappingfall übertragen. McGrath ist der Entführungsexperte

unserer

Spezialeinheit.«

„Entführungsexperte«, brummte Dünne und setzte sich auf die gelbe Absperrung zu in Bewegung. »So, so.« Er hielt an und drehte sich zu Kate um. »Und sind Sie auch Expertin?« Sein Tonfall war schroff und herablassend. Kate kannte Dunnes legendären Ruf. Er mochte keine Anfänger bei Untersuchungen; er hasste Polizeineulinge, weil sie zu viele dumme Fragen stellten. Besonders zuwider waren ihm Frauen, die Männerarbeit verrichten wollten. Kate spürte, dass Dunne viel lieber mit jemand anderem gearbeitet hätte. »Im Kochen. Rühreier sind meine Spezialität.« Möchtest du wohl 331

gern, du alter Bock. Dunne grinste. »Okay, Detective Sergeant Hamilton, fangen wir Er zog ein Stück der gelben Abschirmung zur Seite und hielt sie fest, bis Kate ebenfalls drinnen war. Dann schloss er sie sorgfältig wieder. Inzwischen war ein Fernsehteam erschienen und damit beschäftigt, Kameras und Scheinwerfer aufzubauen. Einer der uniformierten Gardai verwehrte den TV-Leuten mit ausgestreckten Armen den weiteren Zugang, während ein Reporter beschwörend auf den Polizisten einredete. »Die Türen sind verschlossen.« Einer der Weißgekleideten mit Infektionsschutzhandschuhen hatte Fingerabdrücke auf den Türgriffen genommen. Anschließend hatte er die Türen zu öffnen versucht, doch sie waren alle verriegelt. »Bin sofort wieder da.« Er lief zum Kleinbus und kehrte mit dem Traum eines jeden Autodiebs zurück: ein Satz Universalschlüssel für die meistgefahrenen Pkw-Modelle in Irland. Er probierte einen Schlüssel nach dem anderen, bis die Türschlösser plötzlich schnappten und die Verriegelungsknöpfe hinter den Scheiben in die Höhe ruckten. Dunne begann zu diktieren. Wagentyp, Kennzeichen, Farbe, Dunstbeschlag der Scheibeninnenseiten, sogar Kratzer an der Karosserie. Dann ging er in die Hocke und begutachtete den großen Blutfleck, vermaß und beschrieb ihn. Einen halben Meter entfernt lag der blutverschmierte Hammer. Dunne untersuchte ihn genau, während er diktierte. Dan Harrison blieb dicht an seiner Seite und knipste alles, was Dunne verlangte. Dunne war eine Zeit lang mit den Abdrücken und Blutspuren an Heck und Kofferraum

des

Wagens

beschäftigt.

Handflächen-und

Fingerabdrücke wurden entdeckt, vermessen und fotografiert, 332

während Kate zuschaute. Schließlich war Dunne mit der äußeren Untersuchung des Wagens und der unmittelbaren Umgebung fertig. „Haben Sie alles, Dan?« Dan Harrison, Starfotograf der Gerichtsmedizin und Spurensuche, nickte. Er war kein Mann vieler Worte. Seine Arbeit war für die meisten Leute nicht gerade das Lieblingsthema, und auch Harrison selbst redete nicht gern darüber. Dunne hatte sein eigenes

persönliches

»Tatortformular«,

in

das

er

nun

Eintragungen machte. Name des/der Toten: ließ er vorerst unausgefüllt. Tatort: »Wo sind wir hier?« Er sah sich um. Einer der uniformierten Gardai rief ihm die genaue Adresse zu. Dunne trug sie ein. Datum/Uhrzeit der Benachrichtigung: Er schaute auf die Uhr und schrieb: 17.02.97, 9.57 Uhr. Ankunft am Tatort: 17.02.97, 10.32 Uhr. Dunne hatte gerade eine Leiche, die aus der Liffey gefischt worden war, im städtischen Leichenschauhaus begutachtet, als der Anruf kam. Die Fahrt hinaus nach Blackrock mit Motorradeskorte und Martinshorn hatte nicht lange gedauert. Einsatzleiter: Dunne sah nach Kate Hamilton. »Wie war gleich Ihr Name?« Als Kate laut und deutlich genug für alle ihren Namen rief, brummelte Dunne missbilligend in seinen Bart. Er seufzte abgrundtief, und alle Gesichter wandten sich ihm zu. Er schien an diesem Morgen ungewöhnlich müde zu sein, nicht so energisch, wie man ihn kannte. Der/die Tote zuletzt lebend gesehen: Dunne ließ es frei. Rektale Temperatur: ebenso, vorerst. Lufttemperatur: Er nahm sein eigenes Thermometer hervor und 333

stellte es auf ein Stück weißen Stoffes aufs Wagendach. „Dass mir das keiner umstößt!« Alle traten ein wenig zurück. Totenstarre: frei. Totenflecken: frei. Verletzungen: Er hielt inne, klemmte das Brett unter den Arm und stieß wieder einen tiefen Seufzer aus. »Okay, macht den Wagen auf.« Einer der Spurensicherungsleute nickte dem anderen zu. Er zog die Latexhandschuhe aus, stopfte sie in die Tasche, holte ein neues Paar heraus und streifte es über. Die kleine Gruppe drängte sich um das Heck des Mazda. Alle schienen vor diesem letzten Schritt zurückzuschrecken. He, warum gehen wir nicht alle zum Aufwärmen eine Tasse Kaffee trinken, oder in der Kneipe um die Ecke einen Happen essen? Alles, nur nicht das. Der Spurensicherungsexperte schaute zu Dunne. Der nickte und wappnete sich. Dann warf er einen Blick zu Kate hinüber. Tony Dowling, der geräuschlos durch die gelbe Abschirmung geschlüpft war, stand nun neben ihr. Kate nickte, zog ihren dicken Mantelkragen über die Ohren hoch und hielt ihn vorne fest zusammen. Sie war nicht sicher, ob sie wirklich sehen wollte, was nun kam, aber sie wusste, sie hatte keine Wahl. Sie konnte sich nicht abwenden. Typisch, würde es sonst heißen, typisch Frau. Einer der Männer hatte das Schloss bereits überprüft, und Dan Harrison hatte seine Fotos geschossen. Nun betätigte der Mann das Schloss vorsichtig mit einem Finger. In der Stille klang es wie ein Pistolenschuss. Dann hob er mit zwei Fingerspitzen die Kanten der Hecktür. Auf halber Höhe griff der Federmechanismus, und die Tür klappte hoch. »Oh, 334

Scheiße!« »Allmächtiger!« »Großer Gott!« Noel Dunne starrte nur stumm. Kate Hamilton sagte nichts, doch für einen Augenblick glaubte sie, den Anblick des nach vorn gedrückten Kopfes mit dem langen, blonden, blutverschmierten Haar nicht ertragen zu können. Sarah Higgins' Leiche war in eine fast fetale Stellung gekrümmt. Ein weiß bestrumpftes Bein war am Knie abgeknickt und füllte eine Ecke des Kofferraums, das zweite lag über der nach vorn geklappten Sitzlehne. Das Gesicht der Toten war gegen eine Sporttasche gedrückt, die ihre Züge gnädigerweise vor den entsetzten Blicken der Umstehenden verbarg. Für alle deutlich zu sehen hingegen war die blaue Schnur um den Hals, die sich tief ins Fleisch gegraben hatte. Unter dem rechten Ohr hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Und in ihrem Nacken steckte tief ein Skalpell. Dan, machen Sie so viele Nahaufnahmen wie möglich. Dann eine Gesamtansicht vom Kofferraum aus ein paar Metern Entfernung. Von links und rechts, von vorn und von oben.« Dunne wandte sich an einen Uniformierten. »Wie heißen Sie?« „Garda Carter.« „Also, Garda Carter, gehen Sie zum Bus und holen Sie eine kleine Trittleiter. Die bringen Sie her. Aber passen Sie auf den Blutfleck und den Hammer auf. Gehen Sie auf der anderen Seite herum.« Er wandte sich wieder Harrison zu. »Dan, machen Sie so viele Aufnahmen wie möglich von oben, bevor wir die Leiche bewegen. Und ich will den Skalpellgriff so nah es geht. Ihr anderen - zurück mit euch. Dan braucht Platz zum Arbeiten.« Er 335

wandte sich an Kate. »Detective Sergeant, ich muss mit Ihnen reden.« Kate und Dowling gesellten sich ein paar Meter vom Wagen entfernt zu Dunne. Er redete nicht gleich, sondern beobachtete Harrison noch einen Augenblick bei der Arbeit. Dann rief er ein paar Anweisungen und scheuchte einen uniformierten Garda aus dem Weg. Schließlich wandte er sich Kate zu, während Dowling danebenstand und zuhörte. Detective Sergeant, das ist meine zweite Leiche in dieser Woche, bei der ein Skalpell im Nacken steckt. Beide Opfer sind junge Frauen. Kennen Sie dieses Mädchen?« Es könnte sich um Sarah Higgins handeln, eine Schwester aus der Zentralentbindungsklinik.« „Wie kommen Sie darauf?« „Wir waren heute um neun verabredet. Sie sollte sich Vernehmungen anhören. Das ist ihr Wagen und ihre Schwesterntracht.« »Ist sie die Frau, die letzte Woche die Stimme am Telefon gehört hat? Jack McGrath hat es erwähnt.« „Ja.« „Würden Sie sie erkennen, wenn Sie das Gesicht sehen?« Kate schluckte erkennbar. »Ja, ich habe mit ihr gesprochen.« »Okay, vergewissern wir uns. Zwei Skalpelle im Nacken innerhalb einer Woche sind selbst für mich ein Rekord.« Dunne ging langsam zum offenen Kofferraum. Harrison stand auf halber Höhe der kleinen Trittleiter und knipste eifrig. »Ich bin fertig.« Harrison stieg herab, spulte den voll geknipsten Film zurück und legte einen neuen ein. Dunne hob die Leiter beiseite und beugte sich hinunter, um die Leiche genau in Augenschein zu nehmen. Er begann zu diktieren. 336

Nach etwa zehn Minuten wandte er sich an Kate, die rechts hinter ihm stand. »Sind Sie bereit?« Kate nickte. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, und sie musste sich zusammenreißen, dass man ihr nichts anmerkte. Es würde sich nicht gut anhören, wenn später im Pub darüber geredet wurde, dass sie Schwäche gezeigt hatte. Dunne streifte Latexhandschuhe über und drückte die Leiche vorsichtig, zuerst den Nacken, dann die rechte Gesichtsseite, die er sehen konnte, ohne die Tote zu bewegen. Danach beugte er die Knie. »Keine Starre«, murmelte er und drehte sich zu Dowling um. »Welche Temperatur zeigt das Thermometer auf dem Dach?« »Vier Grad.« »Gott sei Dank ist es windstill, sonst wären wir alle inzwischen erfroren«, murmelte Dunne. »Können Sie schon sagen, wie lange sie tot ist?«, fragte Kate. Dunne tastete weiter und erwiderte ohne aufzublicken: »Noch nicht, Detective Sergeant. Noch nicht. Starre ist noch nicht eingetreten. Grund dafür ist die Kälte. Es hatte fast null Grad in der Nacht und heute Morgen. Ich kann Ihnen mehr sagen, wenn ich die rektale Temperatur gemessen habe. Sehen Sie sich jetzt ihr Gesicht an und sagen Sie mir, ob es die Schwester ist, die Sie meinen.« Vorsichtig bewegte er den Kopf der Toten mit beiden behandschuhten Händen, bis das wächserne Gesicht zu sehen war. Einen Moment wollte Kate es nicht wahrhaben. Das schöne lebensvolle Gesicht, der Mund, der über ihren Freund, über Tanzen und Rockbands geplaudert hatte, als Kate versuchte, Sarah Higgins zur Zusammenarbeit zu bewegen, waren nun leblos, leer, starr. Die Züge waren dieselben, doch der Funke, das Leben, war 337

fort. Für immer. „Das ist sie«, sagte Tony Dowling. Er blickte über Dunnes linke Schulter. »Ja, das ist sie, nicht wahr, Kate?« Kate straffte sich. »Ja, bedauerlicherweise. Ja, es gibt keinen Zweifel.« „Also, Detective Sergeant, ich glaube, der Täter hat diesmal ein sauberes Skalpell benutzt, aber alles deutet darauf hin, dass es wieder unser Freund aus der Klinik gewesen ist. Um diesen Job sind Sie nicht zu beneiden.«

„Southside Town Immobilien. Lesley Cairns am Apparat. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.« „Ah, guten Morgen. Ich möchte gern ein Haus oder eine Wohnung mieten, für eine Woche.« „Aber gern, Sir. Schwebt Ihnen eine bestimmte Gegend vor? Und haben Sie bestimmte preisliche Vorstellungen?« »Es soll für einen Kunden sein, der geschäftlich nach Dublin kommt. Er hat hauptsächlich in der Southside zu tun und ist allein unterwegs. Vielleicht hätten Sie etwas Passendes?« „Lassen Sie mal sehen ... wir haben da eine neue Wohnanlage in Laoghaire. Sehr preiswert.« „Nein, das ist zu weit draußen.« «Moment, warten Sie.« Eine PC-Tastatur klickte. »Wie wär's mit Mooterstown? Wir haben Häuser und Zwei- oder Drei-ZimmerApartments in Mourne Court nahe der Booterstown Avenue. Das liegt ziemlich zentral. Und ist recht preiswert.« „Ja, das hört sich gut an. Ist ein Zwei-Zimmer-Apartment frei?« Klicken. Summen. „Ja. Mit Schlafzimmer und Wohnküche, Badezimmer, Toilette und kleinem Wohnzimmer. Das Apartment wäre frei bis Anfang 338

März.« „Sehr gut. Wie viel kostet es?« Stand alles bereits auf dem Schirm. „Dreihundertfünfzig Pfund die Woche. Strom und Gas wird per Zähler abgerechnet und ist bei Abreise zu bezahlen. Außerdem muss eine 300-Pfund-Schadenskaution hinterlegt werden. Die Kaution wird binnen einer Woche nach dem Auszug zurückerstattet, entweder hier im Büro, oder wir schicken sie Ihnen zu, ohne Aufgeld und in jeder Währung, die Sie wünschen.« »Ausgezeichnet. Kann ich gleich reservieren und in einer Stunde vorbeikommen und bezahlen?« »Natürlich, Sir. Zahlen Sie bar, mit Scheck oder mit Kreditkarte? Falls Sie mit Scheck zahlen, brauchen wir auch die Scheckkarte und Angaben zu Ihrem Bankkonto.« »Ich zahle alles bar. Wenn Sie mir eine Quittung geben, wird meine Firma mir die Ausgaben zurückerstatten.« »Gut, Sir. Unter welchem Namen soll ich das Apartment reservieren?« »Andrew Kelly. Reservieren Sie es für Andrew Kelly. Er ist Vertreter für Computersoftware aus Southampton auf Geschäftsreise zu Microsoft in Sandyford. Ich lasse Ihnen seine Geschäftskarte da, wenn ich vorbeikomme.« »Ich halte die Schlüssel und eine Wegbeschreibung für Sie bereit. Unser Büro ist in der Mount Street. Über dem Eingang hängt ein großes rotes Schild. Sie können es nicht verfehlen.« »Alles klar. Ich bin spätestens in einer Stunde da.« Lynch blätterte erneut in den Gelben Seiten, bis er die Gebrauchtwagenhändler fand. Er studierte die Liste und entschied sich schließlich für einen Händler, bei dem er schon öfter vorbei339

gefahren war. Wieder hob er den Hörer ab und wählte. Nach kaum zehn Minuten wartete »ein wahres Schmuckstück aus zweiter Hand, siebzigtausend auf dem Tacho, generalüberholt, mit neuen Reifen und neuer Batterie« bei Donnie's Motors in Ringsend auf ihn. Er fuhr mit dem Taxi dorthin, wieder getarnt mit Perücke und falschem Bart, Fensterglasbrille und Jogginganzug. Donnie log das Blaue vom Himmel über Kilometerzahl, Vorbesitzer, Unfallfreiheit und Wartung. Lynch wusste, dass Donnie log. Was für ein jämmerlicher kleiner Wichser. Sie feilschten kurz; dann bezahlte Lynch bar für einen 1995 in Dublin zugelassenen Mitsubishi Colt. Er nannte dem hochererfreuten Donnie einen falschen Namen und eine falsche Adresse für die Fahrzeugpapiere. Lynch erstand auch eine Wegfahrsperre - eine starke Eisenkette und ein Schloss -, zu welcher ihm der nun eifrig um seinen Kunden bemühte Donnie riet. »Wickeln Sie die Kette ums Lenkrad und die Strebe unter dem Fahrersitz. Die Sperre wird Diebe nicht aufhalten, wenn sie den Wagen

klauen

wollen,

aber

die

meisten

werden

sich

wahrscheinlich nach einer leichteren Beute umschauen.« Donnie war eine wirklich mitfühlende Seele. Lynch nahm sich vor, ihm bei ihrer nächsten Begegnung die Kette um den Hals zu legen. 35 11.17 Uhr Poliklinik Tommy Malone und Moonface beschlossen, den Zug von Newbridge zur Heuston Station zu nehmen, statt direkt nach Dublin zu fahren. Sie hatten den ganzen Vormittag die Nachrichten über die Entführung im Radio verfolgt, und der immer größere Medienrummel erfüllte die Entführer mit wachsender Besorgnis. 340

Als die neuen Polaroidfotos vom Baby gemacht waren, entschied Malone, dass es zu riskant wäre, wenn er und Moonface zusammen im Wagen gesehen würden. »Zu viele Straßensperren. Irgendein Bulle könnte uns erkennen und dumme Fragen stellen. Wir nehmen den Zug und peilen die Lage. Ich lass Big Harry die Fotos zukommen und die Übergabe des Geldes auf morgen festsetzen, einverstanden?« Also wurde der Plan geändert. Sam Collins blieb mit Peggy Ryan und dem Baby im Unterschlupf; Malone und Moonface fuhren im Volvo zum Bahnhof Newbridge, wo Moonface das Lenkrad mit der Kette sicherte und die Zündkerzen herausschraubte. Der Morgen war kalt, und sie redeten nicht viel. Malone hatte einen dicken braunen Umschlag bei sich, der sechs kleinere Umschläge enthielt, in denen sich je ein Polaroidfoto von Moonface befand, in gesichtsverhüllender Skimütze, Gordon O'Brien auf dem Arm. Über Moonface' Schulter hatte Collins wieder eine Zeitung hochgehalten, sodass Datum und Schlagzeilen gut zu erkennen waren. Sie schwiegen während der kurzen Fahrt zur Heuston Station. Malone hielt es für besser, dass sie nicht zusammenblieben, nicht einmal im selben Wagen. So saßen sie weit auseinander und versuchten die Schlagzeilen und das Kleingedruckte in den Zeitungen anderer Fahrgäste zu lesen. Malone saß neben einem jungen Paar mit Baby, das sich mit einem älteren Herrn unterhielt. Als sie auf die Entführung zu sprechen kamen, war die Verurteilung der Kidnapper von beiden Seiten so einhellig und heftig, dass der beunruhigte Malone sich einen anderen Platz suchte. Moonface kümmerten die Schlagzeilen wenig. Er borgte sich ein Exemplar des Star und las während der letzten Minuten der Fahrt über das 341

Fußballländerspiel. Je mehr er las, desto aufgeregter wurde er. Die Trainer warfen sich Beleidigungen an den Kopf, die Spieler ließen keinen Zweifel daran, dass es alles andere als ein Freundschaftsspiel sein würde. »Kein Mitleid mit dem Gegner!«, wurde der neue irische Libero zitiert. »Erwartet auch keine Gnade von uns«, entgegnete der Mittelfeldregisseur aus dem feindlichen Lager. In einem anderen Bericht ging es um eine Warnung der englischen Polizei an die Gardai: Man erwartete, dass eine große Zahl Krawallbrüder der Nationalen Front ohne Tickets in Dublin auftauchen würde, nur um dort Stunk zu machen und sich für die Prügelei beim letzten Länderspiel England gegen Irland zu revanchieren. Im Star wurde ein halbseitiges Foto gebracht, das einen englischen Hooligan in einem Union-Jack-T-Shirt, einer Union-Jack-Tätowierung auf der Stirn und einer Union-JackFlagge über der Schulter zeigte, der mit zum Victory-Gruß erhobener Hand in die Kamera grinste. Unter dem Foto wurde er zitiert: »Den irischen Dreck putzen wir weg.« Zitat Ende. Moonface kam die Galle hoch. Britisches Pack. Englischer Abschaum. Wartet nur ab, ihr Luschen. Ihr werdet schon sehen, wer wen wegputzt. Malone kam in der belebten Heuston Station unauffällig an Moonface' Seite, um ihm ein paar letzte Anweisungen zu erteilen. Moonface nickte zu allem und jedem. »Keine Angst, Tommy. Is' alles so gut wie erledigt. Ich hab' das Motorrad und die Kurieruniform in 'ner Einzelgarage in Ballyfermont. In einer Stunde sind alle Bilder abgeliefert. Wann willste zurückfahren?« Moonface hatte es nicht eilig, zum Cottage und dem schreienden Balg zurückzukommen. Er hoffte, Malone würde den Aufenthalt 342

in Dublin möglichst in die Länge ziehen. Malone dachte ähnlich, hütete sich aber, es auszusprechen. Er war beunruhigt, was das unberechenbare Trio im Cottage betraf. Sam Collins, Peggy Ryan und der kreischende Gordon O'Brien waren eine explosive Mischung. Wenn das Baby wieder loslegte, konnte es geschehen, dass Collins ausrastete. Und Peggy war auch nicht gerade gut drauf. So langsam verlor sie die Nerven. A-Team, dachte er. Was für ein Haufen! Verlierer, einer wie der andere. Heiliger Strohsack, wie hätte erst das B-Team ausgesehen! Malone und Moonface

nahmen

getrennte

Taxis,

Moonface

nach

Ballyfermont, Malone zu seinem Haus am Hafen. Er musste umdisponieren, als er voraus eine Garda-Kontrolle entdeckte, .in der sich bereits eine lange Wagenschlange staute. »Ich steig' hier aus und geh' zu Fuß weiter, das geht wahrscheinlich schneller.« Der Taxifahrer nickte. Er hatte Malone die Ohren über die Entführung voll gedröhnt und was er persönlich mit den Scheißkerlen machen würde, wenn er sie in die Finger bekäme. Die Garda-Aktionen brächten nicht viel. Straßenkontrollen! Als ob die Entführer sich dort blicken ließen. Malone hatte genug gehört. Er marschierte an der Kontrolle vorbei und winkte ein anderes Taxi heran, nur um eine noch rabiatere Lektion erteilt zu bekommen, diesmal von einer Fahrerin, die selbst drei kleine Kinder hatte. Was sie mit den Mistkerlen machen würde, die das unschuldige kleine Ding entführt hatten, war nicht wiederzugeben. Sie entschuldigte sich sogar bei Malone für ihre derbe Ausdrucksweise, doch sie war sicher, dass er es verstehen würde und genauso empfand. Hatte sie nicht Recht? »Ja«, sagte Malone. »Lassen Sie mich hier raus.« Er entdeckte 343

die Polizisten der Spezialeinheit, bevor sie ihn ausmachen konnten. Er marschierte den Anderson's Quay entlang und blieb abrupt stehen. Es gab keinen Zweifel, der zivile Wagen mit der verdächtig kurzen Antenne parkte keine fünfzehn Meter von seinem Haus entfernt. Zwei Personen saßen vorn im Fahrzeug, eine rauchte. Malone verschwand in ein Geschäft, kaufte eine Packung Sweet-Afton-Zigaretten und zündete sich eine an. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine Hände zitterten. Entweder sind sie schon hinter mir her, oder es ist nur eine Routineüberwachung. Er ging auf die Straße zurück, so lässig wie möglich, und entfernte sich über ein paar Seitenstraßen aus der Gegend. Verdammt, verdammt! Ich muss ein paar Anrufe machen. Er schlug den Weg zur Conolly Station ein und nahm die nächste Schnellbahn zurück zur Westland Row. Als er im Wagen saß, fiel ihm ein bekanntes Gesicht auf, ein alter Kumpel aus der Stevens Street. Malone erschrak, als er das Gesicht des Mannes näher betrachtete. Es war gezeichnet von zu wenig Essen und zu viel Saufen. Der Mann murmelte vor sich hin und nickte, als ein Teil seines Hirns, das auf wundersame Weise noch funktionierte, mit einem anderen Teil Zwiesprache hielt, der ebenfalls überlebt hatte. Der Mann trug einen zu großen, zerlumpten Mantel, der vor Schmutz und Sherryflecken starrte. Er stank so grässlich, dass die anderen Fahrgäste auf Abstand gingen. Betroffen begab sich Malone zu einem weiter entfernten Fensterplatz, wo er die vorübergleitende Szenerie beobachtete, bis sie in Westland Row hielten. Draußen blickte er der Bahn nach, die mit ihrer Fracht an menschlichem Elend entschwand. Das letzte Mal, dass er jemanden in einem so erbarmungswürdigen, völlig heruntergekommenen Zustand gesehen hatte, war an 344

dem Tag gewesen, als seine Mutter den Vater aus der Zelle im Garda-Revier Blackrock abholte, in die man ihn wegen Volltrunkenheit gesteckt hatte. Er war nach einem missglückten Einbruch restlos im Suff versumpft und hatte seine Frau wochenlang allein gelassen - ohne Geld für Essen und Kleidung für ihre sieben Kinder. Jesses, dachte Malone, als die Bahn um die Kurve in Richtung Landstown Road verschwand, wen wundert's da noch, was aus mir geworden ist? Wie sollte ich denn sonst leben? Aber ich werde nicht so beschissen tief sinken wie mein Dad oder dieser arme Teufel in der Schnellbahn. Malone gestand es sich nicht gern ein, aber die zufällige flüchtige Begegnung mit diesem völlig verlotterten alten Bekannten setzte ihm arg zu. Wie auch die Entdeckung des Polizeiwagens vor seinem Haus. Ich mache keinen Rückzieher. Die Zeit des Betteins ist vorbei. Wie immer es ausgeht. Er verließ die Haltestelle und marschierte die belebte Straße entlang zum Davenport Hotel, wo er eine abgelegene Telefonzelle entdeckte. Gern hätte er Betty Nolan angerufen, um zu erfahren, was im O'Brien-Haus los war, doch als sie die Entführung planten, hatten sie mit Betty verabredet, wann und wo sie jeweils zu erreichen war. Heute saß Betty erst ab sechs Uhr nachmittags in Mooney's Pub in Blackrock neben der öffentlichen Telefonzelle, für den Fall, dass Malone sie sprechen musste. Er beschloss, Richie Murphy anzurufen, einen alten Bekannten aus Mountjoy und einer der wenigen Ganoven, mit dem Malone in Kontakt blieb. Die Neuigkeiten, die Richie Murphy zu bieten hatte, waren gar nicht gut. Die Gardai stellten auf der Suche nach dem Baby und den Spuren der Entführer die gesamte Unterwelt Dublins auf den Kopf. „ 345

Weißt du mehr, Tommy?« Nein, leider auch nicht. Mir geht's nicht besser als dir. Ich hab' nur angerufen, weil ich wissen wollte, ob ich der Einzige bin, auf den sie's abgesehen haben.« „Himmel, nein, Tommy. Sie nehmen sich jeden vor. Es ist 'ne Katastrophe.« Dann erzählte Richie von nicht weniger als drei – „drei, kannst du dir das vorstellen?« - todsicheren Bankjobs, die abgeblasen werden mussten. »Es sind einfach zu viele Bullen unterwegs. Überall wimmelt's von den Typen.« Malone lauschte ihm mit wachsendem Unbehagen. Und dann bekam er schließlich zu hören, was ihm am meisten zu schaffen machte. Die Unterwelt der Stadt, so Richie, war einhellig der Meinung, das Baby müsse so rasch wie möglich seinen Eltern zurückgegeben werden. »Die Polizei macht so viel Druck, dass 'n paar verdammte Idioten alles ausplaudern, nur um die Bullen wieder loszuwerden«, fluchte er. »Jede Menge Informationen sickern durch, und 'ne Menge Leute haben die Schnauze voll. Falls jemand rauskriegt, wer sich den kleinen O'Brien-Scheißer gegrapscht hat, bekommen die Bullen 'nen Tip. Auch wenn's mies ist, die Entführung ist einfach zu verdammt schlecht fürs Geschäft. Kann ich was für dich tun?« »Nein, wollte nur wissen, was los ist.« Kurz nach drei verließ ein sehr besorgt aussehender Tommy Malone das Davenport Hotel und ging zum Merrion Square. Er warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte noch viel Zeit bis zum Treffen mit Moonface. Er schaute sich um und bemerkte, dass er sich nicht weit von der National Art Gallery befand. Er wollte daran vorbeigehen, doch irgendetwas zog ihn hinein. Erneut blickte er auf die Uhr. Auf ein paar Minuten kam es nicht an. Ich seh' mir das Bild von meinem 346

speziellen Freund nochmal an. Tommy Malone war ein begeisterter Caravaggio-Fan geworden. Nach seinem ersten geschäftlichen Besuch in der Galerie war er ein paarmal wiedergekommen, um zu sehen, ob es noch andere Gemälde gab, die für einen Abtransport in Betracht kämen, gelangte aber zu der Ansicht, dass sie zu gut bewacht wurden und den Aufwand nicht lohnten. Während eines solchen Besuches hatte er, um nicht aufzufallen, einen Kunstdruckkatalog über Caravaggios Leben und Werk erstanden. Während Malone versucht hatte, sich unauffällig

einen

Überblick

zu

verschaffen,

was

das

Sicherheitssystem betraf, blätterte er in den Seiten und war erstaunt und hellauf begeistert von dem, was er da las. Er entdeckte eine Art Seelenverwandtschaft zu dem italienischen Maler, der mit der Polizei seiner Zeit im Clinch gelegen hatte. Das war ein Künstler ganz nach seinem Geschmack. Malone las, dass Caravaggio mit der Waffe schnell bei der Hand gewesen und keinem Streit aus dem Weg gegangen war und sehr wohl gewusst hatte, wie man den Bullen das Blaue vom Himmel vorlog. »Einmal, als er nach einem Degenduell verwundet im Bett lag und von den Schergen befragt wurde«, informierte ihn der Katalog, »hatte Caravaggio geantwortet: Ich bin auf der Straße gestürzt und habe mich mit der eigenen Klinge verletzt. Ich weiß nicht mehr, wo es war, und dabei gewesen ist auch niemand.« Oh, einfach genial, ein verdammt genialer Maler, hatte Malone vor sich hin gemurmelt, während er sich durch den Text arbeitete und erfuhr, dass Caravaggio, nachdem einer seiner Antagonisten bei einer Rauferei ums Leben gekommen war, nach Rom hatte fliehen müssen. Unter einem Antagonisten konnte Tommy Malone sich zwar nichts vorstellen, aber er war sicher, 347

dass der Typ es verdient hatte, wenn »sein Malerfreund« ihn kaltmachte. »Sein Malerfreund« war in Malones Augen eine Leuchte seiner Zunft, und Tommy machte sich daran, Caravaggios Meisterwerk genauer zu studieren. Und während er in das Gemälde

versunken dastand,

gelangte

er zu einer

weltbewegenden Erkenntnis: dass Judas derjenige war, den sie hätten kreuzigen müssen. Bei den Geschichten der Zellengenossen im Knast, die von einem Kumpel verraten und verkauft worden waren, hatte sich die Furcht vor Verrat auch in Malone tief eingefressen, und er hatte sich gefragt, ob es in seinem Leben wohl auch mal einen Judas geben würde, der ihn an die Bullen verpfiff. Er saß in der Imbissstube, rauchte eine Sweet Afton nach der anderen und ignorierte die verärgerten Blicke von den Nebentischen. Seine Gedanken drehten sich nur um eine Frage: wie sein großes Ding ausgehen würde. Er starrte hinaus in den Regen. Unsicherheit machte ihm zu schaffen. Irgendetwas in seinem Inneren ließ Alarmglocken schrillen. Die Entführung war ein Fehler gewesen. Einen Tag noch, beschloss er, als er aufstand und ging. Nur einen einzigen Tag noch, dann blasen wir die Sache ab. Moonface hatte trotz des Regens bereits um drei Uhr alle Kuverts abgeliefert. Er hatte den Aufmarsch der grauen Wolken über der Stadt beobachtet, die Erledigung seines Jobs aber dennoch nicht aufgeschoben. Tropfnass hatte er einen Umschlag bei den RTEFernsehstudios in Donnybrook abgeliefert, einen weiteren bei der Daily Post; die übrigen hatte er in die Briefkästen von Nachrichtenagenturen und am Garda-Revier in der Fitzgibbon Street geworfen. Er brachte das Motorrad und die Uniform in die 348

Garage zurück und schaute auf die Uhr. Super, dachte er. Zeit genug, noch was zu unternehmen. Er beschloss, einen Abstecher nach Hause zu machen und alle Utensilien einzupacken, die ein echter Fußballfan für ein so bedeutendes Spiel brauchte. Es konnte ja sein, dass er direkt von Kilcullen ins Stadion musste. Auf dem Weg nach Hause stieß Moonface auf einen seiner Kumpel, der im Eingang eines Pubs vor dem Regen Unterschlupf gesucht hatte. »He, Martin, hab' dich ja seit Tagen nicht gesehen. Wo treibste dich rum? Wie wär's mit 'nem Bier?« »Aber nur eins.« »Was machen die Geschäfte? Haste was am Laufen?« »Kann nich' klagen.« Moonface brach Tommy Malones erste goldene Regel und trank ein Bier. Und er hatte schon eine ganze Reihe gekippt, bevor er sich an das Verbot erinnerte. Aber da war es schon zu spät. Nun war es ihm egal. Sam Collins hielt es nicht mehr aus. Gordon O'Briens Kreischen füllte jede seiner Gehirnwindungen. Peggy Ryan versuchte verzweifelt, den Kleinen zu beruhigen, zu besänftigen, irgendwie still zu bekommen. Hauptsache, dieses Kreischen hörte auf. Dieses Kreischen vor Schmerzen, Hunger, Furcht, Panik und vermissten Wonnen an der mütterlichen Brust. Sam Collins konnte es nicht mehr ertragen. Und Peggy Ryans Selbstgespräche nervten ihn nicht minder. Okay, Gordon O'Brien brachte auch Peggy an den Rand des Nervenzusammenbruchs, aber der Balg unterstand nun mal ihrer Verantwortung, und es war ihre Aufgabe, das Baby ruhig zu bekommen. Als das Geschrei nicht aufhören wollte, riss Sam Collins der Geduldsfaden. Wütend ver349

langte er von Peggy, dass sie mit dem Baby eine Zeit lang das Cottage verließ. „Geh ein paar Minuten mit dem Scheißer spazieren, vielleicht hält er dann endlich die Fresse.« „Du bist ja verrückt, Sam. Es ist eiskalt da draußen.« „Das ist mir egal. Schaff ihn raus, bevor ich ihm eine runterhaue.« Der plötzliche, eiskalte Luftstoß raubte dem Baby den Atem, und es hörte zu schreien auf. Einen Herzschlag lang war Gordon tatsächlich still. Dann kam der Schmerz wieder, und er holte Luft und kreischte aufs Neue los. Seine Schreie schrillten über die stillen Felder des frostigen Februarnachmittags - die gellenden, unmissverständlichen Schreie eines Babys, das bei diesem Wetter nicht im Freien sein durfte. Auf einem Feld in der Nähe glaubte Brian O'Callaghan seinen Ohren nicht zu trauen. Ein Baby im Freien bei dieser Kälte? Er hatte gerade ein neugeborenes Lamm mit Stroh gesäubert und in alte Lumpen gewickelt und wollte es für die nächsten paar Tage in den Stall bringen. Dann waren die Babyschreie klar und deutlich über das Feld gedrungen. O'Callaghan legte das Lamm vorsichtig nieder und machte sich auf die Suche. Er duckte sich neben der Hecke, die seinen Grund und Boden von der Zufahrt zum Cottage trennte, und beobachtete, wie Peggy Ryan mit dem Baby auf und ab ging. Hin und her. Die Schreie hörten schließlich auf, und die vor Kälte zitternde Peggy hielt erschöpft inne. Himmel, die sieht für so ein kleines Kind aber ziemlich alt aus, dachte O'Callaghan. Er wollte sich schon zurückziehen, als er Sam Collins auf der 350

Zufahrt herankommen sah. Bis auf drei Meter näherte er sich ahnungslos O'Callaghans Versteck - nahe genug, dass dieser Collins' Gesicht genau sehen konnte. O'Callaghan kannte den Mann nicht und fragte sich, wer er sein mochte. Und die Frau. Und das Baby. Ihm kam der Gedanke, dass sie vielleicht zu der Entführerbande gehören könnten, und dass er die Gardai verständigen sollte. Dann dachte er an seinen unversicherten und unversteuerten Wagen mit den abgefahrenen Reifen, und das Risiko war ihm zu groß. Wenn er sich irrte, würde er nur unnötig die Aufmerksamkeit der Gardai auf sich lenken, und die Konsequenzen waren nicht abzusehen. Es war besser, er kümmerte sich um seinen eigenen Kram.

»Ich habe mir die 21-Uhr-Nachrichten angeschaut. Anschließend den Wetterbericht. Soweit ich mich erinnere, habe ich dann auf BBC umgeschaltet, zu einer Sendung über neueste medizintechnische Entwicklungen in den USA. Könnte sein, dass ich mir hinterher noch etwas angeschaut habe. Ah, jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe noch ein paar Minuten Fußball auf Sky Sports eingeschaltet. Manchester United gegen Sheffield, glaube ich. War aber ein langweiliges Spiel. Ich habe ziemlich schnell abgeschaltet und bin zu Bett gegangen.« Dean Lynch rekapitulierte sein Alibi für Kate Hamilton und ihr Team im Vernehmungsraum 2 der Garda-Zentrale Store Street. Nachdem man die Leiche von Schwester Higgins identifiziert hatte, brach die Hölle los. Kate Hamilton informierte Chief Superintendent Mike Loughry über die neueste Entwicklung des Falles. Loughry stellte sofort zwanzig weitere Polizisten zur Verfügung, und das neue Team fiel wie eine plündernde Armee 351

über die Zentralentbindungsklinik her. Die Gänge hallten wider von schweren Schritten. Türen, die bisher nicht geöffnet worden waren, wurden aufgerissen und Schreibtische durchsucht. Sämtliche Personen, deren Alibis in der Mordsache Mary Dwyer nicht wasserdicht waren, wurden aufgefordert, in der Garda-Zentrale Store Street zu erscheinen und bei den laufenden Ermittlungen zu helfen. Und die Art der Aufforderung ließ keinen Zweifel daran, dass die Zeit der Glaceehandschuhe vorbei war. Kate Hamilton hatte die Nase voll. Keiner von ihnen wusste bis jetzt von Schwester

Higgins'

Tod,

außer

Dean

Lynch,

der

im

Vernehmungszimmer die betroffene Unschuld spielte. „Und in der Nacht war niemand bei Ihnen?« Kate saß Lynch gegenüber und beobachtete ihn aufmerksam. Irgendetwas an dem Mann irritierte sie. Sie wusste nicht, was es war, doch es beunruhigte sie. Sein Hemdkragen war eine Nummer zu groß, sein Gesicht sah eingefallen aus. Er hatte eine truthahnartige Fleischfalte unter dem Kinn, und seine Haut war von einer auffallenden, ungesunden Blässe. Sein Haar war glatt nach hinten gekämmt. Über den Augenbrauen glänzten kleine Schweißperlen. Und er wurde von einem leichten Husten geplagt, der seine Antworten immer wieder unterbrach und Kate zur Weißglut trieb. „Nachts ist nie jemand bei mir. Ich lebe allein. Schon immer. Und wissen Sie was? Bis jetzt war es nie ein Problem für mich oder jemand anderen. Ich hoffe, Sie verlangen nicht von mir, dass ich heirate, nur damit es jemanden gibt, der mir für jedes Verbrechen, das in dieser Stadt verübt wird, ein Alibi verschaffen kann.« Er lächelte sein dünnes, irgendwie herablassendes Lächeln. Kate 352

versuchte dieses aufreizende Lächeln zu ignorieren, doch es gelang ihr nicht. Sie hatte das Protokoll der ersten Vernehmung studiert; an Lynchs Aussage gab es nichts zu bemängeln. Gar nichts. Und jetzt, bei dieser Vernehmung, war er überzeugend unbestimmt, wo man mit Unbestimmtheit rechnen musste, und überzeugend genau, wo man Genauigkeit erwartete. Er war selbstsicher und unbeeindruckt, wirkte ganz und gar nicht wie ein Mann, der zwei brutale Morde in einer Woche begangen hatte. Er hustete wieder. Es war ein tiefer, rollender, schleimiger Husten. „Haben Sie sich erkältet?« „Nein, hab' mir wohl einen Bazillus eingefangen. Ich nehme Antibiotika. Müsste in ein paar Tagen wieder auf dem Damm sein.« Er beobachtete Kate scharf. Seine Augen fixierten ihr Gesicht. Sein Blick bereitete Kate spürbares Unbehagen. „Wo waren Sie letzte Nacht?« Unvermittelt änderte sie ihre Taktik, in der Hoffnung, ihn aus dem Konzept zu bringen. Er war darauf vorbereitet. »Letzte Nacht?« Seine Stimme klang überrascht. »Ja, letzte Nacht. Zwischen zweiundzwanzig Uhr und ein Uhr früh.« Lynch schien verwirrt. Er lehnte sich in den bequemen Stuhl zurück und richtete den Blick wieder direkt auf Kate. Es sind diese Augen, dachte sie und versuchte dem Blick auszuweichen. Irgendetwas ist in diesen Augen, das mich abstößt. »Nun, soweit ich mich erinnere, war ich den größten Teil des Abends aus.« Es wurde still im Raum. Dowling und Doyle hörten beide der Vernehmung zu. 353

»Ach. Und wo?« »Ich war im Kino. Im Savoy. Ich habe mir die Spätvorstellung angeschaut. Der Pate, Teil eins. Der beste von den dreien.« »Wann hat die Vorstellung angefangen?« »Hm, das weiß ich nicht genau. Es muss so um halb elf gewesen sein. Ich war früh dort, um einen guten Platz zu ergattern. Es gibt keine

Kreditkartenbestellungen

für

die

Spätvorführungen,

deshalb musste ich früher dort sein.« »Und wann war die Vorführung zu Ende?« »Keine Ahnung. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich schätze, gegen halb zwei, zwei Uhr. Ich bin gleich nach Hause gefahren.« Frage folgte auf Frage. Die Antworten kamen selbstsicher, unangreifbar. Kate sah Dowling, der hinter Lynch stand, den Kopf schütteln. Das bringt uns nicht weiter. Machen wir Schluss. »Dr. Lynch, wären Sie zu einem Aids-Test bereit? Das Ergebnis eines Aids-Tests würde uns die Möglichkeit verschaffen, Sie von der Liste der Personen zu streichen, deren Umfeld wir recherchieren.« Lynch beugte sich vor und legte beide Hände vor sich auf den Tisch. Seine Bewegungen waren langsam und überlegt, und er fasste seine Erwiderung bedächtig in Worte. Kate beobachtete ihn genau. „Detective ... tut mir Leid, ich habe Ihren Namen wieder vergessen.« „Hamilton, Detective Sergeant Kate Hamilton.« Ihre Antwort klang nicht freundlich. „Detective Sergeant Hamilton.« Lynch sprach die Worte mit verzogenem Mund aus, als hätten sie einen widerlichen Beigeschmack. Er starrte Kate in die Augen, bis sie den Blick senkte. 354

„Ich habe nichts dagegen, mich Tests zu unterziehen, wenn es der Wahrheitsfindung dient. Besonders einen Test, der das Ergebnis hätte, dass ich von der Liste der - verdächtigen? - Personen gestrichen würde. Doch Professor Armstrong hat das Ärztepersonal angewiesen, Ihnen bei Ihren Ermittlungen nur noch im Beisein eines Anwalts behilflich zu sein. Um es klipp und klar zu sagen: Professor Armstrong hat uns geraten, nicht mit Ihnen zu kooperieren«, ergänzte Lynch mit einem kleinen Paukenschlag. Kate Hamilton war fuchsteufelswild. »Armstrong hat was?« Lynch lehnte sich im Stuhl zurück und war bemüht, ein selbstzufriedenes Grinsen zurückzuhalten. »Sie haben es doch gehört, Detective Sergeant. Professor Armstrong hat alle Ärzte angewiesen, nicht mit der Polizei zu kooperieren, was den Aids-Test angeht. Armstrong trifft die Personalentscheidungen in der Klinik. Er hat uns allen mehr oder weniger befohlen, die Kontakte zu Ihrem Team auf ein Minimum zu beschränken. Ich stelle mich gern für einen Bluttest zur Verfügung, aber nicht ohne die Zustimmung Armstrongs und auch nur, wenn ich mich zuvor habe beraten lassen.« Lynchs Aussage über die Behinderung der Ermittlungen durch Professor Patrick Armstrong unterbrach die Vernehmung gründlich. Kate besprach sich sofort mit Tony Dowling und beantragte John Doyle, Armstrong ausfindig zu machen. Auf Grund der Unterbrechung war Dean Lynch aus dem Schneider, denn das Hauptinteresse galt nun anderen Dingen. Als Kate zurückkam, klopfte es, und ein Mitglied des Untersuchungsteams öffnete die Tür einen Spalt. Er entdeckte Kate und bedeutete ihr, nach draußen zu kommen, wo sie hastig miteinander redeten. Kates Augen leuchteten auf, und sie ging ins Vernehmungszimmer 355

zurück und machte sich daran, ihre Unterlagen zu verstauen. Dean Lynch beobachtete sie und hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?« Er war ein Muster an Kooperationsbereitschaft. »Nein. Ich glaube, das ist im Augenblick alles, Dr. Lynch. Danke für Ihre bereitwillige Hilfe. Ich hoffe, wir haben Sie nicht zu sehr von Ihrer Arbeit abgehalten.« Lynch stand auf und schob den Stuhl mit den Beinen zurück. »Nicht der Rede wert. Tut mir Leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann. Ich pflege hier kaum Kontakte und erfahre deshalb auch nicht viel darüber, was in der Klinik vor sich geht.« Kate brachte mühsam ein Lächeln zu Wege. »Schon gut. Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Danke. Einer der Beamten wird Sie hinausbringen.« »Machen Sie sich keine Mühe. Ich finde den Weg.« Er hatte bereits die Hand an der Tür, als Dowling einen letzten Schuss ins Blaue versuchte. »Ah, Dr. Lynch, hat Ihnen jemand irgendwann erzählt, auf welche Weise Mary Dwyer ermordet wurde? Ich meine, haben Sie etwas über die genaueren Umstände ihres Todes gehört?« Lynch hielt inne. »Nein. Ich habe nicht gefragt, und für Krankenhausklatsch interessiere ich mich nicht. Ich habe niemanden gefragt, und auch mich hat niemand gefragt.« Dowling strich sich nachdenklich übers Kinn. »Niemand?« »Genau. Niemand.« Lynch blickte auf Dowling, dann auf Kate. »Ist das alles?« Dowling nickte. »Danke, Dr. Lynch.« Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, drehte Kate sich zu Dowling um. »Er hat sich gemeldet. Tom Morgan hat sich ge356

meldet«, erklärte sie aufgeregt. »Wann?«, entfuhr es Dowling. »Gerade eben. Sein Anwalt rief an und sagte, dass er gern kommen würde, um freiwillig eine Aussage zu machen.« Das wird interessant, dachte Kate, verdammt interessant. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, während sie weiter ihre Sachen zusammenpackte. Doch ihr Lächeln schwand, als sie an Dean Lynch dachte. Irgendetwas an diesem Mann beunruhigte sie. Sie verdrängte ihn eine Zeit lang aus ihren Gedanken.

Dean Lynchs Gedanken dagegen beschäftigten sich mit Kate Hamilton, als er das Gebäude verließ. Du bist wirklich ein kleines Genie, Dean, alter Junge. Er zwängte sich an einer Gruppe von Frauen vorbei, die einen uniformierten Garda mit Beschwerden bedrängten. Der Garda zog eine der Frauen zur Seite, um für Dean Lynch den Weg freizumachen. Als Lynch seinen Wagen erreichte, wurde gerade ein verärgert protestierender Professor Patrick Armstrong unsanft die Stufen von der Zentralentbindungsklinik zu einem Einsatzwagen hinuntergeführt, um die kurze Fahrt zur Garda-Zentrale Store Street anzutreten. Dort würden sie ihn kräftig in die Mangel nehmen, bevor sie ihn wieder laufen ließen. Aber nicht, ehe ein Fotograf und ein Reporter der Evening Post zur Stelle waren, um diese Peinlichkeit festzuhalten. Dean Lynch sorgte dafür, dass keine alte Rechnung offen blieb.

36 17.17 Uhr Beechill Jack McGrath kam keinen Schritt weiter. Die Ausbeute an Informationen war gleich null. In der gesamten Unterwelt wurde 357

systematisch das Unterste zuoberst gekehrt, doch niemand schien auch nur die geringste Ahnung zu haben, wer Gordon O'Brien entführt hatte, oder die leiseste Idee, wohin er gebracht worden war. Die Jaguar-Truppe hatte sich jeden großen und mittelgroßen Gangster und Staatsfeind im Land vorgenommen. Ihre Kollegen vom RUC in Nordirland hatten hervorragend mit den JaguarLeuten zusammengearbeitet und eine Reihe von Kriminellen und Paramilitaristen, die für eine solche Untat in Frage kamen, verhaftet und vernommen. Aber auch dort kam nichts dabei heraus. Kleine Fische in Dublin und einigen größeren Städten wie Cork, Galway und Limerick wurden aufgegriffen und ausgequetscht. Ohne Ergebnis. McGrath und sein Team kamen zu dem Schluss, dass die Entführer weder zu den ganz großen Haien noch zu den ganz kleinen Fischen gehören konnten. Die Unterwelt war so gründlich durcheinander gewirbelt worden, dass sich längst jemand verplappert hätte. Nein, es musste eine Gelegenheitsgang sein, eine Bande, deren Mitläufern nicht klar war, worauf sie sich einließen, und die inzwischen womöglich das große Zittern bekommen hatten, da alle gegen sie waren: Öffentlichkeit, Polizei und sämtliche großen und kleinen Ganoven. Vielleicht wurde ihre Panik so groß, dass sie sich aus dem Staub machten und das Baby zurückließen. Es einfach im Stich ließen. McGraths Albtraum war, dass man Gordon O'Brien in irgendeinem Graben oder verlassenen Schuppen tot auffand, während die Bande wieder in ihren Unterwelt-Schlupflöchern verschwand. Alle zwölf Stunden wertete die Jaguar-Truppe die neuesten In358

formationen aus. Nichts. Die Justizministerin meldete sich fast stündlich bei der Leitstelle, und sie wurde von Anruf zu Anruf aufgebrachter. Jack McGrath erkannte, dass er Big Harrys Hilfe brauchte, um weiterzukommen: einen Namen, einen Akzent, einen noch so winzigen Hinweis auf die Täter. Erneut rief er in Beechill an und bat um ein Gespräch. »Bitte, denken Sie ganz genau nach. Ist Ihnen irgendetwas an den beiden Männern aufgefallen?« Harry O'Brien saß in seinem Arbeitszimmer in dem Stuhl, an den man ihn gefesselt hatte, als sein Sohn entführt worden war. Inzwischen sah Big Harry schon viel besser aus. Er schrie und tobte auch nicht mehr. Er hatte das Ruder wieder in der Hand. Kr wirkte zwar übernächtigt und von Sorgen geplagt, aber er ließ sich nicht unterkriegen. Er trug eine saloppe Hose zu einem Angora-Pullover über einem Viyella-Hemd. Sein Haar war ordentlich gekämmt, und ein wieder erwachter Funke der Tatkraft schimmerte in seinem Blick. Es war unschwer zu übersehen, dass es ihn viel Mühe kostete, diesen Eindruck aufrechtzuerhalten, doch jeder sollte wissen, dass er die Fäden wieder in der Hand hielt. Theo Dempsey hatte rund um die Uhr Posten am Telefon bezogen, um auf die Anweisungen der Entführer zu warten. Sandra saß auf dem Ledersofa und ließ kein Auge von den Männern. Ihr hübsches Gesicht war von Verzweiflung, Furcht und Schlafmangel gezeichnet. Für sie waren die Würfel gefallen. Sie würde nicht dulden, dass jemand jetzt noch dazwischenfunkte und die Lösegeldzahlung verhinderte. Sie wollte ihr Baby wiederhaben, bevor es zu spät war. 359

»Mr. O'Brien«, bat McGrath noch einmal, »bitte, versuchen Sie uns zu helfen! Ist Ihnen etwas, und sei es noch so eine Kleinigkeit, an den beiden Männern aufgefallen?« Harry O'Brien hob den Kopf und begegnete entschlossen Mc-Graths Blick. »Nein.« Sein Tonfall war fest und unerschütterlich, seine Haltung beherrscht. Doch seine Gedanken waren noch immer in Aufruhr, seine Empfindungen eine Mischung aus Angst, Scham, Müdigkeit und Resignation. Es fiel ihm schwer, an irgendetwas anderes zu denken als an Gordon. Sandras hilfloses Weinen hatte ihm Nacht für Nacht den Schlaf geraubt. Er hatte kaum etwas essen können. Die Schmerzen in der Brust waren so schlimm geworden, dass ein Arzt gerufen werden musste. Ein EKG bereinigte die schlimmsten Sorgen: Big Harry hatte keinen Herzanfall, nur eine Überdosis Stress. Der große Mann wusste allerdings, dass er nicht viel mehr ertragen konnte. Er wollte helfen, die Hurensöhne dingfest zu machen, die ihm und seiner Familie so viel Leid zugefügt hatten, aber das Maß war voll. Jetzt wollte er nur noch sein Baby wieder. „Sie haben ausgesagt, dass einer der beiden ein etwas kleinerer Mann war«, versuchte McGrath es noch einmal. »Und nur dieser kleinere Mann hat geredet?« Harry nickte bestätigend, dann verneinend, dann wieder bestätigend. Dann zuckte er die Schultern. »Ich kann mich nicht erinnern.« »Was hat er getan oder gesagt? Wie war er angezogen? Erinnern Sie sich an irgendetwas, ganz gleich wie unwichtig es Ihnen erscheint? Seine Schuhe? Sein Haar? Roch er nach Tabak? Bitte, konzentrieren Sie sich, Mr. O'Brien. Wenn Sie uns nicht helfen, finden wir diese Bande nicht. Sie haben die Männer gesehen.« 360

Schweigen. McGrath warf die Hände hoch und wandte sich zum Gehen. Er war wütend, fühlte sich hilflos. Zum ersten Mal in seinem Polizistenleben hatte er das Gefühl, versagt zu haben. Er ging langsam zur Tür und war schon halb draußen, als Big Harry doch noch redete - was später alle übereinstimmend nur als ein Flüstern in Erinnerung hatten. »Er hätte mich beinahe erschossen.« Im Zimmer war es plötzlich totenstill. Keiner wagte sich zu rühren oder zu reden. »Der kleinere Mann hat mir eine Pistole an den Kopf gedrückt.« Big Harry legte den Zeigefinger an die Stelle, als könnte er das Metall immer noch spüren. »Er hat den Hahn gespannt und abgedrückt. Ich dachte, jetzt ist es aus. Aber die Waffe war nicht geladen. Ich hörte nur ein Klicken.« Er krümmte den Mittelfinger wie beim Abdrücken einer Waffe, während sein Zeigefinger den Lauf darstellte, der noch immer auf die Mitte der Stirn gerichtet war. »Dann sagte er: Beim nächsten Mal passiert's.« McGrath traute seinen Ohren nicht. Er konnte sein Glück nicht fassen. »Wiederholen Sie das, Mr. O'Brien«, bat er so ruhig er konnte, um Big Harry nicht durcheinander zu bringen und sich selbst davon abzuhalten, voreilige Schlüsse zu ziehen. »Was genau hat er getan?« »Der Kleinere drückte mir eine Pistole an den Kopf.« Big Harry begleitete seine Worte abermals mit denselben Bewegungen und richtete den Zeigefinger auf die Stirn. Im Zimmer war es wieder totenstill geworden. Sandra O'Brien wagte kaum zu atmen, um Big Harrys Konzentration nicht zu stören. Sie starrte mit offenem Mund auf Jack McGraths angespanntes Gesicht. »Er spannte den Hahn und drückte ab. Bei Gott, ich dachte, das war's. Aber die 361

Waffe war offenbar nicht geladen. Da war nur eine Art klickendes Geräusch«, schloss er und blickte zu Mc-Grath hoch. »Glauben Sie, das ist wichtig?« „Wie waren nochmal seine Worte? Sie sagten eben: >Beim nächsten Mal passiert es<, nicht wahr?« McGrath hatte die Augen geschlossen; die Lider zuckten vor Nervosität. Big Harry überlegte fast eine Minute mit gerunzelter Stirn; dann nickte er. »Ja, ich bin ganz sicher. So etwas vergisst man nicht. Er sagte: >Beim nächsten Mal passiert's.<« Jack McGrath wusste, es war ein Volltreffer. »Das war Tommy Malone. Das ist Tommy Malones Markenzeichen. Damit haben wir ihn am Wickel! Damit haben wir ihn schon das letzte Mal gekriegt.« McGrath konnte seine Begeisterung kaum zügeln. »Der verdammte Mistkerl.« Er griff nach dem Telefon auf dem Schreibtisch und wählte zehn Zahlen in rascher Folge. Seine Aufregung war ansteckend, und jeder im Raum horchte atemlos. Sandra lief zu Big Harry, küsste ihn auf die Stirn, nahm seine Hände in die ihren und sank neben ihm auf die Knie. Ihre Lippen bewegten sich in lautlosem Gebet. Lieber Gott, bitte gib mir mein Baby wieder. Sie spürte, dass ihre Hände gedrückt wurden. Sie blickte hoch und sah, dass ihr Mann leise weinte. Zärtlich strich sie über seine Hände und betete weiter. Lieber Gott, bitte, lieber Gott, gib uns unser Baby wieder. Jack McGrath bekam eine Verbindung und erteilte mit hektischer Stimme seine Anordnungen. »Geht sofort die Listen der Personenüberprüfungen durch und vergleicht sie mit den Ergebnissen der Jaguar-Truppe. Gesuchte Person ist Thomas Malone. Wenn unter dem Namen nichts zu finden ist, versucht es mit Tommy Malone.« 362

Er wandte den Zuhörern den Rücken zu und begann, die Hand an der Sprechmuschel, ebenfalls lautlos zu beten. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen; dann aber meldete die Stimme am anderen Ende der Leitung sich wieder und bestätigte seine Vermutungen. Es war die Antwort, um die er gebetet hatte. Thomas Malone stand nicht auf der Liste der Personen, die im Zusammenhang mit der Entführung überprüft worden waren. Er war einer von zweiunddreißig bekannten Kriminellen, die man noch nicht ausfindig gemacht hatte. Malone wurde vor kurzem in Hals Billardhalle gesichtet. Sie hatten Hal über kriminelle Aktivitäten und Treffen in seinen Räumlichkeiten ausgefragt, doch er war wie üblich mürrisch und verstockt gewesen. »Gebt sofort eine Fahndung nach Tommy Malone raus. Verständigt sämtliche Mitglieder der Jaguar-Truppe. Ich erwarte sie in einer Stunde im Garda-Revier an der Pearse Street«, rief McGrath. Er nahm sich nicht die Zeit, den wie erstarrt lauschenden Anwesenden zu erklären, was los war. Bevor sie ihn mit Fragen bestürmen konnten, hatte er das Zimmer verlassen und war in seinen wartenden Einsatzwagen gestiegen. Die Jagd auf Tommy Malone hatte begonnen.

Genau in diesem Augenblick stand Malone an der Heuston Station und wartete auf Moonface. Er war in denkbar schlechter Verfassung. Er hatte genau um fünfzehn Uhr mit Theo Dempsey telefoniert und gerade die ersten Anweisungen erteilt, als Dempsey ihn unterbrach. »Wir haben das Geld noch nicht.« »Was soll das heißen, ihr habt das Geld nicht?«, hatte Malone in den Hörer gebrüllt. Er verlor völlig die Beherrschung. »Wenn ihr 363

den kleinen Scheißer lebend wiedersehen wollt, schafft die verdammten Möpse ran.« »Wir versuchen alles, so schnell wie möglich heranzukommen«, versuchte Dempsey zu erklären. Er spürte den Zorn am anderen Ende der Leitung. »Aber unseren Banken ist laut gerichtlicher Verfügung untersagt, mehr als fünfzigtausend Pfund auszuzahlen. Das ist kein Trick. Bitte, Sie müssen mir glauben. Harry O'Brien möchte sein Kind wohlbehalten zurück, und er ist bereit zu zahlen, aber die Banken können nichts herausgeben. Da liegt das Problem. Wir bekommen Geld von einem Auslandskonto in Jersey, aber das dauert mindestens noch einen Tag. Sie müssen uns noch einen Tag Zeit geben!« Tommy Malone stand zitternd vor Kälte und Furcht in der Telefonzelle. Draußen rollten Autos und Ferntransporter langsam durch die engen Straßen an den Kais. Malone wünschte sich, in einem der Wagen zu sitzen und irgendwohin zu fahren, ganz gleich, wo. Überall hin - nur nicht mit diesen Neuigkeiten zurück zum Cottage in Kilcullen! »Richte deinem Boss von mir aus, er kann sein Baby aus dem Fluss fischen, wenn das Geld morgen nicht da ist, klar? Alles verstanden?« „Alles verstanden.« »Ich ruf morgen um dieselbe Zeit wieder an. Wenn die Knete dann nicht da ist, steck' ich Harry O'Briens Balg in 'nen Sack und werf ihn in die Liffey.« Er legte auf und fluchte. Und ich will verdammt sein, wenn ich es nicht tue, dachte er wütend. Malone war schon in miserabler Verfassung gewesen, bevor er zur Heuston Station kam, aber es wurde noch schlimmer, als Moonface nicht rechtzeitig für den 16.45-Uhr-Zug nach Newbridge erschien. Auch nicht für den 17.20-Uhr-Zug. Kurz nach 364

17.40 Uhr kam Moonface schließlich in die Station gewankt. Er grölte »Oleee, ole-ole-oleee!«, und trug ein Hemd der irischen Nationalelf unter einem Trainingsanzug der irischen Mannschaft und einem Tuch mit den irischen Farben. Auffälliger wäre kaum möglich gewesen. »Ole, ole, oleee«, grölte Moonface Passanten zu. Malone stöhnte. Moonface sah sofort, dass sein Boss alles andere als begeistert war. »Keine Panik, Tommy. Die englischen Arschgesichter kriegen eins auf die Nudel. Oleee, ole-ole-oleee!« So ging es die ganze Fahrt nach Newbridge. Die Leute grinsten über den zu groß geratenen Einfaltspinsel. Wahrscheinlich hätten sie nicht gegrinst, wenn sie gewusst hätten, dass der beschränkt wirkende Bursche ein skrupelloser Killer sein konnte, es kam sogar so weit, dass ein uniformierter Garda Moonface ermahnte, sich anständig aufzuführen. Großer Gott, stöhnte Tommy Malone innerlich, die Bullen suchen im ganzen Land nach ihm, und er blökt hier rum wie ein besoffener Matrose. Doch Tommy Malones Zorn war nichts im Vergleich zu Sam Collins' Mordlust, als sie zum Cottage zurückkamen. »Dieser hirnverbrannte Idiot!« Er wandte sich an Malone. »Konntest du nicht besser auf ihn aufpassen?« »Lass mich in Ruh', Sam. Lass mich einfach in Ruh'.« »Bist du noch ganz dicht? Lass mich in Ruh'.« Collins äffte Malones Dubliner Akzent nach. Die Verbindung seiner nordischen Sprachfärbung mit dem misslungenen Versuch, wie ein Dubliner zu reden, ließ bei Malone den Kragen platzen, und er schlug nach Collins, der sich rechtzeitig duckte. »Ich polier' dir die Fresse«, brüllte Malone und packte Collins so heftig am Hemd, dass ein reißendes Geräusch zu vernehmen war. Moonface versuchte halbherzig dazwischenzufunken, wurde 365

jedoch von Collins, der sich Malone drohend entgegenstellte, gegen das Waschbecken geschleudert. Peggy Ryans schrille Stimme ließ die Männer innehalten. »Ihr verdammten Idioten! Muss ich euch erst Verstand in die hohlen Köpfe prügeln, dass ihr aufhört, hier rumzustreiten? Dem Kleinen geht's nich' gut. Ich glaub', er braucht 'nen Arzt.« Mit finsterer Miene ließ Malone Collins' Hemd los. Collins blickte nicht minder finster. »Reiß dich am Riemen, Tommy«, rief Peggy wütend, selbst überrascht von ihrem Ausbruch. »Wir kriegen keinen Penny, wenn dem Baby was passiert.« Das A-Team brach allmählich auseinander. Noch war es nicht ganz so weit, aber die Zeichen standen auf Sturm. Der Streit mit Malone brachte für Sam Collins das Fass zum Überlaufen. »Mir reicht's«, knurrte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich hab' genug von dieser Gefrierkammer und dem kreischenden Balg.« Der bierselige Moonface stieß ins gleiche Horn. »Sam hat Recht, Tommy. Ich hab' auch die Schnauze voll von der Versteckspielerei.« Moonface wünschte sich, dass alles vorbei sein möge, sodass er endlich zu seinem heiß geliebten Spiel gehen konnte. »Oleee, ole-ole-ole! Rücken die endlich mit der Knete rüber?« Malone hatte diese Frage gefürchtet. »Nein, noch nicht. Ich hab' sie angerufen, aber Dempsey sagte, dass sie vor morgen nicht soweit sind. Könnt ihr nicht noch bis morgen warten? Wenn alles vorbei ist, lachen wir über den ganzen Scheiß.« „Die werden nicht zahlen, Tommy«, rief Collins wütend. »Es war von Anfang an ein Fehler. Wir geben denen den Balg zurück und machen 'ne Fliege, solange wir noch können.« „Genau«, pflichtete Moonface bei. »Ich will seh'n, wie die englischen Nulpen eins auf 'n Sack kriegen. Weg mit dem Balg. Ir366

land! Irland!« Er tat so, als würde er mit dem rechten Fuß einen Elfmeter schießen und stieß die Faust in die Höhe, als er im Geiste den Ball im Netz zappeln sah. »Tooor! Drin isser!« Collins blickte ihn voller Verachtung an. »Blasen wir die Sache ab, Tommy.« Tommy Malone wusste, dass er beim derzeitigen Stand der Dinge keine Gegenargumente vorbringen konnte. Das ganze Land war hinter ihnen her, und nun machte sogar sein A-Team Front gegen ihn. »Was meinst du, Peggy? Wo ist Peggy ? Peggy, wo bist du?« Peggy war in einem der Schlafräume und blickte auf das Baby. Malone kam an die Tür. »Komm rüber, Peggy, wir müssen was besprechen.« Peggy blickte besorgt auf. »Mit dem Baby stimmt was nicht, Tommy. Es sieht nicht gut aus.« Gordon O'Brien ging es wirklich nicht gut, gar nicht gut. Er nahm nichts zu sich, sein Atem ging zu schnell und flach, und er wurde zunehmend teilnahmslos. In beiden Lungenspitzen hatten sich Bakterien eingenistet, die sich rasch vermehrten. Gordon O'Brien hatte eine beginnende Lungenentzündung, die er dem steten Einatmen von Tommy Malones Zigarettenrauch und dem halbstündigen Spaziergang in der eiskalten Luft verdankte. Brian O'Callaghan hatte Recht gehabt. Ein kleines Baby hätte in dem kalten Wetter nicht draußen sein dürfen, und Gordon O'Brien war ein kleines Baby — ein Baby, das am Ende war. Es war seines kurzen Lebens bereits müde. Ich bin zu müde und zu krank, um weiterzuleben, hätte Gordon gesagt, wenn er gekonnt hätte. Die Evening Post hatte einen neuen Knüller. Brutaler Mord an Krankenschwester. Die Zeitung brachte einen Exklusivbericht 367

und Fotos, darunter ein halbseitiges, farbiges Bild vom Tatort während der Ermittlungen - komplett mit gelber Absperrung, weiß gekleideten Männern der Spurensicherung und fotografierendem Dan Harrison. Ein Leitartikel hatte den moralischen Zustand der Nation aufs Korn genommen und sparte nicht mit beißendem Kommentar über Entführer, Mörder, Drogenbarone und Konsorten. Es gab auch ein viertelseitiges Foto von der Zentralentbindungsklinik und darüber die dramatische Schlagzeile: Lauert der Mörder noch in diesen Mauern? Das fragten sich mehr oder weniger auch viele besorgte Patienten auf den Stationen.

Sie

sahen

Ärzte,

Schwestern,

Pfleger

und

Sicherheitsleute nun mit anderen Augen. Einige Mütter zählten zwei und zwei zusammen und zogen ihre Schlüsse. Der Sturm konnte jeden Moment losbrechen. Um 18.20 Uhr öffneten die Gardai gewaltsam die Tür von Tommy Malones Haus am Anderson's Quay. Tommy hatte solche Razzien in der Vergangenheit zu oft erlebt, als dass er noch den Fehler begangen hätte, belastendes Material in seinen vier Wänden aufzubewahren. Schon während die Männer Milchpackungen ausleerten und den Inhalt inspizierten, Bodenbretter aufstemmten und den Dachboden durchsuchten, war Jack McGrath klar, dass er hier nichts finden würde. Er ließ fünf seiner Leute zurück, um weiterzustöbern, und fuhr mit sechs Männern der Jaguar-Einheit zu Hal's Emporium, denn er wusste, dass Malone dort häufig anzutreffen war. Hal stand an einen Billardtisch gelehnt und bewunderte den Hintern einer Spielerin, als Jack McGrath und seine Männer hineinplatzten, wobei zwei den Türsteher unter den Achseln gepackt hielten. Jack McGrath stürmte direkt auf Hal zu, der 368

zurückwich, als ihm klar wurde, dass McGrath es auf ihn abgesehen hatte. Hal nahm die Beine in die Hand, rannte jedoch zwei Jaguar-Leuten in die Arme, die ihn schnappten und kurzerhand nach draußen verfrachteten. Eine Schar von Billardspielern versammelte sich am Fenster und schaute zu, wie Hal in einen wartenden Polizeiwagen geschoben wurde. „Was wollt ihr von mir?«, rief Hal und versuchte auf der anderen Seite aus dem Wagen zu klettern. Eine Faust packte ihn an den Haaren und zog ihn wieder ins Fahrzeug. „Ich möchte dir Gelegenheit geben, uns bei den Ermittlungen im Entführungsfall Gordon O'Brien ein wenig zur Hand zu gehen«, sagte Jack McGrath höflich und mit beherrschter Stimme. Dann packte er Hal am Kragen und schrie: »Wir wissen es schon, Hal, also erzähl uns keinen Scheiß. Tommy Malone hat das Ding gedreht. Das wissen wir, Hal, und die Sache ist ein paar Nummern zu groß für Tommy. Zu groß für jeden, der bei Verstand ist. Wir reden hier nicht von Hehlerei oder Bankraub oder Drogenhandel oder so was. Wir reden vom größten Verbrechen aller Zeiten.« Er hielt eine Zeitung vor Hals Gesicht. »Du hast bestimmt schon gelesen, was in den Zeitungen steht, Hal. Du weißt, dass jeder Köter im Land dieser Bande an den Arsch will. Und du hast nur eine Chance, deinen eigenen Hintern zu retten, entweder du hilfst uns, oder wir verbreiten die gute Neuigkeit, dass du von Anfang an dabei warst.« Alles Blut wich aus Hals Gesicht. »Wie sieht's aus, Hal? Da draußen warten eine Menge schlimmer Typen darauf, jemandem das Licht auszuknipsen, weil sie großen Ärger am Hals haben. Eine Menge harter Jungs würden sich liebend gern die Hände schmutzig machen, um uns endlich 369

wieder los zu sein. Wenn diese Burschen erfahren, Hal, dass du in der Sache mit drinsteckst, hast du die längste Zeit Billard gespielt. Dann spielst du bald Harfe, aber nicht im Nationalorchester.« Hal identifizierte Moonface und Sam Collins aus einer Sammlung von Karteifotos des Zentralen Erkennungsdienstes am Harcourt Square. Wer die Frau war, wusste er allerdings nicht. „Ich hab' keine Ahnung. Verdammt, ich weiß es wirklich nicht.« McGrath glaubte ihm. Was er hatte, reichte ohnehin. Er nahm die drei Fotos mit zum Phoenix Park zu einer eilig einberufenen Lagebesprechung mit Commissioner Quinlan. Die Einsatzwagen jagten heulend durch den Abendverkehr. Quinlan zögerte

nicht.

»Gebt

die

Fotos

der

Presse

und

den

Fernsehsendern. Sie müssen in die 21-Uhr-Nachrichten. Ich rufe inzwischen den Intendanten von RTE an und informiere ihn. Ich verständige auch Alice Martin, sodass sie auf Rückfragen von RTE die Sachlage bestätigen kann. Verlieren Sie keine Zeit. Großer Gott, beeilen Sie sich!«

37 18.37 Uhr »Ich bin John Buckley von der Anwaltskanzlei Buckley und Partner. Hier ist meine Karte. Dr. Tom Morgan hat mich beauftragt, ihn heute Abend hier zu vertreten. Ich möchte als Erstes zu Protokoll geben, dass Dr. Morgan sich freiwillig zu dieser Befragung bereit erklärt hat. Um Klarheit zu schaffen, habe ich 370

meinem Mandanten nach eingehendem Gespräch geraten, rückhaltlos über jeden seiner Schritte an dem fraglichen Abend Auskunft zu geben, sodass Sie ihn dann wohl aus dem Kreis der Verdächtigen im Mordfall der Laborassistentin Mary Dwyer ausschließen können. Ich gehe doch recht in der Annahme, dass dies Gegenstand der Befragung ist?« Der Anwalt lächelte, wobei er eine Reihe unregelmäßiger Zähne entblößte. Dr. Tom Morgan trug - statt seiner gewohnten Armani- oder Hugo-BossKollektion - einen dezenten Nadelstreifenanzug, dazu ein einfaches weißes Hemd und eine blau und weiß gemusterte, schlichte Krawatte. Sein gut aussehendes Gesicht verriet einen Hauch Anspannung. Er wirkte so unauffällig wie die Kleider, die er trug. John Buckley saß neben ihm, ein kleiner, dicklicher Mann in einem Anzug, aus dem er längst herausgewachsen war. „Meinem Mandanten ist bewusst, dass seiner Person das besondere Interesse der Mordkommission gilt.« Buckley legte einen Stapel Papiere auf den Tisch, dazu einen dicken juristischen Wälzer, aus dem mehrere Lesezeichen in Gestalt dünner weißer Papierstreifen ragten. »Bevor Sie meinem Mandanten Fragen stellen, möchte ich in seinem Auftrag eine kurze Erklärung abgeben.« Kate Hamilton runzelte die Stirn. Schwester Higgins war noch mit keinem Wort erwähnt worden. Kate beschloss, es vorerst dabei bewenden zu lassen. Dowling und Doyle saßen hinter Morgan und seinem Anwalt. - Dr. Morgan hat dem vernehmenden Detective falsche Auskünfte darüber erteilt, wo er sich in der Nacht von Dienstag den 11. auf Mittwoch den 12. Februar aufgehalten hatte.« Buckley las einen vorbereiteten Text von einem Blatt. »Dr. Morgan ist 371

verheiratet und hat drei kleine Kinder. Seine Ehe ist nicht glücklich, und dies schon seit einigen Jahren. Mrs. Morgan ist Alkoholikerin und nach mehreren Entziehungskuren immer wieder rückfällig geworden. Derzeit befindet sie sich in einer besonders schlimmen Phase.« Er hüstelte. Morgan starrte auf den Tisch. Seine Miene war ausdruckslos. »In der fraglichen Zeit war Dr. Morgan ab etwa 21 Uhr mit einer befreundeten Person zusammen und verbrachte die ganze Nacht mit ihr.« »Wo? Und mit wem?«, fragte Kate. Morgans Blick richtete sich abrupt auf sie, kehrte jedoch ebenso abrupt zu einem ausgesprochen faszinierenden Kratzer an einer Ecke der Schreibtischplatte zurück. „Dr. Morgan befand sich die ganze Nacht mit einer Person holländischer Nationalität in Zimmer 111 des Gresham-Hotels.« „Der Name der Dame?« Huckley hüstelte erneut. »Es war ein Herr. Sein Name ist Jan Pietersen. Er ist ein alter Freund von Dr. Morgan. Sie treffen sich häufig, wenn Mr. Pietersen geschäftlich in Dublin weilt. Am fraglichen Abend trafen sich Mr. Pietersen und Dr. Morgan in der Bar des Gresham-Hotels und nahmen einige Drinks. Dann aßen sie zu Abend und begaben sich anschließend auf ein paar weitere Drinks in Mr. Pietersens Zimmer.« Kate versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Nicht die Spur von Erstaunen war in ihrer Miene zu lesen. Hinten saßen Dowling und Doyle mit offenem Mund. Buckley hielt kurz inne; dann fuhr er fort: »Dr. Morgan hatte zu viel getrunken, um nach Hause zu fahren. Er blieb über Nacht in Mr. Pietersens Zimmer. Wir haben den ganzen Tag versucht, Mr. 372

Pietersen zu erreichen, um ihn zu bitten, diese Angaben zu bestätigen, aber sein Büro in Amsterdam informierte uns, dass er geschäftlich wieder außer Landes sei und erst in zwei Wochen zurückerwartet werde.« Er nahm ein weiteres Blatt in die Hand. »Offenbar ist er an der amerikanischen Westküste unterwegs. Wir haben Faxe an alle Reiseziele Mr. Pietersens in den USA geschickt, bis jetzt aber keine Antwort erhalten.« Buckley hielt erneut inne und blickte von seinen Papieren auf. Kate wahrte ihren buddhagleichen Gesichtsausdruck. »Mein Mandant weiß«, fuhr Buckley fort, »dass es unklug von ihm war, seinen wahren Aufenthaltsort zu verschweigen, aber er wollte auf seine Frau und seine Kinder Rücksicht nehmen. Überdies wollte er nicht darauf aufmerksam machen, dass er selbst zu betrunken zum Autofahren war.« Buckley blickte auf und lächelte schwach. »Ich meine, es ist schon schlimm genug, eine betrunkene Person im Haus zu haben.« Buddha Hamilton sagte nichts. »Dr. Morgan möchte sich für sein Verhalten entschuldigen und hofft, dass Sie es - in diesem Licht betrachtet - verstehen. Nicht, dass Sie es akzeptieren sollen, aber eben vielleicht doch verstehen.« Er hielt inne. »Das ist nicht fürs Protokoll, Detective Sergeant. Es ist unmöglich, völlig unmöglich, dass Dr. Morgan irgendetwas mit dem Tod dieses jungen Mädchens zu tun haben könnte. Wir haben Mr. Pietersen zwar heute nicht erreichen können, doch das wird zu einem späteren Zeitpunkt geschehen. Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber in absehbarer Zeit. Und er wird Dr. Morgans Aussagen bestätigen können. Und wenn das der Fall war, ist eindeutig bewiesen, dass Dr. Morgan zum Zeitpunkt des Mordes gar nicht im Krankenhaus gewesen sein konnte.« 373

Buckley lehnte sich zurück, merkte, wie unbequem der Stuhl war, und beugte sich wieder vor. Tom Morgan hatte einen neuen Kratzer in der Schreibtischplatte entdeckt, dem nun seine ungeteilte Aufmerksamkeit galt. „Gibt es noch Fragen, die Sie meinem Mandanten jetzt stellen möchten?« Kate bückte sich, hob eine dicke braune Papiertüte auf und stellte sie auf den Tisch. Buckley und Morgan starrten wie hypnotisiert darauf. Die Tüte wurde gedreht, sodass die Öffnung Morgan zugewandt war. Er versuchte, gar nicht darauf zu achten. Dr. Morgan, wo waren Sie zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr letzte Nacht?« Buckley runzelte verwundert die Stirn. »Verzeihen Sie, aber was hat ...?« «Hören Sie, Mr. Buckley, ich würde es begrüßen, wenn Sie mich nicht unterbrechen. Schließlich war es Ihr Vorschlag, dass wir ihrem Mandanten jetzt Fragen stellen.« „Nur zu dem Vorfall vom Dienstag, dem 11. Februar.« »Von dieser Bedingung war nicht die Rede, Mr. Buckley, und wir ermitteln in einer weiteren Sache, über die wir uns gern mit Dr. Morgan unterhalten würden.« „Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich mich erst mit meinem Mandanten beraten. Ich hatte keine Ahnung, dass es hier um etwas anderes geht als die Ereignisse vom vergangenen Dienstag. Dr. Morgan hat sich zu einer freiwilligen Aussage entschlossen, um zur Klärung des Vorfalls vom letzten Dienstag beizutragen.« „Mord, Mr. Buckley. Der >Vorfall<, wie Sie es so dezent bezeichnen, war ein außergewöhnlich brutaler Mord.« Kate blickte auf die Uhr. »Sind Sie noch über einen anderen Vorfall 374

informiert, über den Ihr Mandant hier und jetzt mit uns sprechen möchte?« Sie hob die Tüte ein wenig, bis ein durchsichtiger Beutel zur Aufbewahrung von Beweismaterial herausglitt, der ein dickes medizinisches Fachbuch enthielt. Buckley starrte darauf. »Ich möchte mich einen Moment mit meinem Mandanten beraten, wenn ich darf.« Kate nahm ihre Uhr ab und legte sie vor sich auf den Tisch. »Sie haben fünf Minuten, keine Sekunde länger. Doch bevor Sie Ihr Gespräch beginnen ... vielleicht möchte Dr. Morgan einen Blick auf den Inhalt dieses Beutels werfen?« Buckley blickte forschend auf Morgan, doch dieser war wie betäubt. Kate holte medizinische Schutzhandschuhe aus ihrer Jackentasche und streifte sie über. Vorsichtig öffnete sie den Plastikbeutel und ließ das Buch auf den Tisch gleiten. Sie zog einen Kugelschreiber aus der Brusttasche, hob damit den Buchdeckel und enthüllte einen ausgeschnittenen Hohlraum, in dem sich ein Panasonic-Kassettenrecorder mit Außenmikrofon im Buchrücken befand. Buckley und Morgan starrten darauf. Wortlos. Kate, Dowling und Doyle musterten ihre Gesichter eingehend. Buckley gewann rasch seine Fassung wieder, räusperte sich und hüstelte nervös. »Fünf Minuten. Keine Sekunde länger.« Während Buckley und Morgan draußen auf dem Flur heftig aufeinander einredeten, beriet Kate sich mit ihren beiden Kollegen. Sie stimmten überein, dass es viel versprechend lief, doch Dowling fasste die nagenden Zweifel in Worte, die sie alle im Hinterkopf hatten. »Entweder ist Morgan ein verdammt guter Schauspieler, oder er ist unschuldig. Ich finde, er hat nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, der weiß, dass das Spiel aus ist, 375

als Sie das Buch aufschlugen.« »Hoffen wir, dass er ein guter Schauspieler ist«, murmelte Doyle. »Ja«, pflichtete Kate halbherzig bei. Irgendetwas stimmte an der ganzen Sache immer noch nicht. Die Tür ging auf, und Buckley und Morgan kamen wieder an den Tisch. Sie hatten viel von ihrer Zuversicht eingebüßt. »Ich möchte Sie daran erinnern, Detective Sergeant, dass Dr. Morgan aus freiem Willen hier ist. Wenn ich mit dem Verlauf dieser Befragung nicht einverstanden bin und mir erst Klarheit verschaffen muss, werde ich Dr. Morgan zum sofortigen Abbruch raten.« Buckley setzte seine entschlossenste Miene auf. Kate spielte wieder Buddha. Sie trug noch immer die Schutzhandschuhe und drückte den Rückspulknopf des Kassettenrecorders. Dabei beobachtete sie Buckley und Morgan, die ihrerseits gebannt jede ihrer Bewegungen verfolgten. Kate drückte auf die Wiedergabetaste und drehte die Lautstärke hoch. Die Stimmen des Ermittlungsteams waren zu hören - nicht gut, aber deutlich genug, um sie verstehen zu können. Die Anwesenden hörten ein Gespräch über Krankenschwester Sarah Higgins und deren Zustimmung, sich um neun Uhr in der Garda-Zentrale Store Street die Vernehmungen anzuhören. „Wo waren Sie zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr heute Nacht?« Morgan blickte zu Buckley. Der nickte. „Sagen Sie es ihnen.“ »Ich war im Guys Club in der Dodder Street.« Kates Buddhafassade brach zusammen. Dowling und Doyle fielen fast von den Stühlen. Guys war Dublins bekanntester Schwulenklub, ein

kleiner

Kellerschuppen

mit

einer

Minibar

und

Aufenthaltsraum; dahinter befanden sich Dampfbäder und 376

Saunas für etwa zwanzig Personen. Da die Bar und der Aufenthaltsraum zu klein waren für so viele Gäste, waren die Dampfbäder und Saunas fast ständig besetzt. Eine Boulevardzeitung hatte das Guys gründlich unter die Lupe genommen und als die einzige Dampfbad-Sauna-Anlage bezeichnet, neben deren Eingang ein Kondomautomat hing. Kate gewann allmählich ihre Fassung wieder. Buckleys ungeteilte Aufmerksamkeit galt nun demselben faszinierenden Kratzer auf der Tischplatte, für den sich schon Morgan so sehr interessiert hatte. „Im Guys? Sie waren die ganze Nacht im Guys?« Kate machte kein Hehl aus ihrem Unglauben. „Allein?“ »Nein.« »Und?« »Wie meinen Sie das?« »Na, wenn Sie nicht allein waren, wer war bei Ihnen?« »Das weiß ich nicht mehr.« Buckley konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. »Sie wissen es nicht mehr?« »Nein. Ich kann mich wirklich nicht mehr an ihre Namen erinnern.« Morgan wand sich vor Verlegenheit. »Ihre Namen? Waren es mehrere?« »Ja.« »Wie viele?« »Drei.« »Drei? Männlich oder weiblich?« Morgan hüstelte nervös und fummelte an seiner Krawatte. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Kein Ausweg. »Männlich. Alle 377

drei männlich.« Kate wechselte rasch das Thema. »Ist Ihnen eine Krankenschwester aus der Zentralentbindungsklinik mit Namen Sarah Higgins bekannt?« Morgan begann zu schwitzen. »Ja.« »Wie gut kennen Sie sie?« Kate beugte sich über den Tisch und blickte auf den einst so stolzen Adonis hinab, den nun die Nerven im Stich ließen. »Na ja, wie soll ich sagen - ich war mal auf einen Drink bei ihr.« »Erzählen Sie uns nichts. Sie haben doch mit ihr geschlafen?« Das hatte Kate von Morgans betrunkener Frau erfahren, wie auch von den mit Higgins befreundeten Schwestern im Krankenhaus. »Ja. Aber was hat das mit Mary Dwyer zu tun?« »Dr. Morgan, sind Sie homosexuell? Nein, lassen Sie mich die Frage korrigieren. Sind Sie bisexuell? Haben Sie sexuelle Beziehungen sowohl zu Männern als auch zu Frauen?« Im Vernehmungsraum wurde es totenstill. Buckley wollte einschreiten, erkannte aber, dass es vergeblich sein würde. „Ja, habe ich.“ „Dr. Morgan, haben Sie Aids?“ Buckley explodierte. »Dies ist ein freiwilliges Gespräch«, schrie er Kate an. Er war aufgesprungen. Seine Finger umklammerten die Schreibtischkante, dass die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. »Wenn Sie mir nicht erklären, warum Sie solche Fragen stellen, bleibt mir nichts anderes übrig, als meinem Mandanten zu raten, nicht mehr zu antworten.« Kate setzte sich langsam und bedeutete Buckley, es ebenfalls zu tun. Seine Körpersprache ließ keinen Zweifel daran, was er dachte, doch mit finsterem Blick nahm er Platz. Morgan sank mit 378

zitternden Händen auf den Stuhl. „Ich will Ihnen sagen, warum es mich so interessiert, wo Dr. Morgan letzte Nacht gewesen ist.« Kate legte ihre mit Schutzhandschuhen bekleideten Hände auf den Tisch. Buckley und Morgan schauten sie erwartungsvoll an. »Irgendwann zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht wurde Krankenschwester Sarah Higgins ermordet. Ihre Leiche fand man im Kofferraum ihres Wagens. Jemand hat ihr mit einem Hammer den Schädel eingeschlagen und sie dann mit einer blauen Schnur erwürgt.« Kate hielt inne. Buckley öffnete den Mund und schluckte wie ein Fisch in einem Aquarium. Tom Morgan schien ein paar Nummern kleiner als sein Anzug zu werden; er schrumpfte wie ein Ballon, dem langsam die Luft ausgeht. »Als wir heute Morgen den Kofferraum öffneten, fanden wir ein Skalpell im Nacken der Toten. Es war so tief hineingestoßen, dass nur zwei Zentimeter vom Griff herausragten. Ein ähnliches Skalpell fanden wir auch in Mary Dwyers Nacken, in der Nacht, als sie ermordet wurde. Nun fragten wir uns den ganzen Tag, warum ausgerechnet Schwester Higgins? Jetzt wissen wir es. Jemand hat alles auf Band aufgenommen, was wir bei unseren Konferenzen in der Bibliothek besprochen haben. Wir fanden drei dicke Fachbücher, die ausgehöhlt und mit Kassettenrecorder und Mikrofon bestückt worden waren. Und was finden wir heute in Ihrem Zimmer, Dr. Morgan? Sie haben es erraten. Ein ausgehöhltes Buch und eine Kassette mit einem Mitschnitt unserer Besprechung. Und ein Skalpell. Für wen war das, Dr. Morgan?« Buckley war wieder aufgesprungen. Doch sein Zorn hatte einiges an Biss verloren. »Detective Sergeant Hamilton, ich beende diese 379

Befragung. Dr. Morgan ist gekommen, um eine freiwillige Aussage zu machen, und ich rate ihm nun, keine weiteren Fragen mehr zu beantworten und diesen Raum sofort zu verlassen. Kommen Sie, Tom.« Er schnippte mit den Fingern, und Morgan kam halb betäubt auf die Beine, als hätte jemand mit einem Hammer auf ihn eingeschlagen. Er wollte zur Tür gehen, wandte sich dann aber um. »Ich habe nicht...« »Tom, sagen Sie nichts mehr. Verlassen Sie sofort die GardaZentrale.« Doch Tom Morgan kam nur bis zum Flur. Dann spürte er Kate Hamiltons Hand auf der rechten Schulter. Erschrocken und verwirrt wandte er sich um. Buckley schüttelte warnend den Kopf. »Tom Morgan, Sie sind festgenommen. Sie stehen unter dringendem Verdacht, am 16. Februar Sarah Higgins ermordet zu haben. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Alles, was Sie von nun an sagen, wird zu Protokoll genommen und kann gegen Sie verwendet werden.« Morgan öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort hervorzubringen. Kate Hamilton redete bereits heftig auf den Haftrichter ein. Der lauschte aufmerksam und blickte auf Morgan und dessen Anwalt. Er sah auch, dass Doyle Morgan nicht aus den Augen ließ. Schließlich nickte er zustimmend und wandte sich an Morgan. »Tom Morgan, die mir genannten Gründe reichen aus, Sie gemäß Paragraf vier der Strafrechtsverordnung von 1984 für ein ordentliches Verhör zu dem Ihnen zur Last gelegten Verbrechen festzuhalten. Sie können für einen Zeitraum von sechs Stunden festgehalten werden, mit Zustimmung des Polizeidirektors für einen Zeitraum von weiteren sechs Stunden. Mit seiner Einwilli380

gung können Sie überdies aufgefordert werden, sich für eine Blutentnahme oder andere Proben zur Verfügung zu stellen, derren Überprüfung im Zusammenhang mit der Straftat erforderlich sind. Sollten Sie die Entnahme der verlangten Proben verweigern, ist dies eine strafbare Behinderung im Sinne von Paragraf zwei der gerichtsmedizinischen Strafrechtsverordnung von 1990 zur Sicherung von Beweismitteln der Voruntersuchung. Ich weise Sie darauf hin, dass auf eine solche Weigerung ein Jahr Gefängnis oder eine Geldstrafe von eintausend Pfund steht.« Dr. Morgan brach fast zusammen.

20.07 Uhr Moonface war in seinem Bierrausch eingeschlafen. Er lag auf seinem kleinen Bett, die Knie angezogen, die Arme um die Schultern

geschlungen.

Obwohl

die

Elektroheizung

voll

aufgedreht war, konnte sie die eiskalte Luft kaum erwärmen. Peggy Ryan beobachtete besorgt das Baby. Es hatte seit acht Stunden nicht nach dem Fläschchen verlangt, und sein Atem ging sehr rasch. Peggy legte den Handrücken an seine kleine Stirn und spürte die Hitze. Gordon O'Brien hatte Fieber. Er war viel schlimmer krank, als Peggy Ryan glaubte. Tommy, ich halt's für das Beste, wenn wir morgen hier verschwinden. Legen wir den Balg vor irgendeine Krankenhaustür Und tauchen ab.« Sam Collins war fest entschlossen. Das kreischende Baby war eine Sache, die feuchte, eiskalte Hütte eine andere. Aber der besoffene Moonface mit seinem »ole, ole, ole« » war mehr, als er ertragen konnte. Malone vermasselt es, dachte Collins. Er war immer ein Verlierer und wird immer einer sein. Es wird Zeit, das 381

sinkende Schiff zu verlassen. Es ist nicht das erste Mal, dass Tommy ein Ding vermasselt, und es wird nicht das letzte Mal sein. Die Sache ist in die Hose gegangen. Und ich will verschwunden sein, bevor uns dieser besoffene Idiot die Bullen auf den Hals lockt. Malone ist ein Verlierer. Aber ich werde nicht mit ihm untergehen. Collins konnte den Anblick von Moonface nicht mehr ertragen, und den von Peggy Ryan und ihr Gejammer ebenso wenig. Er wollte nur noch raus aus der Sache. »Du steigst also aus?«, fragte Malone finster. »Allerdings, Tommy. Ich hab' die Schnauze voll. Ich hab' den ganzen Tag Radio gehört. Ich sag' dir, wir kriegen Ärger. Jeder Bulle im ganzen Land ist hinter uns her. Und die Knete kriegen wir auch nicht, Tommy, das weißt du so gut wie ich. Es war ein Scheißplan. Es war alles zu unüberlegt.« Malone wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit Collins darüber zu streiten. Sam Collins war zu starrköpfig. Malone beschloss, noch einen letzten Versuch zu machen, das A-Team bei der Stange zu halten und sein »großes Ding« davor zu bewahren, ein vorzeitiges Ende zu nehmen. »Dempsey hat gesagt, sie kriegen das Geld bis morgen, Sam. Verdammt, das ist nur ein Tag! Kannst du nicht noch einen einzigen Tag durchhalten?« »Nein, Tommy, nicht mal eine Nacht. Ich hau' hier so schnell wie möglich ab. Wir sitzen in der Scheiße, Tommy. Das ganze Land sucht nach uns. Ich verschwinde hier, sobald es mir sicher genug erscheint.« »Hör zu, Sam«, bat Malone eindringlich, »ich ruf Dempsey noch mal an. Dann entscheiden wir, was wir tun. Es wär' doch möglich, dass er das verdammte Geld schon hat und nur auf 382

unseren Anruf wartet. Einen Anruf noch, hm?« »Wenn du meinst, dass es was bringt. Aber ich warne dich, Tommy.« Collins unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung. »Wenn er den Zaster nicht hat, bin ich weg. Klar?« Malone schlüpfte bereits in seinen Mantel und suchte zwischen den schmutzigen Tellern nach den Autoschlüsseln. »Klar, Sam. Bis zum Anruf bleibst du aber, ja?« Er wandte sich an Peggy. »Du auch, Peggy, ja?« »Klar«, stimmte Peggy zu. Die paar Stunden, um die Malone sie bat, war sie ihm schuldig. Doch Peggy hatte noch mehr Angst um das Baby. Auch sie wollte schleunigst weg. Weg von dem Baby. »Tommy, ich mach' mir Sorgen um den Kleinen. Er ist viel zu blass, und er hat den ganzen Tag noch nichts getrunken.« Malone inspizierte den schlafenden Gordon O'Brien, der mit leicht geöffnetem Mund dalag und rasch atmete. Seine Lippen hatten einen blauen Ton, den Malone auf das schlechte Licht zurückführte. Er war ein Irrtum. Wir behalten ihn bis morgen Früh. Wenn es ihm dann nicht besser geht, bringen wir ihn zum Naas-Hospital und verziehen uns.« Peggy war ein wenig erleichtert, doch Sam Collins war es völlig egal. Wenn es nach ihm ginge, konnten sie den Balg zum Mond schießen. Seit der Entführung plärrte der kleine Scheißer fast ununterbrochen. „Bleib bei Peggy, Sam, bis ich wieder zurück bin“, bat Malone. Wenn Moonface aufwacht und es ist keiner da, spielt er verrückt.« Collins gefiel es gar nicht, doch er hörte zu, als Malone erklärte, warum sie nicht beide gehen konnten. 383

„Überall wimmelt's von Bullen. Es ist besser, ich fahre allein. In einer Stunde bin ich zurück. Ich fahr' nur bis Firhouse. Das sind zwanzig Minuten. Von hier im Ort anzurufen, ist zu gefährlich. jemand könnt' mich sehen und sich fragen, warum ich so oft die Telefonzelle benutze. Einer muss hier bleiben und die Augen offen halten. Das kannst du von Peggy nicht erwarten, und auch nicht von Moonface in seinem verdammten Suff.«

Tommy Malone fuhr langsam die Zufahrt hinunter. Das Scheinwerferlicht glitt über die Hecken. Zur gleichen Zeit brachten die 21-Uhr-Nachrichten auf RTE einen Knüller: die ersten Bilder von Gordon O'Briens Entführern. „Die Polizei hat die ersten Fotos von drei Männern freigegeben, die im Verdacht stehen, den kleinen Gordon entführt zu haben, den Sohn von Harry und Sandra O'Brien. Bei den drei Männern handelt sich es um Thomas >Tommy< Malone aus Dublin, derzeit wohnhaft am Anderson's Quay; Martin Mulligan, auch >Moonface< genannt, aus Limerick, derzeitiger vermutlicher Aufenthaltsort Rathmines bei Dublin; und Sam Collins aus Newry, County Down, zuletzt wohnhaft in Swords, County Dublin. Die Männer gelten als ...« Während der Volvo auf die Kilcullen Road abbog, blickte Brian O'Callaghan in seinem Cottage nachdenklich auf die Fotos. »Die Männer sind schwer bewaffnet und sehr gefährlich. Deshalb warnt die Polizei davor, sich ihnen zu nähern. Sollte jemand diese Männer sehen oder ihren Aufenthaltsort kennen, rufen Sie bitte sofort die nächste Polizeidienststelle an oder melden Sie sich unter der Polizei-Sondernummer, die wir nun einblenden und die während der gesamten Nachrichtensendung zu sehen sein 384

wird. Außerdem sucht die Polizei nach einer Frau, die an der Entführung beteiligt war. Möglicherweise handelt es sich um eine ältere Frau, die eigene Kinder oder zumindest Erfahrung mit Kindern hat.« Der Nachrichtensprecher blätterte durch die Seiten, die vor ihm lagen, und wandte sich wieder dem Rolltext zu. »Was die Morde an den zwei Krankenschwestern der Zentralentbindungsklink betrifft, hat die Garda-Zentrale Store Street bestätigt, dass ein Verdächtiger verhaftet wurde, der zurzeit vernommen wird. Wie verlautet, handelt es sich um einen in der Klinik praktizierenden Arzt.« Dean Lynch warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. Er konnte sich gar nicht beruhigen. Es hat funktioniert! Es hätte gar nicht besser funktionieren können! Dean, alter Junge, du bist ein kleines Genie. Es hat funktioniert! Er saß in seiner Wohnung zwischen seinen gepackten Taschen. Er überprüfte noch einmal alle Schubladen, Kleider und Bodenbretter und lachte wieder aus vollem Halse. Er probte das Tragen der Taschen. Mit drei in der rechten und zwei in der linken Hand ging es am besten. Mit den Taschen stapfte Lynch in der Wohnung auf und ab, ehe er völlig erschöpft innehalten musste. Danach übte er eine Zeit lang weiter, bis er den Plan in allen Einzelheiten im Kopf hatte. Dann setzte er sich, schaltete den Fernseher ab, knipste alle Lichter aus und stellte die Alarmanlage ein. Als er still und entspannt in der Dunkelheit saß, wirkte er wie ein Raubtier, das Kraft für eine lange Jagd sammelt. Und ungefähr das hatte er auch vor. 385

21.57 Uhr „Also, ich möchte niemanden belästigen, und der Himmel weiß, ihr habt schon genug um die Ohren, auch ohne dass ich euch noch ein Loch in den Bauch quassle. Aber ...« „Ja?“ „Also, es geht um das entführte Baby. Ich will ja keinen in Schwierigkeiten bringen, und mit den Leuten ist ja vielleicht alles in Ordnung, aber ...«, stotterte Brian O'Callaghan erneut. So fand die Polizei heraus, wo Gordon O'Brien versteckt gehalten wurde.

22.05 Uhr »Betty? Bist du's?« Am anderen Ende der Leitung holte jemand scharf Luft. »Welche Nummer hast du? Gib mir deine Nummer, dann ruf ich dich zurück.« „Was ist los? Was...?“ ( Gib mir deine verdammte Nummer!«, schrie Betty. Tommy Malone fand die Nummer am Apparat vor ihm und gab sie durch. »Betty, was ...» Es klickte. Die Leitung war tot. Malone starrte fast eine Minute verwirrt auf den Hörer in seiner Hand, bis er zur Besinnung kam und auflegte, um auf den Rückruf zu warten. Was, zum Teufel, war da los? Drei quälend lange Minuten vergingen, ehe es läutete. Malone hob hastig ab. „Jesses, Tommy, du bist in den Nachrichten.“ „Was?“ »Du bist in den Nachrichten. Sie haben dein Bild in den Nachrichten um neun gebracht, zusammen mit den anderen beiden Kerlen. Es geht um das gekidnappte Baby. Die Polizei ist hinter euch her, wegen der Entführung.« 386

»Verdammt!« »Jesses, Tommy, lass dir schleunigst was einfallen. Halb Irland sitzt dir und den anderen beiden Typen im Nacken.« »Kann ich ein paar Tage bei dir unterschlüpfen, Betty?« »Jesses, Tommy, komm bloß nicht zu mir! Komm ja nicht in meine Nähe. Ich hol' dich ab, sobald ich weiß, dass es sicher ist Von wo rufst du an?« Tommy Malone sah sich hastig um. »Ich bin in 'ner Telefonzelle in 'nem Pub an der Hauptstraße in Naas.« »Bleib da. Rühr dich nicht vom Fleck. Ich hol' dich ab, wenn es sicher genug ist.« »Ich muss die anderen warnen. Ich ruf dich wieder an. Ich melde mich in einer Stunde.« »Tommy, komm um Himmels willen nicht zu mir und ruf nicht im Haus an. Ich bin in 'ner halben Stunde im Mooney's.« »Gut.«

Es war bereits zu spät. Auf der Fahrt zurück nach Newbridge und der Abzweigung nach Kilcullen wurde Tommy Malone von nicht weniger als acht Einsatzwagen überholt, mit blinkenden Lichtern, aber ohne Sirenengeheul. Er folgte in sicherem Abstand, und seine Panik wuchs, als die Polizeifahrzeuge eine richtige Abzweigung nach der anderen nahmen. Schließlich hielt Malone in einer Parkbucht, als er sah, dass die Polizei auf der Straße nach Kilcullen Sperren errichtete. „Verdammt, verdammt! Tut mir Leid, Sam. Tut mir Leid, Moonface. Tut mir furchtbar Leid, Peggy. Hat einfach nicht geklappt. Es ist alles schief gegangen. Bin nun mal der geborene Verlierer. 387

Der geborene Verlierer.« Er flüsterte die Worte in der Dunkelheit, während er beobachtete, wie zwei zivile Detectives mit ihren UZl-Maschinenpistolen vor der Straßensperre Posten bezogen. Ja. Höchste Zeit, dass ich mich aus dem Staub mach'.“

Während Tommy Malone seine nächsten Schritte überlegte, stiegen sechs Detectives die schmalen Stufen zum Eingang des Guys Club an der Dodder Street hinunter. Nie waren so viele Personen von so wenigen Leuten in so kurzer Zeit in eine solche Panik versetzt worden. In der kleinen Bar und dem Aufenthaltsraum war nicht viel los, doch in den Dampfbädern traten sie sich gegenseitig auf die Füße, bildlich gesprochen. „Keine Panik, das ist keine Razzia.“ Doch der Barmixer war bereits einem hysterischen Anfall nahe und sah sich gehetzt um. Ein alter Mann, der die Hand eines viel Jüngeren hielt, hatte sein ungeteiltes Interesse an einem leeren Bierglas entdeckt, während die anderen sich ab wandten, umwandten oder irgendwohin wandten, um ihre Gesichter zu verbergen. John Doyle warf ein Foto von Tom Morgan auf den Tresen. „Haben Sie diesen Mann schon mal gesehen?“ Der Barkeeper setzte eine interessierte Miene auf, als würde er das Foto eingehend studieren, schüttelte nach einer Weile den Kopf, hielt inne, als gäbe es doch einen Zweifel, und schüttelte schließlich erneut den Kopf, diesmal entschieden. »Nein, bestimmt nicht.« „Das ist aber merkwürdig. Der Mann hat nämlich behauptet, dass er letzte Nacht mit drei anderen Burschen hier gewesen ist.« „Hat er das?« Der Keeper klang überrascht und zog effektvoll 388

die Brauen hoch. Er sah sich das Foto noch einmal an, drehte es im schummrigen Licht hin und her. Zwei Clubmitglieder versuchten sich abzusetzen, wurden aber zurückgehalten. Der Barkeeper beschloss, die Sache mit ein bisschen mehr Nachdruck voranzutreiben. »Nein, ich habe diesen Mann nie zuvor hier gesehen. Niemals.« „Sind Sie sicher? Es ist sehr wichtig für ihn. Und wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen, könnte es auch für Sie verdammt wichtig werden.« „Ich habe den Mann nie im Leben gesehen. Ich war die ganze letzte Nacht hier. Ich kann Ihnen mit Sicherheit sagen, dass er nicht hier war.« Diesmal klang seine Stimme entschieden. Ebenso die aller anderen Clubmitglieder, nachdem sie einen Blick auf das Foto geworfen hatten. Die Polizisten trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie viele Herren sich in den rückwärtigen Dampfbädern befanden. Sie baten sie höflich, einer nach dem anderen herauszukommen und sich das Foto von Tom Morgan anzusehen. John Doyle meinte später, dass den Männern das Gesicht selbst dann unbekannt vorgekommen wäre, hätte er ihnen ihre eigenen Fotos unter die Nase gehalten. Das Mitgliedsbuch wurde überprüft und alle falschen Namen durchgesehen. Falls Tom Morgan letzte Nacht hier gewesen war, hatte er sich entweder nicht eingetragen, oder als »James Murphy«, wie die anderen. Das Team hatte noch nie so viele James Murphys gleichzeitig unter einem Dach gesehen. »Ist ein großer Murphy-Fanclub, den ihr hier habt.« Der Barkeeper lächelte nur und bot ihnen einen Drink auf Kosten des Hauses an. Das Team nahm dankend an und unterhielt sich darüber, wie schade es war, dass niemand den Mann auf dem Foto gesehen 389

hatte - laut genug, dass alle es hören konnten. »Er steckt in großen Schwierigkeiten. Wenn er nicht hier im Guys gewesen ist, wie Sie alle behaupten, muss er demnach woanders gewesen sein.« Sie tranken aus und gingen, verfolgt von fragenden, ängstlichen Blicken. Es sah nicht gut aus für Tom Morgan.

Für Dean Lynch dagegen sah alles sehr gut aus. Er hatte gewartet, bis draußen auf dem Korridor alle Lichter erloschen waren und sich fast eine Stunde lang nichts gerührt hatte. Dann öffnete er lautlos die Tür, stellte die Taschen nach draußen und schaltete den Fernseher und die Alarmanlage ein. Er huschte die Feuertreppe hinunter zur Feuerschutztür und stellte die Taschen auf den Boden. Mittels einer kleinen, zuvor angebrachten Metallstange öffnete er vorsichtig und stellte die Taschen nach draußen. Dann schloss er die Tür leise hinter sich und begab sich zu seinem neuen Wagen, dem »wahren Schmuckstück« von Donnie. Niemand sah die gedrungene, unförmige, schwarz gekleidete Gestalt mit Fensterglasbrille, als Lynch lautlos um die Rückseite des Apartmentblocks schlich. In Minutenschnelle war er auf der stillen Straße neben der Wohnanlage und im Wagen, wo er die Taschen auf die Rückbank warf. Vorsichtig legte er den Aktenkoffer auf den Beifahrersitz. Donnies »wahres Schmuckstück« startete nach ein paar ächzenden Umdrehungen des Anlassers, und Lynch war auf dem Weg nach Booterstown. Als er losfuhr, warf er einen Blick zurück zum Fenster seiner Wohnung, wo noch ein Licht brannte und der Fernseher auf den Kanal mit dem Nachtprogramm eingestellt war. 390

Dean Lynch erreichte Booterstown kurz vor Mitternacht und fuhr zu seiner neuen gemieteten Wohnung. Es war Zeit für das Finale, für die Begleichung aller offenen Rechnungen. Es war Zeit zum Handeln. Es war Zeit für die Rache. Rache für alles. Für jeden Schmerz, jede Kränkung, jedes böse Wort. Der Feind war bekannt. Nun war es an der Zeit, dass der Feind litt - so sehr, wie Dean Lynch selbst gelitten hatte. Und er hatte höllisch gelitten.

„Geht es dem Baby gut?“ Tommy Malone stieg in den Datsun. „Ja, Ja. Es geht ihm gut.“ „Jesses, das hoff ich für dich, Tommy. Jeder Ire zwischen acht und achtzig ist hinter euch her. Diesmal sind wir fällig. Wenn die O'Briens das Baby nicht wiederkriegen, sind wir dran.« „Guck auf die Straße, verdammt! Bring mich hier raus. Überall sind Bullen unterwegs.« Mit einem wütenden Blick ließ Betty den Motor an und bog auf die zweispurige Naaser Hauptstraße ein. Ihr fiel auf, dass der Hauptverkehrsstrom in die andere Richtung rollte. Alle Welt schien nach Newbridge zu fahren, und alle Welt schien es in einem Einsatzwagen zu tun. „Bist du sicher, dass dem Baby nichts fehlt?« Tommy platzte der Kragen. »Ich hab' dir gesagt, dass es ihm gut geht! Es geht ihm saugut, hörst du? Es geht ihm beschissen viel besser als mir.«Aber Tommy Malone irrte sich. Gordon O'Brien ging es gar nicht gut. Die Bakterien, die sich in seiner Lunge vermehrten, waren bereits ins Blut gelangt. 391

Tommy Malone war blind gewesen für alle Gefahrenzeichen.

Neunter Tag 39 Dienstag, 18. Februar 1997, 12.38 Uhr Die Jaguar-Truppe hatte den Einsatzort erreicht. Jack McGrath war von der örtlichen Polizei in Newbridge über den möglichen Aufenthaltsort der Entführerbande informiert worden. Er trommelte die gesamte Mannschaft zusammen. Sie schlugen ihr Hauptquartier

in

Brian

O'Callaghans

Bauernhaus

auf.

O'Callaghan war begeistert. Er versorgte die Truppe mit Tee und Sandwiches, bemutterte sie wie eine alte Zimmerwirtin. Es wurde beschlossen, einen Drei-Mann-Spähtrupp zum Cottage zu schicken, der zwei Abhörvorrichtungen nahe den vorderen und hinteren Fenster anbringen sollte. Die Männer schlichen in der mondhellen Nacht über die Felder. Der Boden war hart gefroren; kaum ein Windhauch bewegte die eiskalte Luft. Schafe hinkten aufgeschreckt und rannten Schutz suchend in die Hecken, von wo aus sie den drei dunklen Gestalten hinterher äugten, die über eine Böschung unweit des im Mondlicht weißlich schimmernden Nachbarhauses kletterten. Ein Mann vom Spähtrupp identifizierte Sam Collins und meldete ans Hauptquartier: „Eindeutig Collins. Und eine Frau mit einem Bündel auf dem Arm, wahrscheinlich das Baby. Gibt allerdings nicht den geringsten Mucks von sich. Mulligan ist nirgends zu sehen. Auch von Tommy Malone keine Spur.« Es folgte eine eingehende Diskussion über Möglichkeiten und Methoden des Vorgehens. Vordereingang oder Hintertür? Gas392

granaten oder nicht? „Lieber nicht“, sagte McGrath. »Könnte gefährlich für das Baby werden“ Die sechs Detectives, die auf ihren Einsatzbefehl warteten, fragten sich, ob es nicht besser wäre, das Haus zu stürmen. »Es bringt nichts, mit diesen Typen zu verhandeln oder sie aufzufordern, mit erhobenen Händen herauszukommen«, erklärte McGrath. »Wir können nicht abschätzen, wie sie reagieren Die sind gefährlich und wahrscheinlich zu allem bereit. Könnte gut sein, dass sie das Baby als eine Art Schutzschild benutzen und einen Ausbruch versuchen. Das Kind könnte verletzt werden.« Doch was schließlich den Ausschlag zum sofortigen Handeln gab, waren die Worte der Frau, die sie über eines der Abhörgeräte vernahmen: »Der Kleine sieht sehr elend aus. Ich mach' mir große Sorgen um ihn.« Krankenwagen wurden angefordert,

ebenso

eine

Kranken-

schwester für Neugeborene. Es wurde beschlossen, Gordon O'Brien so schnell wie möglich auf die Kinderstation der Zentralentbindungsklinik zu schaffen, ganz gleich, in welcher Verfassung er sich befand. Die sechs Männer kleideten sich von Kopf bis Fuß in Schwarz. Sie trugen schwarze Stoffmützen, die sie tief über den Kopf zogen, schwarze Unterhemden, dünne schwarze Rollis, darüber dicke schwarze Pullover, schwarze Oberteile von Jogginganzügen und zu guter Letzt schwarze Militärjacken, eine Spezialrüstung von der RUC in Nordirland. Dann schmierten sie ihre Gesichter mit schwarzer Tarnfarbe ein. Jeder war mit einer 495 Smith & Wesson Automatik bewaffnet. Drei Mann trugen sie knapp über dem Fußgelenk geschnallt, um die Hände für 393

schwerere Waffen freizuhaben. Einer wählte eine UZI-Maschinenpistole als Hauptbewaffnung, die beiden anderen entschieden sich für die Heckler & Koch MP5. Der Dreimannspähtrupp riet, Handschuhe gegen die Kälte zu tragen, und die sechs Detectives schlüpften in eng anliegende schwarze Lederhandschuhe. »Fertig«, sagte Jack McGrath. »Gehen wir.« Brian O'Callaghan sank mit seinem Rosenkranz auf die Knie und betete so inbrünstig wie noch nie im Leben. Das Vorgehen war einfach. Sie hatten es oft genug an einem Trainingscottage in der Nähe der Templemore-Kaserne in Tipperafy geübt. Der Jaguar-Trupp wusste, wie man Gebäude stürmte, vom einfachen Kuhstall bis zum Fünfsternehotel. Drei Mann stürmen den Vordereingang mithilfe einer kleinen Sprengladung, während drei andere durch die Hintertür eindringen. Einer würde durch das einzige Fenster steigen, das dafür infrage kam. Das Baby allerdings machte den Einsatz kompliziert und erschwerte ihn beträchtlich. Die Männer mussten auf Rauchbomben und Gasgranaten verzichten und Schusswaffen äußerst gezielt einsetzen. Zusätzlich zu den sechs Mann des Sturmkommandos gab es einen Trupp von sieben bewaffneten Polizisten, die als Eingreifreserve bereitstanden, sollten sich die geringsten Schwierigkeiten ergeben. Außerdem waren mehr als zwanzig unbewaffnete, uniformierte Gardai um das Zielobjekt herum postiert. Für die Bande gab es kein Entkommen. Kurz vor ein Uhr morgens stürmte der Einsatztrupp das Cottage Moonface war in mieser Stimmung aus seinem bierseligen Schlaf erwacht. »Wo is' Malone?« Es hieß jetzt nicht mehr »Tommy«, wildern »Malone«, nach dem Motto: Ich frier' mir den Arsch ab 394

und hab' die Schnauze voll von der Scheiße. Wo ist Malone, damit wir uns endlich verpissen können? Moonface griff sich seine Pistole und machte sich daran, sie am Küchentisch zu reinigen. Das Heizgerät lief noch, und er rückte näher heran, um sich zu wärmen. Von draußen beobachtete ihn Jack McGrath durch das Küchenfenster. Er sah auch die Pistole. Er winkte seinem Partner, ein Auge darauf zu haben, und der Mann nickte. Collins, die Frau und das Baby waren nicht zu sehen, doch die Beobachter kannten die Raumaufteilung des Cottages. Es gab drei Schlafzimmer, eines vorn mit einem Fenster, durch das man rasch ins Innere konnte. Die Fenster an den anderen beiden Zimmern waren zu klein und zu hoch. Drinnen hatte Sam Collins sich ins Bett gelegt, mit einem Schlafsack und so vielen Decken, wie er finden konnte, einschließlich die von Tommy Malones Bett. Er schwor sich, Malone kaltzumachen, wenn der Mistkerl zurückkam. Er war bereits vier Stunden weg. Eine Zeit lang fragte sich Collins, ob Malone sich tatsächlich aus dem Staub gemacht hatte, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Abgesehen von dem Baby würde er Peggy Ryan nicht im Stich lassen. Die zwei waren alte Freunde. Selbst in Dubliner Unterweltkreisen, wo man sich mehr oder weniger regelmäßig auch gegenseitig an die Gurgel ging, ließ man seine Kumpel nicht im Stich, wenn man ein Ding drehte. Was nachher passierte, war eine andere Sache. Als die Explosion die Eingangstür aus den Angeln riss und in den kleinen Vorraum schleuderte, schmetterte Jack McGrath einen großen Vorschlaghammer gegen die Hintertür, die schon dem ersten Hieb nicht standhielt. Das Geräusch von splitterndem Glas 395

verriet, dass ein Mitglied des Einsatztrupps ins Schlafzimmer an der Seite eindrang. In seinem noch immer alkoholumnebelten Zustand waren Moonface' Reflexe eine Spur zu langsam. Was wirklich traurig war. Für Moonface. Überrascht kam er auf die Beine und riss den Mund auf, während er nach der Pistole tastete. Jack McGraths Reflexe waren blitzschnell. Eine kurze Salve aus der UZI machte Moonface' Chance zunichte, das Länderspiel Irland gegen England mitzuerleben. Für immer. Sam Collins kam nicht schnell genug aus seinem Schlafsack, um sich zu wehren. In Sekundenschnelle wurde er zu Boden gedrückt; ein schwerer Stiefel trat auf seinen Hals, und der Lauf einer 459er Smith & Wesson bohrte sich schmerzhaft in eines seiner Nasenlöcher. »Eine Bewegung, und dein Kopf lernt fliegen.« Was angesichts der Lage, in der Collins sich befand, eine völlig unnötige Warnung war. Sie fanden Peggy Ryan weinend neben dem Kinderbettchen. Sie hatte keine Angst mehr. Sie wusste, dass es vorbei war, und sie war froh darüber. Sie blickte zu dem geschwärzten Gesicht hoch. »Holt schnell einen Arzt. Ich glaube, der Kleine stirbt.«

1.47 Uhr »Hilfe, Mom, Hilfe! Halt, halt! Halte ihn auf, Mom!« Rory fuhr schreiend aus dem Schlaf hoch. Kate Hamilton rannte los und hob ihn rasch auf die Arme. Sie konnte spüren, wie sein kleiner Körper vor Furcht zitterte. »Pssst, pssst. Es ist alles gut, Rory, alles ist gut. Pssst. Mom ist ja da. Es war nur ein böser Traum. Hab keine Angst. Mom ist bei dir. Pssst.« Sie drückte ihn an sich, als wäre es ihr letzter gemein396

samer Tag auf der Welt. »Was ist denn los? Hast du einen schlimmen Traum gehabt?« Rory wurde von Schluchzen geschüttelt. Seine Finger klammerten sich schmerzhaft um Kates Arm. Vergeblich versuchte er zu sprechen. »Hab keine Angst, Schatz. Alles ist gut, Mom ist ja da.« Doch Rory stieß einen markerschütternden Schrei aus. »Er ist hinter dir her! Pass auf, Mom! Er kommt!« Kate drückte den Jungen so fest an sich, dass sie sein Herz spüren konnte, das so heftig wie ihr eigenes schlug. Lieber Gott, weshalb hat er so geschrien? Was hat er nur geträumt? Was, zum Teufel, hat er im Fernsehen angeschaut? Nach kurzer Zeit schlief Rory wieder ein, den Daumen im Mund und Ted im Arm. Kate legte ihn vorsichtig in sein Bett zurück, strich ihm in der Dunkelheit übers Haar und küsste ihn auf die Stirn. Sie beobachtete sein ruhiges Atmen. Selbst bei dem spärlichen Licht konnte sie in dem Jungen seinen Vater wiedererkennen. „Hab keine Angst, Rory«, flüsterte sie. »Mom wird nichts passieren. Ich muss doch für dich da sein. Es gibt ja sonst niemanden. Nur uns zwei. Hab keine Angst, Mom passiert schon nichts.«

2.17 Uhr Dean Lynch erwachte schweißgebadet. Es war der alte Albtraum. Der, in dem sie hinter ihm her war. »Komm sofort zu mir, Dean Lynch! Komm sofort her!« Sie verfolgte ihn durch die langen dunklen Gänge des Waisenhauses. Er rannte und rannte, aber er wusste, sie würde ihn doch erwischen. 397

So war es immer. Er blickte nach hinten, sah, wie sie näher kam, wie die pechschwarzen Haare um ihr Gesicht flogen, wie die langen, weißen, knöchernen Hände nach ihm griffen. »Komm her, Dean Lynch. Komm sofort her!« »Nein, nein, nein! Lass mich in Ruhe, lass mich in Ruhe.« Er rannte durch einen weiteren Korridor und durch den nächsten und vernahm plötzlich ihre Schritte nicht mehr. Er blieb stehen, lauschte. Er hörte nur sein heftiges Atmen, sein wild schlagendes Herz. Wo ist sie? Langsam, lautlos schlich er zur Ecke, riskierte einen Blick. Da war niemand. Er schlich zur nächsten Ecke, vorbei an offenen Türen, hinter denen nur Dunkelheit war. Er spähte um sich. Niemand. Er schlich um die letzte Biegung. Es war immer die letzte Biegung in seinem Traum, wie auch im wirklichen Leben. Langsam, doch unaufhaltsam, wie von einer übermächtigen Kraft gezogen, gelangte er zur Tür unter der Treppe. Zur Hölle. Seiner Hölle. Wo die Schwärze immer bodenlos war, die Dunkelheit undurchdringlich. Er drehte sich um und rannte. Direkt in ihre ausgestreckten Hände. Dieses geisterhaft weiße Gesicht mit den schwarzen wirren Haarsträhnen. Diese langen, dünnen, knöchernen Hände, die ihn packten. Es gab kein Entrinnen. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Sein Hals war wie zugeschnürt. Eine der knöchernen Hände hielt ihn unerbittlich, während die andere die Tür öffnete. »Nein, nein! Bitte! Nein! Neeein!« Er glaubte zu schreien, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er wehrte sich mit Leibeskräften, doch es half nichts. Sie war stärker. Sie schob und stieß ihn in den kleinen Verschlag unter der Treppe. Er stemmte sich mit Armen und Beinen gegen die sich schließende Tür. 398

»Nein, nein!« Endlich konnte er schreien in seiner Qual. »Bitte nicht!« Doch die Tür schloss sich. Wie immer. Sie war immer stärker als die schwachen Kräfte seines erschöpften Körpers. Schluchzend, bettelnd sank er in der Dunkelheit zu Boden. Und stets hörte er die Stimme. »Jetzt kannst du in der Hölle schmoren, Dean Lynch. Jetzt kannst du in der Hölle schmoren.« Aber diesmal war es eine andere Stimme. Und ein anderes Gesicht. Ks war Kate Hamilton, die ihn verfolgte ... Er ging im Zimmer auf und ab, schweißgebadet, vor Angst schlotternd, von Unruhe erfüllt, mit rasendem Herzen. Er öffnete den Aktenkoffer, zerrte mit zitternden Fingern an der Innenverkleidung, bis sie nachgab. Die Pistole und die Munition lagen sicher in ihrer Halterung. Er zog eine Heroinspritze auf und verabreichte sie sich langsam, ganz, ganz langsam und lächelte, während er ins Vergessen glitt. Er konnte die Waffe sehen. Er wusste, wie man sie benutzte, und er wusste, wer bald ihre tödliche Macht zu spüren bekommen würde.

3.07 Uhr „Der ist tot. Es wäre ein Wunder gewesen, hätte er das überlebt. Er ist tot.« In der Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses Naas blickte ein erschöpfter Arzt in weißem Kittel auf die Trage, auf welcher der Körper von >Moonface< Michael Mulligan lag. Der Arzt drückte zwei Finger auf Moonface' Halsschlagader und schüttelte müde den Kopf. Dann leuchtete er in die Pupillen des 399

Mannes. Keine Reaktion. Noch einmal warf er einen Blick unter die rote Decke, die über der Leiche lag. „Der kommt zu spät für uns«, sagte er zu den beiden Männern vom Rettungsdienst. »Wir brauchen Ihre Bestätigung, Doktor. Mit Ihrer Zustimmung bringen wir ihn rüber ins Leichenschauhaus.« Der Arzt willigte ein.

»Sie müssen Dr. Noel Dunne benachrichtigen. Er muss über die Sache informiert werden.« Der Arzt blickte auf die Uhr und gähnte. »Ich rufe ihn später an. Kein Grund, ihn jetzt schon aus dem Bett zu klingeln. Bringt den hier ins Leichenschauhaus und sagt einem der Gardai, dass er bei ihm bleiben soll.« Er gähnte wieder. Es war eine lange und anstrengende Nacht gewesen.

»Ich finde keine Vene, ich finde einfach keine Vene! Sie sind vollkommen

verschwunden.«

Auf

der

Unfallstation

des

Allgemeinen Krankenhauses Naas bemühten sich fünf Ärzte um den

kleinen

Gordon

O'Brien.

Er

lag

auf

einer

Untersuchungscouch, eingewickelt in eine Art Silberfolie: der verzweifelte Versuch, seine Körpertemperatur zu erhöhen. Er war ein sehr krankes Baby. Eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs zeigte eine beidseitige Lungenentzündung. Ein Sauerstoffsättigungsanzeiger an Gordons winzigem Fuß zeigte an, dass sein Blutsauerstoffgehalt sehr niedrig war. Er atmete rasch und schwer und flach, seine Lippen waren blau, sein Körper kalt, seine Kerntemperatur niedrig. Die Ärzte konnten keinen venösen Zugang finden, weil Gordons Kreislauf von Schock und 400

Septikämie schwer gestört war. Die Bakterien gelangten ungehindert ins Blut und vermehrten sich rasch. Er schwebte in akuter Lebensgefahr. »Ich brauche eine sterile Instrumentenschale, eine Kanüle und frisches gefrorenes Plasma«, rief der Dienst tuende Oberarzt, während er sich die Hände unter heißem fließenden Wasser wusch. Er trocknete sie rasch, schlüpfte in sterile Handschuhe und beobachtete die Schwestern bei ihren Vorbereitungen an dem wie leblos daliegenden Baby. Eine Schwester maß Zeit und Temperatur, während eine andere grüne Tücher auspackte und die Operation vorbereitete. Eine dritte Schwester hatte bereits einen Tropfständer vorbereitet und wartete auf die nächste Anweisung. Einer der anderen Ärzte betupfte Gordon O'Briens Halsbereich. Er bemerkte, dass das Kind nicht reagierte. Dann wurden die grünen Tücher so um den Hals des Babys gelegt, sodass nur eine kleine Stelle freiblieb. Innerhalb von drei Minuten war eine Kanüle in den Hals und in die tiefe Halsvene eingeführt. »Gut, lasst das Plasma laufen. Fünfzehn Milliliter pro Kilogramm

Körpergewicht

Minuten.«

Die

während

Flüssigkeit

begann

der

nächsten

zehn

einzutropfen.

Für

Bakterienkulturen und Allergietests wurde Blut abgenommen, weitere

Proben

für

biochemische

und

hämatologische

Untersuchungen. Volumenexpander, Antibiotika und Dopamine kamen als Nächstes in den Tropf. Als das Reanimationsteam alles getan hatte, was in seiner Macht stand, wurde der noch immer reglose Körper Gordon O'Briens in einen vorgewärmten Brutkasten gelegt und zum wartenden Rettungswagen gebracht. Die Tropfschläuche wurden an eine kleine Infusionspumpe gesteckt und sorgfältig befestigt. 401

Los jetzt. Fahrt, als wäre der Teufel hinter euch her! Jede Minute zählt.« Eine Schwester, die Blutproben in der Hand, rannte nach draußen und sprang in den bereits anfahrenden Rettungswagen, gerade bevor die Türen geschlossen wurden. Die Sirene heulte los. Der Rettungswagen raste mit einer 4-Mann-Motorradeskorte über die zweispurige Naaser Hauptstraße nach Dublin. An jeder Kreuzung wartete bereits ein uniformierter Garda, um freie Fahrt für Gordon O'Brien zu schaffen, der dorthin zurückkehrte, wo er das Licht der Welt erblickt hatte. Eine zweite Sirenenheulende Kolonne hatte nur eine Stunde zuvor denselben Weg genommen: Ein Garda-Kleinbus mit vergitterten Fenstern und Spezialsitzen für gefesselte Insassen war eskortiert worden. In dem Kleinbus befanden sich ein sehr schweigsamer Sam Collins und eine schluchzende Peggy Ryan, begleitet von vier Jaguar-Leuten, die ihre Waffen im Anschlag hielten und sie im Ernstfall auch benutzen würden. Der Zustand des Babys ließ bei den Männern keine rechte Erleichterung über den erfolgreichen Einsatz aufkommen. Sie wurden von der schrecklichen Furcht gequält, sie könnten zu spät gekommen sein. Einige dieser Männer hatten selbst kleine Kinder; andere hatten erwachsene Töchter oder Söhne. Sie konnten ihre Wut kaum im Zaum halten. Vier zornfunkelnde Augenpaare starrten auf Sam Collins. Nur eine verdächtige Bewegung, sagten ihre Blicke. Gib uns den geringsten Anlass...!

4.32 Uhr Dr. Paddy Holland griff schlaftrunken nach dem Telefon. »Ja?« 402

»Dr. Holland?« »Ja.« »Dr. Holland, hier ist Schwester Angela Matthews von der Intensivstation. Wir haben einen Notfall. Ein Baby ist mit dein Rettungswagen hierher unterwegs. Es ist offenbar in sein schlechter Verfassung. Ich rufe in Dr. Conways Auftrag an. Er bittet Sie, sofort zu kommen.« Holland richtete sich im Bett auf und stützte sich auf einen Ellenbogen. »Dr. Conway? Dr. Luke Conway?« »Ja. Er rief eben an und bat mich, Sie sofort zu informieren.« »Aber warum? Was hat Dr. Conway mit der Sache zu tun?« »Er hat mir nur aufgetragen, Sie anzurufen und zu bitten, gleich herzukommen. Das Baby ist offenbar sehr krank.« Gähnend schwang Holland die Beine über den Bettrand, ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen. »Wissen Sie Genaueres?« »Kleinen Moment, bitte, ich muss die Tür schließen.« Der Hörer am anderen Ende der Leitung wurde auf den Tisch gelegt. Holland konnte Stimmen hören; dann das Geräusch einer Tür, die geschlossen wurde. Er fragte sich, was in der Klinik vorging. Der Hörer wurde wieder aufgenommen. »Tut mir schrecklich Leid, Dr. Holland, aber es soll sonst niemand hören. Bei dem Baby handelt es sich um Gordon O'Brien, Man hat ihn gefunden. Er wird jeden Augenblick mit dem Rettungswagen erwartet. Die Polizei hat ihn in einem Cottage in Kilcullen entdeckt. Ein Arzt aus dem Krankenhaus in Naas hat angerufen und gesagt, der Zustand sei kritisch.« Sie stockte einnen Moment und flüsterte dann: »Er glaubt nicht, dass der Kleine überlebt.« Holland war bereits halb in seiner Hose. »Ich bin in fünf Minuten 403

da.« Er drückte auf die Taste, um den Wählton zu bekommen, und tippte rasch hintereinander sieben Zahlen ein. Nach zehnmaligen Läuten meldete sich eine schlaftrunkene, verärgerte Stimme: „Ja, wer ist dran?« „Conor, ich bin's, Paddy. Paddy Holland. Tut mir schrecklich Leid, dass ich jetzt anrufe, aber könnte Mary sofort herüberkommen und auf die Kinder aufpassen?« „Was!“ Unglauben. »Jetzt, mitten in der Nacht?« „Hören Sie, es tut mir wirklich Leid, Conor, aber man hat mich eben zu einem Notfall gerufen. Ich habe eigentlich keinen Bereitschaftsdienst, aber es handelt sich um eine sehr wichtige Sache.« Am anderen Ende der Leitung waren Flüche und verärgertes Gemurmel zu vernehmen. Holland ließ kein Auge vom Digitalwecker neben seinem Bett, auf dem die Sekunden unaufhaltsam verrannen. »Conor, es geht um den kleinen O'Brien-Jungen. Die Polizei hat ihn gefunden, und er ist jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus. Es geht ihm sehr schlecht.« Der Zorn am anderen Ende verflog abrupt. „Mary kann in einer halben Stunde da sein. Ich brauche ein paar Minuten, sie zu wecken, und bis sie fertig ist...« „Conor, ich kann nicht warten. Ich lasse den Haustürschlüssel unter der Matte. Mary soll mich anrufen, wenn sie da ist. Tut mir schrecklich Leid. Sagen Sie ihr, ich werde mich erkenntlich zeigen.« Gebrummel. »Und bei Ihnen auch, Conor.« 5.07 Uhr „Gott, er sieht furchtbar aus.“ So lautete Paddy Hollands erste Beurteilung des schlaffen Kör404

pers von Gordon O'Brien, als er in die Intensivstation der Zentralentbindungsklinik gebracht wurde.

Dann aber handelte

Holland mit professioneller Nüchternheit. »Okay, Rektaltemperaturmessung und -aufzeichnung. Ich brauche zwei voll ausgebildete Intensivstationsschwestern, die rund um die Uhr bei ihm sind. Ich muss einen arteriellen Zugang legen. Ich brauche ein volles Blutbild, die biochemischen und die Blutgas-Werte dieser ersten Proben. Ich werde sofort neue Proben entnehmen. Teilen Sie mir alle Ergebnisse umgehend telefonisch mit, sobald sie vorliegen. Halten Sie mich ständig auf dem Laufenden, selbst wenn ich auf dem Klo bin.« Noch während er sprach, waren die Schwestern bereits intuitiv und routiniert an der Arbeit. Blutprobenflaschen wurden bereitgestellt und beschriftet. Eine Leitung zur Stützung und Stabilisierung des Zentralvenendrucks des Kindes war zum Einführen bereit. Zwei Labortechniker warteten auf frische Proben. Die in Naas genommenen Proben waren bereits in Arbeit. Es war ein früher Start in den Tag für alle. »Verdoppeln Sie die Tropfrate der Antibiotika. Wurde er in Naas gewogen?« »Ja.« »Gut. Berechnen Sie die Dopamindosis, und sagen Sie mir die Werte.« Er wandte sich wieder dem Baby zu, das schlaff und teilnahmslos im Brutkasten lag, weder Schmerz noch Hunger zu fühlen schien. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und nur gelegentlich zuckte ein Ärmchen oder Füßchen. Ich glaube nicht, dass du es schaffst, dachte Holland. Wieder kämpfte Gordon O'Brien um sein Leben. 405

5.32 Uhr »Sie haben ihn! Sie haben ihn! Harry, zieh dich schnell an. Man hat ihn gefunden! Sie haben gerade aus dem Krankenhaus angerufen! Er ist dort! Er ist dort!«, schrie und schluchzte Sandy, während sie ihren Mann schüttelte. Big Harry stolperte durch das luxuriöse weiße Schlafzimmer und bemühte sich, die Kleidungsstücke anzuziehen, die seine Frau ihm zugeworfen hatte. »Geht es ihm gut?«, rief er, während er den Gürtel schloss und gleichzeitig in seine Schuhe schlüpfte. „Ja, ja, er ist in einem Brutkasten und hat irgendeine Infektion, aber er lebt. Mach schnell, Harry! Gordon lebt! Sie haben ihn befreit!« In beiden Fällen hatte sie Recht. Sie hatten ihn befreit, und er lebte, gerade noch. Die Bakterien vermehrten sich weiterhin.

6.01 Uhr „Tom Morgan? Das ist nicht Ihr Ernst? Sie nehmen mich auf den Arm?« Paddy Holland und eine der Stationsschwestern saßen bei Tee und Toast im Büro neben der Intensivstation. Durch ein Fenster hatten sie ungehinderte Sicht auf sämtliche Brutkästen. Der, in dem Gordon O'Brien lag, war an eine Stelle gebracht worden, wo er sich im direkten Blickfeld befand. Man hatte ihn an drei getrennte Monitore angeschlossen. Einer zeigte seine Herztätigkeit. Die blaue Anzeige flimmerte gleichmäßig über den Schirm. Ein zweiter gab den Zentralvenendruck wieder, der dritte die Atmung. Momentan waren alle drei Werte stabil. Ein weiteres Baby befand sich zur intensiven Überwachung auf der 406

Station, ein Mädchen, dessen Geburt sehr schwer verlaufen war. «Nein, tue ich nicht. Eine unserer Schwestern ist mit einem Polizisten von der Zentrale in der Store Street verheiratet. Sie hat es nur gestern gesagt.« Ich glaube es einfach nicht.« Aber wenn ich es Ihnen sage. Es ist wahr.« „Großer Gott.« Holland aß einen weiteren Toast und nippte an seinem Tee. Er sah kurz sein Spiegelbild im Bürofenster und stöhnte. Verdammt, ich sehe schrecklich aus. Er hatte sich vor der Fahrt ins Krankenhaus nicht einmal mehr die Zeit genommen, sich zu waschen und zu rasieren. Das Telefon neben ihm läutete. Es war seine Nichte Mary, die ihm mitteilte, dass sie jetzt im Hause sei. »Sind die Kinder okay?«, fragte Holland besorgt. »Alles in Ordnung, Onkel Paddy. Alles in Ordnung. Sie schlafen noch.« »Danke, Mary.« »Mach dir keine Sorgen, Onkel Paddy, ich krieg' heute vielleicht schulfrei. Wie geht es dem kleinen Baby?« »Gar nicht gut, Mary. Es geht ihm gar nicht gut.« »Ob ich für ihn beten sollte, Onkel Paddy?« »Das ist eine gute Idee, Mary, eine ganz wunderbare Idee. Bete einen Rosenkranz für den Kleinen. Bis später.« »Bis später, Onkel Paddy.« Die Kinder mögen es ganz und gar nicht, wenn sie aufwachen und merken, dass ich fort bin, dachte Holland, während er durch sein unfrisiertes Haar strich. Er seufzte tief, biss vom Toast ab, kaute und hatte das Gefühl, Sägespäne im Mund zu heben. Was für ein Leben ist das für die Kinder? Keine Mutter, bloß einen Vater, der wie ein Dieb in der Nacht verschwindet. Das ist nicht 407

gut für sie. »Offenbar hat man bei der gestrigen Durchsuchung irgendetwas in seinem Zimmer gefunden.« »Ach. Und was?« »Ich habe keine Ahnung. Das wusste er nicht. Aber sie haben irgendwas gefunden.« Holland warf einen Blick in die Station. Eine der Schwestern bedeutete ihm, dass alles unverändert sei, und wandte sich wieder dem Baby zu. »Sie haben alles auf den Kopf gestellt. Dr. Conway war stinkwütend. Die Stationen sind ohnehin halb leer, und als sie durch die Gänge stapften und Kartons mit beschlagnahmten Sachen aus dem Haus schleppten, wurde es den meisten zu viel. Ich hab' gehört, dass gestern weitere dreiundzwanzig Patienten vorzeitig die Klinik verlassen haben.« »Oh, nein«, stöhnte Holland. »Ich kann es nicht glauben.« »Ich weiß nicht, wo das noch hinführt. Die Mädchen haben Angst. Keine will mehr Nachtdienst machen. Wenn nicht bald etwas geschieht, muss das Krankenhaus schließen. Ich will ja nicht sagen, dass ich Dr. Morgan so schreckliche Dinge zutraue, aber irgendwie hoffe ich, dass er der Täter ist.« Erstaunt wandte Holland sich ihr zu. »Warum denn das?« »Weil es bedeuten würde, dass der Mörder gefasst ist. Und dass wir endlich wieder ruhig schlafen können, ohne ständig darüber zu grübeln, dass wir bei der nächsten Nachtschicht eine GardaEskorte für den Heimweg brauchen.« Die junge Schwester wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab und fuhr mit kaum verhohlenem Zorn fort: »Ich hoffe wirklich, dass es Dr. Morgan ist. Dann wäre alles vorbei.« Paddy Holland starrte durch das Fenster in die Station, verwirrt 408

und betroffen. »Nein, das passt einfach nicht«, sagte er. »Ich kenne Tom Morgan. Ich bin mit ihm aufs College gegangen. Okay, es stimmt schon, dass der Verstand ihm häufig zwischen die Beine rutscht, aber ein Mörder ist er nicht. Das ist völlig abwegig. Das passt nicht zusammen.« Die Schwester lachte unterdrückt über seine Ausdrucksweise. Sie hatte bisher noch nicht erlebt, dass Holland etwas anderes beschäftigte als seine Arbeit und seine Kinder. Ich würde auf Dean Lynch tippen, wenn mich jemand nach meiner Meinung fragt, dachte Holland. Bei dem kriege sogar ich eine Gänsehaut. Wäre ich bei der Polizei, hätte ich Lynch aufs Korn genommen. „Nein, Tom Morgan kann es nicht sein«, stellte er erneut entschieden fest. »Vielleicht bumst er Frauen zu Tode, aber er bringt sie nicht um. Nicht er.« „Ich sag' ja nur, was ich gehört habe«, fuhr die Schwester unbeirrt fort. Sie hatte nicht viel für Tom Morgan übrig. Für sie war er ein unverantwortlicher, rücksichtsloser, mieser geiler Bock, der sie außerdem einmal bei einem Rendezvous versetzt hatte. Paddy Holland schenkte sich noch eine Tasse Tee ein, nippte und verzog das Gesicht. Der Tee war kalt. Während er auf die Bluttestergebnisse wartete und die Schwestern Gordon O´Briens verzweifelten Kampf mit dem Tod überwachten, hatte er viel Zeit, über den möglichen Mörder nachzudenken. Tom Morgan konnte es nicht sein. Er konnte es einfach nicht sein! Was hatten sie gleich noch in seinem Zimmer gefunden? Moment mal. Langsam drängte sich ein Gedanke in Hollands Überlegungen. Er blickte wieder in die Intensivstation und versuchte, das Bild abzuschütteln, doch es wurde klarer, und er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Großer Gott, das ist es 409

wahrscheinlich! Herrgott, ja! Das ist es wahrscheinlich! Er riss die Schreibtischschubladen heraus, kramte zwischen Pathologieformularen und Rezeptblöcken, bis er fand, was er suchte: das Dubliner Telefonbuch. Er schlug es auf und blätterte hastig zum Buchstaben G. »Garda, Garda, Garda, wo, zum Teufel, steht es? Ah, hier! Garda-Zentrale.« Er fuhr mit dem Finger die Spalte hinab bis »Store Street« und kritzelte die Nummer mit dem Kugelschreiber auf seinen Handrücken. Dann stand er auf und

betrat

die

Intensivstation.

»Wie

sieht

es

aus?«

»Unverändert.« »Blutdruck okay?« »Geht so.« »Okay, ich muss mal schnell telefonieren. Ich gehe kurz in mein Büro. Sie können mich dort erreichen.« »Gut.« Paddy Holland schloss die Tür, nachdem er sein Büro betreten hatte, und wählte. »Ich möchte mit dem Diensthabenden Beamten sprechen.« Kurze Pause. Dann bat eine vorsichtige Stimme am anderen Ende der Leitung um Verständnis, dass dies im Moment nicht möglich sei. »Könnte ich dann Kate Hamilton sprechen - Detective Sergeant Kate Hamilton? Sie leitet die Ermittlungen im Klinikmord.« Die vorsichtige Stimme am anderen Ende wollte wissen, warum. »Mein Name ist Dr. Paddy Holland. Ich bin Kinderarzt in der Zentralentbindungsklinik. Mir ist eben etwas eingefallen, das wichtig sein könnte. Aber ich möchte es ungern übers Telefon erklären. Können Sie mir jemand anderen geben, der an dem Fall arbeitet?« Die vorsichtige Stimme sagte Nein, bot aber an, sich mit 410

Detective Sergeant Kate Hamilton in Verbindung zu setzen. Könnten Sie das? Das wäre großartig, herzlichen Dank. Ich bin den ganzen Vormittag im Krankenhaus. Sagen Sie ihr, sie soll sich von der Vermittlung gleich zur Intensivstation durchstellen lassen.« Drei Minuten später läutete das Telefon. Kate saß todmüde auf der Bettkante. Der vorsichtige Garda aus der Zentrale in der Store Street hatte sie über Dr. Hollands Anruf informiert. Er berichtete auch, dass sie endlich einen Arzt gefunden hatten, der bereit war, Dr. Morgans Aids-Test durchzuführen. Schon den ganzen letzten Abend hatte man versucht, einen Mediziner aufzutreiben, doch unter den üblicherweise hinzugezogenen Amtsärzten schien eine Grippeepidemie ausgebrochen zu sein, sobald sie erfuhren, dass es um eine Blutuntersuchung an einem Kollegen ging. Diesmal war es eine andere Art der Verweigerung: keine Verordnung von oben, sondern ein instinktiver Schutzmechanismus, der in Medizinern erwachte, wenn einer der ihren in Schwierigkeiten war. Der Garda setzte Kate auch davon in Kenntnis, dass soeben ein Anruf von einem Mr. Jan Pietersen aus Los Angeles eingegangen in dem er bestätigte, dass er und Dr. Morgan den ganzen Abend und die ganze Nacht des 11. Februar 1997 zusammen verbracht hatten. Mr. Pietersen fügte hinzu, dass er diese Bestätigung in Form einer eidesstattlichen Erklärung oder persönlich geben könne, dass dies aber etwa eine Woche dauern würde. Mr. Pietersen hatte um eine Empfangsbestätigung seines Fax gebeten. „Verdammter Mist«, fluchte Kate. »Rufen Sie mich sofort über meine Handynummer an, wenn die Ergebnisse des Aids-Tests vorliegen.« 411

„Könnte ich mit Dr. Paddy Holland sprechen?« Kate hörte Tumult im Hintergrund. Eine Frau weinte, und ein Mann schien zu schluchzen. Allmächtiger, was geht da vor? »Detective Hamilton? Hier Dr. Paddy Holland. Ich wollte Ihnen sagen, dass mir etwas eingefallen ist, das für Ihre Morduntersuchung von Bedeutung sein könnte. Vielleicht ist es nicht so wichtig, wie ich glaube, aber Sie sollten es auf jeden Fall erfahren.« »Was erfahren?« Kate versuchte leise zu sprechen, um Rory nicht zu wecken, und zugleich Holland das Gefühl zu geben, dass sie an seiner Information interessiert war. »Tut mir Leid, nicht am Telefon. Dazu ist die Sache zu delikat und zu wichtig. Und wir haben hier einen Notfall, ein sehr krankes Baby. Die Eltern sind gerade eingetroffen. Könnten Sie herkommen?« Kate angelte bereits nach ihren Kleidern. »Ich bin in einer Stunde da. Passt das?« Wieder war Weinen im Hintergrund zu hören, und eine Hand legte sich auf die Sprechmuschel. Dann erklang Hollands Stimme wieder. »Ja, das passt sehr gut. Ich bin auf der Intensivstation. Oder auf der Frühgeburtenstation.« »Wo ist das?« »Zweiter Stock, Westflügel. Okay?« »Ja«, sagte Kate und wandte sich zum Bett, um Rory zu wecken. »Komm, Rory, aufstehen. Komm, du Schlafmütze, hoch mit dir.« Kate hob den schlafenden Jungen aus dem Bett und herzte ihn wach. Er gähnte, legte ein Armchen um sie, steckte den Daumen in den Mund und drückte sich nuckelnd an sie. Kate streichelte ihm übers Haar, den Kopf, das Gesicht, und küsste ihn. Aus irgendeinem Grund drückte sie ihn fester an sich als sonst. Aus 412

irgendeinem Grund wollte sie diesen Augenblick festhalten doch aus demselben eigenartigen Grund spürte sie, dass sie es nicht konnte. Kate durchfuhr eine Ahnung bevorstehenden Unheils. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und sie fröstelte, obwohl die Heizkörper voll aufgedreht waren. Rory auf dem Arm, stolperte sie über Plastikeisenbahnschienen und Loks in die Küche, wo sie rasch das Frühstück bereitete und gleichzeitig mit ihrer Morgentoilette beschäftigt war. Sie sah sich das Chaos auf dem Boden an und seufzte. „Trödel nicht, Rory. Iss deinen Toast. Ich muss zur Arbeit.« Rory blinzelte sie an, während er mit einer Hand an seinen Haaren zupfte, mit der anderen mit seinem Toast spielte. »Mom?« „Mach schon, Rory, ich bin spät dran.« „Mom?« „Was denn? Ich hoffe, du fängst nicht wieder mit dem Hündchen an. Ich hab' dir schon gesagt, dass kein Hund ins Haus kommt.« Rory verzog das Gesicht. Der Toast fiel ihm aus der Hand, und eine Träne lief ihm über die Wange. „Pass doch auf!« Eine halbe Stunde später setzte sie Rory am Kindergarten ab. „Bis später. Küsschen.« »Mom?« „Ja?« »Wann krieg' ich denn ein Hündchen?« „Wir reden ein andermal darüber. Ich komme zu spät. Wir reden ein andermal.« Paddy Holland sprach zu diesem Zeitpunkt mit Harry und Sandra 413

O'Brien und versuchte verzweifelt, sie zu beruhigen. „Ihr Kind ist sehr krank, lebensbedrohlich krank. Wir tun alles, was möglich ist, aber Ihr Junge kam bereits schwer erkrankt zu uns. Die nächsten vierundzwanzig Stunden sind entscheidend.« Sandra sank neben dem Brutkasten in die Knie. Sie war bleich und stumm, doch Big Harry konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die er seit Tagen unterdrückt hatte. Er lehnte sich an die Wand und weinte. Holland winkte einer Schwester, die herbeikam, einen Arm um Sandra legte und sie zu trösten versuchte, so gut sie es vermochte. Als Big Harry sich ein wenig gefasst hatte, bat Holland ihn, sich zu setzen, und blickte ihm ernst in die Augen. „Mr. O'Brien, Ihr Junge ist sehr krank, aber er ist nicht tot. Hören Sie? Wir tun alles, was wir können. Wir werden Berge versetzen, falls notwendig. Wir werden um den Jungen kämpfen. Aber Sie und Sandra müssen uns helfen. Sie müssen vor allem ihm hellen.« Er ließ seine Worte einwirken. Irgendwo in Harry O'Briens Innerem glomm in der Dunkelheit des Schmerzes ein Hoffnungsschimmer. »Sagen Sie uns, was wir tun können, Doktor.« Er wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen und schnäuzte sich. Dann richtete er sich auf, ging zu seiner Frau, zog sie sanft zu sich hoch und drückte sie an sich. »Was können wir tun, Doktor?« Paddy Holland stellte zwei Stühle neben den Brutkasten, in dem Gordon O'Brien lag. Seine kleine Brust hob und senkte sich rasch, seine Ärmchen und Beinchen bewegten sich kaum. Doch die Farbe seiner Haut war eine Spur gesünder geworden. »Setzen Sie sich hierher.« Holland wies mit der Hand auf die Stühle und führte die Eltern dorthin. »Setzen Sie sich zu ihm. Sprechen Sie zu ihm. Streicheln 414

Sie ihn und küssen Sie ihn. Er muss spüren, dass er wieder bei seiner Mutter und seinem Vater ist. Lassen Sie ihn spüren, dass er wieder geliebt wird. Vermitteln Sie ihm, dass es sich zu leben lohnt. Geben Sie ihm neuen Lebenswillen.« Er wandte sich an Sandra. »Der kleine Junge muss wieder leben wollen. Er muss erkennen, dass seine Mutter jetzt für immer bei ihm ist. Er muss Sie spüren und hören und das Gefühl haben, wieder zu Hause zu sein.« Die Wandlung in Sandra und Harry O'Brien war beeindruckend. Sie setzten sich an den Brutkasten und nahmen den Kampf um das Leben ihres kleinen Sohnes auf. Paddy Holland winkte die Schwestern hinaus. »Überwachen Sie seine Werte und rufen Sie mich sofort, wenn sich etwas ändert. Wir haben alles getan, was möglich ist. Das Überleben des Kindes liegt nun in Gottes Hand. Aber wenigstens müssen die Eltern ...«, er deutete nach drinnen, »nicht mehr diese Hilflosigkeit ertragen. Wenn der Junge stirbt, wird es ihnen ein Trost sein, dass sie bis zuletzt bei ihm gewesen sind und mit ihm gekämpft haben.«

8.32 Uhr Tommy Malone lag im Bett in Bettys Haus in Greystones und verfolgte die Morgennachrichten. Betty kam mit blassem Gesicht ins Zimmer. Sie hatte das Radio in der Küche eingeschaltet und ebenfalls die Nachrichten gehört. „Willste was frühstücken?« Malone schnippte tief in Gedanken eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. »Nein. Danke, Betty. Nein, ich muss nachdenken.« Allerdings, das musst du, dachte Betty. 415

40 9.03 Uhr Frühgeburtenstation, Zentralentbindungsklinik Einige Schwestern nannten sie die Lebenszelle, als Gegenstück zur Todeszelle in hinrichtungswütigen Staaten der USA. Es war ein großer Raum von etwa zehn mal zehn Metern mit acht oben offenen Brutkästen, in denen jene winzigen Babys lagen, die zu früh zur Welt gekommen waren. Einige waren mit Beatmungsgeräten verbunden, die sie mit dem Sauerstoff versorgten, den sie brauchten, aber nicht aus eigener Kraft bekommen konnten, weil sie zu schwach waren. Die meisten wurden mit Spezialheizgeräten und Sauerstoffpumpen versorgt. Jedes Baby hatte pergamentdünne Haut, die sich über Knochen und Sehnen spannte. Und sie alle hatten noch eines gemeinsam: Sie kämpften ums Überleben. Vor der Lebenszelle wartete Kate Hamilton auf Paddy Holland. »Sie dürfen nicht herein. Würde es Ihnen etwas ausmachen, im Büro zu warten?«, hatte eine Schwester zu Kate gesagt. »Nein, natürlich nicht.« Das Büro besaß große durchsichtige Glasfenster, durch die das Personal die Vorgänge in der Frühgeburtenstation beobachten konnten. Kate stand davor und schaute zu. Sie konnte sich sehr deutlich an ihre eigene Niederkunft erinnern und daran, dass sie einmal durch diesen Gang geirrt war, jemanden nach dem Weg fragen wollte und plötzlich vor der Frühgeburtenstation stand. Sie hatte damals die Augen nicht abwenden können und konnte es auch an diesem Morgen nicht. Der Kampf ums Überleben war 416

so dramatisch; der Faden, an dem das Leben hing, so dünn. »Wird er bald zu sprechen sein?« »Schwer zu sagen. Wir haben ein kleines Mädchen da drinnen, das uns große Sorgen macht. Er wartet gerade auf die Ergebnisse der Computertomographie des Schädels.« »Welches ist es?« Kate versuchte, mehr zu erkennen. Die Schwester kniff die Augen zusammen. »Sehen Sie den Brutkasten, vor dem er steht? Es ist der links davon, eine Reihe dahinter.« Kate beobachtete, wie Holland sich hinunterbeugte und mit seinem Stethoskop ein winziges Bündel abhorchte, das im grellen Licht lag. Mit dem Hauch eines Lächelns richtete er sich auf. Kate sah den angstvoll auf ihn gehefteten Blick der Mutter. Holland schien gar nicht zu bemerken, welche Macht er besaß. Den Schwestern schien ihre Macht ebenso wenig bewusst zu sein. Ihr Wissen und Können und ihre Erfahrung waren die gewaltigen Kräfte, die zwischen all diesen Bettchen und Brutkästen wirkten. Die Kräfte des Lebens. Holland ging zu dem gefährdeten Baby. Kate sah, wie er leise mit der Mutter sprach. Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Nase, während er redete. Kate sah, wie die Brust der Frau sich hob und senkte, sah sie schluchzen, sah ihre Finger um ein zusammengeknülltes Taschentuch geklammert. Dann legte Holland dem Vater, der mit zuckendem Gesicht in den Brutkasten blickte, in dem sein Kind lag, eine Hand auf die Schulter. »Es war bis jetzt schon ein schlimmer Tag für Dr. Holland, und dabei ist es erst neun.« Kate wandte sich wieder der Schwester zu, die ebenfalls in das Drama versunken war. »Wie meinen Sie das?« 417

»Er ist seit fünf Uhr hier. Er war die meiste Zeit bei dem entführten Baby in der Intensivstation.« »Wie geht es dem Kleinen?« »Nicht gut, soviel ich weiß.« O Gott, dachte Kate. »Und dann hat sich auch noch der Zustand dieses kleinen Mädchens verschlechtert. Dr. Holland ist laufend zwischen der Intensivstation und der Frühgeburtenstation unterwegs, seit ich meinen Dienst angetreten habe.« Kate beobachtete wieder. Holland sprach nun mit einer der Schwestern. Sie nickte und zog eine Spritze auf. Er wandte sich um, bemerkte Kate und hob einen Finger, um ihr zu zeigen, dass er sie gesehen hatte. Gehen Sie nicht fort, gab der Finger Kate zu verstehen. »Dann rief die kleinere seiner Töchter an und beschwerte sich, dass ihr Daddy nicht da war, als sie aufwachte.« Die Schwester lächelte. »Sie hat ihm ganz schön zugesetzt.« Kate lächelte schief. Davon kann ich auch ein Lied singen. »Hallo. Danke, dass Sie gekommen sind. Es tut mir wirklich Leid, dass Sie warten mussten, aber heute Morgen geht alles ziemlich drunter und drüber.« Holland wirkte sorgenvoll und abgespannt. Sein Gesicht war beinahe grau vor Müdigkeit und Dauerbelastung. Kate entging nicht, dass ihm sein Aussehen peinlich war. Unsicher zupfte er an dem weißen Mantel, den er trug. Seine große Gestalt war gebeugt von Sorge und Mitgefühl. Er wandte sich an die Schwester. »Rufen Sie mich, wenn die Ergebnisse der Computertomographie da sind. Ich bin mit Detective Sergeant Hamilton unten in meinem Büro.« »Kate ist okay«, unterbrach ihn Kate. 418

Holland lächelte, und Kate lächelte zurück - ein wenig verlegen, wie eine Frau, die plötzlich bei ihrer Bewunderung für einen Mann ertappt wird. »Kate, Sie und ich sind im Grunde in demselben Geschäft«, begann Holland und putzte mit dem Zipfel der Krawatte seine Brille. Kate zog die Brauen hoch. »Wir sind Detektive. Sie suchen den lieben langen Tag nach Informationen, um herauszubekommen, wer etwas getan hat und warum. Sie sind ständig auf der Suche nach Anhaltspunkten.« Kate nickte, unsicher, worauf er hinauswollte. »Auf meine Weise bin ich auch ein Detektiv. Wenn ich meine Patienten behandle, suche ich Anhaltspunkte, welche Fortschritte sie machen, oder warum sie keine

machen. Ich sammle

alle

möglichen

Informationen, um herauszufinden, mit welcher Krankheit ich es zu tun habe. Verstehen Sie, was ich sagen will?« »Ich bin ganz Ohr.« »Gut.« Er entspannte sich einen Moment; dann lehnte er sich abrupt und mit einem Nachdruck vor, der Kate überraschte. Seine Augen waren halb geschlossen, seine Wimpern zuckten, als er sich seine Beobachtungen und Schlüsse in der richtigen Reihenfolge ins Gedächtnis rief. Seine Hände waren wie zum Gebet aneinander gepresst. »Sie suchen einen Mörder. Ich weiß, dass viele Ärzte alles andere als hilfreich waren und es vorgezogen haben, zu schweigen. Vielleicht haben sie befürchtet, Sie auf eine falsche Spur zu führen oder einen ihrer Kollegen fälschlich zu belasten und sich vor einem Zivilgericht wieder zu finden.« Er hielt inne und blickte ihr in die Augen. Kate sagte nichts. 419

»Aber ich will Ihnen jetzt ganz offiziell darlegen, wie ich diese schreckliche Sache einschätze, okay?« »Nur zu.« Kate öffnete ihr Notizbuch und zückte einen Kugelschreiber. »Schießen Sie los.« »Vor einiger Zeit war einer der Fachärzte, die hier arbeiten, mitten in der Nacht zu einer Entbindung gerufen worden. Als er nach Hause fahren wollte, sprang sein Wagen nicht an. Die Batterie war leer, weil er die Scheinwerfer hatte brennen lassen. Ich fuhr gerade auf den Parkplatz, und der Kollege fragte mich, ob ich ihm Starthilfe geben könnte. Als das Starthilfekabel angeschlossen war und er wieder Strom hatte, schalteten sich zwei Alarmanlagen in seinem Wagen ein. Zwei getrennte Alarmanlagen. Mir wäre bei dem plötzlichen Lärm fast das Herz stehen geblieben.« Er hielt inne. Kate hatte noch kein Wort notiert. Starthilfe war nicht das erhoffte Thema. „Ich muss schon sagen, das hat mich ziemlich verblüfft. Ich kenne sonst niemanden mit zwei Alarmanlagen im Wagen, vor allem, wenn der Wagen weniger wert ist als die Anlagen.« „Woher wollen Sie das wissen?« In Kate erwachte plötzliches Interesse. „Ich habe es überprüft. Ich war dermaßen überrascht, dass ich mir die Adresse merkte und den Laden anrief, der die Anlagen installiert hatte. Ich hatte mich selbst für eine Alarmanlage interessiert. Mir ist in zwei Wagen eingebrochen worden, und einen hat man mir gestohlen. Irgendwann hat man die Nase voll.« „Wem sagen Sie das.« Kate erinnerte sich an die peinliche Situation, als ihr Sondereinsatzfahrzeug direkt vor der Garda-Zentrale Store Street entwendet worden war. 420

»Bei der Firma konnte man sich gut an den Einbau der zwei Alarmanlagen erinnern. Der Techniker erzählte mir, dass sie nie zuvor einen solchen Auftrag gehabt hatten, nicht einmal an einem neuen Mercedes, und schon gar nicht an einem BMW, der acht Jahre auf dem Buckel hatte. Der Mann sagte mir, dass die Alarmanlagen wahrscheinlich nicht viel weniger gekostet hatten als der Wagen selbst. Es war zum Lachen. Und dann sagte er etwas Seltsames.« Holland hielt einen Augenblick inne, als wollte er sich alles noch einmal genau ins Gedächtnis rufen, bevor er fortfuhr. Kate saß starr auf dem Stuhl. »Was hat er gesagt?« „Er sagte, er wäre nie zuvor einem so eigenartigen Mann begegnet. Er beschrieb ihn als geheimniskrämerisch, detailbesessen bis ins Letzte, vorsichtig bei allem, was er sagte. Er hielt ihn für einen Psychopathen. Er fühlte sich sogar bedroht, als er den Einbau der Anlage vornahm. Dabei hat er nur einen einfachen Installationsauftrag für den Mann erledigt. Weshalb fühlte er sich da von ihm bedroht?« Kate kämpfte gegen ein wachsendes Gefühl der Furcht an, während sie Holland zuhörte. Die Vorahnung war wieder da - das Gefühl, dass schreckliches Unheil drohte. »Er sagte auch, dass er beim Einbau zufällig auf ein Geheimfach in der Türverkleidung stieß. Er hat Leitungen verlegt oder so was, als das Fach sich plötzlich öffnete. Es war nichts drin, aber der Mann hatte das Gefühl, das Fach und die teuren Alarmanlagen hätten irgendwie miteinander zu tun.« »Hat er etwas unternommen? Hat er jemandem davon erzählt?« »Nein, das ist ja das Verrückte. Er sagte, nach gründlichem Nachdenken wäre er zu der Ansicht gelangt, es würde ihn nichts 421

angehen. Aber als ich nachhakte, gab er es schließlich zu.« Wieder hielt Holland kurz inne. »Was gab er zu?« »Dass er Angst vor dem Mann hatte. Er hatte so große Angst, dass er lieber alles für sich behielt, was er gesehen hatte. Das Leben ist zu kurz, sagte er, um sich Schwierigkeiten einzuhandeln.« Kate wusste instinktiv, dies war der Durchbruch. Endlich hatten sie die Spur gefunden, nach der sie so lange gesucht hatten. »Dann fragte er mich, ob ich wüsste, wer der Mann ist. Und wissen Sie was?« »Was?« »Ich erkannte plötzlich, dass es mir nicht anders erging als diesem Alarmanlagentechniker. Ich habe verleugnet, den Mann zu kennen, weil ich mich ebenso bedroht fühlte. Dabei arbeite ich mit ihm. Er ist ein Kollege. Ich kann mir nicht erklären, warum ich mich bedroht fühle. Aber es ist so. Und darum sagte ich Nein, wie der Techniker.« »Und wer ist der Mann? Wer ist der Kollege?« Holland zögerte nicht. »Dr. Dean Lynch.« Kate versuchte, klaren Kopf zu behalten. »Bei allem Respekt, Dr. Holland, es ist kein Verbrechen, zwei Alarmanlagen im Auto zu haben, selbst wenn es schrottreif ist.« »Das ist mir klar. Aber wie ich vorhin sagte, es ist ein Anhaltspunkt. Wir greifen nach Strohhalmen, ich weiß.« »Was meinen Sie damit?« »Ich weiß, dass Sie Tom Morgan als Mordverdächtigen verhaftet haben.« Kate wollte ihn unterbrechen, doch Holland fuhr fort. „Fragen Sie nicht, woher ich das weiß. Aber ich kenne Tom Morgan seit unserer Collegezeit. Er ist ein Angeber, ein Weiber422

held, ein geiler Bock, der sich keine Gelegenheit entgehen lässt. Aber er ist kein Killer. Ich irre mich selten bei Menschen. Jedenfalls nicht so gravierend.« »Dr. Holland...« „Sagen Sie Paddy zu mir, wenn ich bei Kate bleiben soll. Wir beide haben ein Interesse an diesem Fall. Wir müssen einander helfen.« „Paddy, ich schätze Ihre Information sehr hoch ein, glauben Sie mir. Aber ohne zu viel Internes preiszugeben, wir haben gegen Dr. Morgan mehr in der Hand, als eine zweifache Autoalarmanlage wettmachen könnte.« »Ja, ich weiß. Sie haben etwas in seinem Zimmer gefunden, nicht wahr?« Kate blickte ihn scharf an. »Fragen Sie mich nicht, woher ich auch das weiß. Ich weiß es einfach. Und ich will Ihnen eine kleine, möglicherweise hilfreiche Information dazu geben. Vielleicht ist sie wichtig, vielleicht auch nicht. Ich werde Ihnen auf jeden Fall sagen, was mir aufgefallen ist« Erneut machte er eine Pause und betrachtete seine Hände. »Ich wurde schon gestern Morgen ziemlich früh in die Klinik gerufen. Wir haben eine Frühgeburt, ein Mädchen, dem es nicht gut geht. Man bat mich, mir die Kleine anzusehen. Ich schlich mich aus dem Haus und war binnen einer Stunde wieder zurück. Die Kinder bekamen gar nicht mit, dass ich fort war.« Das wäre bei mir unmöglich, dachte Kate. Rory würde wie eine Klette an mir hängen. „Ich verließ die Station und ging hinauf in mein Büro, in den privaten Flügel, um einige Papiere zu holen. Ich habe das Licht 423

nicht eingeschaltet; die Beleuchtung auf dem Flur war hell genug. Ich hatte das Büro gerade betreten, als ich hörte, wie eine Tür geschlossen wurde. Die nächste Tür links, wenn man hereinkommt. Ich weiß gar nicht, warum ich hinausblickte. Wahrscheinlich war ich überrascht, dass noch jemand schon so früh am Morgen hier war. Tja, ich konnte genug von ihm sehen, um zu erkennen, um wen es sich handelte.« »Dr. Lynch?« »Genau.« »Was ist daran so ungewöhnlich?« »Dr. Lynch hat keine Privatpraxis. Dr. Lynch ist strikt dagegen. Dr. Lynch hat immer und überall eines ganz deutlich gemacht: Er behandelt keine Privatpatientinnen. Er ist ausschließlich für Sozialpatientinnen der Klinik zuständig.« »Also braucht er keine Praxis im privaten Flügel?« »So ist es. Er geht nie in den privaten Flügel in eine der Praxen. Nie. Er macht keinen Hehl daraus, dass dieser Teil der Klinik ihm verhasst ist.« »Warum ist er dann so früh am Morgen dort herumgeschlichen?« »Genau das ist die Frage, die auch ich mir gestern den ganzen Tag gestellt habe, Kate. Dann vergaß ich die Sache und erinnerte mich erst wieder daran, als ich von der Verhaftung Tom Morgans hörte. Ich weiß, dass Lynch früh zu einer schwierigen Zangengeburt musste, aber das war auch schon alles. Er hätte anschließend sofort wieder heimfahren können. Jedenfalls hatte er keinen Grund, in den privaten Flügel hinaufzugehen.« Kate runzelte die Stirn. Die Sache beunruhigte sie immer mehr. Es war wirklich rätselhaft. »Als ich dann hörte, was Ihre Leute in Tom Morgans Praxis ent424

deckt hatten, war mir plötzlich alles klar.« »Was war Ihnen klar?« »Wo Lynch so früh am Morgen gewesen ist.« Kate hielt den Atem an. »Sind Sie sicher?« »Absolut. Tom Morgans Tür ist die letzte auf diesem Flur. Lynch kann nur dort herausgekommen sein. Es gibt keine andere Möglichkeit.« Kate nickte. Sie kannte den Flügel von ihrem Besuch bei Morgan. »Sie glauben also, dass Dr. Lynch irgendetwas in Morgans Zimmer versteckt hat?« »Ich weiß so wenig wie Sie, was er dort getan hat. Ich sage Ihnen nur, was ich gesehen habe. Alles Weitere liegt bei Ihnen. Sie sind der Detektiv.« „Vorhin haben Sie etwas anderes gesagt.« Kate lächelte ein wenig mühsam. „Das war vorhin. Ich mache die Beobachtungen. Sie müssen herausfinden, ob sie etwas wert sind oder nicht.« Kate kritzelte in ihr Notizbuch und warf einen Blick auf die Uhr. »Sind die Praxistüren im privaten Flügel nicht verschlossen?« »Nein. Dort ist mal eingebrochen worden. Dabei wurden drei Türen demoliert. Seither gilt die Anordnung, Zimmertüren und Aktenschränke nicht mehr abzuschließen, ausgenommen im Sicherheitsbereich. Auf diese Weise entstehen weniger Schäden, falls wieder mal ungebetener Besuch kommt.« »Gibt es noch etwas?« "Ja. Lynch hasst Morgan wie die Pest. Jeder weiß, dass es zu Handgreiflichkeiten käme, würden sie einander begegnen. Sorgfältige Terminplanung sorgt dafür, dass sie nicht beide gleichzei425

tig am selben Ort sind.« "Meinen Sie das ernst? Die zwei sind doch Ärzte. Ich meine, es ist schlimm genug, dass es in der Unterwelt so ruppig zugeht, aber von Medizinern hätte ich das nicht erwartet.« „Ja, das ist ungewöhnlich. Ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Mehr sage ich nicht dazu.« Er grinste. »Ich möchte nicht vor dem Zivilgericht enden.« »Das Zivilgericht scheint wie ein Damoklesschwert über euch Ärzten zu hängen.« »Ich hätte es nicht treffender formulieren können.« Einen Atemzug lang trafen sich ihre Blicke. Das Telefon auf Hollands Schreibtisch läutete plötzlich. Verärgert über die Unterbrechung, griff er nach dem Hörer. „Ja?« Kate erkannte die Stimme der Schwester am anderen Ende und sah, wie Hollands Miene sich verdüsterte. Er seufzte und rieb sich mit der freien Hand die Stirn. »Okay, bitten Sie die Eltern in mein Büro. Sorgen Sie dafür, dass ich allein mit ihnen sprechen kann. Neues aus der Intensivstation?« Er lauschte und sagte schließlich: »Gut, ich bin in drei Minuten da.« Gedankenversunken legte er den Hörer auf. »Schlechte Nachrichten?« Holland blickte auf. »Ja, sehr schlechte Nachrichten. Das kleine Mädchen auf der Frühgeburtenstation wird es nicht schaffen. Sie hatte eine starke intraventrikuläre Blutung.« »Ist das so schlimm?« Eine »starke intraventrikuläre Blutung« hörte sich für Kate nicht gefährlicher an als starkes Nasenbluten. »Ich fürchte ja. Es bedeutet, dass in einem Teil ihres Gehirns eine Blutung eingetreten ist. So stark, dass sie es nicht überleben wird. Das Beatmungsgerät ist im Grunde alles, was sie noch am Leben 426

erhält. Wenn man es abschaltet, ist es vorbei.« »Kann man gar nichts mehr tun?« Kate konnte die Gesichter der Eltern sehen, die auf das kleine Bündel im Brutkasten gerichtet waren. »Nein, nichts mehr. Sie kam mit einundzwanzig Wochen auf die Welt. Wir können eine ganze Menge für Babys tun, die mit fünfundzwanzig Wochen oder mehr geboren werden. Sind sie noch jünger, können wir sie zwar am Leben erhalten, aber es ist mit einem hohen Risiko verbunden. Meist ist eine schwere geistig« Behinderung die Folge, wenn man so frühgeborene untergewichtige Kinder am Leben zu erhalten versucht. Wir haben in unserem Land eine der niedrigsten Kindersterberaten der Welt. Die wollen wir behalten und wenn möglich verbessern. Aber es hat keinen Sinn, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um den Eltern ein hirngeschädigtes Kind übergeben zu können. Eltern sind dankbar für unseren Einsatz, aber sie möchten ein normales, gesundes Baby bekommen. Wir hatten gehofft, wir könnten mehr für dieses kleine Mädchen tun.« »Verdammt. Ist die Schicksalsgöttin nicht ein gnadenloses Miststück?« »Das ist zwar keine politisch korrekte Ausdrucksweise, aber ich kann Ihnen nur beipflichten.« Kate dachte an Rory und den schrecklichen Albtraum. Sie wünschte, sie könnte jetzt bei ihm zu Hause sein, genau in diesem Augenblick, und dass sie beide einen ganzen Tag für sich hätten, frei von der ewigen Hast, die ihr Beruf ihnen beiden auferlegte. Ich sage Ihnen noch etwas, Kate. Es hat nichts mit Dean Lynch zu tun«, fügte Holland rasch hinzu, als er bemerkte, wie Kates 427

Augen plötzlich schmal wurden. »Wer immer diese beiden jungen Frauen getötet hat, muss rasch gefasst werden. Im Krankenhaus breitet sich das Chaos aus. Keiner traut mehr dem anderen. Die Schwestern weigern sich ganz offen, die Nachtschicht zu übernehmen.« „Wir könnten eine Garda-Eskorte abstellen.« „Ja, das habe ich auch vorgeschlagen. Aber es hat nicht viel geholfen. Wirklich kritisch wurde es vor etwa einer Stunde. Eine der Mütter fragte, ob sie ihr Baby hier wegbringen könnte, fort aus der Frühgeburtenstation. Das Baby ist an jeden Monitor angeschlossen, den wir haben. Es braucht ständige Sauerstoffzufuhr. Dem Kleinen geht es nicht schlecht, aber er ist noch weitgehend auf diese Beatmung angewiesen. Trotzdem wollte die Mutter, dass wir ihn an eine andere Frühgeburtenstation überweisen.« Seine Stimme hob sich ein wenig. »Das Kind würde ohne die Geräte keine fünf Minuten überleben. Das habe ich der Mutter auch gesagt. Aber sie ließ sich nicht davon abbringen, dass das Baby hier einer größeren Gefahr ausgesetzt wäre als auf der riskanten Fahrt durch die Stadt zu einer anderen Klinik. Und alles nur wegen dieses Mistkerls.« Er beugte sich zu Kate vor: »Finden Sie den Mann! Schnappen Sie ihn! Für jedes Baby hier. Für jede Mutter, die hier noch ausharrt. Und auch für die, die bald ein Baby bekommen und sich besorgt fragen, ob sie hier ein Ort der Zuflucht oder eine Mörderhöhle erwartet.« Das Telefon klingelte erneut. »Ja, ja, ich komme sofort.« Er erhob sich. „Tut mir Leid, ich muss gehen. Ich hoffe, meine Beobachtungen helfen Ihnen weiter.« Er öffnete die Tür, wandte sich jedoch noch einmal um, blickte auf Kate und setzte zum Sprechen an. Er 428

wirkte verlegen. »Wenn ... wenn das alles vorbei ist... äh ... könnten wir vielleicht zusammen was trinken ... oder essen gehen?«, stammelte er unbeholfen. Kate lächelte. »Ja, ich würde mich freuen.« Dann war er fort. »Hallo, Vermittlung? Können Sie mich mit Dr. Dean Lynch verbinden? Er ist noch nicht im Hause? Sollte er nicht längst da sein? Weiß jemand, wo er sein könnte? Würden Sie jemanden vom Sicherheitspersonal bitten, dass er mal nachsieht, ob Dr. Lynchs Wagen auf dem Parkplatz steht? Tut mir Leid, ich bin Detective Sergeant Kate Hamilton. Nein, nein, sagen Sie ihm nicht, wer ihn sucht. Ich will seinen Arbeitsablauf nicht durcheinander bringen. Ich möchte ihm nur ein paar Fragen stellen.« Aber Dean Lynch war nicht im Hause. Ja, er sollte schon längst da sein. Er hatte um zehn einen Operationstermin; alle warteten auf ihn. Nein, er hatte nicht angerufen und sich entschuldigt. Er war einfach nicht da. Er war acht Kilometer entfernt im Djouce-Wald in der Gegend von Enniskerry und übte, auf Nummer sicher zu gehen. Selbst aus acht Metern Entfernung vom Ziel gelang es ihm bereits sechsmal bei dreizehn Treffern. Zweimal in die Augen, in jedes Auge, dreimal in die Stirn, und einmal in den Mund. Dieser Treffer gefiel ihm besonders. Er hatte die Lippen mit rotem Filzschreiber gemalt, extra dick. Dean Lynch genoss es, jede einzelne Minute. Als Kate langsam auf dem Flur zurückging, hörte sie das Schluchzen, noch bevor sie die Eltern selbst sah. Eine Schwester führte die beiden an ihr vorbei. In der Lebenszelle ging Paddy Holland langsam zu dem Brutkasten links hinten im Raum. Die anderen - Paare, oder Mütter allein neben ihren winzigen Babys - wandten sich ab. Sie konn429

ten es nicht mit ansehen. Holland blickte eine volle Minute, vielleicht länger, in den Brutkasten, bevor er langsam und entschlossen die lebenserhaltenden Geräte abschaltete. Die Lichter erloschen.

41 11.07 Uhr Tom Morgan wurde kurz vor elf Uhr aus der Haft entlassen. Er konnte durch eine Hintertür an den Fernsehteams, Fotografen und Journalisten vorbeischlüpfen, die seit dem Morgen das Revier belagerten, als die Nachricht von einer Verhaftung in den Krankenhaus-Mordfällen durchgesickert war. Rastlos liefen sie in der zunehmenden Kälte vor dem Gebäude auf und ab, doch das Einzige, das ihnen vor die Kameras kam, war ein Leichenwagen von Massey's Beerdigungsinstitut, der einen armen Teufel aus dem Leichenschauhaus zu seiner letzten Ruhestätte karrte. Ein paar Fotografen knipsten ihn trotzdem. Es kam immer mal vor, dass sich Aufnahmen später als nützlich erwiesen. In diesem Fall war es tatsächlich so. Morgans Entlassung war erst einmal ein schwerer Schlag für das Ermittlungsteam. Doch das Fax aus LA, das negative Ergebnis von Morgans Aids-Tests und die revidierte Aussage des Barmixers aus dem Guys Club, nach der Morgan den größten Teil des Montagabend im Club gewesen war, machte deutlich, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hatten. Kate informierte die anderen über ihr Gespräch mit Paddy Holland. Eine neue Strategie wurde beschlossen und sofort umgesetzt. Das Ziel war Dean Lynch. Festnehmen und verhören. 430

Lynch kam von Enniskerry zurück und parkte in einer Seitenstraße, ein gutes Stück von seiner Wohnung in Booterstown entfernt. Er hatte im feuchten, kalten Wald viel gehustet, einmal sogar Blut. Die Kälte machte ihm nichts aus; ja, er schwitzte sogar. Doch der ständige Husten, das Blut und die Schweißausbrüche machten ihm zu schaffen. In der Wohnung überzeugte er sich sorgfältig, dass niemand hier gewesen war, bevor er die Waffe und den Rest der Munition unter dem Bodenbrett versteckte, unter dem auch seine Spritzen, Nadeln und das Heroin verborgen lagen. Er drückte das Brett vorsichtig wieder in die Öffnung und schob den Teppich darüber. Dann zählte er zweihundert Pfund ab, steckte sie sich in die Tasche und ging zu Dunnes Laden im nahen Stillorgan-Einkaufszentrum. Dort kaufte er sich warme Kleidung in dunklen, unauffälligen Farben, warme Unterwäsche und Socken sowie zwei Paar schwarze Sportschuhe. Ein schwarzer Jogginganzug mit Kapuze landete ebenfalls in seinem Einkaufskorb, ebenso ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Die Kragenweite war mehrere Zentimeter kleiner, als Lynch sie üblicherweise trug. »Darf ich vorschlagen, dass Sie eine kleinere Größe nehmen. Die ist zu weit.« Die Verkäuferin kümmerte sich um ihn. Lynch warf einen Blick in den Spiegel. Dabei wurde ihm zum ersten Mal bewusst, wie viel Gewicht er wirklich verloren hatte. Sein Gesicht war hager. »Ja, ich nehme vielleicht die kleinere Größe.« Aber selbst die nächst kleinere passte nicht. »Tut mir Leid, Sir.« Der Verkäuferin war es sichtlich peinlich. »Für die Größe, die Sie brauchen, müssen Sie in die Kinderabtei431

lung.« Dort bekam Lynch tatsächlich die passende Größe. Die Verkäuferin erinnerte sich später genau daran. Seine schmächtige Gestalt, seine auffallend wirr blickenden Augen, sein ständiger Husten. Jede Einzelheit. Nach dem Einkauf saß Lynch eine Zeit lang bei einer Tasse Schokolade in Bewley's Cafe. Dann begab er sich in eine Drogerie in der Nähe und kaufte eine Flasche schwarzes Haarfärbemittel; anschließend erstand er in Arnotts Schuhgeschäft ein Paar schwarze Stiefel mit modisch hohen Absätzen, die ihn gut fünf Zentimeter größer machten. Gründliche Planung. Dean Lynch bereitete sein großes Finale vor. Und sein Plan war, auf Nummer sicher zu gehen.

»Was wirst du jetzt tun, Tommy?« Betty hatte die stündlichen Nachrichten gehört und alle Morgenzeitungen gebracht. Tommy Malone wurde kreidebleich. Von sämtlichen Titelseiten starrte ihm sein Gesicht entgegen. Die spärlichen aktuellen Informationen waren aufgebläht mit Einzelheiten über Malones frühere Straftaten und einer detaillierten Darstellung seiner Verbrecherlaufbahn. »In den Slums von Dublin aufgewachsen, aus denen er bald ausbrach ...« Die Zeitungen veröffentlichten sogar Interviews mit pensionierten Polizisten, die im Laufe der Jahre mit Malone zu tun gehabt hatten. „Er ist ein gefährlicher, skrupelloser Killer, der vor nichts zurückschreckt. Ende der Siebziger und in den Achtzigern zählte er zu den berüchtigtsten Gangstern Dublins. Danach, so vermutet die Polizei, hat er sich aus dem kriminellen Milieu abgesetzt. Malone saß mehrere Haftstrafen ab, wobei er jedes Mal mit dem 432

Schicksal haderte und sich als Pechvogel bezeichnete. Nun, Glück ist ihm auch bei seinem spektakulären Comeback nicht beschieden. Diesmal ist Gott und die Welt hinter ihm her, selbst die Unterwelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn haben.« »Keine Ahnung, Betty. Ich hab' keinen Schimmer. Kann ich noch ein, zwei Tage hier bleiben, bis ich mir darüber klar bin?« Malone zählte auf Betty, pochte auf ihre Loyalität. „Sicher, Tommy. Aber du solltest dir verdammt schnell was einfallen lassen.« „Warum bleiben wir nicht zusammen, Betty?« Malone hatte sich diese Masche eine Zeit lang überlegt und beschloss nun herauszufinden, wie Betty darüber dachte. »Wenn sich alles ein bisschen beruhigt hat, könnten wir uns 'ne Weile absetzen. Ich hab' Geld, nicht viel, aber genug. Wir könnten nach England gehen. Ich hab' dort 'n paar Verwandte. Wir tauchen unter, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Was meinst du dazu?« „Ich überleg's mir, Tommy. Ich werd's mir überlegen. Sei vorsichtig. Möchtest du was essen? Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Du musst bei Kräften bleiben. Du willst nichts? Jesses, Tommy, du kannst nicht den ganzen Tag hier hocken und eine Zigarette nach der anderen qualmen. Schon gut, ich halt' die Klappe. Dann mach' ich mir jetzt was zu essen. Kannst dir ja überlegen, ob du doch was willst.« Aber Tommy Malone war nicht hungrig. Er war lange genug im Geschäft, um sich keine Illusionen mehr zu machen: Mit dieser Sache war er tiefer in die Scheiße geraten als je zuvor. Moonface war tot. Collins und Peggy saßen im Untersuchungsgefängnis Bridewell. Das Baby schwebte in Lebensgefahr, und das ganze Land war auf seinen Kopf aus. 433

Malone zündete sich eine weitere Zigarette an und blies Rauchringe zur nackten Glühbirne an der Decke hinauf. Aber mich kriegen sie nicht, diese Wichser. Das ist mal sicher. Mich nicht. Ich lass' mich nicht ans Kreuz nageln. Ich bleib' noch einen Tag, und morgen Abend verschwinde ich. Ja, das tu ich. Einen Tag noch, und dann nichts wie weg.

15.17 Uhr »Ich habe Neuigkeiten«, verkündete Tony Dowling, als das Team sich wie verabredet in der Garda-Zentrale Store Street traf. »Ich bin zu dieser Wohnung gefahren. Lynchs Wagen stand auf einem reservierten Parkplatz, mit vereisten Scheiben und kaltem Motor. Das Fahrzeug war seit Stunden nicht bewegt worden. Ich habe mit einigen Anwohnern gesprochen, aber keiner hat Lynch an dem

Tag

gesehen.

Ein

alter

Herr,

ein

pensionierter

Collegeprofessor, hat die Wohnung unter Lynch. Er beschwerte sich, dass der Fernseher die ganze Nacht gelaufen sei und den ganzen Vormittag, und das Gerät sei immer noch an. Ich bin nach oben gegangen und habe an die Tür geklopft, doch niemand rührte sich. Ich konnte die Glotze hören, deshalb klopfte ich wieder an, diesmal mit der Faust. Aber entweder war keiner da, oder er wollte nicht aufmachen.« Kate und das Team lauschten seinen Worten, als wäre es die Bergpredigt. »Gut zehn Minuten habe ich an die Tür gehämmert. Dann ging ich außen herum, um zu sehen, ob sich irgendetwas rührt. In allen Zimmern brannte Licht. Dieser Professor meinte, die Lampen wären die ganze Nacht an gewesen.« Ausgeflogen«, stellte John Doyle fest. „Ja, das glaube ich auch. Aber ich kann euch noch etwas sehr In434

teressantes erzählen. Ihr wisst doch, was Kate über Lynchs ungewöhnliche Autoalarmanlagen berichtet hat?« Köpfe nickten. Kate hatte plötzlich wieder diese Vorahnung, dieses Gefühl, dass etwas Schreckliches bevorstand. „Also, ich habe mir die Firma notiert, die Lynch die Alarmanlage in seiner Wohnung installiert hat. Steht am Schaltkasten. Sensor Alarms in Clondalkin. Ich habe dort angerufen. Und wisst ihr was?« „Sagen Sie jetzt nicht, dass Lynch für die Firma arbeitet.« Doyle erntete nervöses Gelächter für diese Bemerkung. „Das Zeug dazu hätte er. Er gab den Leuten genaue Anweisungen für den Einbau der Anlage. Er ihnen. Und nach Aussage des Firmenchefs war Lynch ein Experte. Der Mann konnte sich noch gut an die Installation erinnern, genau wie der Techniker von der Autoalarmfirma. Und er hat sich an Lynch erinnert, als wär's erst gestern gewesen. War mehr als verwundert, dass Lynch eine so teure, aufwändige Alarmanlage wollte.« “Warum? Was ist so ungewöhnlich daran?« Kate versuchte eine Verbindung zu erkennen. Was sie bisher hatten, reichte nicht für eine Anklage wegen zweifachen Mordes. »Weil bei Lynch absolut nichts zu holen ist. Der Mann sagte, dass sich kaum etwas in der Wohnung befand, als sie die Anlage einbauten. Ein paar Möbel, Fernseher, Radio, Kocher, Kühlschrank, Bett, Couch. Und er hat sich einen Kraftraum eingerichtet, mit einer Spiegelwand und einem Haufen Gewichte. Ihr wisst schon, Hanteln und so was.« »Vielleicht hatte er sich damals noch nicht eingerichtet. Vielleicht wollte er erst neue Sachen kaufen.« Dowling quittierte die Bemerkung mit einem triumphierenden Lächeln. »Das dachte ich 435

auch, Kate. Das war mein Gegenargument. Aber der Mann hat es gleich vom Tisch gewischt. Er sagte mir, dass es anderthalb Jahre später Stromausfall in der Gegend gab und die Anlage ausfiel. Lynch konnte sie nicht mehr aktivieren, als er das Haus verlassen wollte. Er rief die Firma an und machte den Leuten die Hölle heiß. Er verlangte, dass sofort jemand zu ihm herauskäme.« »Und kam einer?«, fragte jemand. »Allerdings. Lynch verlangte, dass die Monteure die gesamte Verkabelung und die Ausfallsicherung überprüften. Und was glaubt ihr, hatte er seit dem letzten Mal Neues in seiner großen Wohnung, um das er so besorgt war, nur weil die Alarmanlage fünf Minuten nicht funktionierte?« Keiner sagte etwas. Sie hingen an Dowlings Lippen. »Nichts, rein gar nichts. Die Wohnung war genauso leer wie beim ersten Mal, als sie das Ding eingebaut hatten.« »Verflucht nochmal«, entfuhr es einem Teammitglied. »Bis auf eines.« Die Spannung im Zimmer erreichte einen knisternden Höhepunkt. »Lynch zeigte ihnen zwei Mikrokassettenrecorder, die auf Stimmen reagieren. Einen hinten am Kühlschrank, den anderen hinter einer Vorhangschiene in seinem Fitnessraum. Er hatte sein eigenes Sicherheitssystem für den Fall, dass die Anlage streikte.« »Wir schnappen ihn uns.« Kate checkte ihre Smith & Wesson. »Wenn er es wirklich ist, dann seid um Gottes willen vorsichtig.«

42 17.17 Uhr Sie machten sich in drei zivilen Sondereinsatzfahrzeugen auf den Weg. Dowling fuhr den ersten Wagen; Kate saß auf dem Beifah436

rersitz, John Doyle hinten. Die beiden anderen Fahrzeuge waren mit je drei bewaffneten Polizisten besetzt. Sie hielten am Parkplatz. Zwei Männer begaben sich an die Seite des Gebäudes, zwei an die Rückseite; die anderen sammelten sich vor der Haustür für den Sturmangriff. Dowling, Kate und Doyle gingen voran, stiegen die Treppe hinauf bis vor die Wohnungstür Nummer 23. Eine ältere Dame, die für einen Einkaufsbummel in der Grafton Street gekleidet war, wäre fast in Ohnmacht gefallen, als sie ihre Wohnungstür öffnete und mitten in das anrückende Team geriet. Die Männer beruhigten die Frau, wiesen sich aus und baten sie, in die Wohnung zurückzugehen. Dowling klopfte erst leise, dann lauter an die Tür. Sie konnten den Fernseher hören. Er rief warnend: »Wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Öffnen Sie die Tür, oder wir brechen sie auf!« Und das taten sie. Drei wuchtige Schläge Doyles mit dem Vorschlaghammer, und die Tür flog aus den Angeln. Zwei Alarmanlagen heulten los - so durchdringend, dass die Mitglieder des Einsatzkommandos keinen klaren Gedanken mehr fassen konnten und die eigenen Flüche nicht mehr hörten, bis John Doyle mit dem Hammer einen der Installationskästen zerschmetterte und dem Spuk ein Ende machte. Nur der Außenalarm schrillte weiter, begleitet von blinkendem Blaulicht. Doch in der Wohnung gab es kein Lebenszeichen. Nur die Nachrichten flimmerten auf dem Bildschirm. Draußen beobachtete Dean Lynch den Alarm aus der Dunkelheit einer Telefonzelle. Er hielt den Hörer ans Ohr und stieß mit dem Fuß die Tür einen Spalt auf. Er steckte die Patronen ins Magazin. Eins, zwei, drei, vier, fünf, 437

sechs, sieben. Dann schob er das Magazin in die Waffe. Mit einem leisen metallischen Geräusch wurde eine Patrone in die Kammer transportiert. Lynch nahm das Magazin wieder heraus und füllte eine Patrone nach. Sieben im Magazin und eine in der Kammer, so wie London John es ihm beigebracht hatte. Er wartete fast zehn Minuten, bis sie herauskam. »Nehmt euch die Wohnung vor.« Kate folgte den Männern, als sie den Kühlschrank öffneten, die Matratzen aufschnitten, Schubladen leerten und Bodenbretter abklopften. Sie entdeckten das Versteck mit den alten Spritzen und Nadeln, sterilen Wasserampullen und grünen Beuteln mit Spuren von weißem Pulver, die Lynch übersehen hatte, als er ausgeflogen war. Sie fanden alles bis auf Dean Lynch, der sich ihnen im Schutz der zunehmenden Dunkelheit und der Bäume am Straßenrand langsam näherte. »Tony.« Kate gab Dowling einen Wink. »Lassen Sie uns nach draußen gehen.« Die anderen hielten inne. »Seht euch weiter um. Was euch wichtig erscheint, bringt in die Küche. Wir nehmen dann alles mit. Und ich brauche hier die Spurensicherung. Ich bin in ein paar Minuten zurück.« Sie ging mit Dowling zum Parkplatz und leuchtete mit der Taschenlampe in Lynchs Wagen. Es war nichts Auffälliges zu sehen, nur Sitze, Gurte, Lenkrad, Schalthebel. Das Übliche. Der Name der Alarmanlagenfirma klebte auf allen vier Fenstern. »Brechen Sie den Wagen um Himmels willen nicht auf, Kate. Mir klingen noch die Ohren vom letzten Geheul. Der Mistkerl ist abgehauen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im Wagen Hinweise darauf finden, wohin der Hurensohn verschwunden ist.« Kate leuchtete erneut ins Innere, aber sie wusste, dass Dowling Recht hatte. 438

Die schattenhafte Gestalt kam näher, war jetzt kaum noch fünfzig Meter von den beiden entfernt. »Wir sollten eine Warnung rausgeben und alle Reviere informieren. Überall sind Straßensperren wegen der Entführer. Wir müssen unsere Leute warnen.« Kate hatte plötzlich wieder die dunkle Vorahnung, dass etwas Schreckliches bevorstand. Sie sah auf und spähte in die Dunkelheit. Aber da war nichts Ungewöhnliches. Die schwarze Gestalt kam näher. Sie hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, hielt die Waffe in der Faust an der Seite und vergewisserte sich ständig, dass sie nicht beobachtet oder verfolgt wurde. Ein oder zwei Wagen fuhren vorbei, aber niemand schöpfte Verdacht. »Mir ist kalt. Setzen wir uns in den Einsatzwagen und rufen die Zentrale von dort.« »Gute Idee«, murmelte Dowling und hauchte in seine hohlen Hände, um wieder ein wenig Gefühl in die tauben Finger zu bekommen. Lynch überquerte die Straße. Er bewegte sich zielstrebig, blickte weder rechts noch links, hatte nur Augen für Kate, die eine der Wagentüren öffnete. Lynch sah Dowling auf der anderen Seite einsteigen und lächelte. Plötzlich überwältigte ihn wieder ein Hustenanfall, der seine Brust mit Feuer füllte. Er spuckte Schleim auf die Straße, der den Geschmack von Blut in seinem Mund hinterließ. „Könnten Sie bitte das Licht einschalten, Tony? Ich rufe das Krankenhaus an. Vielleicht ist er inzwischen dort aufgetaucht. Aber ich kann im Dunkeln nichts sehen.« Dowling knipste die Lampe über dem Rückspiegel an. Dabei fiel ihm eine Bewegung auf, wie von einer dunklen Gestalt zwischen den Büschen. 439

Blinzelnd spähte er durch das angelaufene Glas der Frontscheibe und rieb mit dem rechten Handrücken eine Stelle frei. Nichts bewegte sich mehr. Er wandte sich Kate zu, die ihr Handy aus der Tasche geholt hatte und mit der Vermittlung in der Zentralentbindungsklinik redete. »Nein, Dr. Lynch war heute noch nicht hier. Ich fürchte, niemand weiß, wo er ist. Die ganze Sache ist sehr ungewöhnlich. Eine OPListe musste neu erstellt werden, weil er nicht kam.« »Wo steckt der Mistkerl bloß?«, murmelte Dowling, während er den Motor anließ. Kate blickte überrascht auf. »Wohin fahren Sie?« „Nirgendwohin. Ich lass mal kurz die Heizung laufen, bevor ich erfriere.« Das war der Augenblick für Lynch. Er kam hinter den Büschen hervor. Die Walther an der Seite verborgen, ging er unbeirrt auf den Wagen zu, in dem die Innenbeleuchtung brannte, sodass er die Detectives Hamilton und Dowling gut erkennen konnte. Kate sprach noch immer in ihr Handy. „Wer ist das?« Dowling bemerkte plötzlich die Gestalt keine zwölf Meter vor dem Wagen. Er tastete nach dem Schalter für das Abblendlicht. »Verdammt, wer ist das?«, rief er. Mit der Linken streifte Lynch die Kapuze zurück, sodass sein Gesicht zu sehen war. Blitzschnell hob er die Pistole mit beiden Händen. Die Tasse-und-Untertasse-Methode. Brüllen Sie, Bobby-Boy, richtig laut. Zielen Sie auf die Brust. Versuchen Sie 'nen Kopfschuss gar nicht erst. Den Kopf kann man schnell abducken. Ist verdammt schwer zu treffen. In diesem Moment blickte Kate auf und sah das Gesicht im Scheinwerferlicht. Sie ließ das Handy fallen und schrie los. 440

»Oh, heiliger...«, waren Tony Dowlings letzte Worte. Das Bild Rorys, wie er in seinem Albtraum schrie, zuckte durch Kates Hirn, als das Mündungsfeuer der Walther PPK aufblitzte. Lynch war vom Scheinwerferlicht geblendet; deshalb konnte er das Ziel nicht richtig erkennen. Aber er drückte den Abzug langsam durch. Einen Schuss nach dem anderen. London John war ein guter Lehrmeister gewesen. Die erste Kugel durchschlug Tony Dowlings rechte Handfläche, als er instinktiv abwehrend die Hände hob. Die zweite drang in seine linke Wange, zerschmetterte Kiefer und Zähne und riss seinen Kopf zu Kate Hamilton herum, die sich tief duckte. Die dritte, tödliche Kugel traf Dowlings Hinterkopf. Kate spürte sein Blut über ihr Gesicht spritzen, hörte ihn röcheln und sterben. Dann spürte sie einen scharfen Stich rechts in der Brust. Sie krümmte sich tiefer, versuchte verzweifelt, ihre eigene Waffe zu ziehen. Doch sie hatte keine Chance. Die nächste Kugel durchschlug das Seitenfenster und riss Kate die Kopfhaut auf. Nur der brennende Schmerz hielt sie bei Bewusstsein. Ich lebe noch, ich lebe noch, Rory. Ein Ellbogen zerschmetterte das Seitenfenster, und Kate schaute hoch und blickte in Dean Lynchs wirre Augen. Er grinste, als er die Walther auf Kates Kopf richtete. Der Schrei blieb Kate in der Kehle stecken. Sie nahm nur noch den Blitz wahr, bevor es schwarz um sie wurde.

43 19.34 Uhr Operationstrakt 4. Merrion-Hospital,Sandymount, Dublin 4 441

„Sie ist stabil, sie ist stabil. Sie hat viel Blut verloren, aber sie ist stabil.« Drei Unfallchirurgen und vier Schwestern bemühten sich um Kate Hamilton. Sie hatte Glück im Unglück gehabt: Die Kugel war ihr in die rechte Brust gedrungen und hatte die dritte Rippe zerschmettert, war aber durch den Aufprall an einer Hauptschlagader vorbeigelenkt worden und aus dem Körper ausgetreten, Der zersplitterte Knochen hatte jedoch Kates Lunge durchbohrt, und der daraus resultierende Pneumothorax hatte zum Kollaps von zwei Dritteln der Lunge geführt. Überdies war eine große Menge Blut in ihre rechte Brusthöhle gedrungen. Eine zweite Kugel hatte die Schläfe gestreift, den Schädelknochen aber nicht durchschlagen. Diese Wunde blutete ebenfalls stark. Die dritte Kugel schließlich war durch ihren linken Oberarm gedrungen und hatte einen großen Hautlappen weggerissen, was ebenfalls zu einer heftigen Blutung geführt hatte. Die Chirurgen entschieden sich gegen eine sofortige Transplantation. Diese Wunde konnte warten, bis Kates Zustand stabiler war. Grob geschätzt hatte sie gut anderthalb Liter Blut verloren. Das war viel, aber nicht tödlich. Sie würde überleben. Im Augenblick stand sie unter starken Sedativa und atmete durch eine Sauerstoffmaske, mit einem Drain zwischen den oberen Rippen zum expandieren der kollabierten Lunge und einem zweiten Drain an der rechten Lungenspitze zum Absaugen des Blutes. Über einen Tropf erhielt sie eine Crystalloidinfusion, über einen zweiten Antibiotika in den anderen Arm. „Besorgen Sie mir sofort ein volles Blutbild, rot und weiß. In zwei Stunden brauche ich eine weitere Röntgenaufnahme des Hirnstamms, und alle fünfzehn Minuten Basisdaten - Puls, Blut442

druck und Atemfrequenz.« Schwestern bereiteten Blutprobenflaschen vor und riefen das Labor an, um auf schnelle Bereitstellung der Ergebnisse zu drängen. »Geben Sie ihr die ersten zwei Liter Crystalloid im Zeitraum von einer Stunde. Den dritten Liter lassen Sie in den folgenden zwei Stunden eintropfen. Aber halten Sie beide Tropfleitungen bereit.« Der leitende Unfallchirurg erteilte seine Anweisungen. Für ihn war das alles Routine. Doch für Kate Hamilton ging es um Leben und Tod. Dank der sofortigen Versorgung würde sie am Leben bleiben. Nicht so Tony Dowling. Er lag in der Leichenkammer des Krankenhauses. »Bringt sie hinauf in die Intensivstation. Weiß jemand, wer das getan hat?« John Doyle stand draußen im Korridor. Er zitterte noch immer. Er wusste es. Er hatte Lynch fast zwei Kilometer weit verfolgt, bevor er ihn in der Baggot Street verlor. Ja, er wusste, wer das getan hatte, und er wusste auch, dass ebenso gut er nun auf diesem Operationstisch liegen könnte - oder, schlimmer noch, in der Leichenkammer, wie Tony Dowling. »Es sieht nicht gut aus.« In der Radiologie der Zentralentbindungsstation standen Paddy Holland und der Radiologe Donat Collins vor dem Lichtschirm und begutachteten die neuesten Röntgenaufnahmen von Gordon O'Briens Brustraum. Die Lungenentzündung ging nicht zurück. »Nein, ganz und gar nicht, Paddy. Wie ist sein Zustand?« »Sehr schlecht.« »Glauben Sie, er wird es schaffen?« 443

Holland blickte erneut auf den Schirm, studierte die Infektionsschatten auf der Lunge, den Umriss des Herzens. Er sah sich die Blutdaten der letzten Stunde an. Die Zahl der weißen Zellen war noch immer sehr hoch, ebenso die BSG. Die Blutkultur hatte schließlich eine B-Streptokokken-Septikämie bestätigt. Holland blickte noch einmal auf die Messungen: fiebrige, schnelle Tachykardie. Und er erinnerte sich, wie das Baby vor fünfzehn Minuten ausgesehen hatte. „Nein, ich glaube nicht, Donnie. Ich glaube nicht, dass er die Nacht überleben wird.«

21.00 Uhr R'I'E brachte in den 21.00-Uhr-Nachrichten einen Sonderbericht, ebenso Sky, BBC, ITV, CNN, NBC und eine Reihe weiterer nationaler Sender sowie das Kabelfernsehen. Die Neuigkeiten aus

Dublin

überstürzten

sich;

Kamerateams

waren

im

Dauereinsatz, jagten von einem Drehort zum nächsten. Bilder vom Elms-Apartmentkomplex und dem hinter der Polizeiabsperrung sichtbaren, von Kugeln durchsiebten Wagen gingen um die Welt. Es war bereits durchgesickert, dass das Einsatz-Team, das man mit der Untersuchung der Morde in der Zentralentbindungsklinik beauftragt hatte, angegriffen worden war; der Angreifer war mit größter Wahrscheinlichkeit der Mann, der die Morde begangen hatte. Eine Polizeibeamtin lag in der Intensivstation des Merrion-Hospitals in Dublin. Ihr Zustand wurde als kritisch, aber stabil bezeichnet. Ein weiterer älterer und sehr erfahrener Detective lag in der Leichenkammer des Krankenhauses. Wie der Nachrichtensprecher ernst hinzufügte, dürfe der Name des Detectives noch nicht bekannt gegeben 444

werden. Die Polizei wolle zuerst die Angehörigen verständigen. Doch nach Aussagen aus seinem dienstlichen Umfeld wäre der Detective in wenigen Wochen pensioniert worden. Auf einer eilig einberufenen Kabinettssitzung informierten Alice Martin und Commissioner Quinlan die Regierung über den Stand der Dinge.

Tommy Malone und Betty saßen vor dem Fernseher und löffelten Fast-food-Essen vom Chinesen. »Jesses, Tommy, heut' Abend spielste bloß die zweite Geige.« Es war der gezwungene Versuch, einen Scherz zu machen. Ein Foto von Dean Lynch flimmerte auf dem Schirm, gefolgt von einer Vorder- und einer Seitenansicht Tommy Malones. Zuerst Lynch, dann Malone. »Die Regierung hat verlauten lassen, dass für Hinweise, die zur Festnahme eines dieser Männer führen, eine Belohnung von einer halben Million Pfund ausgesetzt ist. Bei dem einen handelt es sich um Dean Patrick James Lynch, 45 Jahre alt, etwa eins fünfundsechzig groß, grauhaarig und untersetzt, soll in letzter Zeit aber merklich an Gewicht verloren haben. Zuletzt wurde Lynch in einem schwarzen Trainingsanzug mit Kapuze in Dublin gesehen, im Gebiet der Baggot Street. Bei dem zweiten Gesuchten handelt es sich um Thomas - genannt Tommy - Malone, achtundfünfzig Jahre alt und eins dreiundsiebzig groß. Malone ist meist gut gekleidet, hat stahlgraues Haar und einen buschigen Schnurrbart. Die Polizei bittet, bei sachdienlichen Hinweisen umgehend das nächste Garda-Revier anzurufen oder die GardaSonderleitung zu benutzen. Die Nummer bleibt bis zum Ende der Sendung am unteren Bildschirmrand eingeblendet. Beide Männer 445

gelten als sehr gefährlich und sind mit größter Wahrscheinlichkeit bewaffnet.« Der Nachrichtensprecher legte das Blatt zur Seite und wandte sich wieder dem Rolltext zu. »Und nun die anderen Nachrichten des Tages«, fuhr er fort, merklich bemüht, wieder einen nüchternen Tonfall zu finden. »June Morrison, die Krankenschwester, die nach der Entführung des O'Brien-Babys gefesselt und bewusstlos in ihrem Zimmer aufgefunden worden war, ist wieder genesen. Sie wird das Allgemeine Krankenhaus Wicklow in den nächsten Tagen verlassen können.« Tommy Malone stellte den Fernseher leiser und starrte auf den Schirm. June Morrisons Genesung interessierte ihn im Augenblick einen Dreck. Zu viele andere Dinge machten ihm Sorgen. Bettys Hände zitterten. »Wir können nich' bleiben, Tommy. Früher oder später finden sie uns. Hier bleibt nichts lange verborgen. Es ist unmöglich, dass du bleibst. Sandra kommt morgen. Sie wird merken, dass jemand da is', darauf kannste dich verlassen. Der entgeht nichts.« Malone drückte seine Zigarette aus und wandte sich Betty zu. Einen Moment blickte er ihr stumm in die Augen. „Kommst du mit mir, Betty? Ich weiß, wie ich die Sache drehen muss. Ist nicht das erste Mal. Die kriegen mich nicht, keine Angst. Kommst du mit?« Betty stellte ihren Teller ab und streckte die Hände nach Malone aus. Einen Augenblick hielten sie einander wortlos fest, und sie küsste ihn leicht auf die Wange. Die linke Wange. »Ich denk' drüber nach, Tommy. Gib mir ein bisschen Zeit. Ich kann nicht dies stehen und liegen lassen. Ich muss wenigstens Sharon Bescheid geben.« „Du kannst sie von unterwegs anrufen.« 446

»Ich schlaf noch mal drüber, ja?« »Verdammt, ich wollte, ich könnte schlafen. Ich hab' die ganze letzte Nacht kein Auge zugemacht.« Betty ging zu einem Schrank, griff in eine Schublade und schüttelte eine kleine Flasche. »Ich hab' noch ein paar Zimovane. Nimm sie, und du pennst wie ein Baby. Morgen, wenn du ausgeschlafen bist, sieht alles besser aus.« Tommy blickte misstrauisch auf die beiden ovalen Tabletten. „Legen die mich auch nicht flach? Ich brauch' 'nen klaren Kopf.« »Nimm sie, um Himmels willen, und schlaf dich richtig aus. Ich will nicht mit 'nem übernächtigten Zombie durch die Landschaft spazieren.« Sie lächelte ihn an. Irgendetwas an diesem Lächeln gefiel Malone nicht. »Na, nimm schon.« Malone schob sich die Tabletten in den Mund und tat so, als hätte er Schwierigkeiten, sie zu schlucken. Er drückte sie beide mit der Zunge unter dem Gaumen fest. »Ich mach' 'ne Tasse Tee.« Malone nickte. Nachdem Betty das Zimmer verlassen hatte, spuckte er die Tabletten in seine Hand. Dann drehte er die Lautstärke des Fernsehers wieder höher. Ein Interview mit dem neuen englischen Nationaltrainer wurde gezeigt, der große Dinge für das Spiel am kommenden Abend voraussagte - das Länderspiel, das Moonface nicht mehr sehen würde. »Drei zu null mindestens. Natürlich wird es kein unfaires Spiel, jedenfalls nicht von unserer Seite, aber es wird ein harter, erbitterter Kampf zwischen zwei ehrgeizigen Mannschaften. Beide sind in letzter Zeit nicht in Bestform gewesen. Beide wollen um jeden Preis siegen. Ich hoffe, es wird ein gutes und interessantes Spiel ohne Zuschauerkrawalle. « Der Reporter wandte sich zur Kamera. Im Hintergrund konnte 447

man sehen, dass vor den Pubs im Stadtzentrum bereits Kampfstimmung herrschte. Der Reporter äußerte die Befürchtung, dass sich das Fiasko der letzten Begegnung wiederholen könnte, als es in Dublin zu regelrechten Straßenschlachten zwischen rivalisierenden Fans gekommen war. Er bestätigte, dass es bei den Gardai Urlaubssperre gab und dass während des Spiels mindestens dreihundert Beamte im Einsatz sein würden, zweihundert im Stadion und hundert außerhalb. Alle großen Krankenhäuser Dublins würden für den Notfall gerüstet sein. Das am nächsten gelegene Merrion-Hospital in Sandymount wappnete sich für einen möglichen Ansturm.

Und den Ansturm würde es geben. Aber nicht so, wie man ihn allgemein erwartete. Dafür würde Dean Lynch sorgen. Während er sich auf dem kleinen Zimmerfernseher in seinem gemieteten Apartment in Booterstown die Nachrichten anschaute, heulte er wie ein verwundetes Tier, nicht laut, aber aus tiefster Seele. Dieses Luder! Zustand kritisch, aber stabil. Das verdammte Miststück lebt! Lynch zog das Magazin aus der Waffe und starrte blinzelnd in den Pistolenlauf. Er war verstopft. Er strich mit den Fingern den Lauf entlang und spürte die leichte Ausbuchtung. Die Walther PPK hatte geklemmt. Genau das, wovor London John ihn gewarnt hatte, war eingetreten. Ladehemmung. Zwei Kugeln steckten im Lauf fest; der Druck der zweiten gegen die erste hatte die leichte Ausbuchtung verursacht. Die Waffe war unbrauchbar geworden. Lynch schleuderte sie wütend an die Wand. Nur deshalb ist ihr Zustand kritisch, aber stabil. Ich konnte ihr nicht das ganze Magazin in den Balg jagen! 448

Auf dem Bildschirm erschien ein Foto von Kate Hamilton. Lynch starrte wie hypnotisiert darauf. Dann blickte er erneut auf die Pistole, die nie wieder funktionieren würde. Es gibt andere Wege, die zum Ziel führen, dachte er und lehnte sich lächelnd im Sofa zurück. Sein Zorn verrauchte. Am Küchentisch bereitete er sich einen Schuss vor. Ja, es gibt andere Wege zum Ziel. Ich kriege dich, Hamilton. Warte nur. Mit dir bin ich noch lange nicht fertig. Warte nur! Du wirst leiden, wie ich gelitten habe. Diesmal wirst du wirklich leiden. Das Heroin verschwand in der Vene.

22.17 Uhr »Ich gehe ein paar Stunden nach Hause. Schwester Gallagher wird bis Mitternacht bei Ihnen bleiben; dann übernimmt die Nachtschwester. Mein Kollege wird immer da sein, falls der Zustand sich ändert. Und ich wohne nur fünf Minuten von hier und kann jederzeit sofort kommen, sollte es notwendig sein.« Sandra und Harry O'Brien hingen an Paddy Hollands Lippen. Ihre Gesichter waren blass und abgespannt, die Augen rot und verweint, die Hände bis zur Blutleere ineinander verkrampft. Auf einem Wagen neben ihnen standen erkalteter Tee, Teller mit unangetasteten Sandwiches sowie ein Papierkorb voller tränennasser zusammengeknüllter Papiertaschentücher. Im Brutkasten lag

ihr

über

alles

geliebtes

Kind,

an

Tropf

und

Überwachungsmonitor angeschlossen, und kämpfte um sein Leben. Das Namensschild hing lose um sein dünnes Handgelenk, und seine winzige Brust hob und senkte sich in raschem Rhythmus. 449

Als Paddy Holland schließlich erschöpft ins Bett sank, wollte der erlösende Schlaf nicht kommen. Bilder des Babys und die Gesichter der Eltern verfolgten ihn. Ich kann nichts mehr tun. Jetzt liegt alles in Gottes Hand. Doch was ihn noch mehr quälte, war die Nachricht über Kate Hamilton. Auch ihr Gesicht geisterte durch seinen übermüdeten Verstand, ihr hübsches, von Leben erfülltes Gesicht. Die Mutter des vierjährigen Jungen kämpfte in der Intensivstation des Merrion-Hospitals um ihr Leben. Holland drehte sich auf die andere Seite und starrte an die Wand. Bitte, lieber Gott, lass sie nicht sterben! Lass sie gesund werden! Er drehte sich wieder um und blickte auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch. Die ganze Nacht beobachtete er die wechselnden Zahlen.

»Opa, wann kommt Mom nach Hause?« »Pssst, Rory, schlaf weiter. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich spät. Schlaf weiter. Ich bin ja da, bis sie kommt.« »Ist sie da, wenn ich am Morgen aufwache?« »Schlaf endlich, Rory. Ich bin müde. Ich passe auf dich auf, bis Mom nach Hause kommt.« »Aber wann kommt sie denn nach Hause?« Großvater wandte sich ab und hielt mit Mühe die Tränen zurück. »Wann kommt sie?« »Morgen, Rory. Wahrscheinlich kommt sie morgen wieder.« Rory steckte den Daumen in den Mund und streichelte mit Ted über Großpapas Gesicht. Die Augen wollten ihm zufallen. Er war schläfrig. »Opa?« »Was ist denn schon wieder, Rory?« »Wenn Mom wieder da ist, krieg' ich dann ein Hündchen?« 450

»Kann sein, Rory. Schon möglich.« »Oh, toll!« Rory drehte sich um und schlief ein.

23.57 Uhr »Tommy, schläfst du?« »Wär' schon möglich, wenn du endlich die Klappe hieltest.« »Schon gut. Schlaf jetzt. Wirst deine Kräfte morgen brauchen.« Sie drehte ihm den Rücken zu. Minuten später hörte er sie tief und gleichmäßig atmen. Und weitere Minuten darauf begann sie zu schnarchen. Doch Tommy Malone konnte nicht einschlafen. Etwas an diesem Kuss und diesem Lächeln ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Es erinnerte ihn an etwas. Er lag eine Stunde vergeblich grübelnd in der Dunkelheit. Erst als er in Halbschlaf versank, drang die Erkenntnis in sein Unterbewusstsein. Judas. Es war ein Judaskuss.

Zehnter Tag 44 Mittwoch, 19. Februar 1997, 6.02 Uhr Von den Medien als »Schwarzer Mittwoch« bezeichnet. Tommy Malone wusste, dass etwas nicht stimmte. Er hatte unruhig geschlafen, einen Arm um Bettys dralle Hüften geschlungen. Gegen eins war sie auf ihn geklettert und hatte losgelegt, völlig enthemmt und mit mehr sexueller Fantasie, als Ma451

lone es seit Jahren erlebt hatte. Er verlor jedes Zeitgefühl; sein Verstand und sein Körper trieben auf einem Meer aus hemmungsloser Lust. Erschöpft hatten sie sich schließlich in den Armen gehalten, bis er spürte, dass Bettys Körper sich entspannte, bis sie Schlaf fand. Doch er selbst bekam kein Auge zu. Etwas stimmte nicht. Er wusste es. Er spürte es. Es war nicht normal. Er konnte spüren, wie Betty lautlos und vorsichtig aus dem Bett glitt, einen Fuß auf den Boden stellte, innehielt, seinem Atem lauschte, beobachtete, ob er sich bewegte. Dann verlagerte sich ihr Gewicht zum Bettrand; nun waren beide Füße auf dem Boden. Malone spürte, wie das Bett ein wenig nachgab, als sie aufstand. Sie atmete rasch. Nervös. Ungefähr fünf Minuten stand sie neben dem Bett, lauschte und beobachtete ihn. Dann bewegte sie sich langsam, Schritt für Schritt, über den Teppich und zur Tür hinaus. Er setzte sich leise auf, horchte auf jedes Geräusch. Eine Stufe knarrte, und Bettys Schritte verhielten. Malone konnte deutlich ihr angespanntes, unterdrücktes, nervöses Atmen hören. Dann, wie sie zwei weitere Stufen nahm und erneut innehielt. Sie lauschte.

Wieder

lauschte

er.

Schließlich

nahm

Betty

entschlossen die letzten sieben Stufen und schloss die Küchentür leise, ganz leise. Malone schaute in der Dunkelheit auf die Uhr. Kurz nach sechs, „Was macht sie um diese Zeit in der Küche? Dann fiel es ihm ein. In der Küche stand das Telefon.

„Es geht um den Entführer, den Sie suchen. Ja, Tommy Malone. Ja, ich weiß, wo er jetzt in diesem Augenblick ist.« Am anderen Ende der Garda-Sonderleitung war die Hölle los. »Wie ist es mit der Belohnung? Garantieren Sie mir, dass ich das 452

Geld kriege? Anonym? Ohne dass jemand erfährt, wer den Tipp gegeben hat?« Sie lauschte den Beteuerungen am anderen Ende der Leitung. „Ganz sicher?« „Der zum Telefondienst abkommandierte Garda überschlug sich, die Anruferin zu beruhigen. „Also gut. Er ist...« Die Leitung war tot. Betty schüttelte den toten Hörer, fuhr herum und sah im gedämpften Licht, das von den Straßenlaternen ins Zimmer fiel, Malone vor sich stehen. Er hielt das herausgerissene Telefonkabel in der Hand. „Oh, Scheiße, nicht du, Betty. Nicht du. Verdammt, verdammt, verdammt! Nicht auch du!« Malone wickelte sich das Telefonkabel um die Hände und riss Betty den Hörer aus der Hand. Sie war starr vor Angst. Wie festgefroren. Sie kannte Tommy Malone von früher, kannte ihn nur zu gut. Sie wusste, was er von Verrätern hielt, und im Halbdunkel sah sie nur das straff gespannte Kabel zwischen seinen Händen. Und sie erinnerte sich, wie stark diese Hände waren. »Jetzt biste fällig, Betty. Miststück. Miststück. Miststück!« „Tommy, ich wollte nicht...«, waren ihre letzten Worte, bevor das Kabel sich um ihren Hals legte und zugezogen wurde. Mit aller Kraft. Und zwanzig Minuten lang zugezogen blieb, während Tommy Malone zum ersten Mal seit Jahren schluchzte. „Du Miststück, Betty. Verfluchte Scheiße, warum du?« Er ließ ihre Leiche zu Boden gleiten. »Du verdammter Judas.«

6.47 Uhr »Opa, ist Mom schon zu Hause?« 453

Rory stand vor dem Bett seiner Mutter, in dem der Großvater weinend eine schlaflose, quälende Nacht verbracht hatte. »Nein, Rory, sie ist noch nicht da. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange. Geh wieder ins Bett, es ist noch zu früh.« »Opa, darf ich zu dir ins Bett?« Er hob die Decken, und die beiden kuschelten sich aneinander. Rory steckte den Daumen in den Mund und begann mit Ted über Großvaters Gesicht zu streichen. »Wann kommt sie denn?« »Vielleicht später am Vormittag«, log Großvater. »Wirst schon sehen, sie kommt bald. Schlaf jetzt noch ein bisschen.« Rory fuhr wieder mit Ted über Großvaters Gesicht, und dieser hatte weder das Herz noch die Kraft, zu protestieren. »Möchtest du später in den Zoo gehen?« Rory setzte sich auf, und selbst in der Düsternis konnte Großvater die Begeisterung in seinem kleinen Gesicht sehen. »Oh, toll. In den Zoo. Ich geh' so gern in den Zoo. Das ist schön.« »Aber du musst den ganzen Tag ein braver Junge sein. Kein Gebrüll und Gezeter, wenn ich sage, dass es Zeit zum Heimgehen ist. Okay? Einverstanden?« Den Daumen wieder im Mund, nickte Rory in der Dunkelheit. »Kann Mom auch in den Zoo kommen?« Tommy Malone saß auf dem Küchentisch, rauchte seine sechste Zigarette und trank seine vierte Tasse starken Tee. Er hatte keinen Blick mehr an die Tote verschwendet, die neben dem Telefon lag, wo er sie zu Boden hatte fallen lassen. Er war angekleidet, gewaschen und bereit, zu verschwinden. Er hatte mit einem von Bettys kleinen Rasierern seinen Schnurrbart entfernt. Dann hatte er in Bettys Handtasche nach ihren Wagenschlüsseln gesucht und bis auf das Kosmetiktäschchen alles mitgenommen, 454

was drinnen war. Er blickte aus dem Fenster auf die Straße, wo bereits ein oder zwei Autos unterwegs waren, deren Fahrer sich auf den Weg zur Arbeit machten, bevor der Berufsverkehr einsetzte. Wo kann ich denn hin? Wo, zum Teufel, soll ich jetzt hin? Es ist aus! Malone betrachtete erneut die Titelseite der Zeitung, die vor ein paar Minuten in den Briefschlitz gesteckt worden war. Da war Thomas >Tommy< Malone. Irlands meistgesuchter Mann. Er und ein anderer Typ mit Namen Dr. Dean Lynch. Beide teilten sich die Titelseite. Dean Lynch, las er erneut. Dr. Dean Lynch. Jesses, ein Doktor». Auf der Flucht vor der Polizei. Ein Arzt! Man soll's nicht glauben! Selbst Tommy Malone fragte sich, ob das Land allmählich den Bach runterging.

„Tut mir Leid, aber sein Zustand hat sich nicht wesentlich gebes-. sert.« Paddy Holland, die Nachtschwester und sein Vertreter standen bei Sandra und Harry O'Brien. Sie hatten die Aufzeichnungen während

der

Nacht

ausgewertet,

die

Röntgenaufnahmen

überprüft, die alle dreißig Minuten gemacht worden waren, und die neuesten Blutwerte studiert. Gordon O'Briens Zustand war unverändert. Es ging ihm nicht schlechter, aber es ging ihm auch nicht besser. Das einzige andere Baby in der Intensivstation hingegen hatte es geschafft. Das kleine Mädchen konnte die Station verlassen. Noch als ihr Brutkasten hinausgerollt wurde, geschah es ohne die üblichen Begeisterungsbekundungen darüber, dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben. 455

„Ich muss mich um meine anderen Pfleglinge in der Frühgeburtenstation kümmern.

Ich komme nachher wieder.«

Sandra

O'Brien wandte ihren Blick nicht einen Moment von ihrem Baby. Harry O'Briens verschleierte Augen blickten auf, doch er schien Hollands Worte gar nicht richtig zu begreifen. Die beiden Ärzte und die Schwester tauschten Blicke. Die Nachtschicht ging, die Tagschicht kam. In der Zentralentbindungsklinik wurde der Kampf gegen den Tod ohne Unterlass gefochten, rund um die Uhr.

Tommy Malone überprüfte seinen 38er Smith-&-Wesson-Revolver, öffnete die Trommel und füllte sie mit zwei Extrapatronen. Die Waffe war nun voll geladen. Er nahm Bettys tragbares Radio, ihre Wagenschlüssel, ein rotes Tuch und alles Geld, das er im Haus finden konnte. Er hatte ihr das Leben genommen - kam es da auf ein paar weitere Dinge noch an? Er stopfte alles in einen blaugrau karierten Matchbeutel. Dann schloss er die Hintertür, sperrte ab und steckte den Schlüssel in die Manteltasche, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Vordertür abgeschlossen und doppelt verriegelt war. Bevor er das Haus verließ, zog er einige Jalousien halb hoch und zog die Vorhänge so zurecht, dass es aussah, als wäre jemand zu Hause. Das würde nicht so schnell die Neugier der Nachbarn wecken. Schließlich hatte er noch mit Tränen in den Augen die Leiche Betty Nolans hinter den Küchentisch geschoben und mit einem Laken zugedeckt. Dort würde sie durch das Fenster nicht so rasch zu entdecken sein. Er ließ ihren Wagen an, einen grauen Datsun Almera, und seufzte erleichtert, als er sah, dass der Tank fast voll war. Er fuhr aus der 456

Einfahrt und vergewisserte sich im Rückspiegel, dass niemand in der Nähe des Hauses war. Zufrieden legte er den dritten Gang ein und fuhr auf die Hauptstraße. Der Beutel lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Die Zeitung hatte vor Verkehrsbehinderungen durch polizeiliche Straßensperren auf allen größeren Straßen von und nach Dublin gewarnt. Deshalb beschloss Tommy Malone, in Richtung Dubliner Berge zu fahren, um Zeit zum Nachdenken und Planen zu haben. Ich darf keinen Fehler mehr machen, darf mich auf keine alten Kumpel mehr verlassen. Jetzt ist nicht nur die Polizei hinter mir her. Wenn mich sogar Betty ans Messer liefern wollte, kann ich keinem mehr trauen. Jetzt kann ich mich nur noch auf mich selbst verlassen. Er zündete sich eine Zigarette an und sah, dass ihm lediglich zwei geblieben waren. Jesses, alles geht zur Neige. Selbst mein bisschen Glück.

9.37 Uhr „Wie fühlen Sie sich?« Kate Hamilton war heilfroh, dass sie am Leben war. Sie brachte ein schwaches Lächeln zu Stande, ein sehr schwaches Lächeln. Ihre Brust schmerzte, und jedes Mal wenn sie hustete, schien ihr ganzer Körper in Flammen zu stehen. Sie fühlte sich hilflos, denn sie hing mit beiden Armen am Tropf. Der Schmerz in der rechten Brustseite verhinderte jede Bewegung. Die Chirurgen hatten für die gut zwanzig Stiche, mit denen die Schusswunde vernäht worden war, die Hälfte ihres langen dunklen Haares abgeschnitten und den halben Kopf kahl geschoren. Die große 457

Wunde am Arm war verbunden und machte sich am wenigsten bemerkbar. Die Wirkung der Sedativa hatte nachgelassen, und die neuen Schmerzmittel hatten keinen so betäubenden Effekt. „Wie fühlen Sie sich?«, fragte Scan Mulligan, der leitende Chirurg, noch einmal. In seiner Begleitung befanden sich das Operationsteam und vier Schwestern. »Es ... geht.« Mühsam formten Kates Lippen die Worte. »Es wird Ihnen bald wieder besser gehen. Viel besser.« Das ganze Team strahlte sie an. »Sie haben sehr viel Blut verloren, aber Sie haben es ziemlich gut verkraftet. Wir geben Ihnen keine Transfusion. Eine kräftige, gesunde junge Frau wie Sie wird den Verlust rasch ausgleichen.« Erneut versuchte Kate zu lächeln. „Wir haben Ihre Familie verständigt.« Kate war plötzlich hellwach. »Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen und ihm gesagt, dass alles in Ordnung ist und dass Sie außer Lebensgefahr sind. Ich glaube, die Medien sind noch nicht informiert; deshalb dachten wir, dass Ihre Familie die gute Nachricht direkt von uns und nicht aus der Zeitung erfahren sollte.« „Was ist mit Tony? Wie geht es ... Tony Dowling?« Die Worte kamen kaum hörbar über ihre ausgedörrten Lippen. „Sie müssen sich jetzt schonen. Je weniger Sie reden, desto besser.« »Was ist mit Tony Dowling?« Das Team blickte verlegen und schuldbewusst, als wäre es persönlich verantwortlich. »Er hat es nicht geschafft. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.« Kate wandte sich ab und blickte ins Leere. Der freundliche Mann 458

aus Cavan, nur ein paar Wochen vor dem Ruhestand. Der Mann, der für die Hunde vom Land schwärmte. »Die Hunde auf dem Land haben so was wie Persönlichkeit und Klasse, Kate. Sie wollen Kaninchen und Hasen und Wiesel und Füchse jagen, und nicht den

verdammten

Verkehr auf einer zweispurigen

Durchfahrtstraße. Was glauben Sie, würde Rory vom Fischen halten? Warum besuchen Sie mich nicht mal mit dem Jungen, und ich zeig' ihm, wie man mit einer Angel umgeht?« »Hat man Lynch erwischt?« Noch mehr verlegene Blicke. »Nein, bis jetzt leider nicht. Heute Morgen war in den Nachrichten zu hören, dass er wahrscheinlich nach England übergesetzt ist. Vergangene Nacht, mit der Stena Line.« Doch Kate schüttelte den Kopf. Nein, er ist nicht in England. Doch sie sagte nichts. »Aber machen Sie sich seinetwegen keine Sorgen, Mrs. Hamilton. Sie werden rund um die Uhr von einer Spezialeinheit der Polizei bewacht, die im gesamten Krankenhaus verteilt ist. Außerdem ist diese Abteilung für Besucher streng gesperrt. Da kommt keiner durch. Hier sind Sie sicher. Aber wahrscheinlich hat er schon längst das Weite gesucht.« Ich bin nicht Mrs. Hamilton. Und Lynch ist nicht fort.

Durch Straßensperren und die starke Präsenz der Gardai überall in der Innenstadt kamen Großpapa und Rory auf ihrer Fahrt quer durch die Stadt zum Zoo nur langsam voran. Horden englischer Fußballfans, viele ohne Eintrittskarten und nicht wenige von der Nationalen Front, waren bereits in Kampfstimmung. Passanten wurden mit Nationalflaggen und Rufen provoziert. »Wir sind die Champs! Wir sind die Champs!« Dann kamen Begeisterungsrufe 459

vom größten Teil der Menge, als der offizielle Mannschaftsbus der englischen Kicker langsam durch den Innenstadtverkehr rollte. Es gab Buh- und Hochrufe der gegnerischen Fans. Spielbeginn war um neunzehn Uhr, doch die Atmosphäre war jetzt schon geladen, der Alkoholpegel hoch, die Gemüter erhitzt. Fernsehteams

filmten

die

Ankunft

hunderter

englischer

Fußballfans in den beiden Häfen Dublin Docks und Dun Laoghaire, die, kaum dass sie von der Fähre waren, die Einheimischen mit ihren Union Jacks und ätzenden Sprüchen provozierten. Großvater schüttelte traurig den Kopf, während sie wieder einmal im Stau standen. Rory starrte fasziniert und verängstigt hinaus auf das Chaos. Er konnte die Gefahr auf den Straßen spüren. Schließlich aber waren sie hindurch und fuhren in Richtung Phoenix Park, wo sich der Zoo befand. »Opa?« »Ja, Rory?« „Wann kommt Mom nach Hause?«

11.00 Uhr Dean Lynch saß vor den neuesten Sky News. Sein Foto und das von Tommy Malone waren noch immer die Hauptattraktion. Sie brachten Bilder vom Polizeiaufgebot an den Straßensperren und Interviews mit dem »Mann oder der Frau von der Straße«, die gefragt wurden, was mit den beiden geschehen sollte, sobald man ihrer habhaft war. Das entlockte Lynch ein Lächeln. Sobald man meiner habhaft ist. Niemand wird meiner habhaft. Ich habe eine Verabredung mit dem Tod. Ich weiß nicht, wann. Ich weiß nicht, wie bald. 460

Aber ich habe eine Verabredung mit dem Tod. Doch vorher muss ich noch eine Sache zu Ende bringen. Eine Rechnung mit einem Weibsstück begleichen. Ein Foto dieser Frau erschien im weiteren Verlauf der Nachrichten auf dem Bildschirm. „Detective Sergeant Kate Hamilton befindet sich noch immer in kritischem, doch stabilem Zustand auf der Intensivstation des Merrion-Hospitals in Dublin.« Es war eine Direktübertragung vom Krankenhaus, vor dessen Haupteingang zwei Beamte des Sonderkommandos mit deutlich sichtbaren UZI-Maschinenpistolen standen und sich unterhielten. Der Bericht hob die schwer bewaffnete Bewachung hervor, die man Detective Kate Hamilton angedeihen ließ. Dann kam jene Passage, die Lynch lächeln, ja sogar einmal kurz auflachen ließ. »Berichten zufolge hat Dr. Dean Lynch das Land vermutlich bereits verlassen.« Es folgten Bilder des Schiffes der Stena Line und des Schalters, an dem letzte Nacht für Dean Lynch eine Fahrkarte für die letzte Fähre von Dun Laoghaire gekauft worden war. Ein sorgfältig vorbereiteter schlauer Plan Lynchs war aufgegangen. Die Nachrichten wurden sogar noch erfreulicher für Dean Lynch. Man hatte ihn gesehen, als er in einen Zug nach London stieg; einer anderen Meldung nach war er beobachtet worden, wie er ein Taxi nach Chester nahm. Kein Taxifahrer hatte sich bis jetzt gemeldet, dies zu bestätigen. Es hatte noch eine Reihe weiterer solcher Hinweise gegeben. Die englische Polizei nahm sie sehr ernst und ging ihnen allen nach. Doch sie warnte auch vor Falschmeldungen und bat die Öffentlichkeit, nicht leichtfertig die wertvolle Zeit der Polizei zu vergeuden. Dean Lynch sei ein sehr gefährlicher und ver461

zweifelter Mann. Die Öffentlichkeit sollte die Augen offen halten und sein Auftauchen sofort melden. Lynch schaltete mit der Fernbedienung ab und starrte auf den erlöschenden Lichtpunkt in der Mitte des Bildschirms. Er seufzte tief. Es ist so weit. Zeit für den letzten Schritt. Er nahm die Flasche mit dem Haarfärbemittel, las die Anleitung, und betrachtete prüfend den Schnurrbart, den er sich wachsen ließ. Es war noch nicht viel, doch es reichte. Für den nächsten Schritt brauchte er keine Perücke und keinen falschen Schnurrbart. Beim nächsten Schritt würde alles au naturelle sein.

Kurz vor Mittag stieg Tommy Malone vor Lamb Doyle's Pub in den Dubliner Bergen aus dem Wagen, schloss ihn sorgfältig ab und schlenderte auf die andere Straßenseite, wo er auf die Stadt hinunterblicken konnte. Es war wieder ein kalter, klarer Morgen. Für den Rest der Woche wurden Regen und um ein oder zwei Grad ansteigende Temperaturen vorhergesagt, doch an diesem Tag, dem Tag des großen Länderspiels, spielte auch das Wetter verhältnismäßig gut mit. Trotz der schneidenden Kälte drang dann und wann ein Hauch von Sonne durch die dunkelgrauen Wolken. Malone zündete seine letzte Zigarette an. Sein Blick schweifte zu den Orientierungspunkten und Wahrzeichen der Stadt, die mit ihren Vororten vor ihm ausgebreitet lag, so weit das Auge reichte: Howth Head, die Schornsteine von Ringsend, Ballymun Towers. Jesses, was würde er dafür geben, wenn er zurückgehen und noch einmal von vorn anfangen könnte. Wagen fuhren vorbei, doch Malone war völlig in den Anblick der Stadt versunken. 462

Das ist meine Welt. Hier bin ich aufgewachsen. Hier bin ich ausgebrochen aus Slums und Schmutz. Ich kann nicht fortgehen. Das ist meine Stadt. Das bin ich, Thomas >Tommy< Malone. Er schnippte den Zigarettenstummel auf das reifbedeckte Feld vor ihm und ging zurück zum Wagen. Da war etwas, das Tommy Malone unbedingt tun wollte. Er ließ den Motor an. Aber wie komme ich unbemerkt in die Stadt?

Die 13-Uhr-Nachrichten in Radio RTE brachten die neuesten Berichte über die Jagd nach Malone und Lynch. Es gab viele Meldungen aus der Bevölkerung; und im ganzen Stadtgebiet sowie in den Vororten, ja, selbst auf verlassenen Farmen, in Ferienwohnungen und Wohnwagen wurden Razzien durchgeführt. Aber bisher waren keine Verhaftungen vorgenommen worden. Der Sprecher sagte, die Regierung habe die Armee zur Unterstützung der Polizei in die ländlichen Gebiete abkommandiert. »Diese Mörder müssen dingfest gemacht und verurteilt werden«, wurden Alice Martins Worte zitiert.

Tommy Malone und Dean Lynch hörten die Nachrichten, Malone im Autoradio, Lynch auf seinem Sony-Walkman auf dem Weg zum Einkaufszentrum Stillorgan. Lynch lächelte und lachte ein paar Mal laut bei der Vorstellung, wie Polizei und Armee die Türen von Ställen und Bauernhäusern einrannten, illegale Schnapsbuden in der Innenstadt stürmten und die Landschaft durchkämmten. Der ganze Aufwand bloß für mich. Wie einfach so ein Chaos doch anzurichten war! Hätte ich das doch schon vor Jahren gewusst! 463

Immerhin habe ich Tom Morgan fertig gemacht. Und ich zeige es auch Luke Conway. Und diesem Bastard Armstrong. Er spazierte an einer Garda-Straßensperre eingangs der Booterstown Avenue vorbei, vor der sich eine gut einen halben Kilometer lange Autoschlange mit lauthals fluchenden Fahrern gebildet hatte. Lynch beobachtete es und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Was für ein Spaß. Er hatte nun volles schwarzes Haar, einen dünnen schwarzen Schnurrbart und sah in seinen vier dicken Pullovern unter einem dicken schwarzen Anorak mit Kapuze wieder ziemlich kräftig aus. Er trug seine Fensterglasbrille und ähnelte keine Spur mehr dem Mann, dessen Bild in sämtlichen Nachrichtensendungen auf den Schirmen flimmerte und auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen zu sehen war. Tommy Malone fuhr die Ballinteer Road hinunter und nahm Abkürzungen durch verschiedene Wohnsiedlungen, um die Hauptstraßen zu meiden. Er sah die Leute ihren täglichen Aufgaben nachgehen, die Mülleimer leeren, einkaufen, den Hund ausführen. Überall um ihn herum nahm das Leben seinen ganz normalen Gang. Der augenfällige Unterschied zwischen ihrem Leben und dem seinen machte ihm zu schaffen. Er erreichte das Industriegelände Sandyford in Süd-Dublin, wo es offenbar keine Straßensperren gab, denn der Verkehr rollte ungehindert. Malone nahm die Abfahrt nach Stillorgan und bog auf den Parkplatz des Einkaufszentrums ein, als er einen quer über eine Straßenhälfte stehenden Polizeiwagen entdeckte, dessen Beamte alle Gesichter in den Fahrzeugen der sich langsam bewegenden Schlange genau unter die Lupe nahmen. Du darfst keine Aufmerksamkeit erregen. Du darfst keine Auf464

merksamkeit erregen. Malone stopfte den Matchbeutel unter den Beifahrersitz, stieg aus und schlug seinen Mantelkragen hoch. Das fiel nicht auf, denn alle taten es, um sich vor der Kälte zu schützen. Er schlenderte durch das Einkaufszentrum wie jeder andere Kunde und stieß dabei unversehens mit einem kleinen, dicklich wirkenden Mann zusammen, der ebenso in Gedanken zu sein schien, wie er selbst. Sie murmelten beide »'tschuldigung«. Jedem fiel auf, dass der andere kaum den Kopf hob und auf den Boden blickte. Der kleinere Mann hielt nur einen Moment inne, um seine Brille höher auf die Nase zu schieben. Der kleine, massig wirkende Mann, der die Kapuze über sein schwarzes Haar gezogen und über der unteren Hälfte seines Gesichts zugebunden hatte, sodass sein dünner schwarzer Schnurrbart verborgen blieb, ging in den Quinnsworth Sport- und Freizeit-Laden, wo sich ein Fotoautomat befand. Er setzte sich, stellte den Sitz auf die richtige Höhe ein und vergewisserte sich, dass niemand wartete, bevor er sich an die Arbeit machte. Rasch zog er die Kapuze vom Kopf, schlüpfte aus dem Anorak und nahm die Brille ab. Nach kaum einer Minute war er aus allen vier Pullovern und zog seinen alten weißen Arztkittel aus der Zentralentbindungsklinik über sein neues weißes Hemd. Dazu trug er eine schlichte graue Krawatte. Er musterte sein Spiegelbild und lächelte. Du siehst wieder ganz wie ein Arzt aus. Er fuhr mit dem Kamm durch sein mit Gel behandeltes Haar und zog einen sauberen Scheitel. Er inspizierte das Ergebnis und nickte zufrieden. Dann setzte er die Brille wieder auf, warf die Münzen ein und wartete. Es blitzte viermal. Rasch schlüpfte er 465

wieder in seine Pullover und den Anorak und zog die Kapuze hoch. Er spähte durch den Vorhang. Niemand stand draußen vor dem Automaten. Lynch wartete die drei Minuten ab, bis die Fotos entwickelt waren. Als er auf die Armbanduhr schaute, fiel ihm auf, wie locker sie um sein Handgelenk hing. Ich habe eine Menge Gewicht verloren. Eine ganze Menge. Und ich habe keinen Hunger. Ich möchte gar nichts essen. Schon beim Gedanken daran wird mir übel. Der Streifen mit den vier Aufnahmen, der schließlich aus dem Automaten kam, zeigte einen schmalgesichtigen Mann mit vollem schwarzen Haar, schwarzem Schnurrbart und Brille. Lynch ging in die Apotheke gegenüber

und

kaufte

vier

Packungen

Ensure

Plus

Hochleistungsvollnahrung, um zu Kräften zu kommen. Ich muss irgendetwas zu mir nehmen. Ich brauche alle Kraft, die ich aufbringen kann. Für den letzten Schlag.

Tommy Malone ging zum Wagen zurück und ließ die Straßensperre hinter sich. Er fuhr Richtung Mount Merrion und nahm die Trees Road

hinunter zur zweispurigen Durchfahrtsstraße

Stillorgan, auf der er ins Zentrum zu gelangen hoffte. Dann entschied er sich für die Merrion Avenue, doch auf halbem Weg rollte er auf eine weitere Garda-Kontrollstelle zu, kaum fünfzig Meter voraus. Jetzt steckte er in einer Schlange fest, die er nicht verlassen konnte, ohne dass die Leute im Auto hinter ihm misstrauisch wurden. Ein junger Garda ließ die Schlange nicht aus den Augen, damit sich niemand aus dem Staub machen konnte. Aus dem linken Augenwinkel sah Malone einen Wagen ausscheren und vor dem großen Spirituosenladen, McCabes, auf der linken Seite parken. Das ist es! Er wartete eine Minute und folgte. 466

Viele kamen, um sich für das große Ereignis einzudecken, sich im warmen Wohnzimmer mit ein paar Bierchen vor die Glotze zu setzen und mitzuerleben, wie ihre Helden den Engländern die Hosen auszogen. Tommy Malone parkte den Wagen halb auf dem Gehsteig, holte den Matchbeutel heraus und spazierte so ungezwungen, wie er konnte, in den Laden. Der war gerammelt voll. Sechserpacks Bier gingen ohne Unterlass über den Ladentisch. In einer Ecke flimmerten die Sky News auf einer Mattscheibe. Malone inspizierte die Reihen von Weinflaschen, die Augen auf die unteren Regale gerichtet, um sein Gesicht vor unerwünschten Blicken zu verbergen. Die 14Uhr -Nachrichten begannen, und jeder im Geschäft sah interessiert hin. Der Nachrichtensprecher berichtete von Sam Collins' und Peggy Ryans Überführung aus dem Untersuchungsgefängnis Bridewell ins Gericht. Die Bilder zeigten eine aufgebrachte Menge vor dem Gerichtsgebäude, während Collins und Peggy, die Gesichter mit Decken verhüllt, zu einer dreiminütigen Anhörung ins Gebäude geführt, anschließend wieder in einen wartenden Polizeiwagen gezerrt und eilig ins Mountjoy-Gefängnis gebracht wurden. Der Sprecher berichtete weiter, dass Gordon O'Brien auf der Intensivstation der Zentralentbindungsklinik noch immer in Lebensgefahr schwebte. Die Stimmung im Laden wurde so angespannt wie auf den Fernsehbildern; viele machten ihrem Ärger Luft und schimpften lautstark, was man mit solchen Bastarden anstellen sollte. Tommy Malone hörte es mit wachsender Besorgnis. Ich wusste, dass es mehr als schlimm ist. Aber das ist ein Albtraum. Jesses, ich sitze in der Scheiße! Er nahm eine Flasche Rotwein aus dem 467

Regal und las das Etikett. Chateau Mouton Rothschild 1983. Warum nicht? Er wartete, bis es an der Kasse leerer wurde. Schließlich stellte er die Flasche auf den Ladentisch und wandte den Blick ab, als ob er noch nach etwas anderem suchte. Schließlich fiel ihm auf, dass der junge dunkelhaarige Verkäufer auf die Flasche starrte. Das ist sehr teurer Wein, Sir. Die Flasche kostet hundertfünf undzwanzig Pfund.« Das war nicht der Augenblick für eine Diskussion über Ladenpreise. Ich muss schnellstens von hier verschwinden. »Ja, schon gut, ich nehme ihn. Geben Sie mir auch zwei Montecristo-Zigarren. Nummer eins.« Der Wein und die Zigarren wurden sorgfältig in rotes Seidenpapier gewickelt und in eine grüne Tragetasche gepackt, die Flasche noch einmal in sechs Lagen lila Papier. »Ich brauche noch einen Flaschenöffner und ein Glas.« »Ein Glas?« Diesmal starrte der Verkäufer direkt in das Gesicht des Mannes, der so sehr bemüht war, allen Blicken zu entgehen. »Ja, packen Sie mir einen Flaschenöffner und ein Glas dazu.« Malone blätterte

drei

Fünfzigpfundnoten

hin.

»Geben

Sie

das

Wechselgeld in die Spendenbüchse.« »Gern, Sir. Danke.« Der junge dunkelhaarige Verkäufer überlegte fieberhaft. Irgendetwas an dem Gesicht des Mannes kam ihm bekannt vor. Er war nahe daran, Malone zu fragen, ob er ihn vielleicht in letzter Zeit im Fernsehen gesehen haben könne. Doch Malone war schon durch die Tür, und ein anderer Kunde wartete bereits und verlangte nach einem Sechserpack Budweiser und einer Packung 468

Chips. Und im nächsten Augenblick hatte der junge Verkäufer Tommy Malones Gesicht vergessen. Malone peilte die Lage, als er aus dem Laden kam, und hielt es für zu riskant, den Wagen zu nehmen. Mit dem Matchbeutel in der Linken und McCabes Einkaufsbeutel in der anderen Hand bog er um die Ecke in die Cross Avenue. Ich geh' zur Schnellbahn in Booterstown, wie in alten Zeiten.

»Tut mir Leid, aber die Leitung ist in Ordnung. Ich bekomme auch kein Freizeichen. Möglicherweise ist das Kabel aus der Dose gezogen worden.« Der Berater der Störungsstelle von Telecom Eireann versuchte Betty Nolans Tochter Sharon zu erklären, dass es nicht an einer technischen Störung liegen könne, dass sie nicht zu ihrer Mutter durchkam. »Wie lange versuchen Sie es schon?« »Den ganzen Vormittag. Normalerweise kommt sie am Mittwoch gegen elf herüber, um auf das Baby aufzupassen, während ich meine Einkäufe mache.« »Ich kann Ihnen leider nicht mehr sagen, als dass die Leitung völlig in Ordnung ist. Wir haben auch keine anderen Störungsmeldungen aus der Gegend. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.« „Trotzdem vielen Dank. Ich werde mal hinfahren und nachsehen, ob alles in Ordnung ist.« „Wenn Sie feststellen, dass das Telefon funktioniert, aber keine Anrufe annimmt, geben Sie uns bitte Bescheid.« „Mach' ich. Nochmals danke.« Sharon legte auf und kaute beunruhigt an ihren Fingernägeln. 469

Tommy Malone nahm die Schnellbahn zur Westland Row. Die McCabes-Tragetasche hatte er in den Matchbeutel gestopft. Fast fünf Minuten stand er vor der Station und überlegte, welchen Weg er nehmen sollte. Dann setzte er sich in ein kleines Cafe um die Ecke und versuchte, sich bei einer Tasse starkem Tee über seinen nächsten Schritt klar zu werden. Er wusste, wohin sein Weg ihn letztlich führen würden, doch sein Herz wollte woanders hin. Es wollte zurück ans Ufer der Liffey, zurück zur alten Wohnsiedlung Steevens Street. Sein Herz sehnte sich nach dem Geruch der See, dem Verkehr, dem Lärm der Sirenen von Polizei, Rettungswagen und Feuerwehr im Stadtzentrum. Es drängte Malones Verstand zu seinen alten Lieblingsplätzen, zu einem Tierchen und einem Plausch mit ein paar alten Kumpeln. Doch sein Herz hatte nicht genug Macht über seinen Verstand. Und der zog ihn in die andere Richtung. Zur gleichen Zeit, als Tommy Malone sich auf seinen einsamen Weg machte, zeigte Gordon O'Brien in der Kinderintensivstation der

Zentralentbindungsklinik

die

ersten

Anzeichen

einer

Besserung. Sandra O'Brien stand über den Brutkasten gebeugt und redete leise mit ihrem Baby. »Komm schon, Gordon, Mom ist bei dir. Dein Pa ist auch da, Gordon. Du bist wieder bei uns. Alles wird gut. Mom wird dich nie wieder aus den Augen lassen, hab keine Angst. Nie wieder. Niemand wird dich mehr fortholen von Mom und Pa. Aber du musst gesund werden, Gordon. Du musst kämpfen. Du darfst nicht aufgeben. Wir warten auf dich.« Auf diese Weise redete sie auf ihn ein, seit Paddy Holland es ihr und Big Harry geraten hatte. Harry O'Brien hielt die kleine Hand seines Sohnes und streichelte den winzigen Kopf. Dann und 470

wann beugte er sich hinunter und küsste das Kind auf die Stirn. Doch sein Anblick brach ihm das Herz. Die erste Bewegung war nicht mehr als ein Zucken eines Fußes für den Bruchteil einer Sekunde. Weder Big Harry noch Sandra bekamen es mit. Doch Liz Egan, der Intensivstationsschwester, fiel es sofort auf. Sie blickte auf die Apparate, welche die Lebenszeichen des Babys aufnahmen, und hielt mühsam ihre Aufregung zurück. Der zu schnelle Puls war langsamer geworden, ebenso der zu schnelle Atem, und der Sauerstoffpegel war besser. Liz Egan versuchte sich nichts anmerken zu lassen, während sie Gordon O'Briens Temperatur maß. Sie ignorierte Sandras und Harrys Blicke und trug den Wert in die Karte am Fuß des Inkubators ein. Dann maß sie die Temperatur noch einmal. »Ist alles in Ordnung?«, fragte Sandra ängstlich und betete verzweifelt, Gordons Zustand möge sich durch die Aktivitäten der Schwester nicht verschlechtern. Liz Egan lächelte leicht. »Vielleicht eine Besserung. Ich hole Dr. Holland. Ich bin gleich wieder zurück.« Sie war aus der Tür, bevor die O'Briens ihr Fragen stellen konnten. Als Paddy Holland den Bericht der Schwester hörte, folgte er ihr sofort in die Intensivstation. Sandra und Harry standen langsam auf, als der Arzt hereinkam. Aus Furcht vor der Antwort wagten sie keine Fragen zu stellen. Holland überprüfte die Anzeigen, die Liz Egan bereits vor ein paar Minuten abgelesen hatte, zog einen Stuhl an den Brutkasten heran und setzte sich. Er beobachtete das Baby eingehend, folgte der Atembewegung des Brustkorbs hinab zum eingefallenen Bauch; dann ging plötzlich ein Ruck durch ihn. Gordon O'Briens Kopf bewegte sich kaum wahrnehmbar, doch Schwester Egan 471

und Paddy Holland entging es nicht. Holland drückte ein pädiatrisches Stethoskop auf Gordon O'Briens Brust und horchte. Er bewegte es zentimeterweise über den Brustkasten und lauschte immer wieder. Er konnte kaum glauben, was seine Augen und Ohren wahrnahmen. Holland richtete sich auf und begann, Knöpfe an den Apparaten zu drücken. Eine EKG-Spur flimmerte über den Schirm, ein Sauerstoffsättigungswert wurde angezeigt, ebenso Puls-, Atmungs- und Blutdruckwerte der letzten drei Minuten. Sandra und Harry O'Brien beobachteten es mit einer verzweifelten Angst, die fast spürbar im Raum hing. Ist es das Ende? Paddy Holland riss den EKG-Streifen ab und fuhr mit dem Finger die Aufzeichnung entlang. Dann wandte er sich den bleichen Gesichtern der O'Briens zu und lächelte. »Er ist auf dem Weg der Besserung. Er ist über dem Berg!«

45 15.27 Uhr Merrion Square, Dublin 2 Merrion Square war eins von Dublins Schmuckstücken. Es war ein eleganter Platz voll großartiger Architektur, umgeben von breiten, gepflegten Straßen, die nachts von kunstvoll verzierten Laternen beleuchtet wurden. An drei Seiten standen hohe georgianische Gebäude, einst Stadthäuser der Dubliner Aristokratie, die heute hauptsächlich Büros und Mietwohnungen beherbergten. In der Mitte befand sich der Merrion Square Park mit seinen wunderschönen, gepflegten Gartenanlagen. Auf den vielen sauberen Spazierwegen stieß man immer wieder unvermittelt auf eine Statue oder eine Skulptur und erfreute sich an den 472

prächtigen Blumen- und Heidekrautbeeten. An der Ostseite des Parks befanden sich ein Kinderspielplatz und Grünflächen mit Holzbänken, auf denen man rasten und die Schönheit der Natur im Wandel der Jahreszeiten bewundern konnte. Tulpen und Narzissen im Frühling, Rosen im Sommer, Stiefmütterchen im Herbst und Christrosen im Winter. Der Park war umgeben von einem schmiedeeisernen Gitter, an dem Amateurmaler sonntags ihre Bilder ausstellten. Am Wochenende waren der Platz und der Park Ausflugsziel für Familien. Während die Kinder sich auf dem Spielplatz tummelten, zog es die Eltern zu den Anlagen oder den Bildern. Die Irish National Art Gallery stand auf der Westseite des Merrion Square, ein wenig zurückgesetzt von der Straße und hinter hohen schwarzen, schmiedeeisernen Gittern. Die Architektur des Gebäudes fügte sich harmonisch in die bauliche Nachbarschaft. Vor dem Eingang erstreckte sich ein kleiner gepflegter Rasen mit einer Reihe von Bänken neben einer Statue George Bernard Shaws, der gedankenvoll in die Ferne blickte. Das war es mehr oder weniger auch, was Tommy Malone um fünfzehn Uhr dreißig an diesem 19. Februar 1997 tat, jenem Tag, der später als schwarzer Mittwoch bezeichnet wurde. Tommy zündete sich eine Zigarre an; er saß zusammengekauert in der Kälte auf der Holzbank und beobachtete den Verkehr und die Menschen. Der Matchbeutel lag neben ihm. Er musste sich entscheiden. Jetzt. Es duldete keinen Aufschub mehr. Als die Zigarre aufgeraucht war, trat Malone sie mit dem Fuß aus und öffnete den Beutel. Er blickte sich rasch um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn beobachtete, nahm die Smith & Wesson aus dem Beutel und steckte sie in den Hosenbund. Dann stand er auf und ging zum Haupteingang des Gebäudes. Er gab 473

den Matchbeutel bei der Eingangswache ab und schlenderte langsam zum Ausstellungsraum 18. Da war es. Caravaggios „Die Gefangennahme Jesu.“ Malone setzte sich auf die Bank, um das Bild noch einmal zu verinnerlichen. Da ist Betty und ihr Judaskuss, und der in der Mitte bin ich. Ich hab' nicht so lange Haare und keinen Bart und Schnurrbart, aber ich bin's, genauso verraten und verkauft. Die Häscher kommen schon, um mich zu holen und ans Kreuz zu nageln. Aber mich kriegen sie nicht! Der Lichtschimmer auf den Rüstungen der Soldaten, der Ausdruck ihrer Gesichter - die düstere Atmosphäre des Gemäldes ließ alles so wirklich erscheinen, dass Malone unwillkürlich nach seiner Waffe tastete. Ich kann nicht ewig davonrennen. Das ganze Land ist jetzt gegen mich. Sie werden mich kreuzigen, wenn sie mich erwischen. Aber sie werden mich nicht erwischen! Nicht Thomas Malone. Malone stand langsam auf und bemerkte den offenen Mund und überraschten Blick des Museumswärters. Er konnte es an seiner Miene ablesen. Das ist er! Das ist der Kerl, der gesucht wird. Wie heißt er gleich? Himmel, wie war doch der Name? Aber er ist es! Kein Zweifel. Ich muss die Gardai verständigen! Malone sah dies alles ganz deutlich und seufzte. Es war ein tiefer Seufzer der Resignation. Sein Blick fiel noch einmal auf Christus' sanftes Gesicht, die gefalteten Hände, die Ergebenheit, die sich auf seinem Antlitz zeigte, obgleich er wusste, was ihn erwartete. Genau das kann ich nicht begreifen, dachte Malone. Er wusste, was ihn erwartete, und trotzdem ließ er sie kampflos, ohne jeden Widerstand gewähren. Scheiße, Mann! Scheiße, Scheiße, Scheiße. Aber mich kriegt ihr nicht so leicht! 474

Malone holte seinen Beutel und konnte die Blicke spüren. Die Neuigkeit war wie ein Lauffeuer unterwegs. Aus den Augenwinkeln sah er zwei Wachmänner herankommen. Sie waren keine Muskelpakete, sahen aber kräftig genug aus, und er hatte es im Gefühl, dass sie hier und heute die Helden spielen wollten. Er zog seine Smith & Wesson hervor und feuerte einen Schuss über ihre Köpfe hinweg. Der Wandputz splitterte. Alle duckten sich und sprangen in Deckung. Außer Tommy Malone, der ohne Hast zum Ausgang schritt, die Straße überquerte und im Merrion Square Park verschwand. Er setzte sich auf eine stille Bank, mit Blick auf das frische Grün von Narzissen und Tulpen, die da und dort die ersten Blüten zeigten. Die Schneeglöckchen hatten ihre beste Zeit schon hinter sich. Er öffnete den Beutel, holte ein Radio heraus und schaltete es ein. Dann machte er die Flasche Chateau Mouton Rothschild 1983 auf. Es war ein guter Jahrgang, doch solche Kenntnisse besaß Tommy Malone nicht. Er säuberte das Glas mit einem Stück vom lila Seidenpapier und füllte es. Er nahm einen Schluck. Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Mir wäre zwar ein Guinness lieber, aber der Wein schmeckt auch nicht übel. Er trank aus; dann vergewisserte er sich, dass die Waffe feuerbereit war, und legte sie neben sich. In der Ferne konnte er Sirenen hören. Tommy Malone lehnte sich zurück und wartete. Sie kommen. Er füllte das Glas erneut und leerte es auf einen Zug, schenkte wieder ein und stellte das Glas auf die Bank. Er überprüfte noch einmal die Waffe und nahm erneut einen Schluck. Er zündete seine letzte Montecristo an und blies Rauchringe in die frostige Luft. Ein kalter Windstoß trug den Geruch von geröstetem Malz 475

von der Guinness-Brauerei herüber. Malone lächelte. Mann, jetzt ein kühles Bier! Von der Straße außerhalb des Parks konnte er das Schlagen von Autotüren und laute, ungeduldige Stimmen hören. Aus dem Augenwinkel sah er eine dunkel gekleidete Gestalt in schwarzer Schirmmütze, die eine junge Mutter mit ihrem Sprössling und einem Baby im Kinderwagen in Sicherheit brachte. Sie kommen. Die Soldaten kommen. Ich kann ihre Rüstungen schimmern sehen.

Jack McGrath instruierte seine Gruppe. Sie trugen alle Tarnjacken und schwarze Wollmützen und hatten ihre Gesichter geschwärzt. Er ließ sie in einem Kreis um den Park ausschwärmen, während andere uniformierte Gardai die unbeteiligten Spaziergänger wie Hasen aufscheuchten, ehe sie ahnungslos auf ein mögliches Blutbad zusteuerten. In den Bürogebäuden rings um den Platz wurden die Leute aufgefordert, von den Fenstern wegzubleiben, was nur zur Folge hatte, dass sie sich neugierig davor drängten, um ja nichts zu verpassen. Von ihren Logenplätzen aus konnten sie den einsamen Mann auf einer Bank mitten im Park sitzen sehen. Neben ihm lag eine Tasche; so sah es jedenfalls aus. »Sehen Sie nur«, sagte einer. »Ich glaube, er trinkt irgendwas. Ich sehe eine Flasche und ein Glas. Ja, ich bin ganz sicher. Wer ist der Mann?« McGrath hatte seine Männer in Stellung. Er war bereit. Sie nickten und bestätigten nacheinander über Sprechfunk. Tommy Malone drehte das Radio lauter. Seine Zigarre war fast zu Ende geraucht, die Flasche nahezu leer. Der Wein wärmte ihn von innen. Er bemerkte, dass sich in den Büschen nicht weit von 476

ihm irgendetwas regte, und nahm die Waffe in die Hand. McGrath verfolgte jede Bewegung Malones und befahl seiner Truppe, sich bereitzumachen. Waffen wurden entsichert, Finger legten sich an Abzüge. Gib uns nur den geringsten Grund, Tommy, nur den geringsten Grund. „Wir unterbrechen unser Programm für eine kurze Meldung.« Malone hörte nur mit halbem Ohr hin; seine Aufmerksamkeit galt mehr den näher kommenden Schatten. »Wie aus der GardaZentrale verlautet, kam es im Gefängnis Mountjoy im Zusammenhang mit der Entführung des O'Brien-Babys zu einem Zwischenfall. Nach zur Stunde noch unbestätigten Berichten wurde Sam Collins, einer der Entführer, die gestern verhaftet wurden, von einer Meute Mitgefangener überfallen und zusammengeschlagen. Derzeit befindet er sich zur Behandlung seiner schweren Kopfverletzungen im nahen Mater-Krankenhaus. Näheres darüber in den 16-Uhr-Nachrichten.« Die Neuigkeit sickerte langsam in Malones Bewusstsein, und er blickte einen Moment zu Boden. Dann blickte er auf. Die dunklen Gestalten kamen näher, huschten zwischen den Büschen und Blumen. Er hörte Zweige unter Schuhen knacken und Kies knirschen. Sie holen mich, um mich zu kreuzigen. Sie werden mich kreuzigen, wenn sie mich kriegen. Wenn sie mich kriegen. Er schob den Revolverlauf langsam in den Mund und nahm den bitteren Geschmack des Metalls wahr. Jack McGrath stand auf. »Großer Gott!« Einen flüchtigen Moment blickte Tommy Malone ihm in die Augen, den Lauf tief im Mund. McGrath rannte auf ihn zu. »Nein! Tu's nicht! Tu ...« 477

Doch Tommy Malones Blick verriet unendliche Müdigkeit und Resignation. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Es hatte keinen Sinn mehr. Er drückte ab.

46 17.03 Uhr Kurz nach siebzehn Uhr verschaffte sich die Polizei des Bezirks Greystone gewaltsam Zutritt zu Roselawn Heights 33. Sharon hatte die Gardai geholt, nachdem sie sich an Ort und Stelle umgesehen hatte und ihre Besorgnis noch gewachsen war. Die Türen waren abgeschlossen, doch die Vorhänge und Jalousien waren auf eine ungewöhnliche Art und Weise zugezogen. Ungewöhnlich jedenfalls für Sharons Mutter. So würde sie das Haus nicht verlassen. Doch ihr Wagen war nicht da. Sharon fragte die Anwohner. Natürlich war es - wie konnte es auch anders sein Nachbarin Nora, zwei Türen weiter, die alles gesehen hatte. Nora Naseweis, wie Betty sie genannt hatte, entging praktisch nichts, was in Roselawn Heights passierte. Und sie hatte auch Tommy Malone am Morgen in Bettys Wagen steigen und wegfahren sehen. »Aber warum haben Sie nicht die Polizei verständigt?« »Weil es mich nichts angeht, wer im Haus Ihrer Mutter verkehrt«, erwiderte Nora, die ihre eigenen Vorstellungen hatte, was sie etwas anging und was nicht. Sharon rief die örtliche Garda-Dienststelle an. Zehn Minuten später kreuzten zwei uniformierte Beamte in einem Einsatzwagen auf. Einer von ihnen entdeckte schließlich Bettys Fuß, der unter dem Küchentisch hervorragte. Sharon gab ihre Einwilligung, die Tür aufzubrechen. Wenig später hallten ihre Schreie durch das 478

Haus und die Straße hinab zur Nachbarin Nora, der in Roselawn Heights noch nichts Vergleichbares zu Ohren gekommen war. Die beiden uniformierten Gardai benachrichtigten die Zentrale, liefen Dr. Noel Dunne an und baten ihn zu kommen. Sie erwischten ihn in einem ungünstigen Augenblick, denn Noel Dunne stand gerade im grellen Scheinwerferlicht im Merrion Square Park neben Jack McGrath vor der Leiche Tommy Malones. Dunne lauschte an seinem Handy den Worten des atemlosen Gardai und der Tatortbeschreibung, nickte ernst und antwortete leise, während sein Blick in die Dunkelheit des Parks gerichtet war. Er gab die üblichen Anordnungen, warf einen raschen Blick auf die Uhr und ließ die Gardai in Roselawn Heights seine ungefähre Ankunftszeit wissen. Dann wandte er sich McGrath zu. Dunne wusste, wie nahe Dowling und McGrath sich in all den Jahren gekommen waren, und wie gut sie zusammengearbeitet hatten. Er hatte den ganzen Vormittag in der Leichenkammer des Merrion-Hospitals mit der Obduktion Dowlings zugebracht. Es war ihm an die Nieren gegangen, und er war ein Mann, dem so schnell nichts an die Nieren ging. Er hatte von Anfang an gewusst, dass jeder Tag zum Albtraum würde, wenn er nicht genug professionellen Abstand wahrte. Doch der Anblick Tony Dowlings, tot und blutverschmiert auf dem Obduktionstisch, war wirklich nur sehr schwer zu ertragen. »Detective Inspector McGrath?« McGrath wandte sich um. »Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr mich der Tod Ihres Kollegen gestern Nacht erschüttert hat.« McGrath antwortete nicht. Seine Augen sprachen Bände, doch er brachte keinen Laut hervor. 479

»Und noch etwas, Detective Inspector.« Diesmal blickte McGrath Dr. Dunne in die Augen. »Ich glaube nicht, dass Lynch das Land verlassen hat.« Ohne ein weiteres Wort nahm Dunne seine Tasche und ging zu dem wartenden Einsatzwagen. »Ich auch nicht!«, rief McGrath ihm nach. Dunne ließ sich auf den Rücksitz sinken und kurbelte das Fenster herunter. »Er wird es wieder versuchen, Detective Inspector. Glauben Sie mir, er wird es wieder versuchen.« Während der Wagen losfuhr, strich McGrath über seinen Schnurrbart. Lesley Cairns von der Southside-Apartmentvermietung starrte auf die Titelseite der Daily Post, dann die der Irish Times, dann des Star und der Irish Independent, die üblichen Zeitungen, die im Büro für Kunden bereitlagen. Zwei Fotos beherrschten die Titelseiten der Tageszeitungen und füllten die der Revolverblätter: Tommy Malone und Dr. Dean Lynch. Es war nicht Malones Foto, das Lesley Cairny stutzig machte. Etwas an dem anderen Gesicht und der Beschreibung beunruhigte sie. Der Mann, der bei ihr im Büro gewesen war, entsprach überhaupt nicht den Angaben in den Blättern. Aber die Augen ließen Lesley keine Ruhe. Diese Augen, dachte sie, während sie die Fotos eingehend betrachtete, diese Augen! Es ist unmöglich, sich nicht an diese Augen zu erinnern. Sie las die Beschreibung erneut. Nein, der Mann hatte eine Brille getragen. Aber wie konnte ich dann die Augen so deutlich sehen? Weil es eine Fensterglasbrille war, wurde ihr plötzlich klar. Die Augen hätten jedem eine Gänsehaut über den Rücken gejagt. Hatte er die Zimmer nicht angeblich für einen englischen Geschäftsmann gemietet? 480

Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer des Apartments in Booterstown. Kein Problem, dachte sie nervös und mit leicht zitternden Händen. Wenn eine englisch klingende Stimme antwortet, frage ich, ob alles in Ordnung ist, ob er mit dem Apartment zufrieden ist, und bitte ihn, uns weiterzuempfehlen und wieder zu beehren. Niemand nahm ab. Lesley wählte erneut. Schließlich legte sie auf, griff wieder nach der Daily Post und starrte eine Zeit lang auf das Foto von Lynch. Nein, er kann es nicht sein. Aber sie war nicht sicher. Im Grunde wusste Lesley, dass sie es zu verdrängen suchte. Der Gedanke, dass der Mann wirklich der Gesuchte sein könnte, versetzte sie in Panik. Es war einfacher, diese Möglichkeit zu verleugnen, als sich den Konsequenzen zu stellen. Der Bus der englischen Nationalmannschaft rollte langsam auf den dicht bevölkerten Straßen zum Landsdowne Road Stadion, begleitet von Buhrufen, Gegröle, »Irland«-Rufen und zum Victory-Zeichen erhobenen Händen der irischen Fans. Es gab nur sehr vereinzelte Sympathiebekundungen. Zwar befand sich auch eine beträchtliche und normalerweise nicht weniger auffällige Anzahl von Official English Soccer Fans in der Stadt, doch die Polizei hatte strikte Anweisung, Berührungen der gegnerischen Lager zu vermeiden. Die Leute, die hier aus den Bussen, Taxis und Privatwagen auf die Straßen quollen, waren in der Hauptsache irische Fans in grünen Hemden und Tüchern und dicken grünen Pullovern zum Schutz gegen die Kälte. Sie sangen, während sie zum Stadion marschierten. »Irland schlagt ihr nicht. Irland schlagt ihr nicht.« Die irische Mannschaft war bereits im Stadion und brachte sich in Stimmung, schürte den Kampfgeist und schwor sich insgeheim, 481

es diesen Bastarden zu zeigen, wenn der Anpfiff erfolgt war. Da draußen ist nicht das Spielfeld, ihr englischen Arschficker, da draußen ist die Front. Wartet nur, bis wir auf dem Rasen sind! Der englische Mannschaftsbus erreichte das Stadion, und die Tore öffneten sich, um ihn einzulassen. Tom Dalzell konnte es sich einfach nicht verkneifen. Er hatte zu lange auf den Augenblick gewartet, in Dublin - der Heimat der IRA-Terroristen, wie Dalzells Vater, ein Ex-SAS-Angehöriger, immer wieder betonte in der englischen Mannschaft gegen Irland zu spielen. »Wenn du den Ball trittst, stell dir einfach vor, es ist der Bumskopf von einem dieser IRA-Bastarde, die mich fast abgemurkst hätten«, war der Rat von Dalzell senior gewesen. Kein anderer Spieler aus der ersten englischen Liga hatte einen solchen Bums wie Tom Dalzell, und er war jetzt im Feindesland. Seine Fußballschuhe warteten nur darauf, Ball und Gegner zu treten. Als der Bus ins Stadion rollte, hob Dalzell einen Union Jack und schwenkte ihn herausfordernd vor den Wartenden hinter dem Wagen. »SAS« stand in großen Lettern darauf. Er zeigte der Menge den Stinkefinger. Eine kleinere Gruppe irischer Fans löste sich und rannte brüllend und mit wütenden Gesten hinter dem Bus her. Zum Glück für Dalzell waren genug Ordnungskräfte da, um sie aufzuhalten und die Tore zu schließen. Die Stadionränge waren voll. Kurz vor neunzehn Uhr schätzten die Ordner die Zahl der echten irischen Fans auf zweiundzwanzigtausend, die Zahl der echten Official England Soccer Fans auf etwa siebentausend. Der Rest, so meldeten sie an die Garda-Überwachungszentrale, waren Radaubrüder. Zweihundert Gardai hatten im Stadion Posten bezogen, alle in Straßenkampfausrüstung, mit Schilden und langen Schlagstöcken, Helmen und Plexiglas-Augenschutz. 482

Nationale und internationale Medien waren in ungewohnter Größenordnung vertreten. Auf Grund der Ereignisse während der vergangenen zehn Tage waren viele ausländische Kommentatoren anwesend, die ihren Zuschauern oder Zuhörern die vielschichtige Problematik dieser Veranstaltung erläuterten. »Wir sind alle gespannt auf ein Superspiel, bei dem es hoffentlich zu keinen solch unerfreulichen Szenen kommen wird, wie wir sie aus der Vergangenheit kennen«, kommentierte der RTEReporter. Aber das hätte wohl kaum die Scharen ausländischer Berichterstatter hinter dem Ofen hervorgelockt. Wenn sie nicht mehr erwarteten als ein Fußballspiel, hätten sie es bequemer in ihren Hotelzimmern am Fernsehschirm verfolgen können.

18.53 Uhr »Mom? Bist du das, Mom?« »Hi, Rory, ja, ich bin's. Wie geht es dir?« Tränen liefen über Kates Gesicht. »Wo bist du denn, Mom? Großvater hat gesagt, du bist da, wenn wir vom Zoo nach Hause kommen.« »Rory, ich hatte einen kleinen Unfall und musste ein paar Tage ins Krankenhaus, aber ich werde bald zu Hause sein, ganz bestimmt.« Sie hörte ihn am anderen Ende der Leitung weinen. Nein, bitte, Rory, nicht weinen. Ich ertrage das nicht auch noch. Bitte, Rory. »Rory, fang jetzt nicht an zu weinen. Die Ärzte sagen, dass ich morgen nach Hause kann, oder übermorgen.« »Darf ich dich besuchen?« »Heute nicht mehr, Schatz, es ist schon zu spät. Ich bin furchtbar müde. Großvater kommt morgen mit dir her.« Sie konnte ihn schluchzen hören, tief und verzweifelt, und im Hintergrund 483

Großvaters vergebliche Versuche, das Kind zu trösten und zu beruhigen. »Rory, hörst du mir zu? Du darfst nicht weinen, Rory, hörst du?« Ein schwaches und zittriges »Ja« kam über die Leitung, begleitet von unterdrücktem Schluchzen. »Rory, wenn du ein lieber Junge bist und Großvater folgst, dann kaufen wir vielleicht ein Hündchen, wenn ich nach Hause komme.« Schlagartig wurde es still in der Leitung. Es war zu einfach. Rory war nicht dumm. Das Hündchen war ihm so lange verweigert worden. Da war etwas. Rorys kindlicher Verstand sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte, dass irgendetwas Schlimmes passiert sein musste. »Mom, geht's dir gut?« »Natürlich geht es mir gut.« Ich habe einen Schlauch im oberen Brustbereich, einen Schlauch im unteren Brustbereich, einen Tropf an beiden Armen, anderthalb Liter Blut zu wenig, und außerdem habe ich ein großes Stück Fleisch am linken Arm verloren. Ich habe mich noch nie besser gefühlt, dachte sie bitter, und wieder liefen Tränen über ihre Wangen. »Mom, wann kommst du nach Hause?« »Morgen, Rory. Morgen bin ich wieder daheim.«

47 19.00 Uhr Merrion-Hospital, Sandymount, Dublin Das Merrion-Hospital war 1954 am Stadtrand errichtet worden, um mehrere verfallende, ausgediente Innenstadtkrankenhäuser aus dem vorigen Jahrhundert zu ersetzen. Es handelte sich um eine Hochleistungsklinik, an die nur Spitzenkräfte berufen wur484

den. Das Merrion diente als Schulungskrankenhaus für Medizinstudenten und angehende Arzte und beherbergte zugleich eine Schwesternschule. Es war vor allem auch Wegbereiter für neue Operationstechniken, Lebertransplantationen, Onkologie und diagnostische Radiologie. Am Mittwoch, dem 19. Februar 1997, war das Krankenhaus mitten in einer Kampagne zur Beschaffung von Mitteln für den Bau einer neuen Intensivstation. Wenn man durch den Haupteingang gelangte, lagen die Stationen zu beiden Seiten eines breiten zentralen Flures mit Fahrstühlen auf der rechten Seite und einer Treppe auf der linken, die in sämtliche Stockwerke führte. Feuerleitern befanden sich an der Rückseite des Hauptgebäudes. Die Unfallstation und Notaufnahme, ein relativ neuer Anbau auf der linken Seite, war durch einen schmalen Gang mit dem Hauptgebäude verbunden. Über diesen Gang war auch die Radiologie zu erreichen, wo Röntgen- und andere

diagnostische

Aufnahmen

durchgeführt

wurden.

Patienten, die über die Notaufnahme hereinkamen, konnten, falls erforderlich, radiologisch untersucht werden, bevor sie auf die Pflegestationen kamen. Das kostete wesentlich weniger Zeit und ersparte den Schwerkranken und Schwerverletzten unnötigen Hin- und Hertransport. Die Intensivstation hätte an diesem schwarzen Mittwoch eigentlich gar nicht benutzt werden sollen. An

diesem

Tag

war

im

Grunde

keine

organisierte

Intensivversorgung gewährleistet. Die bisherige Intensivstation war aufgelöst worden; die Pläne sahen eine neue, moderne HighTech-Intensiv- und Aufwachstation in jenem Flügel vor, der zurzeit gebaut wurde. Aus diesem Grunde war die Intensivstation des Merrion-Hospitals ein halbes Jahr lang provisorisch in der obersten Etage des fünfstöckigen Gebäudes untergebracht. Das 485

gesamte Stockwerk war ursprünglich ein Magazin gewesen und konnte nur mit dem Fahrstuhl erreicht werden, da die Treppe im Zuge der Bauarbeiten gesperrt werden musste. Am Abend des 19. Februar 1997 schob ein mit einer Smith & Wesson sowie einer UZI-Maschinenpistole bewaffneter Angehöriger des Sondereinsatzkommandos einsame Wache vor dem Fahrstuhl. Niemand konnte unbemerkt den Korridor hinter ihm betreten oder an ihm vorbeigelangen. Auf Commissioner Quinlans persönliche Anordnung war ohne Ausnahme niemandem ohne vorherige Personenüberprüfung und Leibesvisitation Zutritt zu gewähren. Detective Sergeant Kate Hamilton wurde rund um die Uhr zu bewacht. Unter dem bewaffneten Polizeibeamten erstreckte sich ein dreißig Meter langer Flur, durch den man in die derzeitige Intensivstation gelangte, einen sechs mal sechs Meter großen Raum mit vier Betten und den erforderlichen medizinischen Apparaten zur Herzüberwachung, künstlichen Beatmung, Blutdruck-und Atemfrequenzmessung und -anzeige. Infusions-Vorrichtungen standen bereit. Es gab Schläuche für alle Körperfunktionen, Sauerstoffschläuche,

und

Schläuche

zum

Absaugen

von

Körperflüssigkeiten in spezielle Behälter. Alles, was man dem Körper entnahm, wurde gesammelt, gemessen und aufgezeichnet. Gegenüber der Intensivstation befand sich ein weiterer Raum mit zwei Betten, die Aufwachstation. Zuvor war es der Lagerraum für sämtliche im Krankenhaus verwendeten Tropflösungen gewesen - Salz, Traubenzucker, Crystalloid und so weiter. Kam man als Patient auf die Intensivstation, verließ man sie entweder in Richtung Aufwachraum oder in Richtung Leichenkammer. Weiter hinten im Korridor war, ebenfalls in einem ehemaligen 486

Lagerraum, die Schwesternstation eingerichtet. Es war ein kleines Zimmer von etwa drei mal drei Metern mit einem Tisch, einem Telefon und Alarmmeldern sämtlicher Geräte auf der Etage. Noch ein Stück weiter in Richtung der abgesperrten Treppe gab es eine kleine provisorische Imbissküche, wo sich auch ein tragbarer Fernseher befand. Am Schwarzen Mittwoch hatten außer dem Sondereinsatzbeamten, der den Fahrstuhl bewachte, noch eine Oberschwester von der Intensivstation und eine Krankenschwester Dienst, außerdem ein weiteres in Schwesterntracht gekleidetes Mädchen, das jedoch eine offizielle Polizeidienstwaffe bei sich trug. Sie war eine der wenigen weiblichen Beamten des Sondereinsatzkommandos. Bis auf Kate Hamilton waren alle Patienten aus der Intensivstation und dem Aufwachraum verlegt worden. Kates Zustand war stabil. Sie war außer Lebensgefahr. Ihre kollabierte Lunge war fast voll wiederhergestellt; die Schläuche sollten am nächsten Morgen entfernt werden. Bis dahin blieb sie auf Anordnung des Arztes am Tropf. Sie hatte Schmerzen, aber nicht so starke wie am Abend zuvor; sie war erschöpft und schlief unruhig, verfolgt von der Erinnerung an Dean Lynch - an seine Augen, diese hasserfüllten Augen. Genau um neunzehn Uhr, als Tom Dalzell für die englische Mannschaft beim Länderspiel gegen Irland den Ball anstieß, saß Dean Lynch keinen Kilometer entfernt in Donnies »Schmuckstück« auf dem Krankenhausparkplatz. Er hatte einen A4-Block auf den Knien, auf den er nun eine Liste von Namen schrieb. Die Namen waren in der Reihenfolge aufgeführt, in der Lynch sich den betreffenden Personen widmen wollte. Dean Lynch wollte es allen heimzahlen. An erster Stelle Detective Sergeant Kate 487

Hamilton. »Sie ist auf jeden Fall als Erste dran«, murmelte er in der Dunkelheit. »Dann das kleine Miststück an der Kasse des Central-Supermarkts in der Baggot Street.« Die ahnungslose Kleine hatte das Pech gehabt, Lynch einmal zu wenig herauszugeben und gleich den Geschäftsführer zu rufen, als er sie zur Rede stellte. Sie hatte ihn vor dem ganzen Laden unmöglich gemacht. »Die ist auf jeden Fall die Nummer zwei.« Danach Breda Mullan. »Das Luder verdient es. Hat mir oft genug die Galle hochgetrieben. Das wird sie jetzt bereuen. Und dann dieser

eilfertige

kleine

Wichser

Donnie

mit

seinem

Schmuckstück. Der ist auch fällig. Ich werde ihm zeigen, wohin diese Kette wirklich gehört, nämlich um seinen schmutzigen Hals.“ Er hielt inne und überlegte, wobei er aus dem Fenster auf die Lichter des Krankenhauses blickte, besonders auf jene im fünften Stock, wo sein erstes auserkorenes Opfer lag. „Da ist mein Ziel«, flüsterte er zu sich selbst. »Jetzt gilt es, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Ich weiß, wann es so weit ist. Und sie werden's erst merken, wenn es zu spät ist, wenn alles vorbei ist. Ich kenne mich in Krankenhäusern gut aus, vor allem in großen wie dem hier. Ich habe in vielen Krankenhäusern gearbeitet. Ich kenne sie wie meine Westentasche.« Lynch war bis ins kleinste Detail mit dem Merrion-Hospital vertraut. Er wusste, dass vom Personal nicht jeder jeden kannte, da Ärzte im Zuge ihrer Ausbildung in Halbjahresabständen kamen und gingen. Manchmal gingen Ärzte bloß in Urlaub, und für ein paar Wochen nahmen Vertretungen ihren Platz ein. Wer immer für das Stammpersonal zu einem vertrauteren Gesicht wurde, konnte am nächsten Tag schon wieder verschwunden sein. Aus einem 488

bekannten Gesicht mochte wenig später ein neues Gesicht im selben weißen Kittel werden. Lynch wusste alles über Krankenhäuser, und über das Merrion im Besonderen, denn hier hatte er die ersten Jahre seiner praktischen Tätigkeit verbracht, hatte sich für eine Laufbahn mit dem Skalpell entschieden, hatte seine erste Leiche aufgeschnitten und seine erste Operation durchgeführt. Dennoch hatte er sich zuvor einen genauen Plan gezeichnet. Bis ins kleinste Detail. Er blickte wieder zu den Lichtern empor. Ich komme zurück. Sie wissen es noch nicht, aber mein Comeback steht bevor. Aber diesmal würde es kein willenloses Stück Fleisch sein, das hier sein Messer bereit lag. Diesmal hoffte er, dass es sich wehrte, dass es ihn ein wenig für diesen Aufwand entschädigte, ich hoffe, dass mir ein Mord gelingt. Heute Nacht. Er lachte in der Dunkelheit. Ich hoffe, dass mir ein Mord gelingt. Heute Nacht. Er schaute wieder aus dem Fenster. Dort oben, im fünften Stock. Bis gleich, Detective Sergeant Hamilton. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Notizblock zu. Also, wer kommt noch auf die Liste? Er lächelte in der Dunkelheit über Namen und Gesichter. Aus den Augenwinkeln sah er den Polizeiwagen vor dem Krankenhauseingang halten und jemanden hineingehen, der ihm bekannt vorkam. Lynch konnte ihn nicht genau erkennen, aber es spielte sowieso keine Rolle. Er war auf alle Eventualitäten vorbereitet. Sein Plan war perfekt. Es geht nichts über sorgfältige Planung, akribische, exakte Planung. Keine meiner wohl durchdachten Operationen ist je schief gegangen. Wie damals, als ich den schwarzen Labrador des 489

Waisenhauses erwürgte. Er hieß Jet. Oh, wie vernarrt sie in den Hund war, diese Hexe, die mich jeden Tag gequält hat - und seither jede Nacht. Die Peinigerin all meiner Träume. Sie hat meine Kindheit zur Hölle gemacht, und als ich erwachsen war, kam sie in Albträumen zurück zu mir. Aber einmal, wenigstens einmal habe ich es ihr gezeigt. Ich habe ihr Jet genommen und es jemand anderem in die Schuhe geschoben, und sie hat es geglaubt. In der Dunkelheit seines Wagens genoss Dean Lynch die Erinnerung an diese Augenblicke. Er hatte sich ein paar Kekse aufgehoben, die er jeden Abend zusammen mit ein wenig Tee bekam. Er war so hungrig gewesen, immer so schrecklich hungrig, dass er sie stets aß. Bis auf das eine Mal. Er war wieder in die dunkle Kammer gesperrt worden. Er hatte sich gewehrt, gebrüllt, getreten. Er hatte gebettelt und geweint. Sie ließ ihn viele Stunden schmoren, länger als je zuvor, länger, als er ertragen konnte. Als sie ihn schließlich herausließ, stand sie lächelnd da und kraulte Jets Nacken. Da hatte er die Kekse aufgehoben. Diesmal aß er sie nicht, trotz des ständigen Hungers, der in seinen Eingeweiden nagte. Und eine Woche später, als alles wieder ruhig war, schlug er zu. Er lockte Jet in die Gartenhütte hinter dem Waisenhaus und ließ ihn zuerst an ein paar Keksstückchen knabbern. Er kraulte Jet sanft im Nacken, wie sie es getan hatte. In der Dunkelheit und Stille seines Wagens konnte er beinahe Jets Hecheln hören, konnte fast die Wärme spüren, die aus seinem Maul strömte und die feuchte Zunge auf seiner Hand, als der Hund die Keksstücke fraß. Langsam und bedächtig, um das Tier nicht zu erschrecken und zu verjagen, legte er die Hände um Jets Hals und würgte ihn mit 490

aller Kraft, bis er sich nicht mehr regte. So wie er es auch mit Mary Dwyer gemacht hatte. Dann fuhr er mit Handschuhen durch Jets Fell und legte sie zurück in Danny Rogers' Nachtschränkchen. Auch Danny Rogers hatte ihm das Leben schwer gemacht. Er war groß, im Gegensatz zu Lynch. Er war stark, im Gegensatz zu Lynch. Aber Lynch hatte Köpfchen, im Gegensatz zu Danny Rogers. Junge, das war eine Augenweide, als seine schwarzhaarige Hexe mit dem bleichen Gesicht und den langen knöchernen Fingern die Handschuhe fand und Danny Rogers vor dem ganzen Waisenhaus Prügel bezog. Lynch ließ sich nicht das Geringste anmerken, während er zuschaute, wie das Blut an Danny Rogers Beinen hinabrann. Es war ein Meisterstück perfekter Planung gewesen. Etwas selbst zu tun und es jemand anderem anzuhängen. Wie er es mit Tom Morgan getan hatte. Es wird nicht schwer sein, an sie heranzukommen. Nur ein weiterer Fall sorgfältiger Planung, mehr nicht. Lynch beobachtete, wie ein Krankenwagen vor der Unfall- und Notaufnahme hielt. Jetzt war der Augenblick gekommen. Ans Werk, ans Werk. Er blickte zum hell erleuchteten fünften Stock hinauf. Ich komme. Warte. Ich komme.

19.20 Uhr »Auf jedem Stockwerk patrouilliert ständig ein bewaffneter Beamter. Die Treppe am Ende des Korridors ist im Stockwerk darunter abgesperrt. Es ist hundertmal überprüft worden. Auf diesem Weg kann niemand hinauf.« Jack McGrath wollte alles über die Sicherheitsmaßnahmen für Kate Hamilton wissen. Noel Dunnes Bemerkungen ließen ihm 491

keine Ruhe. McGrath war schon verdammt beunruhigt gewesen, bevor Dunne seine Bemerkungen gemacht hatte, und nun war er doppelt ängstlich. Dunne irrte sich selten. Er bot nicht oft seinen Rat an, doch bei der Jagd nach dem Krankenhausmörder hatte er nicht damit gegeizt, als wüsste er genau, wie Dean Lynch ... ja, funktionierte. Nach drei Autopsien an seinen Opfern wusste Noel Dunne,

dass

die

Polizei

hinter

einem

außerordentlich

gefährlichen und unberechenbaren Gegner her war. Einem Phantom, das zuschlug und wieder in der Finsternis verschwand. Und im Augenblick lauerte dieses Phantom in der Finsternis. Und das beunruhigte Jack McGrath, der von Anfang an dabei gewesen war, der die erste Leiche mit dem Skalpell im Hals gesehen hatte. Dann war sein Partner und bester Freund ebenso grausam ermordet worden. »Weitere fünfzehn Beamte in Zivil mischen sich ständig unter die Krankenhausbesucher. Auf jedem Stockwerk werden Aufzug und Treppe bewacht. Der Kerl müsste schon Houdini sein, wenn er da durchschlüpfen wollte.« McGrath strich über seinen Schnurrbart und schritt über den Flur zu Kates Zimmer. Sie brachte ein schwaches Lächeln zu Stande, als er hereinkam, doch er bedeutete ihr, ruhig zu sein. »Ich will mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist.« Kate nickte und ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken. McGrath ging zweimal den Flur ab und überprüfte gründlich, ob die anderen Türen abgeschlossen und die Räume dahinter tatsächlich leer waren. Als er sicher war, dass keine unmittelbare Gefahr drohte, kehrte er zu Kate zurück und schob irgendetwas unter die Bettdecke. »Damit werden Sie nicht frieren heute Nacht«, flüsterte er ihr ins Ohr. 492

Sie streckte die Hand aus, tastete und nickte müde. »Ich bin erschöpft, Jack. Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen.« Von weiter vorn im Korridor drang die Stimme des Fußballkommentators herüber. »Wie steht es?« »Eins zu null für England. Ich war eben ein paar Augenblicke auf dem Kontrollgang. Die Schwestern sagen, es ist ein tolles Spiel. Von der ersten Minute an schenkt keiner dem anderen was.« Kate versuchte ein Lächeln; dann ließ sie sich seufzend zurücksinken. Sie sah McGraths gerunzelte Stirn nicht mehr. Er war noch immer beunruhigt. Er schritt den Flur hinunter. »Ich werde mir das Spiel unten in der Kantine ansehen. Ich bleibe noch eine Zeit lang im Krankenhaus.« Der Polizeibeamte am Fahrstuhl nickte.

19.45 Uhr Als der Ball im irischen Netz gelandet war, brach auf den Rängen der Osttribüne ein Tumult aus. Die Einsatzkräfte hatten die Anweisung, beim ersten Anzeichen von Ärger sofort hart durchzugreifen. Und das taten sie dann auch. Mit Schilden und Helmen und wirbelnden Schlagstöcken wurden die Hooligans erst isoliert, dann umstellt und schließlich niedergeknüppelt. Die laufenden

Fernsehkameras

dokumentierten

auch

die

Be-

geisterung, mit der manches Mitglied der Ordnungstruppe auf die Union Jacks einprügelte. Eine Reihe von Krankenwagen wartete vor dem Stadion, um die Verletzten abzutransportieren. Die ersten trafen gerade zur Halbzeit mit Sirenengeheul in der Unfall- und Notaufnahmestation des Merrion-Hospitals ein. Dean Lynch ging über den Parkplatz und wartete kurz, bis sie aus dem Wagen waren; einige 493

wurden auf Tragen ins Krankenhaus befördert. Niemand kümmerte sich um den kleinen dunkelhaarigen, durch die dicken Pullover, die er unter seinem neuen Hemd trug, korpulent aussehenden Mann mit dem dünnen schwarzen Schnurrbart. Als der dritte Krankenwagen eintraf, mischte er sich unter das Empfangskomitee, öffnete die Türen und half den noch immer fluchenden Fußballfans heraus. Er nahm sich einen, der aus einer Kopfwunde blutete, und führte ihn ins Wartezimmer, hieß ihn, sich zu setzen, und eilte in die Unfallstation, um Verbandmull zu holen. Noch immer beachtete ihn niemand. Die Unfallstation glich einem Schlachtfeld: Zwanzig an ihrem Jacken- und Sweatshirtaufdruck erkennbare Fans der gegnerischen Mannschaft litten an den unterschiedlichsten Stadien von Gehirnerschütterungen, Blutungen und allgemeiner Hysterie. Einige gingen aufeinander los, und zwölf krankenhauseigene Sicherheitskräfte hatten alle Hände voll zu tun, die Streithähne auf Distanz zu halten und dafür zu sorgen, dass die Ärzte und Schwestern ihre Arbeit tun konnten. Die Verletzten verteilten sich auf sechzehn abgeschirmte Behandlungszellen. Schwestern eilten mit Nahtmaterial, Verbandszeug, Bandagen, Spritzen, Nadeln, Lokalanästhetika, Augenklappen und Ähnlichem von einer Zelle zur anderen. Ärzte eilten umher, begutachteten Wunden, erteilten Anweisungen, gingen dem weniger erfahrenen Personal zur Hand und mühten sich, die Situation im Hinblick auf den noch zu erwartenden Ansturm im Griff zu behalten. »Wenn das erst die Halbzeit ist, was steht uns dann nach dem Schlusspfiff bevor?«, sprach es einer laut aus. Niemand wagte eine Prognose. Sie würden es früh genug erfahren. Aber dann 494

würde es zu spät sein. Dean Lynch bewegte sich gelassen und ungezwungen, blickte in die Zellen, schob seine Brille die Nase hoch und gab sich so geschäftig wie alle anderen Ärzte in ihren weißen Kitteln. Alles, woran sich später jemand erinnern konnte, war der kleine dunkelhaarige Mann mit dem schmalen Schnurrbart und der Brille. Sie alle stimmten überein, dass er einen freundlichen Eindruck gemacht hatte. Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sich eine Gelegenheit ergab. Das Chaos heizte nicht nur die Stimmung in der Station auf. Einer der Ärzte schlüpfte aus seinem Kittel, krempelte die Ärmel hoch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und verschwand wieder hinter dem Vorhang, um eine Platzwunde auf einem Kopf zu nähen, der Bekanntschaft mit einem Schlagstock gemacht hatte. Der Arzt merkte erst am nächsten Tag, dass sein Ansteckausweis verschwunden war. Dean Lynch hatte ihn genommen und in die Tasche seines eigenen weißen Kittels gesteckt. Er ging von Behandlungszelle zu Behandlungszelle, bis er fand, was er brauchte: einen Patienten allein neben einem Instrumentenwagen, auf dem eine kleine Schale stand. In der Schale befand sich ein Skalpellgriff, der ebenfalls in Lynchs weißer Kitteltasche verschwand. Lynch hatte herausgefunden, wo die Schwestern frische Instrumente holten. In einem unbewachten Augenblick schlüpfte er hinein und erschien wieder mit einer Hand voll Skalpellklingen. Sie besaßen alle Größe dreiundzwanzig - die breitesten und stärksten Klingen. »Wie steht es?«, fragte er einen der neu hinzukommenden Ärzte, der gerade seinen Walkman-Ohrhörer in seine Tasche steckte. »Unentschieden. Eins zu eins. Micko hat kurz vor der Halbzeit 495

ausgeglichen.« »Na, super«, begeisterte sich Lynch und ging den Korridor hinunter, der aus der Unfall- und Notaufnahmestation ins Hauptgebäude führte. Ein Stück näher an Kate Hamilton heran. 20.00 Uhr Lesley Cairns hatte nichts für Fußball übrig; sie konnte diesen Sport nicht ausstehen. An diesem Abend war sie eine der wenigen im ganzen Land, die sich nicht das große Spiel anschauten. Sie war nach Hause gefahren, hatte sich die Haare gewaschen und sich vor den Fernseher gesetzt - um Punkt acht, gerade als die Sky News die neuesten Meldungen aus aller Welt brachten, vor allem aber aus Irland. Tommy Malone hatte sich selbst erschossen, aber von Dr. Dean Lynch fehlte noch immer jede Spur. Die Polizei glaubte nicht mehr, dass Lynch wirklich die Stena-Line-Fähre genommen hatte. Man war allen Hinweisen nachgegangen, doch nichts deutete darauf hin, dass er Irland verlassen hatte. Die Gardai veröffentlichten eine Reihe von computerbearbeiteten Phantombildern, wie Dr. Dean Lynch in Verkleidung aussehen könnte. Beim dritten Bild sprang Lesley Cairns auf. »Das ist er«, entfuhr es ihr. Sie schrie es beinahe. »Großer Gott, ich bin ganz sicher, das ist er!« Sie kramte in ihrer Handtasche und fand schließlich die Geschäftskarte zwischen ihren Kreditkarten. Mit zitternden Händen wählte sie die Southamptoner Nummer. Sie bekam kein Freizeichen. Sie wählte die Nummer in Hammersmith. Auch hier keine Verbindung. Sie rief die Auskunft an. »Bitte überprüfen Sie die Nummern, so schnell es geht. Es ist sehr wichtig. Sind Sie sicher? Tut mir Leid, verzeihen Sie, es ist schrecklich wichtig. 496

Sind Sie ganz sicher? Großer Gott!« Sie legte auf und blätterte im Telefonbuch. Sie hatte kaum noch Gewalt über ihre Hände. Garda, Garda, Garda ... da war es. Blackrock. Sie kämpfte das Zittern ihrer Finger so weit nieder, dass sie die Zifferntasten drücken konnte. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sich eine Stimme meldete: »Garda-Revier Blackrock.« »Hören Sie, Officer, vielleicht irre ich mich, aber...«

20.10 Uhr Das Spiel war in der zweiten Halbzeit, und die Kommentatoren brüllten sich fast heiser, um sich über dem Lärm im Stadion verständlich zu machen. Es war ein verbissenes Match. Dinno Regan, Irlands Turm in der Schlacht bei der Verteidigung - über den der BBC-Fußballexperte trocken bemerkte, dass er viele Verletzungen hinter sich habe, allerdings keine eigenen -, klebte wie ein Schatten an Tom Dalzell. Auf beiden Seiten gab es eine ganze Reihe gefährlicher Angriffe und fantastische MittelfeldKombinationen. Es war ein Spiel, das keiner so schnell vergessen würde. In einer Kabine der Toilette in der Radiologie schnitt Dean Lynch den gestohlenen Ansteckausweis vorsichtig auf. Er hielt sein neues Foto über das andere und schnitt es in der Größe zurecht. Er hielt es erneut darüber und schnipselte noch ein wenig weg; dann passte es perfekt. Mit einer Spur Kunststoffkleber befestigte er es und wartete, bis es ihm trocken genug erschien. Schließlich schob er die Plastikkarte in ihre Hülle zurück und fixierte sie ebenfalls mit Kunststoffkleber. Er blickte auf die Uhr, bis fast fünf Minuten verstrichen waren; dann begutachtete er 497

sein Werk. Es sah perfekt aus. Er steckte seinen neuen Ausweis .in die Brusttasche, zog die Spülung, und trat summend aus der Kabine. Er wusch sich die Hände an einem der Waschbecken und betrachtete dabei sein Erscheinungsbild im Spiegel. Unerwartet öffnete sich die Toilettentür, und ein Arzt in weißem Kittel kam herein. Er trat an das Becken daneben, um sich die Hände zu waschen, und warf einen Seitenblick auf Lynch. »Wird 'ne heiße Nacht, wie's aussieht.« Lynch lächelte. »Ja, sieht ganz danach aus.« Als die Tür wieder ins Schloss fiel, wusste Dean Lynch, dass Phase eins erfolgreich abgeschlossen war. Er entleerte seine Taschen in einen kleinen Plastikbeutel und stopfte diesen hinter den Heizkörper. Er betastete die Seitentasche seines weißen Kittels. Skalpellgriff, Skalpellklinge, ein paar Stifte und ein Notizbuch, Stiftlampe und Reflexhammer. Seine Maskerade war vollkommen. Es war alles sorgfältig und bis ins Kleinste geplant. Kr befreite eine dreiundzwanziger Skalpellklinge von der Folie und bewunderte die Lichtreflexe auf dem Stahl, bevor er die Klinge in den Griff steckte. Dann blickte er noch einmal in den Spiegel. Er wusste nicht, was ihn mehr befriedigte - seine Verkleidung oder das Skalpell. Wie es aussieht, Dean, alter Junge, sind beide für heute Abend gleich wichtig. Für Phase zwei. Er räusperte sich und spuckte ins Waschbecken. Er atmete tief durch. Dann ging er zur Tür, wappnete sich und trat hinaus. Bei der offiziellen öffentlichen Anhörung unter dem Vorsitz von Oberrichter Terence Kearney erklärte Detective Sergeant Tom Delaney vom Garda-Revier Blackrock, wie und warum es zu der Verzögerung gekommen war. „Der Anruf kam um 20.12 Uhr. Wir stellten sofort ein Einsatz498

team zusammen und fuhren los. An dem Abend waren wir unterbesetzt, weil viele uniformierte Gardai beim Fußballspiel im Stadion Landsdowne Road Dienst tun mussten. Außerdem lief rund um das Stadion ein großer Teil des umgeleiteten Verkehrs über die Rock Road, die Booterstown Avenue und die zweispurige Durchfahrtsstraße nach Stillorgan. Vier Gardai befanden sich im Einsatzwagen, mich eingerechnet. Drei von uns trugen einsatzübliche 38er Smith & Wessons, geladen und schussbereit. Wir trafen Lesley Caims wie vereinbart am Parkplatz des Stillorgan Park Hotel. Das war gegen 20.30 Uhr. Wir hatten ihr streng verboten, sich in die Nähe der besagten Wohnungen zu begeben. Wir sind zu der Wohnanlage vorgerückt und trafen genau um 20.42 Uhr dort ein. Ja, ganz genau. Ich erinnere mich, dass ich auf die digitale Autouhr geschaut habe.«

20.42 Uhr Tom Dalzell segelte im Strafraum zu Boden, und sofort bestürmte die gesamte englische Mannschaft den Schiedsrichter. Der französische Unparteiische ließ sich eine halbe Minute Zeit; dann deutete er auf den Elfmeterpunkt. Augenblicklich brach auf dem Spielfeld ein Tumult los. »Der Scheißkerl hat 'ne Schwalbe gemacht«, brüllte Dinno Regan, doch Monsieur Perdieux stellte sich taub. Die irische Mannschaft, einschließlich Torhüter, rottete sich zusammen. Während dieser Ereignisse im Stadion marschierte Dean Lynch über den Flur im Erdgeschoss zu den Aufzügen. In der rechten Hand hatte er einen großen orangefarbenen Umschlag mit Röntgenaufnahmen, den er aus dem Warteraum der Radiologie hatte mitgehen lassen. In dicken schwarzen Filzstiftlettern stand 499

der Name Kate Hamilton darauf. Auf höchste Lautstärke gestellte Fernseher brachten das Chaos in der Landsdowne Road in die Stationsräume. Patienten, die zu schwach waren, um aus eigener Kraft auf die Toilette zu gehen, setzten sich in ihren Betten auf und verfluchten lauthals den Schiedsrichter. Diejenigen, die zu schwach zum Schreien waren, stöhnten wütend, und die zu schwach zum Stöhnen waren, rüttelten an ihren Tropfständern. „Scheißfranzmann!«, war die allgemeine Meinung, gefolgt von: „Dalzell, die Drecksau!« und einer Reihe ausgewählter Vorschläge, was man mit ihm anstellen sollte, wenn man ihn in die Finger bekäme. Unglücklicherweise schwappte die Aufregung auch hinaus auf die Gänge. Pech für Kate Hamilton. Glück für Dean Lynch. Der untere Fahrstuhl blieb nur einen Moment lang unbewacht, als der Polizeibeamte einen kurzen Blick auf den Fernseher um die Ecke warf. Und mehr als diese wenigen Sekunden brauchte Dean Lynch nicht, um hineinzugelangen und den Knopf für den fünften Stock zu drücken. Der fünfte Stock ist bis auf weiteres geschlossen. Der Hinweis in dicken roten Filzstiftlettern war mit Tesafilm angebracht. Lynch nickte lächelnd und richtete den Blick auf die Lichter, die jedes Stockwerk ankündigten. »Wir erreichten die Eingangstür des Apartments gegen 20.45 Uhr, also ein paar Minuten später. Wir konnten den Fernseher drinnen hören und haben dreimal kurz hintereinander geschellt. Nichts. Wir warteten ungefähr eine Minute und haben dann laut geklopft. Schließlich öffnete Mrs. Cairns mit ihrem Firmenschlüssel die Tür. Sekunden später waren wir alle in der Woh500

nung. Den genauen Zeitpunkt, als wir mit der Untersuchung fertig waren, weiß ich deshalb, weil der Fußballkommentator gerade von den heftigen Protesten der irischen Mannschaft gegen den Elfmeter berichtete. Detective Sergeant Nolan war es dann, der das Haarfärbemittel und den handgezeichneten Plan des MerrionHospitals entdeckte.« »Was haben Sie dann getan?«, fragte der Richter. »Ich habe sofort das Merrion-Hospital angerufen.«

20.47 Uhr Der Strafraum war geräumt, und man hatte die Spieler weitgehend davon abgehalten, aufeinander loszugehen. Ein neuerliches Gerangel auf den Rängen endete, als die Fans ihr Augenmerk auf das dramatische Geschehen unten auf dem Rasen richteten. Tom Dalzell legte den Ball auf den Elfmeterpunkt. In den Nachrichtenkabinen sprachen die Reporter mit leiser Stimme, als es im Stadion still wurde. Selbst die irischen Fans verstummten; nur hier und da erklang eine Stimme von den Rängen:

verzweifelte

Versuche,

die

Konzentration

des

Elfmeterschützen zu stören. Im fünften Stock öffnete sich die Fahrstuhltür, und Dean Lynch trat heraus. Wachdienst ist bei jeder Polizeieinheit eine langweilige Sache. Die Angehörigen der Sondereinheit mit ihren regelmäßigen Bewachungsaufgaben klagen häufig über Langeweile. »Der Dienst besteht zu neunundneunzig Prozent aus Routine und nur einem Prozent Aufregung, und das auch nur gelegentlich.« Das Schwierige am Wachdienst ist, sich darüber klar zu werden, wann das erlösende Prozent Action eintreten könnte. Der Polizeibeamte, der an jenem Schwarzen Mittwoch um genau 20.49 Uhr am Fahrstuhl im Einsatz war, versagte in dieser 501

Hinsicht völlig. Er hatte den Hörer im Ohr und lauschte auf einem Walkman mitgerissen dem Spielgeschehen, sah die Szene auf dem Rasen und die Aufregung im Stadion vor dem inneren Auge. Der Radiosprecher brachte die Gemüter seiner Zuhörer zum Kochen. »Dalzell hat eindeutig die Schwalbe gemacht. Es ist ungeheuerlich! Eine Schande! Eine so gravierende Fehlentscheidung des Schiedsrichters habe ich noch nie erlebt! Vielleicht kann die Regie mal die Wiederholung einspielen ... Da! Da sehen Sie es ganz deutlich! Für jeden, der Augen im Kopf hat, ist klar zu erkennen, dass Dalzell nur eine Schau abzog. Der Schiedsrichter war viel zu weit entfernt, und der Linienrichter hat nicht die Fahne gehoben. Es ist wirklich eine Schande!« „Und Sie hatten Schwierigkeiten, zum Krankenhaus durchzukommen?« "Ja. Es dauerte fast eine Minute, bis jemand sich meldete.« Das ist in einem großen Krankenhaus nicht ungewöhnlich, wenn viel Betrieb herrscht.« "Aber in der fraglichen Nacht dauerte es ungewöhnlich lange, Euer Ehren. Ich bat, umgehend mit der Intensivstation verbunden zu werden.« „Und?« „Die Leitung war nicht frei.« „Gab es nur eine einzige Leitung in die Intensivstation?«, fragte der Richter ungläubig. „In der fraglichen Nacht, ja.« " Wie lange war sie besetzt?« „Ich glaube, fast sieben Minuten.« Es waren acht. Der leitende Unfallchirurg diskutierte mit der Diensthabenden Schwester der Intensivstation die Möglichkeit, 502

eine schwere Kopfverletzung aus der Notaufnahme nach oben zu bringen. Sie lehnte es ab. »Wir haben strikte Anweisungen, niemanden in dieses Stockwerk zu lassen, bis diese Polizeibeamtin verlegt worden ist. Sie hat absoluten Vorrang, und wir tragen die Verantwortung für sie. Wenn ihr etwas passiert, kann ich mich gleich umbringen.« Lynch wurde am Fahrstuhl nur oberflächlich überprüft. Er hielt dem Sondereinsatzbeamten die Röntgenbilder unter die Nase und zog theatralisch eine der Aufnahmen heraus. »Ich muss ihren Brustdrain kontrollieren.« Er formte die Worte mit den Lippen, als er den Walkman des anderen sah. Sein Ausweis wurde kontrolliert, seine Taschen durchsucht. Skalpell und Griff, die im Rücken eines Notizbuches steckten, blieben unentdeckt. Er wurde weitergewinkt. Lynch brachte sogar ein Lächeln zu Stande, nickte dem Polizisten zu und schritt in den Korridor, der leer vor ihm lag. Die einzigen Geräusche kamen von einem Fernseher. Es hätte nicht besser laufen können.

»Was haben Sie dann getan?« »Ich habe sofort die Zentrale am Harcourt Square angerufen und um die Handynummer des Officers gebeten, der im Krankenhaus den Einsatz leitete.« »Wie lange hat es gedauert?« »Gut eine Minute, vielleicht zwei.«

20.51 Uhr Bei Dalzells Elfmeter hämmerte der Ball gegen die Latte und knallte Dinno Regan, der mit dem Rücken zum Tor stand und es nicht sehen konnte, in den Nacken. Ein englischer Fuß kickte den 503

Ball wieder Richtung Tor, und plötzlich war der Strafraum ein Gewühl aus tretenden Beinen und wirbelnden Armen. Auf den Tribünen sprangen die erregten Zuschauer von den Sitzen. Die Fernsehkameras schwenkten zwischen den Schauplätzen hin und her, und die Kommentatoren wurden von dem Chaos auf dem Rasen und den Rängen völlig überrollt. Genau zu diesem Zeitpunkt war im fünften Stock die Oberschwester der Intensivstation noch immer am Telefon; die Hilfsschwester und die Sondereinsatzbeamtin hingen vor der Mattscheibe. Dean Lynch befand sich in der Intensivstation. Einen Atemzug lang starrte er nur auf die Gestalt in dem einzigen belegten der vier Betten der Station. Der Kopf war dick verbunden. Zwei Infusionsleitungen führten zu den Armen, die unter der Bettdecke lagen. Zwei Schläuche verliefen zum Brustbereich; einer enthielt einen blutroten Abfluss. Eine Sauerstoffmaske lag auf dem Gesicht, und das leise Zischen von Gas war zu hören. Dean Lynch lächelte. Die Gestalt regte sich nicht, als er eintrat, und auch nicht, als er auf sie zukam. Schade, dachte er flüchtig, dass sie sich nicht wehrt. Wie schade! Er griff in die Tasche, nahm das Notizbuch heraus und ließ das Skalpell in seine freie Hand gleiten. Die Klinge schimmerte im Licht. Er packte den Griff fester, warf einen Blick zur Tür, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn stören würde, und rückte näher an das Bett heran. Er konnte den Dunst auf der Gesichtsmaske sehen, die roten Flecken auf dem Kopfverband und das schwarze Haar darunter. Mit einer grimmigen, befreienden Bewegung schnitt er tief durch die Kehle. 504

Der Kopf der Schneiderpuppe löste sich vom Körper, rollte vom Kissen und polterte vor Lynchs Füßen auf den Boden. Erstarrt stand er da, das Skalpell in der Hand. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag. Verdammt! Sie hat mich reingelegt! Jetzt sah er den kleinen Sender, der am Kopf der Puppe befestigt war und rot leuchtete. Es war eine Falle! Im ganzen Haus wurde Alarm ausgelöst. Jeder Polizeibeamte im Krankenhaus war mit einem Empfänger ausgestattet, dessen schriller Ton jeden sofort auf die Beine brachte. Sie kamen umgehend aus allen Winkeln des Hauses herangestürmt, vor allem vom Fahrstuhl und dem Fernsehzimmer im fünften Stock. Drei sahen gerade noch den weißen Kittel des kleinen, dicken Mannes mit dunklem Haar und dem dünnen schwarzen Schnurrbart in der Notaufnahme verschwinden. Dorthin, wo die wirkliche Kate Hamilton lag und ihn erwartete, denn auch sie hatte der Alarm vorgewarnt. Sie wusste, dass er kam. Er war drinnen und hatte die Tür abgeschlossen. Von draußen erklangen Stimmen und das Tappen laufender Füße auf dem Korridor. Ein Lächeln zuckte um Lynchs Lippen. Ihre Blicke begegneten sich. Da war sie wieder. Elizabeth Anne Duggan mit ihrem streng nach hinten gekämmten schwarzen Haar, ihrem bleichen Gesicht, ihrer langen knochigen Hand auf der Bettdecke. Elizabeth Anne Duggan, seine gnadenlose Peinigerin. Das Hämmern an der Tür verstärkte den Eindruck nur, denn es erinnerte ihn an das Hämmern seiner eigenen Fäuste an die verhasste Tür des Verschlags

unter

der

Treppe

des

Waisenhauses.

Seine

Dunkelkammer, sein ganz persönlicher Kerker, seine private 505

Hölle. Jetzt, wenn er sie tötete, würde es endlich aufhören, egal, was mit ihm geschah, egal, ob er dabei starb. Es war ihm auch egal, wie er starb, solange er sie mit in den Tod nehmen konnte. Er riss seine Brille herunter, um sein Opfer besser zu sehen. Und wieder blickte Kate in die Augen des Todes. Hasserfüllte Augen. Wutentbrannte Augen. Mörderische Augen. Als das Holz der verschlossenen Tür zu bersten begann, lächelte er, hob das Skalpell hoch über den Kopf und holte aus. »Fahr zur Hölle!« Trotz der beinahe unerträglichen Schmerzen in ihrer Brust, die von den beiden Drains verursacht wurden, gelang es Kate, Jack McGraths Revolver auf den heranstürmenden Lynch zu richten und einen Schuss abzufeuern. Die Kugel fuhr durch die rechte Brust. Sie riss ein handbreites Loch in Lynchs Lunge und schleuderte ihn taumelnd an die Wand. Ein neuerlicher Ansturm gegen die Tür ließ wieder Holz bersten, begleitet von verzweifelten Rufen. Das Schloss gab immer mehr nach. Kate schaffte es, einen zweiten Schuss abzufeuern, doch die Kugel schlug in die Wand. Ihre Brust brannte wie Feuer, als sie sich aufzusetzen versuchte, um noch einmal zu zielen. Lynch war zu Boden gesunken und rang verzweifelt nach Luft. Jeder keuchende Atemzug füllte seine Lunge nur noch mehr mit Blut. Der Raum um ihn herum wurde dunkel. Er hob den Blick und stellte fest, dass er Miss Duggan offenbar nichts hatte anhaben können. Sie saß am Bett und lächelte triumphierend auf ihn hinunter. Kate hielt sich mit der linken Hand am Bettgestell aufrecht und richtete die Waffe noch einmal zitternd auf Lynch. Sie spürte, 506

wie die Kräfte sie verließen, wie der Revolver unendlich schwer wurde. Sie spürte, wie die Waffe ihren Fingern entglitt und warf einen verzweifelten Blick zur Tür. Sie konnte die Stimmen hören, das Hämmern, das langsame, unendlich langsame Nachgeben des Schlosses. Und Lynch starrte sie an. Seine Miss Duggan. Und sie lächelte ihm zu. »Jetzt kannst du in der Hölle schmoren, Dean Lynch«, hörte er ihre Worte. »Jetzt kannst du in der Hölle schmoren!« Mit einem unmenschlichen Laut kam er noch einmal schwankend auf die Beine. Blut floss ihm aus Mund und Nase. Er schwang das Skalpell in hohem Bogen, als er auf das Bett zu taumelte. „Stiiiiiirb!« Das Skalpell schlitzte durch das dünne Baumwolllaken, und Dean Lynch stürzte sterbend auf Kate Hamilton. Gurgeln und Röcheln waren die einzigen Laute, die Jack McGrath vernahm, als das Schloss endlich nachgab. Die Geräusche stammten von der Lunge Dean Lynchs, der auf Kate Hamilton gesunken war und das Skalpell zwischen ihre Beine gerammt hatte. Nur in die blutgetränkte Matratze, nicht in ihren Körper. Kate war vor Erschöpfung und Schmerz zusammengebrochen. Aber sie lebte. Dean Lynch dagegen war tot. Seine gepeinigte Seele hatte den ersehnten Frieden gefunden. Er war in Sicherheit vor allen Miss Duggans, die ihn je gequält hatten. »Großer Gott!«, war alles, was Jack McGrath herausbrachte.

Elfter Tag 507

48 Donnerstag,

20.

Februar

1997,10.17

Uhr

Städtisches

Leichenschauhaus Dublin Es war in vielerlei Hinsicht ein außerordentlicher Morgen; Noel Dunne und Jack McGrath waren sich darin einig. Es war unwirklich, unglaublich, fantastisch. Ein Medienzirkus! Jeder Journalist, jeder Radioreporter, jedes Fernsehteam in der Stadt wollte die Überführung der Leiche Dean Lynchs aus der Leichenhalle des Merrion-Hospitals in das städtische Leichenschauhaus miterleben. Zeitweise waren fünf privat gecharterte Hubschrauber in der Luft, aus denen Kameramänner das Geschehen aus waghalsigen Blickwinkeln filmten. Das Spektakel wurde direkt an CNN und Sky übertragen, und die Vormittagssendungen von CNN und ITV wurden immer wieder durch Schaltungen zum Schauplatz des Geschehens unterbrochen. Als UTE die Gelegenheit beim Schopf packte und das Ereignis gar live übertrug, hockte die gesamte Nation vor den Bildschirmen. Es war eine der aufwühlendsten Sensationen, die je live im Fernsehen übertragen wurden: die Überführung der Leiche des ungeheuerlichsten, wahnsinnigsten Mörders der irischen Verbrechensgeschichte. Sie ließ die Berichte vom Länderspiel, das unentschieden ausgegangen war, zur bedeutungslosen Nebensache werden. Die Entscheidung, den Toten zum städtischen Leichenschauhaus zu schaffen, fiel aus arbeitstechnischen Gründen. Dr. Noel Dunne hatte bereits zwei andere »Patienten« zur Untersuchung da. »Sie können nicht verlangen, dass ich durch die Horden von Fotografen und Fernsehteams einen Spießrutenlauf zum Merrion-Hospital mache. Das ist absurd. Ausgeschlossen. Bringen Sie 508

ihn her.« Er ließ keine Einwände gelten; die Leiche wurde umgehend für den Transport vorbereitet. Die stellvertretende städtische Pathologin war bereits aus Cork unterwegs. Noel Dunne hatte nicht die Absicht, den ganzen Tag und die ganze Nacht allein zu arbeiten. Lynchs sterbliche Überreste wurden in einem schwarzen Leichensack zu einem bereitstehenden zivilen Gardafahrzeug geschafft. Die Verladung fand hinter der Leichenhalle des Krankenhauses statt, unbeobachtet von den Augen und Kameras der wartenden Fotografen und Journalisten, die ein dichter Polizeikordon auf Distanz hielt. Nur die Teams in den Hubschraubern hatten die Szene im Visier. Begleitet von zwei Einsatzfahrzeugen und einer 4-Mann-Motorradeskorte nahm der Leichentransport den Weg über die Merrion Road, die Shelbourne Road und über die Liffey und hielt um 10.17 Uhr vor den offenen Toren des städtischen Leichenschauhauses. Auch hier hielt starke Garda-Präsenz alle Journalisten, Reporter, Fotografen und Kameraleute auf Distanz. Als der Transport eintraf, blitzten Kameras; Reporter riefen durcheinander, und es kam zu einem allgemeinen Tumult, als jeder versuchte, mehr zu sehen als der andere. Und das Dröhnen der Rotoren untermalte tosend das Schauspiel, während die fliegenden Teams das Ausladen und den Abtransport der Leiche ins Innere des Gebäudes filmten. Die Crews fluchten, als sie erkennen mussten, dass das undurchsichtige Glas des Daches jeden Blick ins Innere verwehrte. Drinnen legte man die Leiche auf den hintersten Obduktionstisch. Die beiden anderen Tische waren bereits belegt. Dan Harrison stand mit seiner Nikon und der gewohnt ausdruckslosen 509

Miene bereit. Pat Relihan wartete darauf, dem Toten die Fingerabdrucke abzunehmen. Sieben Ballistikexperten in weißen Overalls standen gegen Bänke gelehnt. Der Raum war voll von Gardai, sowohl uniformierten wie den Mitgliedern des Sonderkommandos. Sie bildeten einen weiten Kreis, um Dunne nicht zu behindern. »Dan?« Dan Harrison wurde aus seinen Gedanken gerissen und blickte auf. »Dan, fotografieren Sie die drei zusammen von verschiedenen Seiten. Es soll auch ein wenig Hintergrund dabei sein, Uniformen und dergleichen. Ich glaube, man erwartet von uns, dass wir diesen Augenblick für die Nachwelt festhalten.« Auf der Suche nach den bestmöglichen Blickwinkeln drehte Harrison langsam eine Runde um die Tische. Die Anwesenden machten ihm Platz. Dann folgte rasch Schuss auf Schuss. KLICK! Er ging zur anderen Ecke. KLICK! Wieder in eine andere. KLICK! »Machen Sie eine von mir, wie ich mich über den hier beuge.« Dunne stand zwischen Tisch zwei und drei und beugte sich hinab, als wollte er die Leiche untersuchen. KLICK! Das war das Foto, das später bei der öffentlichen Anhörung vorgezeigt wurde. Die drei belegten Obduktionstische vor versammelter Menge im städtischen Leichenschauhaus. Auf dem ersten lag, mit einem Namensschild an der großen Zehe, Betty Nolan. Die Telefonschnur war noch immer um ihren Hals. Ihre toten Augen starrten zur Decke, als hielte sie nach den Hubschraubern Ausschau, die dröhnend über dem Gebäude kreisten. Auf dem zweiten Tisch lag Tommy Malone, Gesicht und Hinterkopf bis 510

zur Unkenntlichkeit entstellt. Nur das Plastikschild an seiner rechten großen Zehe verriet, um wen es sich handelte. Und auf dem letzten Tisch lag ein schwarzer geschlossener Leichensack. »Okay, machen Sie ihn auf«, befahl Dunne. Die Reißverschlüsse surrten, und der Sack klaffte auf wie vom Schnitt eines Skalpells. Drei Helfer in Kunststoffkitteln und Plastikhandschuhen hoben den Körper heraus, während Noel Dunne den Leichensack vom Tisch zog. Vorsichtig legten sie den Toten auf die Platte. Da lag er nun, Dean Lynch, in weißem Ärztekittel, weißem Hemd und Krawatte. Er hatte noch immer dunkles Haar und den schmalen schwarzen Schnurrbart, trug jedoch keine Brille mehr. Die Kleidung war stark blutgetränkt. Und die Augen, die so viel Angst verbreitet hatten, in denen so viel Grauen und Wut und Hass und Verrat zu lesen gewesen war, diese Augen des Todes, in die Kate Hamilton zweimal geblickt hatte, waren gebrochen. Noel Dünne blickte auf den Toten hinunter und wurde sich der Anwesenheit Jack McGraths an seiner Seite bewusst. Die beiden schwiegen. Der flüchtige Blick, den sie tauschten, sagte mehr als Worte. Dünne wandte sich an die Zuschauer. »Die gerichtsmedizinische Autopsie beginnt stets mit einer äußeren Untersuchung der Leiche«, erklärte er für die jüngeren unter den anwesenden Gardai. Er blickte über die drei Tische. »Stellt sich nun die Frage, mit welchem wir heute beginnen?« Für einen Moment war Jack McGrath tatsächlich zum Lächeln zu Mute. »Nun«, fuhr Dunne entschlossen fort, »wir nehmen sie uns in der Reihenfolge vor, wie sie hereinkamen. Wir fangen mit der Frau an.« 511

Alle im Raum richteten ihren Blick auf Betty. Bis auf Tommy Malone und Dean Lynch, deren tote Augen an die Decke starrten.

Rorys trampelnde Füße und seine aufgeregten Rufe auf dem Flur drangen kurz nach vier an diesem Nachmittag in Kate Hamiltons Bewusstsein. Sie war drei Stunden zuvor in solch panischem Entsetzen aufgewacht, dass es einer Injektion von zehn Milligramm Valium bedurft hatte, um sie zu beruhigen. Sie träumte, dass Dean Lynch in einem spärlich erleuchteten Gang hinter ihr her jagte. Jedes Mal, wenn sie sich umwandte, erblickte sie seine hasserfüllten Augen, das blutverschmierte Gesicht - und in den blutigen Händen das Skalpell, mit dem er auf sie einstach. Sie wollte schneller laufen, doch die Beine wurden ihr schwerer und schwerer, und sie sah, wie er aufholte. Fast konnte sie seinen keuchenden Atem im Nacken spüren. Im Traum lief sie um eine Ecke, um noch eine und stand plötzlich vor einer verschlossenen Tür. Sie rüttelte verzweifelt an der Klinke, aber auch ihre Hände schienen nutzlos und ohne Kraft zu sein. Plötzlich gab die Tür nach und sie stürzte über die Schwelle - vor die Füße von Dean Lynch, der sie mit boshaftem Lächeln betrachtete, das Skalpell in der erhobenen Rechten. »Fahr zur Hölle!« Das Skalpell zuckte herab und bohrte sich in ihre rechte Brust. Der Schmerz war wie Feuer, und sie fuhr schreiend in ihrem Bett hoch. »Alles ist gut, Miss Hamilton, alles in Ordnung«, versuchten die Schwestern sie zu beruhigen. Der Schmerz war keine Einbildung; er wurde durch die Entfernung der Interkostaldrains aus Kates Brust verursacht. Die Schwestern hielten sie auf dem Bett nieder, 512

redeten beschwichtigend und beschwörend auf sie ein, doch ihrer Panik war nicht beizukommen. Erst als die Injektion wirkte, beruhigte sie sich so weit, dass die Ärzte den zweiten Drain herausnehmen und die Infusionsleitungen entfernen konnten. Und allmählich begriff Kate, dass der Albtraum vorüber und Dean Lynch endgültig tot war. Und dass sie wirklich lebte. Eine Schwester hielt die Zitternde in den Armen, bis sie in erlösenden Schlaf glitt.

Rorys Füße, Rorys Stimme und Großvaters halblaute Ermahnungen, doch ein bisschen leiser zu sein, sickerten in ihr Bewusstsein und weckten sie schließlich. Da war das Murmeln von Stimmen, und sie konnte in ihrer Hand eine große, kräftige Männerhand spüren. Der Griff war nicht fest, aber beruhigend. Die Hand strömte Stärke, Sicherheit, Unerschütterlichkeit aus. Der Daumen der Hand strich sanft über ihren eigenen Daumen. Die zärtliche Geste vermittelte Kate ein überwältigendes Gefühl, dass jemand da war, der auf sie aufpasste und über sie wachte. Und dem sie nicht gleichgültig war. Langsam schlug sie die Augen auf und sah Paddy Holland. „Hi“,sagte er.

„Sie ist wach, Großvater, sie ist wach!« Rory kletterte aufs Bett und durfte Kate umarmen und küssen und sich an ihre noch immer schmerzende Brust schmiegen. Sie konnte ihre Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten, doch diesmal waren es Tränen der Freude, des Glücks und der Erleichterung. Der Albtraum war vorüber. Paddy Holland versuchte zweimal vergeblich, sanft seine Hand aus der Kates zu lösen. Lass mich nicht los. Nie 513

mehr. „Mom, Mr. Holland hat ein Hündchen. Er sagt, ich darf zu ihm kommen und damit spielen.« Großvater beobachtete sie vom Fuß des Bettes aus. Er sah die Hände, die einander hielten und nicht loslassen wollten. Er hörte, was sie sagten. „Ich gehe auf eine Tasse Tee in die Kantine runter.« Er beugte sich vor und küsste seine Tochter auf die Stirn. Seine Blicke baten sie, nicht zu sprechen, diesen Augenblick nicht zu zerstören. Von der Tür schaute er noch einmal zurück. Rory hatte sich an seine Mutter gekuschelt, und sie fuhr ihm mit der Linken durchs Haar und streichelte sein Gesicht. Er hatte den Daumen im Mund und Ted in der anderen Hand. Ein Bild der Zufriedenheit. Er war bei seiner Mutter. Und Kate hielt noch immer die Männerhand fest, die ebenso fest ihre Rechte hielt.

Fünf Kilometer entfernt hatte Gordon O'Brien in der Intensivstation der Zentralentbindungsklinik seine Mutter wieder. Auch hier bot sich ein Bild des Glücks. Gordon konnte die Liebkosungen der Mutter spüren, ihren Herzschlag hören, ihren Körper riechen. Tief in seiner Babyseele spürte auch er, dass der Albträume vorüber war. Paddy Holland hatte Sandra und Big Harry erlaubt, ihren kleinen Sohn hin und wieder für kurze Zeit auf den Arm zu nehmen. »Er macht sehr gute Fortschritte, fantastische Fortschritte«, hatte er eine

Weile zuvor erklärt.

»Wir dürfen

ihn

nur

nicht

überanstrengen. Er muss sehr viel nachholen, das braucht Zeit.« Sandra und Big Harry hatten genickt. Sie waren außer sich vor Freude und Erleichterung über die glückliche Wendung der 514

Dinge. Noch wagten sie es kaum zu glauben, aus Angst, ein neuer Schicksalsschlag könnte ihnen das Kind wieder aus den Händen reißen. Gordon O'Brien hing noch an den Infusionsleitungen und Überwachungsgeräten, doch er war jetzt wach, wenngleich sehr schwach. Er öffnete sogar dann und wann die Augen und blickte um sich. Holland hatte über die Nase eine Magensonde gelegt, über die Nahrung zugeführt werden konnte. Der Kleine war noch zu schwach, um selbst zu trinken, doch ganz offensichtlich bekam er Hunger. Die Augen lagen nicht mehr tief in den Höhlen, der Bauch war nicht mehr eingefallen, und die Haut sah frischer und gesünder aus. Das kleine, dreitausendfünfhundert Gramm schwere Baby, das Sandra O'Brien zuletzt an dem Abend gestillt und gewickelt hatte, an dem es von Tommy Ma-lone entführt wurde, war erkennbar auf dem Weg der Besserung. Die verschleierten Augen glänzten wieder, seine kleinen Glieder bewegten sich kräftiger. »Ich muss schon sagen«, hatte Holland bewundernd festgestellt, »er hat eine Kämpfernatur. Erst musste er sich den Weg in diese Welt erkämpfen, und dann hat er um sein Leben gekämpft.« Er lächelte Sandra und Big Harry zu. »Dabei ist er erst elf Tage alt. Was für ein Baby!« Es schien fast, als hätte der Junge Hollands Worte verstanden, denn in diesem Augenblick schrie er zum ersten Mal, seit er ins Krankenhaus gekommen war. Sandra eilte zu ihm und küsste seine Wange, die Stirn und die Hände. »Pssst, mein kleiner Liebling, pssst. Mom ist ja hier. Alles ist gut, Mom ist hier.« Big Harry war Sandra gefolgt, neben ihr stehen geblieben und hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Sie tastete nach seiner Hand und 515

hielt sie. Mit der anderen streichelte sie Gordons Gesichtchen. »Mr. O'Brien?« Big Harry wandte sich um. Die Oberschwester der Intensivstation hielt ihm ein Tablett mit Tee und Sandwiches entgegen. »Sie beide sollten auch mal an sich denken«, sagte sie mahnend. »Sie haben den ganzen Tag kaum etwas gegessen.« Sie stellte das Tablett auf einem Stuhl ab und schenkte ein. »Sie müssen bei Kräften bleiben. Wenn der kleine Kerl auf die Beine kommt, haben Sie alle Hände voll mit ihm zu tun. Kommen Sie, essen Sie!« Sie drückte Sandra eine Tasse Tee und ein getoastetes Käsesandwich in die Hände. »Es gibt auch Nachschub, wenn Sie noch etwas möchten. Sie finden mich draußen auf dem Flur.« Damit verschwand sie. Sandra und Big Harry verschlangen die Sandwiches, erstaunt darüber, wie hungrig sie waren. Sie blickten einander an, müde und glücklich zugleich. Big Harry nahm die Tasse aus Sandras Hand und setzte sie leise ab, um das schlafende Baby nicht zu stören. Dann nahm er Sandra in die Arme, drückte sie an sich und spürte, wie sie an seiner Brust leise schluchzte. Er küsste ihr die Tränen von den Augen und hob ihr Gesicht zu den seinen empor. »Es wird alles gut, Sandra«, sagte er. »Es ist überstanden.« Sie drehten sich beide zu ihrem Kind um, das wieder wach war und seinen Hunger lautstark zu verkünden begann. Sandra nahm eines seiner Händchen und hielt es liebevoll. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, wie ihm schien, war Theo Dempsey, der durch das Fenster der Intensivstation blickte, wieder zum Lächeln zu Mute.

Epilog Tom Morgan kündigte seinen Job in der Zentralentbindungskli516

nik und verließ das Land. Die Daily Post spürte ihn in der ländlichen Idylle Westaustraliens auf und berichtete im typischen Stil der Regenbogenpresse über Playboy Morgans Platz an der Sonne. Luke Conway blieb Chef der Zentralentbindungsklinik und führte sie souverän in ihr zweihundertjähriges Jubiläum. Er beendete die traditionelle Männerdominanz, indem er dafür sorgte, dass die beiden freigewordenen Stellen von Ärztinnen besetzt wurden. Sam Collins wurde rechtzeitig zur Gerichtsverhandlung gesund. Wie auch Peggy Ryan wurde er wegen Beteiligung an der Entführung Gordon O'Briens zu einer zwanzigjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Bei der Urteilsverkündung verdammte der Richter vor allem das Verhalten Peggy Ryans. Vermutlich hörte sie kaum ein Wort davon, denn sie führte fast pausenlos Selbstgespräche. Eine kleine Gruppe aus der Dubliner Unterwelt fand sich zu Malones Begräbnis auf einem abgelegenen Friedhof in einem nördlichen Stadtteil Dublins ein. Sein Grab blieb ohne Grabstein. Die Leiche Dean Lynchs lag fast zwei Monate im städtischen Leichenschauhaus, ohne dass jemand Anspruch darauf erhob. Die zuständige Behörde ordnete schließlich die Einäscherung an. Noel Dunne streute die Asche an einem stürmischen Aprilabend im Beisein von Jack McGrath in die schäumenden Wogen bei Howth Head. Danach zogen die beiden sich in einen nahe gelegenen Pub zurück und gönnten sich fast eine halbe Flasche Somesons Whiskey. June Morrison konnte im Mai wieder ihre Arbeit an der Zentralentbindungsklinik aufnehmen. Sechs Wochen später wurde sie 517

zur Oberschwester befördert. Kate Hamilton verließ nach einer Reihe von Rückfällen während ihrer Genesung die Garda Siochana. Unter dem Titel Romanze statt Mörderjagd brachte die Daily Post im Juli einen Bericht mit zwei Fotos. Eines zeigte Kate Arm in Arm mit Paddy Holland in Dublins Herbert Park. Auf dem anderen flitzte Rory hinter einem kleinen Hund her. Gordon Henry Donalt O'Brien wurde im September in der großen Kirche an der Roundwood Main Street getauft. June Morrison und Theo Dempsey waren die Taufpaten. Es war ein wundervoller warmer Spätsommertag, und der kleine Ort zeigte sich von seiner schönsten Seite. Überall blühten noch Balkonblumen, und entlang der Straße standen Kübel und Kästen mit Blumen und Grünpflanzen. Auf Bitte der Familie blieben die Medien vor der Kirchentür. Zum Ausgleich für ihre Rücksichtnahme versprach Big Harry einen fünfzehnminütigen Fototermin nach der Zeremonie. Als das kalte Wasser über seinen Kopf gegossen wurde, zappelte Gordon O'Brien protestierend und schrie aus Leibeskräften. June Morrison lächelte. Draußen warteten die Kamerateams von den nationalen und internationalen Sendern geduldig in der Sonne, während sich die Zeitungsfotografen wie immer um die besten Plätze rauften. Einige fotografierten die Gegend, die erste Färbung des Laubes, die ersten fallenden Blätter, die im leichten Wind über den Kiesweg vor dem Kirchentor tanzten. Bevor die Gäste in ihren Limousinen zum Festessen nach Beechill aufbrachen, stellten sich Harry und Sandra O'Brien den Kameras. Die Bilder gingen um die Welt. Sie zeigten einen gro518

ßen, grau gelockten, makellos gekleideten Mann in blauem Nadelstreifenanzug, weißem Hemd und roter Krawatte, mit einem weißen Taschentuch in der Brusttasche. Er hatte einen Arm stolz um die Schultern seiner schönen jungen Frau gelegt. Sie trug einen eleganten cremefarbenen Hosenanzug und einen dazu passenden Hut mit breiter Krempe. Im rechten Arm hielt sie das Baby, von dem nur ein Haarschopf aus dem Spitzenschal hervorlugte. Der Kleine war wach und lachte seine Mutter an. »Das Baby, Sandra, wir wollen das Baby sehen!«, rief einer der Fotografen. Big Harry schob den Spitzenschal aus dem Gesicht seines Sohnes, während Sandra ihn mit beiden Armen nahm und sich so drehte, dass die Welt einen guten Blick auf ihn bekam. Gordon O'Brien blickte auf die vielen Kameras, die jetzt auf ihn gerichtet waren, und lauschte fasziniert dem Klicken und Surren. Er drehte sein Köpfchen nach links und rechts, und die Fotografen knipsten ein fröhliches Kind mit schwarzem Haar, langen dunklen Wimpern, tiefblauen Augen und gesundem rosigen Teint. Seine Augen leuchteten aufgeregt. Er sah zufrieden aus. Er räkelte sich in den Armen seiner Mutter, geborgen in ihrer vertrauten Berührung, ihrem vertrauten Duft, ihrer vertrauten Stimme. Es gab kein Brüllen und Fluchen und Drohen mehr. All der Hunger und die Kälte und der Schmerz waren vergessen. »Komm schon, Gordon« rief eine Stimme, »lach für uns.« KLICK! KLICK! KLICK! Gordon O'Brien lachte glücklich in die Welt.

519

Danksagung Viele Freunde und Bekannte haben mit ihrem Fachwissen und durch Nachprüfung medizinischer und juristischer Details zur Glaubhaftigkeit dieses Romans beigetragen. Andere gewährten Einblick in die Einsatz- und Arbeitsweise der Garda Siochana, der weitgehend unbewaffneten Polizeitruppe Irlands. Mein Dank gilt Dr. John (»Jack«) Harbison, Professor der Gerichtsmedizin, RCSI, und Amtspathologe der Republik Irland; Dr. Barry Gaughan, Facharzt für Geburtshilfe und Gynäkologie am Rotunda- und Beaumont-Krankenhaus in Dublin; Professor Tom Matthews,

Kinderarzt am Rotunda-Krankenhaus

und am

Kinderkrankenhaus in der Temple Street, Dublin; Mr. John Hyland, Chirurg am St.-Vincent-Krankenhaus in Dublin sowie Ms. Deena Field vom Laboratorium des Klinikums Blackrock, die mir die Arbeit in einem Krankenhauslabor erklärte. Stephen Rae, Lokal- und Gerichtsreporter einiger unabhängiger irischer Tageszeitungen, vermittelte mir wertvolle Einblicke in die Dubliner Unterwelt und die Arbeit der Garda Siochana. Ronnie Lynam vom Anwaltsbüro Partners at Law, Dun Laoghaire, bereinigte juristische Fehler. Mehrere Angehörige der Garda Siochana

halfen

bei

der

authentischen

Darstellung

der

polizeilichen Untersuchungsmethoden. Sie möchten nicht namentlich genannt werden, aber sie wissen, wer gemeint ist, und ihre Tipps und Hinweise waren von unschätzbarem Wert. Ihnen allen möchte ich aufrichtig danken - für die Zeit, die sie geopfert 520

haben, für die Informationen, die sie beisteuerten und für die große Geduld, die sie bewiesen. Paul Carson

Dublin, September 1996

Die Übersetzer möchten an dieser Stelle auch Herrn Dr. med. Klaus Dietz herzlich danken, der so freundlich war, das Manuskript auf die Korrektheit der medizinischen Begriffe durchzusehen und erforderliche Fachausdrücke beizusteuern.

Lore und Hubert Straßl Steinberg, Januar 1998

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Paul Carson

Tod in Dublin

Thriller Ins Deutsche übertragen von Hubert Straßl BASTEI LI9BBE

Für meine Frau Jean und meine Kinder Emily und David, die sich damit abfanden, dass ich viele Stunden fern von ihnen in meinem Arbeitszimmer auf dem Dachboden verbrachte. Für meine Redakteurin Lynne Drew bei William Heinemann für ihre scharfsinnige und konstruktive Kritik. Für die Verkaufs- und Marketing-Abteilung von Random House für ihre Unterstützung. 522

Und schließlich für meinen Partner Dr. Connor O 'Toole, der sich um meine Gesundheit gekümmert hat.

Prolog Dienstag, 12. Mai, 8.15 Uhr Mercy Hospital, Dublin

Dr. Frank Clancy, Facharzt für Blutkrankheiten, klemmte sich den Telefonhörer zwischen das rechte Ohr und die Schulter, während er in seinem Büro in einem Krankenbericht herumkritzelte. »Hi, Clancy«, meldete er sich. Die Stimme einer offenbar jungen Frau war zu hören. »Dr. Clancy, ich rufe aus dem Labor an. Wir haben hier ein ziemlich ungewöhnliches Blutbild, das Sie sich ansehen sollten.« Clancy blätterte um, machte eine weitere Eintragung und warf einen Blick auf seine Uhr. „Was ist so ungewöhnlich daran?“ „Keine weißen Blutkörperchen. Ein komplettes Blutbild ohne weiße Blutkörperchen.“ Clancy hörte auf zu schreiben. „Ein komplettes Blutbild?“ „Ja.“ „Keine weißen Blutkörperchen?“ 523

„Nein.“ »Gar keine?«, fragte er ungläubig. „Nicht ein einziges.“ Clancy schob die Aufzeichnungen auf seinen Schreibtisch und setzte sich langsam hin. Diese Mitteilung beunruhigte ihn. Er nahm den Hörer in die rechte Hand und überlegte hastig. Das Fehlen weißer Blutkörperchen war eine außerordentlich ernste Sache, denn sie waren die wichtigste Körperabwehr gegen Infektionen. Ohne sie konnte kein Mensch überleben. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dann sah er erneut auf seine Uhr. Er war wie üblich bereits spät dran. »Ich komme, sobald ich kann. Ich brauche die Krankengeschichte und alle Bluttests.« »Ich kümmere mich sofort darum«, versprach das Mädchen. »Oh, und die Daten sowie die Stationsnummer. Ich möchte mir den Patienten selbst ansehen.« Sein Ton verriet, dass es schnell gehen sollte. »Liegt alles in fünfzehn Minuten für Sie bereit.« Ruhig und effizient. Clancy zwang sich zu einem Lächeln und stand auf. »Gut, ich komme, sobald es geht.« »Danke, Dr. Clancy.« Frank Clancy schlüpfte in seinen weißen Kittel und verließ sein Sprechzimmer in Richtung Krankenstationen. Er ging an einer Gruppe Medizinstudenten vorbei, die sich um einen Schaukasten für Röntgenaufnahmen scharten, und war gleich darauf bei seinem Ärzteteam, das ihn zwischen den Bettreihen erwartete. »Hi, entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte er und wich dem missbilligenden Blick der Stationsschwester aus. »Wo fangen wir 524

an? Wer informiert mich über diesen Patienten?« Er nahm ein Klemmbrett, blätterte durch die eselsohrigen Seiten, bis er die neueste Eintragung fand, und nickte seinem Assistenzarzt zu. »Schießen Sie los.« Während des Berichts war Clancy mit seinen Gedanken schon woanders. Der Anruf ließ ihm keine Ruhe. Wieder ein Patient mit einem gravierenden Mangel an weißen Blutkörperchen. Jetzt waren es bereits zwei, möglicherweise sogar drei in ebenso vielen Monaten. Was war nur los?

NOCH

KEINE

SPUR

IM

FALL

DER

VERMISSTEN

TOCHTER DES AMERIKANISCHEN HERZSPEZIALISTEN Die Polizei sucht noch immer intensiv nach der verschwundenen Schülerin Jennifer Marks. Die Achtzehnjährige kam gestern nicht nach Hause, und eine groß angelegte Suche nach ihr begann am späten Abend. Die Nachforschungen brachten bisher keinerlei Erkenntnisse über den Verbleib des Mädchens, nachdem es die Schule gestern Nachmittag verlassen hatte. Die Suche wurde schließlich wegen Dunkelheit abgebrochen. Seit den frühen Morgenstunden sind Polizeibeamte wieder im Einsatz, um im Umfeld der Verschwundenen zu ermitteln. Jennifer Marks ist die einzige Tochter von Dan Marks, dem amerikanischen Herzchirurgen, der die vor kurzem gegründete Stiftung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Stadt leitet. Er wollte heute Morgen keine Erklärung abgeben. Dienstag, 12. Mai, Dublin Evening Post (Morgenausgabe)

Dienstag, 12. Mai, 8.55 Uhr KLICK. 525

Ein Aufstöhnen ging durch den Hörsaal. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu schockieren.« Declan Kelleher, Unfallchirurg am Mercy Hospital in Dublin, musterte von seinem Pult aus die Reihen der offensichtlich verstörten jungen Medizinstudenten im dritten Studienjahr. Einige vermieden es, das an die Wand projizierte Bild zu betrachten. »Aber bei Verletzungen werden Sie häufig mit der schlimmsten Seite Ihres zukünftigen Berufes konfrontiert, dem Anblick von Zerstörung und Verstümmelung.« Er hielt inne und wandte sich halb der Projektion des Farbdias zu. Die Stablampe in seiner Hand warf einen roten Punkt auf die Leinwand. „Versuchen wir zu klären, was wir hier sehen.« Der rote Punkt verhielt an der abgewinkelten Stelle eines Beins. »Das ist das Kniegelenk«, erklärte er und ließ den Punkt langsam an den Umrissen entlangwandern. »Das sind die Reste des Schienbeins, des Wadenbeins und des Sprunggelenks.« Geflüster war von den Mittelreihen zu hören. Ganz hinten rutschte ein älterer Mann unruhig auf seinem Sitz und brachte sein rechtes Bein in eine bequemere Lage. Er sah nicht nach vorn. Seine Augen waren festgeschlossen, und seine Lider zuckten. Aufmerksam lauschte er auf jedes Wort. Kelleher wandte sich wieder den Studenten zu und drückte auf einen Knopf am Pult. KLICK. »Bevor wir weitermachen, sollten wir uns vielleicht ins Gedächtnis rufen, wie ein gesundes Bein in einer Röntgenaufnahme aussieht.« Ein silbergraues Bild erschien auf der Leinwand. Kelleher brachte den roten Punkt in Position. »Das ist der Oberschenkelknochen, der Hüft- und Kniegelenk verbindet. Hier ist das Kniegelenk, und unterhalb sehen Sie Schienbein, Wadenbein, 526

Sprunggelenk, die Mittelfußknochen und Zehenglieder.« Er drehte sich wieder den Studenten zu. Die meisten blickten auf die Leinwand, einige zu ihm. Seine hoch gewachsene Gestalt und seine graue Mähne, die auch ein Kamm nie wirklich bändigen konnte, versperrten einigen die Sicht, und sie reckten die Hälse, um an ihm vorbeizusehen. »Kehren wir noch einmal zum ersten Dia zurück, um uns über den Umfang der Verletzung klar zu werden, die dieser Patient erlitten hat.« KLICK. Das Bild wechselte, und aller Augen betrachteten es prüfend. Diesmal wandte sich niemand ab, der erste Schock war abgeklungen. Die zukünftigen Ärzte lernten, ihren Magen ebenso zu stählen wie ihre Nerven. In der letzten Reihe hoben sich zwei Augenlider und senkten sich rasch wieder. Der Mann sah alles deutlich in diesem Sekundenbruchteil, er erschauerte unwillkürlich trotz der unangenehmen Wärme im Raum. Der Anblick war grauenvoll. Ein Bein hob sich grell gegen den grünen Stoffbehang des Hörsaals ab. Das Dia zeigte es von kurz über dem Knie bis zum unteren Ende. Das Knie war in einem Winkel von etwa dreißig Grad abgeknickt. Zirka zwei Handbreit unter dem Knie endete die glatte Haut abrupt und ging über in eine Masse von blutigem Fleisch, aus dem weiße Knochenstücke hervortraten. Die Knochen waren zerschmettert, und Splitter ragten wie Zahnstocher heraus. »Um ganz ehrlich zu sein«, gestand Kelleher, »ich bin nicht sicher, ob ich irgendetwas eindeutig erkennen kann.« Der rote Punkt markierte ein Knochenstück. »Das könnte ein Teil des Schienbeins sein.« Der Punkt wanderte zu dem roten Fleisch. 527

»Das könnte der Wadenmuskel sein, möglicherweise ein Teil des Schollenmuskels. Aber genau lässt sich das nicht sagen.« KLICK. Das nächste silbergraue Bild erschien auf der Leinwand, und jemand in den Mittelreihen stöhnte laut auf. »Ja, das sieht furchtbar aus, nicht wahr?«, stimmte Kelleher zu. Der rote Punkt zuckte hoch und verhielt im oberen Bereich der Röntgenaufnahme. »Das ist der Oberschenkelknochen.« Der Punkt wanderte an dem klaren Umriss entlang abwärts auf das totale Chaos zu. »Hier das unverletzte Kniegelenk und das obere Drittel des Schien- und des Wadenbeins. Darunter sind nur noch gebrochene, zersplitterte und zerschmetterte Knochen.« Er drehte sich wieder den Studenten zu und ließ den Blick über ihre Gesichter wandern. Die meisten sahen auf die Projektion. Ein paar machten sich Notizen. Ein oder zwei starrten ihn an. Er sah den gesenkten Kopf in der letzten Reihe. „Wie ich schon sagte, es war nicht meine Absicht, Sie zu schockieren, aber in der Unfallchirurgie wissen Sie vorher nicht, was Sie auf den Tisch bekommen.« Niemand tuschelte, niemand schrieb, alle Augen waren ihm zugewandt. »Und ich dachte, dass es Sie interessieren wird, wie es diesem Patienten erging und was aus dieser blutigen Masse wurde, die wir vor einer Minute sahen.« Kelleher betätigte einen Schalter am Pult, und die Lichter des Hörsaals flammten auf. Augen blinzelten in der Helligkeit, Köpfe rückten zusammen, als Meinungen ausgetauscht wurden, und Stifte kritzelten auf Papier. In der letzten Reihe veränderte der Mann die Stellung seines Beins erneut, wobei er seinen linken Fuß zu Hilfe nahm. Er massierte sein rechtes Bein und verzog 528

schmerzvoll das Gesicht. Kelleher hob einen Finger. »Ich möchte Sie mit dem Mann bekannt machen, dem dieses zerschmetterte Bein gehört. Können Sie nach vorn kommen, Superintendent?« Alle Köpfe wandten sich um. Eine Stimme mit deutlichem Donegal-Akzent antwortete: »Ja, wenn Sie sich ein wenig gedulden.« „Ich möchte Ihnen Detective Superintendent Jim Clarke vorstellen«, sagte Kelleher. Clarke zwängte sich aus dem engen Sitz. Er postierte seine Krükke bedächtig vor sich, bevor er sein rechtes Bein mit einem dumpfen Laut auf die Stufen setzte. Er verlagerte sein Gewicht zum Aufstehen auf das linke Bein, schob seinen rechten Arm in die Armführung der Krücke und ergriff die Handstütze. Jeder Schritt die Stufen hinunter war quälend langsam. Die Studenten konnten den Blick nicht von der leicht gebeugten Gestalt wenden. Der Mann war schlank, fast dürr, etwa eins fünfundachtzig groß und trug Polizeiuniform. Die nahe dem Mittelgang saßen, konnten den Schmerz in seinem Gesicht sehen, den ihm jeder Schritt bereitete. Als er fast unten war, hielt er inne und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Dann fuhr er sich, um einen besseren Eindruck zu machen, mit den Fingern durch die wenigen Haare, die ihm nach zweiundfünfzig Jahren geblieben waren. »Tut mir Leid. Stufen machen mir immer ein wenig zu schaffen.« »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte Kelleher und schob einen Stuhl an das Pult heran. Er löste das Mikrofon von seinem Revers und reichte es dem Mann, nachdem er sich gesetzt hatte. »Superintendent Jim Clarke«, erklärte Kelleher, »ist Leiter der 529

Kripo.« Clarke nickte den vorderen Reihen zu und lächelte unsicher. Er schien sich alles andere als wohl in seiner Haut zu fühlen, wie jemand, der eine Medaille verliehen bekommt und nicht recht weiß, wie er sich bei der Zeremonie verhalten soll. »Am 25. Juli vor zwei Jahren wurde er mit den Verletzungen, die Sie gesehen haben, hier ins Mercy Hospital eingeliefert. Ich hatte Dienst und behandelte ihn.« Kelleher wandte sich dem Polizisten zu. »Er wird Ihnen berichten, wie es zu diesen Verletzungen kam.« Clarke nickte zustimmend. »Außerdem«, fuhr Kelleher fort, »haben wir Dr. Patrick Dillon hier.« Ein kräftiger, hoch gewachsener Mann erhob sich am Ende der ersten Reihe und wandte sich den Studenten zu. Er trug eine korrekt gebügelte Flanellhose und einen blauen Blazer mit weißem Taschentuch in der Brusttasche. Er setzte eine Brille auf und hob seine Hand an die Stirn, um seine Augen gegen die Saallichter zu schützen. Sein Haar war dunkel und glatt zurückgekämmt. »Dr. Dillon«, erklärte Kelleher, »ist Rechtspsychiater, jemand, der sich mit kriminellen Geisteskranken beschäftigt. Er sammelte Erfahrungen in geschlossenen psychiatrischen Anstalten, in denen das Personal in Selbstverteidigung ausgebildet ist und wo auf den Stationen Reizgasspray eingesetzt wird. Er hat auch in Broadmoor gearbeitet, dem bedeutendsten britischen Krankenhaus für solche Straftäter. Vor kurzem wurde er zum Leiter der Rechtspsychiatrischen Abteilung des Rockdale Hospitals für kriminelle Geistesgestörte in County Meath ernannt und steht der 530

Polizei als Berater bei bestimmten Gewaltverbrechen zur Verfügung.« Kelleher konsultierte seine Notizen auf der Rückseite eines Briefumschlags.

»Im

Zuge

dieser

frühen

Vormittags-

vorlesungen«, fuhr er fort, »möchte ich, dass Sie sich nicht nur mit den medizinischen Aspekten von Verletzungen auseinander setzen, sondern einen Blick hinter die Kulissen des Verbrechens tun.« Er hielt kurz inne. »In den Notaufnahmen werden wir häufig mit Gewaltverbrechen konfrontiert: Vergewaltigung, Messerstecherei, Schießerei, Schlägerei. Schwere, mit voller Absicht zugefügte Verletzungen. Und häufig fragen wir uns: >Wer ist zu solcher Brutalität fähig?< Sie werden jetzt den Hergang eines solchen Verbrechens kennen lernen und im Anschluss die Meinung eines Experten erfahren.« Kelleher nickte Dillon zu und setzte sich in die erste Reihe, um zuzuhören. Patrick Dillon begab sich ans Pult und ließ seinen Blick

über

die

erwartungsvollen

Gesichter

schweifen.

»Psychiatrie«, begann er, »ist das Studium und die Behandlung von Erkrankungen des Geistes.« Er sprach leise, aber deutlich und mit einem leichten englischen Akzent. »Für die meisten Psychiater

gehören

Krankheitsbilder

wie

Depression,

Angstzustände oder Schizophrenie zum Praxisalltag. Der Kriminalpsychiater versucht tief in den kriminellen Verstand zu blicken. Seine Patienten sind die geistig abnormen Verbrecher, deren oft in Mord und Totschlag endende Gewalttaten einer besonderen Präsentation bei Gericht bedürfen.« Die Zuhörer lauschten gespannt. »Meine Arbeit«, fuhr Dillon fort, »verbindet Psychiatrie und die Erforschung krimineller Beweggründe, zwei der faszinierendsten 531

Bereiche der Verhaltensforschung.« Er hob seine Stimme und sagte hart: »Ich seziere den Verstand des Mörders.« Die Worte hinterließen den beabsichtigten Eindruck. Jim Clarkes Kopf ruckte hoch. »Gelegentlich«, fuhr Dillon fort, »verlangt man von mir, ein psychologisches Täterprofil zu erstellen, die Charakterbeschreibung, wenn Sie so wollen, einer Person, die am wahrscheinlichsten ein bestimmtes Verbrechen begangen haben könnte.« Er steckte seine Brille in die Jackentasche. »Aber lassen wir jetzt den Superintendent seine Geschichte erzählen«, schloss er. »Danach werde ich versuchen, den geistigen Zustand der an diesem Verbrechen beteiligten Personen zu analysieren.« Er trat zurück und gab den Platz am Pult frei.

Clarke rückte ein wenig auf seinem Stuhl zurecht, schob seinen linken Fuß unter das rechte Bein und bewegte es in eine bequemere Lage. Er lehnte seine Krücke an das Pult, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn, dann hielt er einen Augenblick inne, um sich zu sammeln und seiner Gefühle Herr zu werden. Er hatte das alles so oft erzählt, dass ihm jedes Wort im Schlaf geläufig war. Aber es war jedes Mal wieder schrecklich für ihn, der Schmerz war beinahe so intensiv, das Grauen ebenso real wie in den Augenblicken des Geschehens. »Wir waren auf einer Observierung in Blackrock, im Süden Dublins«, begann er, »in einem zivilen Einsatzwagen.« Seine Stimme war leise trotz des Mikrofons, und die Studenten in den hinteren Reihen lehnten sich vor, um besser hören zu können. »Wir waren zu zweit. Seit Monaten beschatteten wir einen Drogenbaron, beobachteten seine Beschaffungs- und 532

Liefermethoden und sein Verteilersystem.« Er hielt inne und nickte in Richtung des Wasserglases auf dem Pult. Jemand aus der ersten Reihe reichte ihm das Glas. »Wir parkten vor einem Pub am Kai«, fuhr er fort. »Ein schwarzer Lieferwagen näherte sich und fuhr ganz langsam an uns vorbei und hielt in einiger Entfernung. Er erschien uns sofort verdächtig. Wir fragten im Hauptquartier nach und erfuhren, dass das Kennzeichen gefälscht war. Der Fahrer verließ den Wagen ohne abzuschließen und begab sich ins Pub. Mein Kollege folgte ihm drei Minuten später. Ich blieb im Wagen und hielt die Augen offen. Ein Stück weit die Straße hinunter stand ein junges Pärchen mit Bierdosen in der Hand, aber ich beachtete es nicht weiter. Die beiden lachten und schäkerten und schienen die Welt um sich herum vergessen zu haben.« Einen Atemzug lang war er wieder auf dem Fahrersitz, fragte sich, ob er sitzen bleiben und abwarten oder sich den Lieferwagen ansehen sollte. Er konnte beinahe wieder das Krachen im Funkgerät hören, das Meer riechen und keine sechs Meter rechts von sich die Wogen hinter der hohen Kaimauer gegen die Felsen branden hören. »Mir wurde das Warten zu dumm. Das war mein einziger Fehler, mir wurde das Warten zu dumm.« Der Lieferwagen war sauber. Er enthielt nur leere Kisten, die ordentlich auf der Fahrerseite gestapelt waren. Clarke brauchte keine zehn Minuten, um alle zu öffnen und sich zu überzeugen. Als er zurückging, fiel ihm auf, dass das junge Pärchen verschwunden war. »Ich weiß nicht mehr, was ich zuerst spürte. Ich erinnere mich, dass ich den Zündschlüssel drehte, dann gab es einen plötzlichen 533

Knall, und ich spürte Schmerzen in den Beinen, oder vielleicht das Bersten in meinen Ohren, ich weiß es wirklich nicht mehr.« Er hielt inne und sah auf. Im Hörsaal war es still, nicht eine Hand bewegte sich, nicht ein Stift schrieb. »Das Nächste, was in mein Bewusstsein drang, war, dass man mich aus dem Wagen zerrte und jemand schrie, an das erinnere ich mich und an die Sirene eines Krankenwagens. Eine Maske wurde mir aufs Gesicht gedrückt, und eine Stimme rief mir zu, tief zu atmen.« Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und nahm einen weiteren Schluck Wasser. Kelleher warf einen Blick auf die gespannt lauschenden Zuhörer und regelte den Mikrofonpegel. »Ein halbes Kilo Sprengstoff war unter meinen Sitz gelegt und mit der Zündung verdrahtet worden.« Clarke nippte wieder am Wasser, dann nahm er einen tieferen Schluck, als könnte er damit den Schmerz hinunterspülen. Er stellte das Glas vorsichtig ab, er tat es ganz langsam, damit der Zuhörerschaft das Zittern seiner Hände verborgen blieb. Der emotionale Druck war so groß, dass Kelleher beschloss, Clarke zu unterbrechen. »Superintendent Clarke war in sehr schlechter Verfassung, als er in der Notaufnahme eintraf. Er hatte viel Blut verloren, war im Schockzustand, verlor immer wieder das Bewusstsein. Das rechte Bein sah nicht aus, als ob es noch zu retten wäre. Das linke Bein schien, von einem Schienbeinbruch abgesehen, relativ unversehrt geblieben zu sein. Die erste Maßnahme war, den Kreislauf zu stabilisieren und den Blutdruck hochzubringen. Dann wurde er zur Amputation seines rechten Beins in den OP gebracht.« Man dämpfte das Licht, und Kelleher begann Dia um Dia zu 534

projizieren, während er die operative Wiederherstellung des rechten Beins erklärte. Ein Dia zeigte Drähte und Schrauben, nachdem die Entscheidung zu amputieren wieder verworfen worden war und ein Orthopädenteam die ganze Nacht arbeitete, die Knochensplitter und -stücke zusammenzufügen. Zum Schutz der

Blutgefäße

wurde

ein

Gefäßchirurg

hinzugezogen.

»Glücklicherweise waren die Nervenbahnen im Bein halbwegs intakt geblieben«, fuhr Kelleher fort und benutzte eine Reihe medizinischer Fachausdrücke, was es dem Mann auf dem Stuhl neben dem Pult leichter machte, diese quälende Diskussion zu ignorieren. »Hat man den Täter gefunden?«, unterbrach ihn ein rothaariges Mädchen in der zweiten Reihe. Clarke senkte den Kopf und massierte sein kaputtes Bein, er blickte in das vom Projektorlicht erhellte Gesicht der Studentin. »Ja. Er hieß Christy O'Hara und war ein bekannter Auftragskiller. Er tauchte unter, wurde aber bei einem Bandenkrieg erschossen.« »War sonst noch jemand daran beteiligt?«, fragte das Mädchen weiter. „Drei Monate später, als ich noch auf der Station oben lag«, sein Zeigefinger deutete an die Decke, »befasste sich das mit der Untersuchung beauftragte Team mit möglichen Verdächtigen Personen, die von meinem Tod profitieren würden. Sie brauchten vier Stunden, um die Liste durchzugehen.« Jemand weiter hinten pfiff leise, und ein paar kicherten unsicher. Clarke ignorierte sie. »Schließlich hatten wir sieben, die infrage kamen. Doch dann bekamen wir von einem Informanten den Namen. Tude Kennedy, der Drogenbaron, den wir observiert hatten.« Niemand sprach, der Hörsaal war still. Der rote Punkt des Zeigers in Kellehers 535

Hand zitterte irgendwo an der Seitenwand. Clarke räusperte sich und griff nach dem Glas zu seinen Füßen. Das Mikro übertrug das gurgelnde Geräusch des Wassers in seiner Kehle. Er stellte das Glas wieder ab und sah hoch. »Er ist inzwischen auch tot, kam bei einem der zahlreichen Revierkämpfe ums Leben.« "Na, großartig«, murmelte jemand, und Clarke gönnte sich ein knappes Lächeln. Declan Kelleher stand auf und winkte den Rechtspsychiater wieder ans Pult. »Dr. Dillon, erklären Sie uns doch, was Menschen zu kaltblütigem Mord treibt. Was geht in einem Auftragskiller vor? Wie sieht der psychiatrische Hintergrund aus? Und wie können Sie der Polizei beispielsweise bei einer Morduntersuchung helfen?« Dillon lauschte den Fragen mit gespitzten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen. Er ließ fast drei Minuten verstreichen, bevor er schließlich das Mikrofon nahm und auf seine Höhe einstellte. »Der skrupellose Auftragskiller ist mit Sicherheit ein Soziopath. Er tötet kaltblütig und gewissenlos für Geld. Diejenigen, die ihm solche Aufträge erteilen und dafür bezahlen, sind nicht weniger schlimm, nicht weniger gewissenlos. Meine Aufgabe in den polizeilichen Ermittlungen ist die der Beurteilung der Art des Verbrechens. Ist es ein wütender Angriff mit vielen Verletzungen oder eine einzige Kugel in den Hinterkopf?« Im Auditorium war es totenstill. »Die Art des Angriffs«, fuhr Dillon fort, »spiegelt den Verstand des Angreifers wider. Wenn ich die Polizei berate, erkläre ich die charakteristischen Merkmale aller Aspekte des Verbrechens: des Tathergangs, der vermutlichen Mordwaffe, des Tatorts und so weiter.« Das laute Öffnen einer Tür durchbrach 536

die unheimliche Stille. Alle Köpfe wandten sich der großen Gestalt zu, die sich durch ein Hüsteln bemerkbar machte. Eine Hand winkte in die Dunkelheit. Clarke griff nach seiner Krücke und hob sie hoch, um auf sich aufmerksam zu machen. Moss Kavanagh, Clarkes Betreuer und Fahrer, kam die Stufen herunter. Er war eins neunzig groß, hatte kurz geschnittenes schwarzes Haar und das zerschlagene Gesicht eines Rugbyspielers. Er schob das Handy von einer Hand in die andere, als er sich zu Clarke hinunterbeugte und flüsterte: »Chef, wir müssen los. Sie haben das Marks-Mädchen gefunden.« Clarke musterte das Gesicht des anderen. »Wo?« »Sie liegt in einem Park im Osten der Stadt.« Das Flüstern wurde vom Mikrofon verstärkt, und Clarke legte seine Hand darüber. »Lebend oder tot?« »Tot.« »Großer Gott«, war alles, was Clarke hervorbrachte, als er sich auf die Beine stemmte. Er winkte Dillon zu, ihnen zu folgen. Die Leiche wurde morgens um 7.46 Uhr gefunden. Ein Jogger stolperte über das bleiche und reglose weiße menschliche Bein, das aus einem Gestrüpp hervorragte. Dabei lösten sich die Kopfhörer seines Walkmans. Er hielt an, um sie wieder einzustecken, und blickte sich um. Fast zwei Minuten lang stand er reglos und glaubte seinen Augen nicht zu trauen, bis er schließlich akzeptierte, was er sah. Dann ging er vorsichtig näher, wobei er sich zweimal umschaute. Doch der Park war leer bis auf ein paar Elstern, die über den feuchten Rasen liefen. Ihre heiseren Schreie, wenn ihre Wege sich kreuzten, waren die einzigen Laute ringsum. Als er unmittelbar davor stand, sah er zwei wachsbleiche Beine, eines ein wenig abgewinkelt, das andere fast gerade. 537

Die Beine gehörten zu einem Körper, der auf dem Bauch lag, teilweise von Zweigen und Blättern verdeckt, zwischen denen Spinnen Netze gewoben hatten. Als er einen Zweig zur Seite schob, funkelte das Sonnenlicht in den Tautropfen auf dem feinen Gespinst, bevor es zerriss. Es waren Frauenbeine, erkannte er, als er den bis zur Taille hochgeschobenen Rock sah. Er wusste in derselben Sekunde, dass er eine Tote vor sich hatte, und lief sofort los, um Hilfe zu holen. Er sah auf seine Uhr, während er rannte. Der erste Einsatzwagen traf um 8.23 Uhr ein, wie der junge Polizist angab, der über das grüne spitze Parkgitter kletterte und dem Jogger, einem Buchhalter in den Vierzigern mit schütter werdendem Haar, zum Fundort folgte. Während sie durch das feuchte Gras gingen, bombardierte der Polizist den Jogger mit Fragen, die er beantwortete, soweit es ihm möglich war. Dabei bemühte er sich, nicht den Eindruck zu erwecken, er könnte vielleicht sogar selbst für das Vorhandensein der Leiche verantwortlich sein. Um 8.35 Uhr wurde die Leiche offiziell als die einer Frau mit »im Zustand der Unordnung befindlicher Kleidung« gemeldet. Um 8.37 Uhr machte man eine weitere Entdeckung. Ein Messer steckte im Rücken der Leiche, etwa in der Mitte des rechten Oberkörperbereichs. Der Beamte fügte hinzu, dass das Messer bis zum Griff eingedrungen war. Eine Minute später meldete er ein wenig aufgeregt, dass der Jogger umgekippt sei, und bat, einen Krankenwagen anzufordern. „Schickt die Leute dort vom Gitter weg. Seht zu, dass ihr die Schlüssel der Parktore auftreibt, und ein paar Uniformierte sollen über das Gelände patrouillieren.« Detective Sergeant Tony Molloy war dabei, den Tatort abzusichern, bis die Spurensiche538

rung eintraf. Er war groß und korpulent und kahl, bis auf Büschel grauer Haare über beiden Ohren. Mit seinen sechsundvierzig Jahren agierte er mit der Souveränität eines Mannes, der das alles schon oft getan hat: Er gab klare Anweisungen, ohne mit den Händen zu fuchteln oder die Stimme mehr als notwendig zu heben. Seine Untergebenen bewegten sich im Licht der Morgensonne gezielt und kompetent. »Dass mir keiner in der Nähe der Leiche herumtrampelt, und verscheucht diese verdammten Vögel.« Die Elstern hatten ihr stilles Paradies verlassen, nur ein paar krächzten noch in den Bäumen ringsum, die nun nach dem rauen Frühlingswetter bereits kräftig im Laub standen. Sandymount Park in Ostdublin war nicht ganz einen Hektar groß und hatte einen alten Bestand an Ahorn- und Kastanienbäumen, die die Grünfläche vor den umliegenden Häusern und Apartmentanlagen abschirmten. Die ungemähte Wiese im Zentrum war hauptsächlich Tummelplatz für Ballspieler und Frisbeewerfer. Ein grünes, mannshohes Gitter mit spitzen Zacken trennte den Park von der Straße und den angrenzenden Gärten. Wahllos verteilt, wie es einem erscheinen mochte, der etwas vom Gärtnern verstand, wuchsen Gruppen von Buschwerk und kleinen Bäumen. Am Südrand, wo die Leiche gefunden worden war, wucherte dichtes Gestrüpp. Ein heruntergekommener hölzerner Unterstand befand sich keine dreißig Meter vom Fundort entfernt. Das Holz war an vielen Stellen morsch, und Graffiti bedeckten die letzten Reste des alten Anstrichs. Drinnen lagen leere Bierdosen, Weinflaschen und Kippen. Molloy hatte sie bereits gesehen, als er einen Blick hineingeworfen hatte. Ihm war auch die blutbefleckte Spritze nicht entgangen. »Absperren«, 539

befahl er, und ein gelbes Absperrband umgab Minuten später den Unterstand. Molloy war jemand, der nie aufhörte, sich Sorgen zu machen. Über seine Gesundheit, seine Pension, das Wetter, die Zukunft des Landes, über alles und jedes. Wenn er sich keine Sorgen machte, machte er sich Sorgen darüber, dass es nichts gab, worüber er sich Sorgen machen konnte. Als er sich die Beschreibung der vermissten Jennifer Marks von der Zentrale durchgeben ließ, ahnte er gleich, dass ihm diesmal die Sorgen nicht ausgehen würden.

10.05 Uhr Zwei uniformierte Polizeibeamte erreichten das Haus der Familie Marks kurz nach zehn an diesem Morgen. Dan Marks hatte die ganze Nacht im Erdgeschoss am Telefon gewartet. Die beiden Telefone im ersten Stock hatte er abgestellt, damit sie seine behinderte Frau nicht aufregten. „Dr. Marks?“ Beide Polizisten waren hoch gewachsen, schlaksig und jung, einer rothaarig, der andere dunkelhaarig. Sie hielten ihre Uniformkappen an der Seite. Ihre Mienen waren ernst. »Ja.« Der rothaarige Beamte sagte langsam: »Tut mir Leid, Sir, wir kommen wegen Jennifer.« Dan Marks weigerte sich, das Schlimmste zu glauben. »Ja, ja. Hat man sie gefunden?« Und verzweifelt: »Ist sie unverletzt?« „Tut mir Leid, Sir, wir bringen keine gute Nachricht.« Der dunkelhaarige Polizist vermied es, Marks in die Augen zu sehen. Sein Kollege fuhr fort: »Die Leiche eines jungen Mädchens, auf das Jennifers Beschreibung passt, ist in einem Park, etwa drei Ki540

lometer von hier, gefunden worden.« Im selben langsamen, ernsten Tonfall informierten sie ihn über die Umstände, die Fundzeit, die Bekleidung der Leiche. Nüchterne Fakten, die nicht gleich die ganze schreckliche Wahrheit bewusst machten. Marks hörte sich etwa vier Minuten lang an, was sie sagten, dann schloss er die Tür. „Annie, sie haben Jennifer gefunden.“ Dan Marks stand in der halb offenen Tür zum Schlafzimmer seiner Frau. Sie antwortete nicht gleich. In der Dunkelheit des Raums konnte Dan Marks undeutlich seine Frau erkennen. Sie saß in einem Rollstuhl und blickte auf die zugezogenen Vorhänge. «Wann? Wann sollen wir kommen?« „Annie, wenn du nicht möchtest...« „Wann, verdammt! Ich hab dich gefragt, wann?«, schrie sie so heftig, dass Marks zitternd am Türrahmen Halt suchte. »Sobald sie uns benachrichtigen, können wir hingehen«, erwiderte er halb erstickt vor Schmerz. »Wo ist meine Tochter? Wo bringen sie sie hin?« Annie Marks brachte die Worte kaum hervor. »Ins Leichenschauhaus. Sie rufen uns von dort aus an.« »Dann mach dich fertig«, giftete Annie Marks, während sie sich in der Dunkelheit die Tränen aus den Augen wischte. »Ich habe die ganze Nacht auf diesen Moment gewartet. Ich bin bereit.« »Ich komme wieder, sobald ich mehr weiß.« Dan Marks begann die Tür zu schließen, dann wandte er sich noch einmal um. »Es tut mir Leid, Annie.« »Verschwinde, verdammt! Das Gejammer kannst du dir sparen, verstehst du?« Er schloss leise die Tür, sodass ihr Schluchzen nicht mehr zu hö541

ren war. Vor acht Monaten hatte alles so ganz anders begonnen.

»Guten Tag, meine Damen und Herren. Danke, dass Sie gekommen sind.« Dr. John Regan, der Gesundheitsminister der neu gewählten Regierung, wandte sich von einem Podium aus an die versammelten Medien. Der große Konferenzsaal der Regierung war zum Bersten voll, und Regan versuchte die Besucherzahl zu schätzen. Er war überaus zufrieden. Er zählte acht Fernsehcrews: neben CNN und Sky zwei große US-amerikanische Sender, in einer an deren Ecke die BBC, zwei europäische Sender, die er nicht identifizieren konnte, und das nationale irische Fernsehen RTE. Eine Fernsehcrew aus Boston hatte sich nach vorn gedrängt und checkte Licht und Blickwinkel. Presse- und Radioreporter lümmelten sich auf Stühlen herum und unterhielten sich miteinander oder machten sich Notizen. Gut, dass ich den großen Saal bestellt habe, dachte Regan. Es war eine eindrucksvolle Menge, und er wusste, dass die Journalisten das in ihren Berichten nicht unerwähnt lassen würden. Hinter ihm stand ein Tisch mit einem grünen Tuch, auf dem Mineralwasserflaschen und Gläser verteilt waren. Vier leere Stühle warteten auf die Hauptpersonen. Einen halben Meter hinter den Stühlen prangte an großen Wandschirmen die siegreiche Wahlpropaganda der Regierung: Eine neue Regierung für ein neues Volk. Lächelnde Gesichter der Zukunft Irlands: seines jungen Volkes, und John Regan, Hände schüttelnd, engagiert, lachend, Tränen aus den Augen wischend, einen Fußball kickend. Die 542

Bilder waren stark und positiv. Irland mit der jüngsten Bevölkerung der Europäischen Union musste die Spinnweben der Vergangenheit zur Seite wischen und den Blick auf die Zukunft richten. Die Slogans hatten die Herzen erobert und der Regierung eine satte Mehrheit beschert. Mit dreiunddreißig war John Regan der jüngste Gesundheitsminister. Er entstammte einer armen Arbeiterfamilie im Zentrum Dublins und hatte sich den Weg nach oben auf den Straßen erkämpft. Mit Energie, Ehrgeiz und einem scharfen Verstand hatte er es auf die Universität geschafft, wo er als radikaler Student gegen Privilegien und Klassenunterschiede ins Feld zog. Dass er sich für eine medizinische Laufbahn entschied, überraschte viele, obwohl sich alle einig waren, dass er es mit seinem skrupellosen Ehrgeiz weit bringen würde. Aber die langweilige Krankenhausroutine und mangelnde Aufstiegschancen frustrierten ihn. Ein politisch hoch motivierter Regan verließ das Krankenhaus, um sich in den Wahlkampf zu stürzen. Trotz heftiger Attacken seiner Gegner - Regan hatte sich der Methode der Nötigung und Einschüchterung bedient-, ging er aus der Wahl als klarer Sieger hervor. Er war erst zwei Wochen im Amt, als er die erste Konfrontation mit einer Ärzteschaft, für die er wenig Sympathien hegte, in Szene setzte. Er verkündete, dass alle in öffentlichen Krankenhäusern tätigen Mediziner nicht mehr das Recht hätten, zusätzlich privat zu praktizieren. Das gab einen Aufschrei in den Reihen der Fachärzte, die ihr Einkommen durch private Ordinationen zu verdoppeln oder gar zu verdreifachen pflegten. Als zweiten Schritt veröffentlichte er Zahlen über die offiziellen Facharztgehälter und ihre geschätzten privaten Nebeneinnahmen. Es gab 543

einen öffentlichen Aufschrei der Entrüstung über die Maßlosigkeit. Während die Ärzte die Köpfe zusammensteckten, um sich auf eine Strategie zu einigen, spielte Regan seine Trumpfkarte aus und verkündete die Gründung einer Herz-Stiftung. Es handle sich dabei um ein internationales Forschungs- und Behandlungszentrum für Herz-Kreislauf-Erkrankungen hier in Dublins Mercy Hospital, das zu einer angesehenen und leistungsfähigen medizinischen Einrichtung geworden war. Das Mercy Hospital war 1994 auf einer grünen Wiese errichtet worden und vereinigte fünf der alten Krankenhäuser der Dubliner Innenstadt unter seinem Dach. Die ersten fünf Jahre nach der Eröffnung waren schwierig gewesen, aber die kleinlichen Rivalitäten und Eifersüchteleien, in vielen Krankenhäusern gang und gäbe, waren bald überwunden. Das Mercy Hospital entwickelte sich zu einem anerkannten medizinischen Forschungszentrum mit den Schwerpunkten Krebsforschung, diagnostische Radiologie

und

Erkrankungen

der

Atemwege.

Regans

Intervention war nicht ohne Risiko. Die Regierung versprach fünfunddreißig Millionen Pfund für die Gründung der HerzStiftung. Fünfzehn Millionen Pfund würden die irischen Steuerzahler beisteuern. Die restlichen Gelder würde die Europäische Union in einem gemeinschaftlichen Großangriff auf die nordamerikanische Vorherrschaft in der medizinischen Forschung bereitstellen. Das EU-Geld war an regelmäßige Berichte und Bewertungen der Forschungsergebnisse der Stiftung gebunden. Damals sagte Regan, er erwarte internationales Interesse an dem Projekt. »Die Welt wird uns darum beneiden.« Er hoffe, dass vor allem irische Ärzte die Chance ergreifen würden. Er wusste jedoch, dass das nicht der Fall sein würde. Das Projekt schien 544

vom ersten Augenblick an zum Scheitern verurteilt zu sein. Doch Regan hatte sorgfältig geplant. Nach einer annehmbaren Wartezeit von sechs Wochen, in denen die örtliche Ärzteschaft Gelegenheit zur Bewerbung hatte, flog er nach Boston und kehrte mit dem »Dreamteam« im Schlepp zurück, drei Herzspezialisten, die die Stiftung etablieren würden. Er hatte sie im Springton Hospital abgeworben, einer der renommiertesten medizinischen Einrichtungen der USA. Es war ein dreister und verwegener Coup, der in der Öffentlichkeit viel Beifall fand, der Regierung Traumzahlen in den Meinungsumfragen bescherte und Regan ein exakt kalkuliertes Personlichkeitsprofil verschaffte. Er hatte sich mit der allmächtigen Medizinergewerkschaft angelegt und sie überrumpelt. Und er hatte zwanzig Millionen Pfund in der EU lockergemacht. Das ließ selbst Dublins Klatschkolumnisten verstummen. Während des Wahlkampfes hatten sie kein gutes Haar daran gelassen, dass er unverheiratet war, und hatten immer wieder unerfreuliche Gerüchte über sein Privatleben veröffentlicht. Jetzt war er unantastbar - der Liebling der Nation. Mit diesem Tag hatte er das Ziel erreicht, das all die Monate Arbeit und Einsatz rechtfertigte. »Sie sind heute hier, um diese drei Virtuosen der Medizin aus Boston kennen zu lernen, die wir unter Vertrag genommen halten, um die geplante Herz-Stiftung aufzubauen«, begann Regan, als Ruhe im Saal eingetreten war. Er war das Idealbild eines Politikers, hoch gewachsen und breitschultrig. Zu diesem Presseereignis trug er einen beigen Armani-Anzug zu einem dunkelblauen Hemd und einer hellgelben Krawatte. Sein kurzes schwarzes Haar war streng zurückgekämmt, was seine breite Stirn zur Geltung brachte. Er bot das Bild eines begehrten Jung545

gesellen. Er gab sich engagiert und freundlich, aber das war eine Maske, die auf der Stelle fallen konnte, wenn man ihn reizte. „In der Pressemappe finden Sie einen kurzen Abriss ihrer bisherigen ärztlichen Tätigkeit sowie über ihre Forschungen auf dem Gebiet der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sobald Sie Gelegenheit hatten, das zu lesen, werden Sie mir sicher zustimmen, dass die Anwesenheit solcher Koryphäen für Dublin und den Ruf dieser Einrichtung nicht hoch genug bewertet werden kann.« Er hielt inne und ließ seinen Blick durch den Saal wandern. Kameramänner hantierten mit Lampen und Objektiven, Diktafone wurden hochgehalten, um jedes Wort aufzunehmen. „Ich werde jetzt einen nach dem anderen vorstellen, und Sie werden am Schluss Gelegenheit erhalten, Fragen zu stellen.« Er sah hinunter, und ihm entgingen nicht das zynische Gehabe und die gelangweilten Gesichter der Journalisten, die schon auf zu vielen Pressekonferenzen gewesen waren. Wartet nur, bis ihr seht, was ich habe. Ihr werdet euch um das Podium drängen! »Als Erstes möchte ich Sie mit Dr. Stone Colman, dem Biochemiker und international anerkannten Experten auf dem Gebiet der Zellveränderungen bei Herzkrankheiten bekannt machen.« Eine Tür an der Seite des Podiums wurde geöffnet, ein etwas weltfremd wirkender Mann trat heraus und lächelte unsicher. Regan warf einen Blick in die Pressemappe, die über Colmans Herkunft, Alter sowie berufliche Positionen und Forschungsarbeiten Aufschluss gab. Er sah hoch und lächelte ermutigend. Stone Colman war mittelgroß, vierundvierzig und trug einen schlecht sitzenden, zerknitterten dunkelbraunen Anzug. Sein rötlich-blonder Bürstenhaarschnitt wirkte militärisch, dieser Eindruck wurde jedoch durch seine ein wenig krumme Haltung 546

verwischt. Er ging rasch zu dem Tisch, setzte sich, öffnete sofort eine Mineralwasserflasche und füllte ein Glas fast bis zum Überlaufen. Diese öffentliche Zurschaustellung machte ihm sichtlich zu schaffen. »Dr. Colman wird seine Forschungsarbeit über die zellularen Veränderungen fortsetzen, die in den ersten Stunden nach einem Herzanfall auftreten. Im Besonderen gilt sein Augenmerk den geheimnisvollen körpereigenen, noch unerforschten Stoffen, von denen wir glauben, dass sie zu den tödlichen Herzrhythmusstörungen führen, welche die Funktion des Herzmuskels negativ beeinflussen.« Regan sah, dass einige der Journalisten sich Notizen machten. »Es steht alles in der Pressemappe, Leute«, erinnerte er. »Als Nächste möchte ich Ihnen eine Kardiologin von internationalem Rang vorstellen: Dr. Linda Speer.« Sie kam mit schwingenden Hüften wie ein Model in einer Modenschau aufs Podium. Sie war Regans Paradestück, Verstand gepaart mit Schönheit. Linda Speer war fünfunddreißig und sah aus wie fünfundzwanzig. Sie trug einen modisch geschnittenen blauen Blazer über einem weißen Kaschmir-Rollkragenpulli und einen langen grauen Rock. Sie ging selbstsicher zu dem Stuhl neben Stone Colman, der lächelnd ein Glas vor sie hinstellte und fragend eine Braue hob. Sie lehnte mit einer Handbewegung ab, die ein goldenes Armband aufblitzen ließ, und setzte sich. Regan entging nicht, dass ein oder zwei Kameramänner Zoom und Schärfe nachregelten. Linda Speer schlug die Beine übereinander

und

ließ

einen

glänzenden

Gucci-Pumps

herausfordernd an ihren Zehen schaukeln, dann fuhr sie sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar und strich es aus dem 547

Gesicht. Regan lächelte und beobachtete den hin und her schwingenden Schuh. Diese Frau hatte Klasse. »Dr. Speer ist Herzspezialistin sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und möchte vor allem das Kinder-Herzchirurgie-Programm in Irland erweitern. Wenn Sie die Seiten zwei und drei der Pressemappe aufschlagen ...« Papier raschelte überall im Saal. »Sehen

Sie

die

Statistik

unseres

gegenwärtigen

Herzoperationsprogramms mit Warteliste. Da die neuesten Erkenntnisse nahe legen, Kinder mit angeborenen Herzfehlern in den ersten zwölf Monaten zu operieren, bleibt vielen kleinen Patienten die optimale Hilfe versagt, wenn der Eingriff erst nach ihrem ersten Geburtstag erfolgen kann.« Regan drehte sich zu Linda Speer um, die seinen Worten aufmerksam folgte. »Dr. Speer schätzt, dass wir die gegenwärtige Warteliste innerhalb eines Jahres halbieren können, sobald unser neues Zentrum betriebsbereit ist. Stimmt das, Linda?« Die Schöne mit Verstand lächelte strahlend. Ihre Lippen formten ein langsames »Ja«, und Regan spürte eine leichte Regung zwischen den Beinen. Er hustete, um sich abzulenken, und wandte sich wieder den Journalisten zu. »Wie Sie wissen, steht diese Regierung für die Zukunft Irlands, unseres jungen Volks. Wenn wir unseren Jüngsten, unseren Babys, keine ausreichende medizinische Versorgung bieten können, dann enttäuschen wir die Wählerschaft, die uns die Macht in die Hände gegeben hat.« Ein paar der Anwesenden lächelten über diese parteipolitischen Äußerungen, die Übrigen waren in die Pressemappe und den Lebenslauf der Speer vertieft. Ihrer Aufmerksamkeit würde 548

sicher nicht entgehen, dass sie geschieden und kinderlos war. Regan war sicher, der eine oder andere der Pressefritzen würde sich fragen, ob er nicht bei ihr landen konnte. »Als Dritten im Bunde möchte ich Sie mit Dr. Dan Marks bekannt machen.« Die Seitentür ging wieder auf, und herein kam das Glanzstück seines Dreamteams, wie Regan es sah. Dan Marks war eins fünfundachtzig groß und hatte die Statur eines langjährigen American-Football-Spielers. Sein gelocktes, im Nacken langes Haar war vollkommen grau. Er trug ein grauweißes Leinenjackett über einem blauen T-Shirt und Bluejeans. Sein Gesicht war sonnengebräunt, dank eines Kardiologenkolloquiums in Florida, wo er nach einem halbstündigen Vortrag den Rest der Woche am Pool verbracht hatte. Marks hielt auf halbem Weg zum Podium inne, sah in den Saal hinunter und verbeugte sich leicht. Er vernahm leises Lachen und lächelte gewinnend, als er sich setzte. »Dr. Marks ist ein international geschätzter Herzchirurg«, fuhr Regan selbstgefällig fort. »Seine Patientenliste liest sich wie ein Prominentenverzeichnis. Vor seiner Abreise aus Boston setzte er Senator Bill Hall aus Alabama einen dreifachen Bypass und tauschte anschließend im OP 2 bei Toptalkmaster Marvin Hanna eine defekte Mitralklappe aus.« Er hielt inne, um diese Ruhmestaten wirken zu lassen, bevor er fortfuhr: »Und anschließend verbrachte er, so habe ich gehört, den Nachmittag bei einer fast fehlerlosen Achtzehn-Loch-Golfpartie.« Regan lachte über sein kleines rhetorisches Feuerwerk, brach jedoch ab, als er die ungerührten Gesichter vor sich sah. Dan Marks' Aufmerksamkeit galt ausschließlich Linda Speer, der er etwas ins linke Ohr flüsterte. 549

»Dr. Marks ist Amerikaner irischer Abstammung. Seine Eltern stammen aus County Mayo. Für ihn war dies eine Heimkehr, der er mit Freude entgegensah, wie er mir letzten Monat versicherte, und seine Frau und seine achtzehnjährige Tochter wohnen bereits seit sechs Wochen hier in Dublin.« »Und es gefällt ihnen hier«, rief Dan Marks unerwartet. »Sie sind ganz begeistert.« So also lernten die Medien das Dreamteam kennen. Und die Nation sah und staunte, als die Pressekonferenz an diesem Abend in einer aktuellen Nachrichtensendung über die Bildschirme flimmerte. Das Trio wirkte zuversichtlich und selbstsicher. Ihr NewEngland-Akzent gefiel den Leuten, und John Regan agierte locker wie ein Showmaster. Irland ging an diesem Abend ohne Fernsehfrust und von seiner Regierung überzeugt zu Bett. Fernsehen, Radio und Zeitungen nahmen sich in den darauf folgenden Wochen regelmäßig der drei Spezialisten an. Das Boulevardblatt Daily Post brachte Artikel über die Gruppe und zitierte seitenweise wörtlich. Da war von »unzulänglichen Einrichtungen«, »schlechter Stimmung beim Personal wegen dünn gesäter Aufstiegschancen« und »Ausbildungsdefiziten auf Grund mangelnden Engagements der Führungsetagen« die Rede. Die offene Kritik an den Zuständen in den bestehenden kardiologischen Einrichtungen Irlands sorgte dafür, dass das Dreamteam am Ende des ersten Monats mehr Feinde als Patienten hatte. Die Gesellschaftsspalte der Evening Post widmete sich Jennifer Marks' erstem Tag in der exklusiven Holy Rosary Klosterschule für Mädchen im Süden Dublins, »mehr eine Schmiede für junge Ladys als für Karrierefrauen«. Der Bericht enthielt eine Liste prominenter Absolventinnen der Schule, von denen viele wortwört550

lich bekundeten, wie großartig es dort gewesen sei. Linda Speer war das Thema eines ausführlichen Artikels in einer liunten Wochenendbeilage der Post. Sie gab den Reportern zu verstehen, dass sie in einem »großartigen kardiologischen Team« sei und hoffe, dass sie in den kommenden beiden Jahren die Forschungsarbeiten weiterführen könnten, die sie alle begonnen hatten. Worüber sie nicht sprach, war Geld. Die Speer war in ärmlichen Verhältnissen als eines von fünf Geschwistern aufgewachsen, deren Vater sich aus dem Staub gemacht hatte. In einem heruntergekommenen Viertel im Norden Bostons hatte sich die Mutter manchmal mit drei Jobs gleichzeitig abgemüht, um ihre Kinder großzuziehen. Wie John Regan hatte sich auch Linda Speer geschworen, alles zu tun, um niemals wieder zu hungern. Armut war für sie eine unerträgliche Schande. Der Bericht erwähnte,

dass

sie

in

jungen

Jahren

während

des

Medizinstudiums geheiratet hatte, nicht aber, dass sie ihren Mann kaum drei Jahre später verließ, weil er ihren ehrgeizigen Ambitionen nicht gewachsen war, sondern nur, dass »die Ehe nicht funktioniert hatte«. Nach der Scheidung hatte sie sich ganz ihrer Karriere gewidmet, aber, so vertraute sie dem Reporter an, das Geschlecht war noch immer ein Hemmschuh. In die entscheidenden Positionen holte sich die von Männern dominierte Medizinerschaft häufig lieber einen männlichen Kollegen, statt einer jüngeren, qualifizierteren Frau. Sie verriet mit einer für Mediziner unerwarteten Offenheit, dass dieses Dubliner Herzzentrum für sie ein neues Sprungbrett zu ihrem hoch gesteckten Ziel sei. Linda Speer strebte nach Erfolg und Macht und Reichtum. Sie wusste, als praktizierende Ärztin würde sie ihr Ziel nicht erreichen, wenigstens nicht in dem Maße, wie es ihr vor551

schwebte. Die Forschungsarbeit, die Irland finanzieren wollte, war ihre Fahrkarte nach oben. In einem kurzen Artikel in der medizinischen Fachpresse meinte der Schreiber, Stone Colman hätte nur auf ein Angebot wie von Regans Herzzentrum gewartet, um sich international profilieren zu können. Colman galt als ehrgeizig, und der Artikel spekulierte, dass seine Bostoner Stellung ausgereizt gewesen sei und er eine neue Herausforderung gebraucht hätte. Er äußerte sich »erfreut« über seinen Anteil am zugesagten Budget im Hinblick auf die nicht üppige Finanzlage des Mercy Hospitals. »Ich kann bestätigen, dass über eine Million Pfund der EU-Gelder allein für Laborarbeit vorgesehen sind«, wurde er zitiert. »Diese Summe mag auf den ersten Blick großzügig erscheinen, aber sie ist für meine Abteilung nicht mehr als angemessen. Im Grunde nicht mehr, als man für ein großes Krankenhauslabor erwarten würde«, hatte er mit Nachdruck ausgeführt. Die Post brachte einen Exklusivbericht über die Marks-Familic: »Die an den Rollstuhl gefesselte

Gattin

Annie

war erfolgreiche

Neurochirurgin

gewesen, bevor die zerstörerische Multiple Sklerose ihre junge Karriere beendete. Sie wird liebevoll gepflegt von ihrem Mann Dan, der die Interferon-Therapie selbst durchführt.« Ein Familienfoto mit lächelnden Gesichtern vor dem Eingang des neuen

Marks-Domizils,

eines

prächtigen

dreigeschossigen

viktorianischen Hauses in Dublins Diplomatenviertel, durfte nicht fehlen. »Das Marks-Haus« verkündete die Überschrift. Darunter ein Foto einer lachenden Jennifer Marks, hübsch, schlank, mit einer Hand am Rollstuhl ihrer Mutter, mit der anderen ihr langes dunkles Haar zurückstreichend. Sie trug ein TShirt, das deutlich lesbar verkündete: ICH LIEBE IRLAND. – 552

„Amerikanischer Charme“ stand als Kommentar unter dem Bild.

10.30 Uhr Joe, hierher. Machen Sie Aufnahmen von der ganzen Gruppe. ohne dass sie es merken. Ich brauche ihre Gesichter.« Jim Clarke winkte mit der Krücke einen uniformierten Beamten heran. „Sie, ja, Sie, kommen Sie her. Stellen Sie sich neben mich und tun Sie so, als ob Sie sich mit uns unterhalten. Stellen Sie sich mit dem Rücken zu den Leuten.« Er deutete auf die Neugierigen, die sich am Parkgitter eingefunden hatten. »Nein, schauen Sie sich nicht um, schauen Sie auf mich. Lassen Sie Joe den Fotoapparat auf Ihre Schulter auflegen und stehen Sie so still, wie Sie können.« Clarke war dafür bekannt, dass er bei wichtigen Ermittlungen Unmengen von Fotos machen ließ. Clarke, Kavanagh und Dillon trafen zwanzig Minuten nach ihrer Abfahrt vom Krankenhaus am Sandymount Park ein. (Es war üblich, bei Gewaltverbrechen dieses Kalibers, die derart großes öffentliches Interesse hervorriefen, einen Rechtspsychiater hinzuzuziehen, und manchmal begann man mit den Untersuchungen am Tatort erst dann, wenn er eingetroffen war. Der Park war bereits geschlossen, und das gelbe Absperrband flatterte im leichten Wind an Stangen, die in zwanzig Metern Abstand von der Leiche aufgestellt waren. Ein strategisch angelegter Korridor erlaubte den Zugang zum unmittelbaren Tatort, ohne das Spuren verwischt wurden. Fünf in weiße Overalls gekleidete Spezialisten der gerichtsmedizinischen Spurensicherung inspizierten das Gelände, zwei unterhielten sich und verglichen ihre Notizen, während sie auf eine Stelle in der 553

Nähe des hölzernen Unterstandes blickten, wo das Gras niedergetreten war. Ein Stock mit gelber Spitze markierte eine Stelle mit Blutflecken, drei weitere wiesen direkt zum Fundort der Leiche. Clarke ließ den Blick über den Tatort schweifen, zählte die uniformierten und zivilen Beamten und setzte sich mit dem Polizeihauptquartier in Verbindung, um einen weiteren Einsatzwagen anzufordern. Die Sonne war inzwischen höher in den fast wolkenlosen Himmel geklettert. Die Elstern hatten sich aus dem Staub gemacht. Joe Harrison, der große, glatzköpfige und korpulente Polizeifotograf mit der Reserve-Nikon um den Hals, wechselte das Objektiv und begann Bild um Bild zu schießen. Er zoomte und schwenkte und hatte einen Sechsunddreißiger-Film in sieben Minuten verschossen. »Fertig?«, fragte Clarke und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Die Uniform trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Harrison nickte wortlos, dann folgte er ohne große Eile einem Ruf aus dem abgesperrten Bereich. »Und Sie«, wies Clarke den jungen Beamten an, dessen Schulter als Stativ gedient hatte, »schnappen sich die drei Kollegen dort drüben. Begeben Sie sich so unauffällig wie möglich an die beiden Enden des Parkgitters. Steigen Sie hinüber auf die Straße.« Der junge Mann beugte sich vor, um nichts zu überhören. »Sobald Sie draußen sind, lassen Sie niemanden mehr passieren. Nehmen Sie sich die Schaulustigen vor. Ich will von jedem Namen und Adresse wissen, und wieso er um diese Zeit hier ist. Klar?« Irgendwie machte ihm dieses konzentrierte junge Gesicht sein Alter bewusst. Um fünf Minuten nach zehn war die Straße, die 554

am Sandymount Park entlang verlief, auf beiden Seiten abgeriegelt, und der Verkehr, Fußgänger und Fahrzeuge, wurde auf Nebenstraßen umgeleitet. Ein paar Minuten später begann sich die Gruppe der Neugierigen aufzulösen, als sie die Blauuniformierten herankommen sahen. Die Gruppe stand gleich darauf wartend in einer Reihe, während die Beamten Notizblocks hervorholten und Fragen zu stellen begannen. Clarke beobachtete es beifällig. Neben ihm rollte Moss Kavanagh sein Mobiltelefon von einer Hand in die andere. Patrick Dillon hatte sich einer Gruppe angeschlossen, die vor dem Gebüsch stand und diskutierend die Köpfe zusammensteckte. Zufrieden wischte sich Clarke die Stirn und schüttelte die Taubheit aus seinem verletzten Bein, bevor er zur Leiche humpelte. „Ein grässlicher Anblick zu so früher Stunde, Superintendent.« Dr. Noel Dunne, der Gerichtspathologe, stand in der Mitte des abgegrenzten Korridors, fünf Meter von den Büschen entfernt. Er war ein großer, dickbäuchiger Mann mit einem prächtigen stahlgrauen Schnurr- und Kinnbart, der in das ebenso stahlgraue Haar überging, sodass Gesicht und Mienenspiel zum größten Teil darunter verborgen blieben. Sein Blick glitt unablässig über das Gelände, während er sprach. Trotz des warmen Wetters trug er einen Donegal-Tweedanzug und ein Viyella-Hemd mit einer dazu höchst unpassenden gelben Leinenkrawatte. Er war so etwas wie eine lebende Legende bei der Polizei, mit einem unversiegbaren Quell von Geschichten und amüsanten Anekdoten, die er bei passender Gelegenheit zum Besten gab. Und die passende Gelegenheit war üblicherweise ein Mord. „Sie hat ein Messer bis zum Heft im Rücken“, murmelte er, während er auf ein DIN-A4-Blatt auf seinem Klemmbrett krit555

zelte. „Ihre Männer sagen, dass sie das vermisste Marks-Mädchen ist.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. »Ist deshalb auch Ihr Freund Dillon hier?« Dünne grinste seinem Psychiaterkollegen zu. »Wollen Sie hier den Verstand finden, den der Mörder verloren hat?«, scherzte er. Dillon summte leise vor sich hin und schwieg. Summen war seine Art, mit unerfreulichen Situationen fertig zu werden. Irgendjemand drückte Moss Kavanagh eine gerahmte Fotografie in die Hand, und er warf einen raschen Blick darauf, bevor er sie weitergab. Clarke und Dunne studierten das lächelnde Gesicht auf dem Bild und blickten dann zu der Stelle, wo Joe Harrison gerade fotografierte. »Die Beschreibung, die wir haben, passt genau«, sagte Dunne düster. Er unterbrach sich, um einem der weiß gekleideten Männer von der Spurensicherung Anweisungen zuzurufen. »Und sie hat außerdem die drei silbernen Stifte im linken Ohrläppchen.« Clarke sah ihn an. »Sie liegt auf dem Bauch«, erklärte Dunne, »mit der rechten Gesichtsseite auf dem Boden. Ich konnte ihr linkes Ohrläppchen sehen. Drei silberne Stifte.« Er deutete auf das Foto. »Wie sie hier auf dem Bild zu erkennen sind.« Er hielt kurz inne und wandte sich um. »Und wenn sie es wirklich ist«, fuhr er bedrückt fort, »wird man ein paar Leuten die Hölle heiß machen.« Die Sonne stand jetzt hoch am wolkenlosen Himmel. Das warme Maiwetter machte die Spurensicherung für den Pathologen und sein Team zu einer schweißtreibenden Arbeit. Die Leiche lag noch immer an ihrem Fundort. Sie war untersucht, aber nicht 556

bewegt worden. Grasbüschel und Teile der Bodenschicht waren rundherum ausgestochen, Zweige und Äste abgeschnitten worden. Braune Säcke mit Beweismaterial stapelten sich am Ende des Korridors. In der Holzunterkunft verschwanden die Spritze in einer Pappschachtel und die Dosen, Flaschen und Zigaretten Stummel in verschiedenen Behältern. Alles wurde detailliert beschriftet. Für die vierzehn Männer und drei Frauen war es wenig aufregende Routinearbeit. Wieder eine Leiche, wieder ein Mord, wieder Spuren zu sichern. Aber insgeheim wusste jeder, dass dieser Fall Wellen schlagen würde. Wie zur Bestätigung ihrer Ahnungen erschien ein Helikopter über dem Park, in dem ein Fernsehteam die Kamera schwenkte. Die Rotoren machten jede Unterhaltung unmöglich, aber sie brachten wenigstens einen kühlenden Luftzug über die schwitzenden Polizisten. Kurz nach vierzehn Uhr wurde die Leiche des Mädchens vorsichtig hochgehoben, durch den Sandymount Park getragen und in einen wartenden Leichenwagen gelegt, was von Pressefotografen von außerhalb der Absperrung aus dokumentiert wurde. Vorne und hinten von Einsatzfahrzeugen abgeschirmt, rollte der Leichenwagen durch den Nachmittagsverkehr die kurze Strecke über den Liffey zum städtischen Leichenschauhaus in der Store Street. Einige Anwohner bekreuzigten sich, während sie die Abfahrt beobachteten. »Ich würde sagen, sie wurde hier erstochen.« Noel Dunne, Jim Clarke und Patrick Dillon standen am gelben Absperrband. Dillon schienen diese blutigen Bilder weniger zuzusetzen als den anderen. Ein paar Leute des Spurensicherungsteams kamen näher, um zuzuhören. Alle Augen waren auf den drei mal sechs Meter großen Fleck gerichtet, wo blutbeflecktes Gras und 557

Erdreich entfernt worden war. Der Park wurde nicht regelmäßig gemäht, sodass das niedergetrampelte Gebiet in dem hohen Gras ringsum wie ein Wegweiser war. „Hier, bei diesem ersten Markierungsstock, war eine große Blutlache.« Dunne deutete mit seinem Klemmbrett zur gelben Spitze. »Dann führt die Spur ...« Er bewegte sein Klemmbrett in einem Bogen. »... hierher.« Eine weitere gelbe Spitze markierte den nächsten Punkt, wo das Opfer offenbar abgesetzt worden war. Patrick Dillon kritzelte in einem Notizbuch. Dann warf er ein: „Meines Erachtens ist an dieser Stelle etwas geschehen, etwas Ungewöhnliches.« Alle richteten den Blick auf ihn. »Der Körper scheint hier eine Weile gelegen zu haben. Das Gras ist niedergedrückt, und es sind mehr Blutflecken hier.« Er schrieb wieder in sein Buch und fuhr fort: »Man kann fast die Spur ihrer Füße verfolgen.« Dünne und Clarke folgten dem deutenden Finger. „Dann wurde sie fallen gelassen. Wie ein Kartoffelsack.« Einen Moment lang sagte niemand ein Wort, jeder hing seinen Gedanken nach und versuchte sich das Geschehen vorzustellen. „Es gibt keine Fußspuren“, fügte Dillon mit Nachdruck hinzu. „Jemand hat sich viel Mühe gemacht, sie alle zu beseitigen.« Sämtliche Fußspuren des mutmaßlichen Mörders waren mehrmals gründlich verwischt worden. Dillon hockte sich hin und stützte nachdenklich das Kinn auf die Hand. Seine Aufmerksamkeit galt einer kleinen Stelle, nicht weit von dort, wo der Körper gelegen hatte. »Er muss sie unter den Achseln festgehalten und dann gezogen haben.« »Er?«, warf Clarke ein. »Ja, ich tippe auf einen Mann. Es ist fast immer einer, oder?« 558

Dillon blickte fragend zu Dunne. »Stimmt«, bestätigte der Pathologe müde, »in Dublin ist Mord fast immer Männersache.« Dillon erhob sich langsam und streckte seinen Rücken, dann griff er in einer Seitentasche nach einem Diktafon und drückte an den Tasten herum. »Können Sie uns schon sagen, wann sie gestorben ist?«, fragte Clarke. Dunne kritzelte auf seinem Brett. »Meiner Schätzung nach gestern gegen zweiundzwanzig Uhr. Die rektale Temperatur war 26 Grad. Ihr Körper war kalt und steif. Unter Berücksichtigung der warmen Nacht und der leichten Kleidung würde ich sagen, etwa zweiundzwanzig und nicht später als dreiundzwanzig Uhr.« Dunne begann sein Klemmbrett wegzustecken. »Wir sehen uns dann im Leichenschauhaus.« Clarke blickte ihm nach, wie er schweren Schrittes zwischen den Bändern dahinstapfte - ein Mann, den der tägliche Umgang mit dem gewaltsamen Tod müde gemacht hatte. »Ich komme in einer Stunde nach!«, rief er der gebeugten Gestalt hinterher. Eine Hand winkte bestätigend. Patrick Dillon diktierte seine Beobachtungen in das Aufnahmegerät, dann schaltete er es ab. »Sie kriegen so bald wie möglich einen vorläufigen Bericht.« Moss Kavanaghs Handy läutete mitten in die erste Tatortbesprechung hinein, und er ging ein paar Schritte zur Seite, um nicht zu stören. Das Handy hatte einen ungewöhnlichen Rufton, wie eine schrille Trickfilmmelodie. Clarke nannte sie >Looney-Tunes<. »Ja?« »Sind Sie das, Mossy?« „Ja. Sind Sie das, Barry?« Barry Nolan war Kriminalreporter für 559

die Verlagsblätter der Post. »Ja. Wie steht die Untersuchung? Ist es tatsächlich die MarksTochter?« Kavanagh wandte sich kurz um, um sich zu vergewissern, dass niemand zuhörte. »Ich kann nur bestätigen, dass wir nicht mehr nach ihr suchen.« „Was ist passiert, Mossy? Ich hab gehört, dass sie mit einem Messer im Rücken gefunden worden ist. Kann ich das drucken?« »Ja, das könnten Sie drucken.« „Was noch? Ist sie vergewaltigt worden?“ Kavanagh sah, dass sich die Gruppe auflöste. »Weiß ich noch nicht. Rufen Sie mich heute Abend an, dann hab ich vielleicht mehr.« „Ach, kommen Sie, Mossy. Das ist zu spät für die Abendausgabe.« „Sie kriegen es exklusiv für die Morgenausgabe, versprochen.« „Halleluja, Sie sind ein Engel, Mossy. Weiß nicht, was ich ohne Sie täte.« „Darüber sollten Sie nachdenken«, riet Kavanagh. Er drückte die AUS-Taste.

14.57 Uhr Micko Kelly wusste nicht, dass er Blut an seinen Händen hatte, als ihn das schrille Kreischen des drogenabhängigen Babys in der Nachbarwohnung weckte. Es war kurz vor drei Uhr nachmittags, und er lag noch auf seiner von Ungeziefer verseuchten Matratze. Ohne die Augen ganz zu öffnen, tastete er mit einer Hand nach einem kleinen Plastikfläschchen. Er schüttelte es, hörte erleichtert den Inhalt klappern, öffnete den Deckel und ließ zwei Rohypnol-Tabletten herausrollen. Er sammelte so viel Speichel, 560

wie er konnte, schluckte sie dann auf einmal und tastete nach einer großen Plastikflasche. Mit einer Hand schraubte er den Verschluss ab und nahm einen kräftigen Schluck Methadon. Es brannte in seiner Kehle, und er musste husten. Er richtete sich halb auf, nahm einen weiteren Schluck und spülte den schlechten Geschmack aus seinem Mund. Zum ersten Mal bemerkte er das Blut und spreizte die Finger. Sie waren rot bis über die Tätowierungen auf den Knöcheln. Er sank zurück aufs Kissen und drückte es gegen seine Ohren, um das Kreischen nicht mehr zu hören. »Fuck off!«, schrie er und hämmerte gegen die dünne Wand. »Ich mach den kleinen Bastard kalt, wenn der nicht zu schreien aufhört!« Das Kreischen wurde nur noch lauter. In rasender Wut tastete Kelly unter seiner Matratze nach dem Bowiemesser mit der breiten Klinge und stürmte zur Tür. »Ich schlitz den Bastard auf!« Das Kreischen wurde augenblicklich gedämpft. Kelly stolperte stöhnend zurück auf die Matratze. Noch immer hielt er das Messer in der Faust. Er schielte nach den dunklen Flecken an seinen Händen und versuchte sich zu erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Aber sein Kopf war leer. Er kam mühsam auf die Beine und lehnte sich an die Wand. Er stand seit sechzehn Stunden zum ersten Mal wieder aufrecht. Ihm war schwindlig. Kelly war eins neunzig groß und wog früher, als er Anfang zwanzig war, fast neunzig Kilo. Jetzt, mit dreiunddreißig, waren es nur noch siebzig, und es ging weiter abwärts. Sein Haar war ungewaschen und hing in feuchten, verfilzten Strähnen über den Ohren bis auf die Schultern. Seit Tagen war er unrasiert. Er trug noch immer die Kleidung, die er vor vier Tagen gestohlen hatte: 561

eine marineblaue Jogginghose, weiße Joggingschuhe und ein Spencer-T-Shirt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, die Welt vor seinen Augen war verschwommen, sein Mund ausgetrocknet. Er fühlte sich beschissen, und er hatte eine Scheißwut. Er bemerkte Blutflecken am T-Shirt und rieb heftig mit den Händen darüber, als könnte er sie fortwischen. Mit einer Hand riss er sich das T-Shirt vom Leib und schleuderte es von sich. Dann wankte er zu dem zersprungenen und angeschlagenen Waschbecken in einer Ecke des Zimmers. Er lehnte sich mit den Armen gegen die Wand und starrte in den halb blinden Spiegel über dem Waschbecken. Fuck you. Sein Gesicht sah nicht gut aus, nicht einmal für Micko Kelly, der seit Jahren gewohnt war, in halb blinden Spiegeln auf sein verfallendes Gesicht zu starren, Die Hand-mit-Dolch-Tätowierung über dem linken Auge hatte seit dem jüngsten Gewichtsverlust abzusacken begonnen. Das Kreischen fing wieder an. Er schob eine gestohlene BlackSabbath-CD in den gestohlenen CD-Player und drehte die Lautstärke hoch. Dann urinierte er in den Plastikeimer unter dem Becken und versuchte sich erneut an die vergangene Nacht zu erinnern. Ohne viel Erfolg. Er begann das Blut von seinen Händen zu waschen und stierte auf das blutige T-Shirt in der Ecke. Dann tastete er mit nassen Fingern über Gesicht und Kinn, um sich zu vergewissern, dass nichts gebrochen war. Schließlich zündete er eine präparierte Silberfolie an, die Heroin enthielt, und inhalierte tief. Vom Korridor vernahm er laute und verärgerte Stimmen und zuknallende Türen und Schreie und Flüche, und dann begann das Baby wieder zu kreischen. „Ich bring dieses verdammte Balg um, das schwör ich«, fluchte 562

er und drehte Black Sabbath noch lauter. Er sackte auf seinen Hintern, öffnete einen Mars-Riegel und begann zu kauen. Der Nebel in seinem Verstand wurde dichter, er begann die Wirkung zu spüren und nahm einen letzten Zug an der Folie. Lächelnd kaute er weiter und hatte einen Hustenanfall. Er griff nach einer geklauten Pepsi-Dose, zog am Ring und nahm einen Schluck. Wo krieg ich heute Crack her? Es ist gar nichts mehr da. Scheiße, ich muss raus. Wieder fiel sein Blick auf das blutige T-Shirt. Im Korridor draußen trug die siebzehnjährige drogenabhängige Mutter ihr sechs Monate altes Baby durchs Treppenhaus ins Erdgeschoss. Das Baby war auf Grund der Sucht seiner Mutter heroinsüchtig geboren. Sie wohnten in einem Innenstadt-Wohnblock, den Hillcourt Mansions, der als Dublins schlimmster und drogenverseuchtester Problemort galt. Es war ein dreigeschossiges Flachdachgebäude aus den fünfziger Jahren mit zwanzig Wohnungen in jedem Stockwerk, um einen betonierten Hof herum angeordnet, mit einem Treppenhaus auf jeder Seite. Bevor Heroin und die anderen Suchtmittel dort Einzug hielten, war die Anlage nur ein Hort für Kleinkriminelle, Handtaschendiebe, Straßenräuber und Schläger gewesen. Als die Stadt in den Sog der harten Drogen geriet, wurden die Mansions ein gefährlicher und bedrohlicher Gebäudekomplex. Ärzte weigerten sich, ihn zu betreten, und die Polizei tat es nur in ausreichender Stärke, und dann auch nur ganz kurz. Hillcourt Mansions war die Hölle auf Erden, ein städtischer Albtraum aus Graffitiwänden, gebrauchten Spritzen und Crack-Häusern. Kelly bewohnte ein Einzelzimmer an einem schmalen Korridor und verbrachte die meiste Zeit im Drogenrausch auf einer dreckigen Matratze auf dem Boden. Er besaß nichts als den gestoh563

lenen CD-Player und die Discs. In einer Ecke stand ein Abfalleimer, zu einem Viertel voll mit benutzten Spritzen und leeren Heroinbeuteln. Eine Anzahl von Messern und Schnappmessern mit breiten und schmalen Klingen hatte er gewöhnlich unter der Matratze versteckt. Meist war Blut an ihnen. Das Zimmer war ein ungezieferverseuchtes, nach Urin stinkendes Dreckloch. Micko Kelly war das völlig egal.

10.30 Uhr „Ich bedaure die Störung, Mr. Nolan, aber ich muss den Mädchen etwas Wichtiges mitteilen.« Schwester Concepta Downes stand vor den Schülerinnen der Klasse 6 der Holy Rosary Klosterschule in Blackrock. Die Schule lag sechs Kilometer vom Sandymount Park entfernt. Ein wenig hinter ihr stand, abwartend und die Mädchen beobachtend, Detective Sergeant Tony Molloy. Schwester Concepta trug die übliche Schwesternkleidung: Der blaue Schleier war so auf auf ihrem grauen Haar befestigt, dass über der Stirn ein paar Strähnen herausspitzten. Ein langer grauer Rock und eine weiße Bluse mit grauer Strickjacke darüber vervollständigten die Tracht. Um ihren Hals hing ein Kruzifix aus Holz, mit dem ihre Finger nervös spielten. Sie war keine eins sechzig und wirkte in Gegenwart des großen Polizisten noch kleiner und sehr zierlich. „Hier ist ein Polizeibeamter, ein Sergeant Molloy. Auch er möchte das Wort an Sie richten.“ Sie hatte sich an den Französischlehrer Gerry Nolan gewandt, aber laut genug gesprochen, dass die Klasse sie hören konnte. Nolan war ein gut aussehender Mann Anfang dreißig. Er trug eine bequeme Hose, ein Leinenjackett und ein dunkelblaues Hemd mit offenem Kragen. Er trat 564

von der Tafel zurück und lehnte sich an einen der Heizkörper. „Es tut mir Leid, ich habe eine traurige Nachricht für Sie“, begann die Nonne und wählte sorgfältig ihre Worte. Molloy beobachtete

die

Gesichter

der

Schülerinnen.

Er

zählte

zweiundzwanzig Mädchen im Alter zwischen siebzehn und achtzehn Jahren, alle gepflegt und aus gutem Haus. Er sah auch ein paar schwarzhäutige und asiatische Gesichter, Töchter von Botschaftern, nahm er an. Die Mädchen trugen Schuluniform, grauer Rock, weiße Bluse, blaues Halstuch. Unter den Bänken sah er ihre marineblauen Strumpfhosen und feste schwarze Schuhe. Nirgendwo auch nur ein einziges Paar dieser neumodischen Joggingschuhe. Reich und privilegiert sahen sie aus, die Mädchen, die im BMW, Volvo und Mercedes zur Schule gebracht wurden, nicht in alten Klapperkisten wie dem 1990 zugelassenen Toyota Corolla, mit dem Molloys Frau ihre drei Kinder umherkarrte. »Jennifer Marks hat uns für immer verlassen.« Die Worte schwebten im Klassenzimmer, und verwirrte Blicke flogen hin und her. »Sie ist tot.« Die Klasse hielt hörbar den Atem an. Schock und Ungläubigkeit sprachen aus den Mienen der Mädchen. Gerry Nolan murmelte: »Großer Gott.« »Mehr will ich nicht sagen. Ich weiß, das ist ein furchtbarer Schock für uns alle«, fuhr die Nonne rasch fort, »aber Sergeant Molloy möchte wissen, ob jemand von Ihnen gestern nach der Schule noch mit Jennifer, Gott hab sie selig«, sie bekreuzigte sich, »zusammen war.« Fast gleichzeitig drehten sich alle Köpfe einem dunkelhaarigen 565

Mädchen in der vorvorletzten Bank am Fenster zu. »Außerdem«, fügte Schwester Concepta hinzu, »bitte ich Joan Armstrong«, dabei blickte sie direkt auf das Mädchen, dem alle Aufmerksamkeit galt, »gleich mit mir zu kommen. Ich weiß, dass Sie Jennifers engste Freundin waren.« Sie bemühte sich um ein beruhigendes Lächeln. Joan Armstrong kämpfte tapfer gegen Furcht und Tränen an. »Ja, Schwester.« Molloy sah, dass ihre Hände leicht zitterten, als sie aufstand. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Möchten Sie noch etwas hinzufügen, Sergeant?« »Danke, Schwester.« Molloys Stimme war tief und kräftig und bildete einen starken Kontrast zu den leisen Worten der Nonne. Er zog seine Hose am Gürtel hoch und ließ seinen Blick durch das Klassenzimmer wandern. Er runzelte die Stirn. »Es tut mir Leid, dass ich Sie mit einer so schlimmen Angelegenheit konfrontieren muss, aber die Umstände erfordern es.« Er hielt inne und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Er entschied sich für die ganze grimmige Wahrheit. »Irgendwann gestern am späten Abend hat jemand Jennifer Marks ermordet.« Ein Mädchen in der ersten Reihe wurde weiß wie die Wand und drohte zusammenzusacken. Gerry Nolan sprang zu ihr und fing sie auf, ehe sie mit dem Kopf auf den Boden aufschlagen konnte. Schwester Concepta lockerte ihr Halstuch. Die anderen Mädchen wirkten wie betäubt. Die Nonne drängte Molloy fortzufahren. Joan Armstrong ließ sich heftig atmend auf ihren Stuhl zurücksinken. „Wenn jemand von Ihnen etwas darüber weiß«, fuhr Molloy rasch fort, »wo sich Jennifer Marks gestern aufgehalten hat, dann 566

erzählen Sie es bitte Ihrem Lehrer.« Er blickte zu Nolan, der heftig nickte. »Er wird jede Einzelheit notieren. Und wir werden jeder Spur nachgehen.« Das Mädchen, das in Ohnmacht gefallen war, kam langsam zu sich und fragte verwirrt, was geschehen war, begleitet von ein paar nervösen Lachern im Klassenzimmer. Molloy hielt das für einen guten Zeitpunkt zu gehen. Er öffnete die Tür und hielt sie für Schwester Concepta auf, die ein sehr junges und verängstigtes Mädchen stützte. »Wir gehen am besten in mein Büro«, schlug die Schwester vor. Molloy war kurz nach fünfzehn Uhr vom Sandymount Park zur Klosterschule aufgebrochen, während Jim Clarke sofort mit der Befragung der Anwohner und Angehörigen begonnen hatte, in der Hoffnung, alle zu erwischen, solange die Erinnerungen noch frisch waren. Molloy schaltete auf dem Weg nach Blackrock das Radio ein. Die Story war bereits in den Nachrichten. Ein Sender hatte seine Telefon-Talkshow unterbrochen und bot seinen Zuhörern Gelegenheit, ihrer Wut und ihrem Abscheu Luft zu machen. Das wird die Öffentlichkeit mobilisieren, dachte er, während er auf das mustergültig gepflegte Schulgelände fuhr. Das wird viel Ärger geben. Er spürte seinen Magen und begann ein Antazidum zu kauen. »Wann genau haben Sie sich von Jennifer getrennt?« Die drei, Molloy, Joan Armstrong und Schwester Concepta, saßen im Büro der Schulleitung, einem großen, hellen, luftigen Raum, der voll war mit Stundenplänen und religiösen Büchern. Die Nonne saß hinter ihrem Schreibtisch, während Molloy neben der Schülerin Platz genommen hatte. Joan Armstrong beunruhigte ihn vom ersten Augenblick an. Sie war groß, etwa eins 567

fünfundsiebzig, schätzte er, und sie sah reifer aus als siebzehn oder achtzehn. Die Schuluniform konnte die sanften Rundungen nicht verbergen. Ihr rabenschwarzes Haar war glatt zurückgekämmt und hinten von einer Spange gehalten. Er konnte sich vorstellen, wie sie mit offenem Haar und in hautenger Kleidung in irgendeiner Samstagabend-Disco aussehen würde. Die leichten Spuren von Akne in ihrem Gesicht hatte sie mit Make-up überdeckt. Sie war eher hübsch als schön, mit vollen Lippen, die mit rotem Stift betont wurden und die zweifellos das unschuldige Alter vergessen lassen sollten. Bevor er ins Klassenzimmer gegangen war, hatte Schwester Concepta ihn bereits über einige Dinge aufgeklärt. Was sie zu sagen hatte, war nicht für Joan Armstrongs Ohren bestimmt. »Die beiden steckten viel zusammen, sie waren die dicksten Freundinnen.« Er spürte sofort, dass die Nonne nicht besonders erfreut über diese Freundschaft gewesen war. »Sie sind ...« Sie hatte sich sofort korrigiert. »Das heißt, sie waren einander sehr ähnlich. Scheinbar erwachsen, altklug, und sie gaben sich für meinen Geschmack ein wenig zu auffällig. Sie sahen einander sogar sehr ähnlich, fast wie Schwestern. Die gleiche Frisur, die gleichen Kleider, die gleiche schmutzige Ausdrucksweise. Ich muss gestehen, ich war nicht sehr glücklich über die meisten ihrer Angewohnheiten.« »Welche zum Beispiel?« »Nun, ich weiß, dass sie rauchten, was in der Schule streng verboten ist«, erklärte sie in missbilligendem Ton, »und sie trieben sich jedes Wochenende in Pubs herum.« Molloy unterbrach sie: »Du lieber Gott, Schwester. Wir leben in 568

den neunziger Jahren. Die meisten jungen Leute treiben sich am Wochenende in irgendwelchen Pubs herum.« Schwester Concepta reagierte sofort: »Das weiß ich, Sergeant, „Ich bin nicht weltfremd. Aber die Art von Pubs, die sie besuchten, beunruhigte mich. Und«, fügte sie nachdenklich hinzu, wobei sie an ihrer Unterlippe kaute, »es hat auch ihre Eltern beunruhigt.« Molloy forderte sie auf fortzufahren. „Joans Vater ist Bankier. Er ist um die sechzig, ein großer, grauhaariger Mann, trägt immer einen Nadelstreifenanzug. Der perfekte Bankmanager, konservativ und ordentlich. Joan ist sein drittes Kind, und sie war wohl ein Versehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Molloy musste lächeln. "Die anderen beiden Kinder«, fuhr die Nonne fort, »sind Söhne, Ende zwanzig, Anfang dreißig. Beide im Bankgeschäft wie ihr Vater.« Die Söhne schienen offenbar vollkommen nach Schwester Conceptas Vorstellung geraten zu sein. »Joan ist ein ganz anderes Kapitel. Sie hat ihren Eltern seit dem Tag ihrer Geburt Kummer bereitet. Sie ist aufsässig, schwierig, ungehorsam und lügt, wenn sie nur den Mund aufmacht. Mit ihrem Vater streitet sie die meiste Zeit.« »Wie heißt er?« „Harold, Harold Armstrong.“ Die Nonne wartete, bis er es in sein Notizbuch eingetragen hatte. »Ich weiß, dass sie beide aufatmeten, als Joan sich mit Jennifer zusammentat. Ich meine, jeder hielt die Marks' für eine so feine Familie, mit Freunden in der Regierung und so weiter.« Der sarkastische Unterton verriet Molloy, dass Schwester Concepta von der Familie Marks nicht so viel hielt. »Ich kann Ihnen sagen, Sergeant«, fügte sie vertrau569

lich hinzu, »die Freude verflog rasch, als sie herausfanden, dass die Mädchen voneinander ein paar Dinge lernten. Sie wurden immer schlimmer.« »Auf welche Weise?« „Joans Vater«, berichtete die Nonne, »fand heraus, dass sie Alkohol trank, als sie eines Abends von der Party einer Freundin in angetrunkenem Zustand nach Hause kam. Ich glaube, sie bekam einen Monat Hausarrest, doch sie riss schon am ersten Wochenende aus.« Molloy unterdrückte ein Grinsen. »Aber nachdem ich von einer bestimmten Sache erfuhr, beschloss ich zu handeln. Ich rief Harold Armstrong an.« Molloy blickte von seinem Notizbuch auf. »Weshalb?« »Ich war nicht ganz sicher, doch ich hielt es für besser, wenn ich ihm von meinen Befürchtungen berichtete.« »Welche Befürchtungen?«, drängte Molloy. »Joan nahm Drogen. Sie selbst glaubte vielleicht, dass sie nur ein wenig damit experimentierte, dass es nur ein harmloser Spaß war. Aber zwei unserer ehemaligen Schülerinnen waren heroinabhängig, und die fingen auch so an.« Molloy hob eine Hand. »Wie hat er es aufgenommen?« Schwester Concepta runzelte die Stirn. »Alles, was er wissen wollte, war, woher sie das Geld dafür hatte.« »Wissen Sie es?« »Nein. Ich stellte sie zur Rede, und sie log wie üblich.« »Sind Sie sicher?« Die Nonne nickte. »Sie schob alles auf Jennifer Marks. Sie behauptete, dass Jennifer von ihren Eltern sehr viel Taschengeld 570

bekäme.« Schwester Concepta bekreuzigte sich, als sie Jennifers Namen sagte. »Aber Sie haben ihr nicht geglaubt?« »Das tue ich nie, Sergeant. Nie.«

»Um siebzehn Uhr oder ein paar Minuten später. Wir nahmen die Bahn von Blackrock und stiegen an der Sydney Parade Avenue aus.« »War Jennifer gut drauf, oder kam sie Ihnen irgendwie niedergeschlagen oder nachdenklich vor?« »Nein. Sie war ganz normal. Ich meine, sie war wie immer.« Joan Armstrongs Stimme kippte eine Oktave nach oben, und sie warf einen Blick auf ihre Direktorin. Schwester Concepta hatte den Kopf gesenkt wie im Gebet. »Ist Ihnen jemand gefolgt, oder hat jemand mit Ihnen gesprochen, den Sie nicht kannten?« Joan Armstrong tat nachdenklich. »Nein, nein. Ich meine, ich habe natürlich nicht darauf geachtet, okay? Es war schließlich ein normaler Schultag, okay? Ich meine, wir haben uns niemanden genauer angesehen, warum auch? Kann mich nicht erinnern, ob es jemand irgendwie auf uns abgesehen hatte, okay?« Es klang ein wenig gepresst. Schwester Concepta griff über den Tisch nach einer Hand des Mädchens. Sie drückte sie beruhigend. »Ich habe Ihre Mutter angerufen, Joan, und sie weiß, dass wir Sie bitten würden, Sergeant Molloy Rede und Antwort zu stehen. Sie bat mich nachdrücklich, Ihnen nahe zu legen, wirklich alles zu sagen, was Sie wissen.« „Aber das tue ich doch, Schwester, natürlich.« Die protestierende Stimme klang alles andere als überzeugend. 571

„Schon

gut,

Joan«,

beschwichtigte

die

Nonne,

»braves

Mädchen.« Sie zog ihre Hand zurück. „Dann haben Sie also Jennifer gestern gegen siebzehn Uhr zum letzten Mal gesehen, als Sie an der Sydney Parade Avenue aus der Bahn gestiegen sind?« Molloy entschied sich, sie nicht schärfer anzufassen. Er verhörte das Mädchen ohne die Anwesenheit ihrer Eltern und wollte nicht, dass es Probleme gab, wenn er sie später noch einmal befragen musste. „Ja. Sie war auf und davon in Richtung Ailesbury Road wie immer, und ich ging durch die Park Avenue, auch wie immer. Halt wie an jedem Schultag.« Die nervöse Bewegung ihres Kopfes und das leichte Zittern ihrer Hände straften sie Lügen. „Aber sie konnte nicht zur Ailesbury Road gegangen sein, das ist doch klar, nicht wahr?«, stellte Molloy fest. »Sie wurde im Sandymount Park gefunden. Das ist eineinhalb Kilometer in der Gegenrichtung.« Joan Armstrong zuckte nervös mit den Schultern. »Ja, okay, ich meine, ich habe keine Ahnung, wie sie dahin gekommen ist.« „Wirklich keine Ahnung, nicht die geringste?« „Nein, keine.“ „Sie lügt, Sergeant. Ich weiß es. Ich bin seit über dreißig Jahren Lehrerin, und ich kann erkennen, wenn jemand lügt, glauben Sie mir. Ich kenne Joan Armstrongs Lügengesicht.« Die zwanzig Minuten lange Befragung hatte die Aussagen des Mädchens nicht erschüttern können. Molloy ließ sie ins Klassenzimmer zurückkehren. Schwester Conceptas Miene wirkte wie versteinert. »Könnte es sein, dass sie Angst hatte, in Ihrer Gegenwart zu viel zu sagen, Schwester?«, meinte Molloy. 572

Die Nonne sah ihn irritiert an. »Wenn es nur das wäre, Sergeant. Aber das glaube ich nicht.«

Noch innerhalb der ersten Stunde fand man die Spur. Einer der Kriminalbeamten entdeckte das verschmierte Blut an einer der Zackenspitzen des Gitters. Es war fast am Ende des Parks, wo eine rote Ziegelmauer eine Ecke bildete. Fußspuren ließen darauf schließen, dass jemand Halt gesucht hatte, das Blut deutete auf eine blutige Hand hin, die sich festgehalten hatte. »Ja, es muss ein großer Kerl gewesen sein, gut über eins achtzig.« Star Sign Cabs hatte das Büro im ersten Stock in einer der Nebenstraßen. Dort stand immer jemand an einem der Fenster und beobachtete die Straße. Zigarettenkippen lagen in kleinen Haufen auf dem Gehsteig unter den Fenstern. »Ich sah ihn auf dem Bürgersteig stadteinwärts ziehen.« Einer der Taxifahrer, ein kleiner, fetter Mann mit Glatze und Brille fühlte sich wichtig, als er von dem Mann erzählte, der gegen halb elf letzte Nacht am Büro vorbeigekommen war. »Heruntergekommener, räudiger Hund. Hatte ein weißliches T-Shirt an, auf dem vorne was war, das war deutlich zu sehen.« »Was?« »Irgendein großer Fleck.« »Wissen Sie, welche Farbe er hatte oder woher der Mann kam oder wohin er ging?« »Nein.« Entschieden. »Nein, hab ihm nachgesehn bis zu dem indischen Restaurant dort hinten.« Er deutete in die Richtung. »Dann ist er hinter einem großen Laster verschwunden, der am Straßenrand geparkt hat.« Gegen dreiundzwanzig Uhr kam ein Fahrer zurück, der ihn 573

ebenfalls gesehen hatte. »Lief herum wie ein Huhn ohne Kopf. Himmel, er lief im Kreis, und dann schoss er die Straße hinunter. Großer, hässlicher Typ, gemeine Visage. Völlig abgefahren, wenn Sie mich fragen.« Er war auch von einem Rausschmeißer in einem Schuppen in der Pearse Street gesehen worden, und ein Pizzajunge auf einem Motorrad konnte sich deutlich an ihn erinnern. Er rannte mir fast vor die Räder. Muss in einer anderen Welt gewesen sein, wie in Trance. Er hatte Blut am Hemd.« Blut? Sind Sie sicher?« „Verdammt sicher. Entweder Blut, oder er hat seinen großen Mund mit einer Ladung Ketchup nicht getroffen.« Der Pizzalieferant war so angewidert von der Erinnerung an den Beinaheunfall, dass er seinen Frust auf die Straße spuckte. Er war ein kleiner, drahtiger, nach Speiseöl riechender Bursche mit einem schmalen Gesicht und abstehenden Ohren. »Und er hatte eine Tätowierung am Kopf.« „Am Kopf? Sie sagten, er hatte lange Haare, wo wollen Sie da eine Tätowierung gesehen haben?« „Auf der Stirn, Blödmann.« Ein nikotinbrauner Finger deutete auf eine Stelle über der linken Augenbraue. »Hier.« „Wie hat die Tätowierung ausgesehen? Haben Sie sie genau gesehen?« „Sind Sie noch ganz dicht? Genau gesehen!« Seine Stimme wurde schrill. »Ein blutbeschmierter Wahnsinniger rennt mir vor die Räder, und Sie glauben, ich seh mir seine Tätowierung an? Ich muss jetzt wirklich los.« Aber die bruchstückhaften Informationen halfen weiter. Zusammen mit all den anderen Aussagen und Beschreibungen 574

setzten sie sich zu einem Bild zusammen.

17.00 Uhr Dr. Frank Clancy saß gedankenverloren an seinem Schreibtisch im Keller des Mercy Hospitals. Hier war das Nervenzentrum der Laborarbeit

und

Krankenbehandlung.

Jeden Tag

wurden

menschliche Gewebeproben zur mikroskopischen Untersuchung hierher gebracht. Blutproben, Urinproben, Speichelproben, Stuhlproben sowie Abstriche von außerhalb und innerhalb des Körpers wurden analysiert und dokumentiert. In Clancys rechter Hand befand sich der Blutbildbericht des Patienten Harold Morell aus Station Drei, vier Stockwerke über ihm. Als Hämatologe des Mercy Hospitals war Clancy die oberste Instanz in der Bewertung der vielen Blutuntersuchungen, die von den Stationen jeden Tag in Auftrag gegeben wurden. Er war ein junger Mann, gerade achtunddreißig geworden, mit dichtem schwarzem, gelocktem Haar. Bei seiner Körpergröße von eins neunzig war sein jungenhaftes Gesicht leicht auf den Stationen auszumachen. Er hatte in Dublin, London und Chicago gearbeitet, bevor er vor drei Jahren die begehrte Krankenhausfacharztstelle erhielt. Er runzelte die Stirn, als er das Ergebnis zum sechsten Mal in sechs Minuten überflog, dann wandte er sich dem PC vor sich zu, schob die Tastatur zurecht und tippte zuerst MORELL, dann HAROLD, danach Geburtsdatum und Adresse ein. FILE NUMBER 276DE149 erschien auf dem Bildschirm. Clancy

klickte

das

HÄMATOLOGIE.

OPTIONS-Menü Sekundenschnell

an

und

wählte

wurden

alle

Bluttestergebnisse Harold Morells chronologisch aufgelistet. Clancy

ging

an

den

Anfang 575

der

Liste

zum

ersten

Untersuchungsergebnis.

Es

war

eine

Basisanalyse,

die

Aufschluss über den Blutspiegel und die Anzahl der vielen Untergruppen von Zellen gab, die zur Abwehr von Infektionen, Allergien und so weiter notwendig waren. Es sah normal aus, war mit 23. 4. 1990 datiert, als Morell zum ersten Mal in stationärer Behandlung in einem der jetzt dem Mercy Hospital angeschlossenen Krankenhäuser gewesen war. Clancy überprüfte. auf welcher Station er gewesen war. KARDIOLOGIE erschien auf dem Schirm. Dann arbeitete er sich langsam durch die vielen Bluttests, die an Morell im Laufe der Jahre durchgeführt worden waren. Das dauerte fast dreißig Minuten. Die Ergebnisse waren weit gehend normal, mit Ausnahme eines erhöhten Wertes der weißen Blutkörperchen im Zuge einer Infektion während einer stationären Behandlung. Clancy seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Schließlich griff er erneut nach dem Testergebnis, das neben dem PC auf den Schreibtisch lag. Er holte seine Lesebrille aus der Brusttasche seines weißen Kittels und setzte sie auf. Harold Morells Blutbild hatte sich plötzlich und dramatisch verändert. Lebensgefährlich, und zwar erst vor kurzem. Clancy stand auf, streckte sich und gähnte. Er ging langsam zu einem Labortisch, auf dem eine Reihe von Mikroskopen stand. Vor einem ließ er sich nieder, schaltete die Lichtquelle ein, und ein dünner heller Lichtstrahl fiel auf einen mit Blut bestrichenen Objektträger unter der Linse. Clancy nahm seine Brille ab und starrte blinzelnd in das Okular. Mit einer Hand schob er den Objektträger zurecht, mit der anderen stellte er scharf. Jedes Mal wenn er die Objektträger verschob, hatte er einen anderen Teil der Blutzellen im Bild. Aber egal wohin er ihn bewegte, das Bild 576

blieb immer gleich. Harold Morell litt an einem gravierenden Mangel an weißen Blutkörperchen, die zur Abwehr auch nur der kleinsten Infektion unverzichtbar waren. Es gab so gut wie keine polymorphkernigen Leukozyten. Er entfernte den Objektträger und ersetzte ihn durch einen anderen, einen mit einer Knochenmarkprobe. Oben auf Station Drei hatte Clancy hinter zugezogenen Vorhängen

hinter

Harold

Morell

gesessen,

während

der

schwerkranke Patient auf der Seite in seinem Bett lag. „Sie werden jetzt einen bohrenden Schmerz im unteren Teil des Rückens spüren, Mr. Morell«, hatte er seinen Patienten gewarnt. „Machen Sie nur, Doktor. Tun Sie, was Sie tun müssen.“ Morell hatte schwach und resigniert geklungen. Verebbt war die Kraft in der Stimme, mit der er seinen Männern auf den Baustellen Anweisungen erteilt hatte. Er war Polier gewesen, ein großer, stämmiger Mann mit Händen wie Schaufeln. Clancy hatte sich die Finger steril geschrubbt, Latexhandschuhe übergezogen, die Gesichtsmaske angelegt und Morells unteren Rücken sorgfältig mit einem Antiseptikum abgewischt. Er hatte mit geschulten Fingern den Rücken und den oberen Teil des Beckens nach knöchernen Erhebungen abgetastet. Als der Einstichpunkt gefunden war, hatte er sofort die lokale Betäubung appliziert. Die lange Nadel hatte das Anästhetikum entlang der Haut und dem darunter liegenden Gewebe bis zum Knochen verteilt. Dann hatte Clancy den Bohrtrokar eingeführt, bis die Spitze Harold Morells Beckenknochen erreichte. »Jetzt ist es so weit, Mr. Morell, wappnen Sie sich.« Es war nicht zu übersehen, wie der ältere Mann sich anspannte. Langsam und vorsichtig wurde der Trokar gedreht, bis er sich durch den 577

Knochen bohrte. »Jesus Maria«, keuchte Morell mit zusammengepressten Zähnen. Als er den Schmerz gespürt hatte, war es auch schon vorbei gewesen. Der Trokar war durch den Knochen ins Mark gedrungen. Eine sirupartige Flüssigkeit war für die Analyse entnommen worden. Es war das Mark, das Clancy nun untersuchte. Es gab praktisch keine Anzeichen für weiße Blutkörperchen im Frühstadium. Es war schon schlimm genug, wenn sich nur sehr wenige weiße Blutkörperchen im Kreislauf befanden, aber dass es keine Anzeichen einer Regeneration der Zellen im Mark gab, wo das Blut produziert wurde, war noch viel bedrohlicher. »Ohne Zweifel Agranulozytose«, murmelte Clancy zu sich. Agranulozytose war der medizinische Fachausdruck für das fast vollständige Fehlen von weißen Blutkörperchen im Blutkreislauf und im Knochenmark. Einige Ärzte bevorzugten die alternative Bezeichnung Neutropenie für denselben Zustand. Clancy benutzte Agranulozytose, weil das eindrucksvoller klang. Er nahm das Diktafon und sprach seine Entdeckungen auf Band. Während er redete, blätterte er Morells stationäre Krankenakte durch. Morell war ein einundsechzigjähriger Mann, der seit sieben Jahren an Angina litt, einer Verengung des inneren Durchmessers der Arterien am Herzen, durch die es immer wieder zu einem vorübergehenden Mangel an Durchblutung kam. Wenn das eintrat, verspürte er Schmerz und eine Beklemmung in der Brust. Er wurde ins Mercy Hospital überwiesen, zuerst tür Tests, dann

für

weitere

Untersuchungen,

und

schließlich

zur

Koronarangiographie. Dabei wurde ein spezielles Kontrastmittel in Morells Herzarterien injiziert, um ihren Zustand und mögliche Verengungen sichtbar zu machen. Clancy überprüfte die 578

Eintragungen in der Akte und sah, dass die Kardiologin Linda Speer die Untersuchungen durchgeführt hatte. Er studierte ihre Ergebnisse: »Belastungs-EKG

zeigte

Druckabfall

in

den

abgehenden Seitenästen. Obwohl nicht diagnostiziert, weisen diese Veränderungen auf eine Ischämie hin.« Dann folgte das Ergebnis der Angiographie: »Sofort nach der Injektion in die rechte Koronararterie empfand der Patient akute kardiale Schmerzen, gepaart mit Druckanstieg. Nach der üblichen Behandlung mit Atropin, Nitroglycerin und sublingualem Nifedipin ließen die Schmerzen nach etwa sechs Minuten nach. Feststellung

einer

kritischen

Kranzgefäßerkrankung,

hauptsächlich im Mittelbereich der linken Kranzschlagader sowie im Mittelbereich der rechten Kranzschlagader, und einer 50prozentigen Stenose im proximalen Bereich der Circumflexa. Ventrikulographie bestätigte linksseitig normale ventrikuläre Funktion.« Schließlich ihre abschließende Empfehlung: »Ich habe den Fall mit Dr. Marks besprochen und Kranzgefäßbypässe empfohlen.« Morell war nach Hause entlassen worden, um auf einen passenden Termin im Herzoperationsprogramm zu warten, kam jedoch unerwartet innerhalb einer Woche mit einer instabilen Angina wieder in die Notaufnahme. Clancy blätterte zum Operationsbericht in Morells Krankenakte. Präoperative Diagnose: Instabile Angina pectoris, vorausgegangener Myokardinfarkt innerhalb 12 Stunden, StreptokinaseTherapie.

Ausgelöst durch 3-Gefäßerkrankung

(operatives

Vorgehen: dringender 3-facher Bypass (Chirurg: Dan Marks Anästhesist: W. Carter Assistenten: N. Dowling und L. Speer 579

Perfusionist: L. Moloney Komplikationen: Re-Sternotomie wegen starker Blutung Anmerkungen: Harold Morell wurde nach einem kleinen Infarkt eingeliefert, der mit Streptokinase zufrieden stellend therapiert wurde. Operation am nächsten Tag, etwa sechzehn Stunden nach der Einlieferung. Es wurden drei Transplantate gesetzt. Distale Gefäße in ausgezeichnetem Zustand. In der unmittelbaren postoperativen Phase blutete Mr. Morell stark, und der Operationsbereich wurde noch einmal eingesehen. Dabei wurde nichts Auffälliges entdeckt und die Blutung gestillt. Ursache vermutlich die Thrombolyse-Therapie. Postoperative Genesung ohne Zwischenfall. Medikation nach der Entlassung: Adizem 120 mg täglich; D/N Aspirin 300 mg täglich. Ein Gedanke kam Clancy, während er las. Linda Speer hatte bei der Operation assistiert. Das war ungewöhnlich. Herzchirurgen zogen Chirurgenkollegen bei den Operationen vor, Männer und Frauen mit den gleichen beruflichen Fähigkeiten. Linda Speer war sicherlich eine Weltklasse-Kardiologin, eine Expertin in der Begutachtung und Interpretation von Kardiogrammen, HerzScans, Angiogrammen und dergleichen. Eine Chirurgin war sie ganz sicher nicht. Er grübelte eine Weile über diesen Umstand, dann tat er seine Vorbehalte als altmodisch ab. Der Bericht offenbarte mehr als alles andere, dass sie eine hervorragende und komplikationslose Herzoperation durchgeführt hatten. Harold Morells

prä-,

intra-

und

postoperative

Behandlung

war

ausgezeichnet und auf höchstem internationalen Niveau. Seine Genesung hatte so gute Fortschritte gemacht, dass man ihn schon nach sechs Tagen nach Hause entließ und einen Kontroll580

Angiographie-Termin für drei Monate später festlegte. Unglücklicherweise musste er vor vier Tagen wieder in die Notaufnahme als sich eine einfache Halsentzündung zum lebensbedrohlichen Leiden entwickelte. In der Aufnahmestation war er fiebrig gewesen, hatte heftig geschwitzt und gezittert. Ohne die rechtzeitige intravenöse Behandlung mit Antibiotika wäre er der Krankheit erlegen. Als er sich erholte, begannen die behandelnden Ärzte sich eingehender mit den Symptomen zu beschäftigen und entdeckten seine seltene und ungewöhnliche Blutkrankheit. Das war der Zeitpunkt, da Frank Clancy hinzugezogen wurde. Clancy blätterte zur Medikationsliste und schürzte die Lippen, während er las. Morell hatte nur die üblichen antianginalen Tabletten bekommen: Adizem 120 mg, einmal am Tag, und D/N Aspirin. Clancy wusste, dass D/N Aspirin routinemäßig postoperativ bei Herzpatienten eingesetzt wurde. Es verdünnte ihr Blut, sodass es leichter durch verengte Arterien fließen konnte. D/N war die Abkürzung, die die Herstellerfirma für day/night verwendete, denn es handelte sich um ein Depot-Aspirin, das im Blutstrom vierundzwanzig Stunden lang gleichmäßig wirkte. D/N Aspirin, ein Produkt aus den Vereinigten Staaten, stand nicht auf der Medikamentenliste des Mercy Hospitals, aber es war ein anerkanntes und brauchbares pharmazeutisches Mittel. Clancy checkte die Tagesberichte nach möglichen anderen Medikamenten, die vielleicht nicht auf die Medikationsliste gelangt waren. Aber er fand nichts. Eine ungewöhnliche Reaktion auf ein verabreichtes Medikament wäre die wahrscheinlichste Erklärung für Harold Morells urplötzliches und lebensbedrohliches Blutbild gewesen.

Aber,

grübelte

Clancy

kopfschüttelnd,

die

Medikamente, die er erhielt, konnten keine Agranulozytose 581

auslösen. Er setzte sich wieder, nahm seine Brille ab und massierte den Nasenrücken. Er ließ den Blick durch das Labor m schweifen, als wäre hinter den Teströhrchen irgendeine Erklärung für Morells plötzliche Blutveränderung zu finden. „Agranulozytose«, murmelte er, »das ist der dritte Fall in drei Monaten.« Er gab dem Drehstuhl einen Schubs. »Wie ist das möglich?« Clancy sah auf seine Uhr und stöhnte auf. Er war seit über einer Stunde überfällig. Er wusste, er würde wieder zu spät nach Hause kommen, seine Frau würde verärgert auf die Uhr blicken, und das Abendessen würde wie so oft verschmort sein. Frank Clancy war mit einer hübschen Brünetten verheiratet. Sie hieß Anne und war sechs Jahre jünger als er. Er hatte sie auf der Universität kennen gelernt, wo sie moderne Sprachen studierte und er Pathologie büffelte. Innerhalb eines Jahres waren sie verheiratet. Anne war in den postakademischen Ausbildungsjahren in London und Chicago an seiner Seite gewesen. Sie hatte ihr erstes Kind, Martin (er war jetzt acht) in England bekommen, und das zweite, Laura (vier Jahre), in Seattle. Sie hatten dort einen Medizinerkongress besucht, aber Anne kam früher als erwartet in die Wehen. Laura wurde in der Pause zwischen einem Vortrag über Leukämie und einem Diavortrag über Knochenmarktransplantation geboren. Die Clancys waren nach Irland zurückgekehrt, als man ihm die Stelle im Mercy Hospital anbot. Anne Clancy war nur allzu froh darüber gewesen, endlich festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Aber die Überstunden führten bald zu Spannungen. Frank Clancy war ein Workaholic. Er war noch auf den Stationen anzutreffen, wenn die meisten Kollegen bereits fort waren. Er war immer erreichbar für be582

sorgte Kollegen. Anne und die Kinder begannen gegen die spätabendlichen Diskussionen über Fieberwerte oder Transfusionsprobleme zu rebellieren. Clancy hatte vor kurzem feierlich geschworen, seine Arbeit zu reduzieren. Aber wie üblich klappten die Dinge nicht so wie geplant. Er seufzte resigniert, dann wandte er sich dem PC auf dem Schreibtisch zu. Es juckte ihn in den Fingern, und er tippte AGRANULOZYTOSE ein, gefolgt von SUCHE, gefolgt von 01/ 01/97 BIS 13/05/98. Er wartete, während die Festplatte leise klickte. Dann erschienen zwei Namen auf dem Schirm: Mary Hyland. James Murphy. Dahinter folgten ihre Adressen, Geburtsdaten, nächsten Angehörigen und die Daten der ersten Einweisungen ins Mercy Hospital. Clancy konnte sich gut an beide Patienten erinnern, sah sogar ihre Gesichter vor sich. Beide waren von ihm behandelt worden, als sie erneut eingeliefert wurden. Beide litten an einer plötzlichen und unerklärlichen Agranulozytose. Beide waren schließlich den wiederkehrenden Infektionen erlegen, nur wenige Wochen nach dem Ausbruch der Krankheit. Dann tippte er die Frage ein, auf deren Antwort er am meisten gespannt war: Auf welcher

Station

waren

sie

ursprünglich

gewesen?

KARDIOLOGIE KARDIOLOGIE! »Das dachte ich mir«, murmelte er.

18.02 Uhr „Legen Sie sie auf den mittleren Tisch.« Noel Dunne, der Gerichtspathologe, gab Anweisungen in seinem »Büro«, Dublins Leichenschauhaus. Von draußen drang das verärgerte Gehupe des Stoßverkehrs in 583

der Nachmittagshitze herein. Das Leichenschauhaus selbst war ein relativ kleines Gebäude, zwanzig Meter breit, sechzig Meter lang, direkt hinter dem Büro des Coroners an der Store Street im Norden der Innenstadt. Nebenan befand sich eine Polizeistation, und Dublins größte Wasserader, der Liffey, floss einen halben Kilometer weiter südlich zum Meer. Das Gebäude war über hundert Jahre alt und höchst geschichtsträchtig. In seinen weiß gefliesten Mauern waren Generationen von Dublins Toten zur Bestimmung der Todesursache untersucht und obduziert worden. Die Erschlagenen, die von Bomben Zerfetzten, die Verbrannten, die Ertränkten, die Erschossenen, die Erwürgten und Erstochenen hatten auf den Seziertischen im Hauptraum gelegen. Die Leichen, die man aus dem Liffey oder aus dem Meer fischte oder die tagelang im Freien gelegen hatten, wurden in den hinteren Raum, das »Stinkerzimmer«, gelegt. Die Türen zwischen diesen Räumen knarrten wegen der ständigen Zugluft durch die undichten

Fenster.

Das

Dach war aus

drahtverstärktem

Milchglas, durch das viel Tageslicht drang. Drei Seziertische aus weißem Marmor waren in der Mitte des Hauptsektionsraums im Boden verankert, mit etwa zwei Metern Abstand zwischen ihnen. Die Oberfläche hatte einen Rand, um Flüssigkeit aufzufangen. Am oberen Ende befand sich ein kurzer Schlauchanschluss, am unteren ein Becken mit drehbarem Hahn. Leuchtstoffröhren hingen über den Tischen. Früher hatte ein offener Kamin den Raum beheizt, doch er war zugemauert worden. Elektrische Heizkörper an den Wänden erwärmten jetzt die kalte Luft, falls nötig. Wenn das Dubliner Leichenschauhaus reden könnte, hätte es die tiefe, verrauchte Stimme von lebenslangem Genuss von Guinness, Whiskey und Zigaretten. 584

Aber die Wände waren stumm, die Geheimnisse der Toten sicher. Die Leiche von Jennifer Marks wurde mit dem Gesicht nach unten auf den mittleren Seziertisch gelegt. Der Griff des Messers ragte noch immer aus dem Körper. »Okay, Joe, machen Sie so viele Aufnahmen wie nötig von ihrem Rücken.« Dunne ging langsam um den Tisch herum, gefolgt vom Gerichtsfotografen Joe Harrison. KLICK! Die erste Aufnahme war eine Totale, in der der Messergriff wie ein Wahrzeichen aus der Leiche ragte. Der Sektionsraum war voll. Außer Dunne und Harrison waren noch drei weiß gekleidete Gerichtsmediziner und ein Fingerabdruckexperte anwesend. An eine Bank gelehnt, sahen zwei Kriminalbeamte, die mit dem Fall zu tun hatten, unbewegt zu. Behandschuhte Hände begannen dem jungen steifen, kalten Körper die Kleider auszuziehen. Sie begannen mit ihren NIKE Joggingschuhen. KLICK! Die Schuhe waren im Kasten. Dann folgten die marineblauen Socken, sie wurden vorsichtig von den steifen Füßen gezogen und auf den Nebentisch gelegt, wo Beutel für die Beweismittel bereitlagen. »An beiden Socken ist Blut«, vermerkte Dunne in seiner Obduktionsliste. Der schwarze Slip wurde nach unten gezogen und auf Spermaspuren untersucht. Als Nächstes folgte der kurze schwarze Rock, der ebenfalls wegen möglicher Spuren von Blut und Sperma und Grasflecken in Augenschein genommen wurde. Blätter, Erde, Kiesreste und Spinnweben wurden am Stoff festgestellt. Den Rock legte man vorsichtig abseits von den übrigen Kleidungsstücken auf den Tisch. 585

KLICK! Der nackte Unterleib und die Beine waren auf Film gebannt. »Machen Sie eine Nahaufnahme von den Blutflecken an der Seite ihrer Beine«, verlangte Dunne, und viermal klickte und blitzte es. Mit einer rasiermesserscharfen Schere wurde das schwarze TShirt, das durch Blut an ihrem Körper klebte, in sicherem Abstand von der Messerwunde aufgeschnitten. Mit durch Gummihandschuhe geschützten Fingern begann Dunne das T-Shirt vorsichtig zu lösen. KLICK! Es blitzte erneut, als Harrison den nackten Rücken der jungen Frau fotografierte, aus dem das Messer ragte. Einen Moment lang sprach niemand. Dann gab sich der Pathologe einen Ruck und diktierte seine Beobachtungen, während er um den Tisch herumging, und erteilte Harrison weitere Anweisungen für Aufnahmen. Jennifer Marks' Körper lag so, wie er gefunden worden war, mit der rechten Wange nach unten, die linke Seite des Gesichts seitwärts gerichtet. Ihr langes schwarzes Haar lag, mit Blut und Erde, Blättern und Spinnweben beschmutzt, auf dem Tisch. Ihr linkes Ohr mit den drei silbernen Stiften war sauber. Das Haar wurde sorgfältig gekämmt, die Spuren von Erdreich und Blättern und Spinnweben in separate Beutel getan, beschriftet und verschlossen. „Okay, Joe“, ordnete Dunne an, während er umblätterte und wieder zu schreiben begann. »Vier Nahaufnahmen vom Griff. Vier verschiedene Perspektiven.« Während Harrison seine Blickwinkel wählte, wurden Jennifer Marks' wächserne Fingerspitzen geschwärzt und die Abdrücke 586

genommen. Der Griff, der aus dem Rücken ragte, war von ungewöhnlicher Art, ein schmaler, mit Hanf umwickelter Metallgriff von zehn Zentimetern Länge. »Ich bezweifle, dass ich hier noch brauchbare Abdrücke kriege«, murmelte der Fingerabdruckexperte. KLICK! KLICK! KLICK! Pause. KLICK! Der mit Hanfschnüren umwickelte Griff war im Kasten. Das Messer wurde mit einem schlürfenden Laut aus dem Körper gezogen. Ein wenig dunkles Blut quoll aus der Einstichöffnung. »Dieser Mistkerl«, murmelte Dunne. Er hielt das Messer am äußersten Ende des Griffs. Die Klinge war schmal und dünn, fünfzehn Zentimeter lang, zweischneidig und verjüngte sich zu einer ungewöhnlich langen Spitze, die ganz mit Blut bedeckt war. KLICK! KLICK! KLICK! Harrison knipste die Mordwaffe, bevor sie in einer Papprolle verschwand, die verschlossen und beschriftet wurde. Acht behandschuhte Hände hoben den Körper hoch und drehten ihn so, dass er mit dem Gesicht nach oben lag. In der Totenstarre glich Jennifer Marks einer Läuferin, die gerade von der Startlinie loslief. Ein Knie war leicht angewinkelt, das andere gerade. Beide Arme waren an den Ellbogen angezogen. Totenflecke, bedingt durch das Absinken des Bluts in die tiefer gelegenen Teile der Leiche, zeigten sich im Gesicht, am Hals und am Bauch. Gerade als Dunne seine externe Untersuchung der Vorderseite der Leiche begann, erklang das hallende Pochen von Jim Clarkes Krücke auf dem Marmorboden, gefolgt von den schwereren Schritten Moss Kavanaghs. Sie blieben vor dem Seziertisch stehen, und Dunne und Clarke wechselten einen Blick, dann fuhr der Mann mit dem stahlgrauen Bart und ebenso stahlgrauen Haar 587

mit seiner Arbeit fort. Clarke griff in eine Seitentasche nach den Perlen eines Rosenkranzes. Es war ein Ritual, das er über die Jahre entwickelt hatte, seit er bei der Mordkommission war. Er war ein religiöser Mensch, ein regelmäßiger Kirchgänger in einer Zeit, in der es als altmodisch galt, zur Kirche zu gehen. Er glaubte trotz der Unmenschlichkeit, mit der er täglich konfrontiert wurde, noch immer an Gott. Er betete für die Seelen der Verstorbenen, ganz gleich wie gewalttätig und grausam und verbrecherisch ihr Leben gewesen sein mochte. Jetzt blickte er auf die gebrochenen Augen von Jennifer Marks, die zur gläsernen Decke gerichtet waren. Ihr Gesicht, das so lange am Boden gelegen hatte, wies Erdspuren auf. Clarke begann leise und schmerzerfüllt den Rosenkranz zu beten. »Heilige Maria, voll der Gnade...« »Da sind Druckstellen an der Kehle.« Dunne unterbrach seine Aufzeichnungen und deutete mit dem Ellbogen zu der Stelle. „... der Herr ist mit dir...« „Da ist ein undeutlicher Fleck an der linken Seite des Halses.« Dunne dirigierte den Fotografen. KLICK! Der Fleck war festgehalten. Harrison wechselte das Objektiv und zoomte näher heran. »... du bist gebenedeit unter den Frauen ...« KLICK! KLICK! KLICK! »Da sind Abwehrverletzungen an den Händen.« Alle Blicke richteten sich auf die offenen Schnittwunden, von denen eine so tief war, dass die Sehnen offen lagen. »... und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus...« »Wir haben zwei Stichwunden in der linken Brust.« Dunne tastete nach den darunter

liegenden

Knochen.

Einer

im

sechsten

Zwischenrippenraum, Medioaxillarlinie. Die Wunde ist v-förmig, 588

was darauf schließen lässt, dass das Messer gedreht wurde. »... Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns arme Sünder...« Dunne legte sein Klemmbrett weg und studierte die zweite Wunde eingehend. »Hier ist eine weitere Stichwunde, fünf Zentimeter unter dem linken Schlüsselbein, am Rand des linken Brustbeins.« Er hielt inne und wechselte die Brille. »Die zweite Wunde weist Druckstellen am Rand auf.« Er richtete sich auf, krümmte den Rücken und stöhnte laut. Die Zuschauer grinsten dankbar für die Ablenkung. Clarke hielt die Perlen zwischen den Fingern. »... jetzt und in der Stunde unseres Todes...« »Er hat mit voller Wucht zugestoßen«, sagte Dunne in den Raum hinein. »... Amen...« »Sie hat drei silberne Stifte in ihrem linken Ohrläppchen, eine Tätowierung über der rechten Brustwarze in der Form eines Schmetterlings.« Er beugte sich näher. »Professionelle Arbeit, würde ich sagen.« Er hob den Arm der Toten, soweit es die Starre zuließ, und begutachtete ihn. Dann ließ er ihn los, und der Arm sank nach unten, wie in Zeitlupe. Dunne ging zu einem Wandschrank, begann Schubladen zu öffnen und kam mit einem Vergrößerungsglas zurück. Er beugte sich über die Leiche und untersuchte die Innenseite des Ellbogens und nickte. »Da sind Nadelspuren.« Er reichte einem der weiß gekleideten Beamten das Vergrößerungsglas. »Sehen Sie es sich an.« Der Mann kniff die Augen zusammen und bewegte den Kopf auf und ab, bis er scharf sehen konnte. »Sie haben Recht«, stimmte er zu. »Es besteht kein Zweifel.« Clarke wollte gerade sein Vaterunser beginnen. Auch er sah sich 589

die Spuren an. Dunne kritzelte etwas auf sein Klemmbrett und zeichnete einen Pfeil zu der Stelle. Sein Blick wanderte weiter. »Ein silberner Ring im Nabel«, wenig später, »eine alte Blinddarmnarbe.« Der Blick wanderte weiter. »Vater unser, der du bist im Himmel.,.« Das plötzliche »Looney-Tunes«-Läuten von Kavanaghs Handy unterbrach gnädig die bedrückende Atmosphäre, und ein Seufzen der Erleichterung ging durch den Raum. »Chef«, sagte der große Mann, »es sind die Eltern. Sie warten draußen.« Dunne war es, der vorschlug, zuerst selbst mit Dan und Annie Marks zu reden. »Er ist Arzt, ein Kollege«, erklärte er, als er die Handschuhe auszog und aus der Schutzkleidung schlüpfte. »Es ist das Mindeste, was ich tun kann.« Clarke stimmte nur zu gern zu. Er hatte es in der Vergangenheit so oft tun müssen, dass er nun dankbar war, wenn er die schlimme Nachricht nicht überbringen musste. Auch hatte er Gerüchte gehört, dass Marks seine an den Rollstuhl gefesselte Frau vor der Öffentlichkeit abschirmte. Er wollte sehen, warum. Dan Marks hatte in dem kleinen Büro Platz genommen, das als Wartezimmer benutzt wurde. Seine Frau Annie saß zusammengesunken in einem Rollstuhl neben ihm. Ihr Gesicht war blass und verhärmt, die Augen rot gerändert und feucht. Das einst dunkle, jetzt grau gesträhnte Haar trug sie glatt zurückgekämmt. Ihre Wangen waren schlaff, tiefe Falten umrahmten ihre Augen. Sie war neununddreißig, sah jetzt aber viel älter aus. »Dr. Marks, ich bin Noel Dunne.« Seine ausgestreckte Hand 590

wurde ignoriert. »Ich bin der Gerichtspathologe.« »Führen Sie mich zu meiner Tochter«, unterbrach Annie Marks. Sie ignorierte alle, hatte nur Augen für die Tür, die aus dem Büro in den Autopsieraum führte. »Ich fürchte...«, begann Dunne in der Absicht, sie auf den schrecklichen Anblick da drinnen vorzubereiten. »Ich bin Ärztin«, rief Annie Marks, ohne den Blick von der Tür zu wenden. »Ich sehe den Tod nicht zum ersten Mal. Sie haben eine Leiche da drinnen, vermutlich mein einziges Kind. Sparen Sie sich Ihre wohl gemeinten Worte.« Ihr Ton war hart und kalt, knapp und entschlossen. Dunne blickte zu Dan Marks, der nur den Kopf schüttelte. Er wirkte wie jemand, der unter einer gewaltigen Last zusammenzubrechen drohte. Er schob seine Frau durch die Tür und über den Marmorboden zum mittleren Seziertisch. Die Anwesenden wichen zurück und blickten zu Boden. Die Leiche lag auf dem Rücken, von den Füßen bis zum Hals mit einem dicken grünen Tuch bedeckt. „Hilf mir hoch«, verlangte Annie Marks. Einen Moment lang sah ihr Mann sie flehend an, dann resignierte er. Er arretierte die Bremsen am Rollstuhl, stellte sich dahinter und griff seiner Frau unter die Achseln. Für seinen kräftigen, muskulösen Körper war das keine Anstrengung. Einer der Detectives wollte ihm zu Hilfe kommen, doch Dunne hielt ihn zurück. Schwankend stand Annie Marks auf den Beinen. Sie hielt sich mit beiden Händen am Rand des Seziertisches fest und starrte auf das leblose Gesicht, als wollte sie es für alle Ewigkeit in ihrem Gedächtnis festhalten. Ihre Hand wischte eine blutige Haarsträhne aus der Stirn des toten Mädchens, dann sank sie schwer zurück und begann 591

unkontrolliert zu schluchzen. „Sie ist es, o lieber Gott, sie ist es.« »Sie wurde durch drei Messerstiche getötet, zwei in die Brust und einen in den Rücken.« Im Hof des Leichenschauhauses informierte Moss Kavanagh den Kriminalreporter der Post, Barry Nolan, über die Ergebnisse der Obduktion. »Das Messer steckte bis zum Griff in ihrem Rücken.« Kavanagh machte eine Pause, dabei stellte er sich vor, wie Nolan am anderen Ende der Leitung hastig Notizen machte. Er spürte einen beginnenden Krampf in den Beinen und stapfte im Kreis. »Gibt es schon eine definitive Spur?« »Nein, keine. Keine Verdächtigen.« »Sonst noch was?« »Ich hab genug, dass Sie damit die Titelseite füllen könnten«, sagte Kavanagh und sah sich besorgt um, ob ihn auch niemand hören konnte. »Ich sage Ihnen genug, dass es für einen Exklusivbericht reicht, aber nicht so viel, dass es mich den Kopf kostet.« »Einverstanden«, erwiderte Nolan rasch. »Sie könnte Drogen genommen haben. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist möglich, dass sie mit Drogen zu tun hatte und deshalb sterben musste.« »Ist sie vergewaltigt worden?« »Darauf deutet nichts hin.« »Was sonst noch?«, drängte Nolan. »Das ist im Augenblick alles, was Sie kriegen, Barry. Es gibt eine ganze Menge mehr, aber das muss warten.« »Ah, Mossy...« 592

Kavanagh schaltete das Handy aus. Er hatte die Nadelspurcn nicht erwähnt. Ganz bewusst hatte er über Tony Molloys Entdeckung geschwiegen. »Sind das ihre Kleider?« Molloy war kurz vor Schluss der Obduktion eingetroffen. Er hasste alles, was mit dem Leichenschauhaus zusammenhing, den Anblick, den Geruch, die Geräusche, die Konfrontation mit dem Tod. Er hatte es perfektioniert, sich mit Routinearbeiten zu beschäftigen und erst aufzutauchen, wenn der blutige Teil vorüber war. Und selbst dann interessierte er sich hauptsächlich für das gerichtsmedizinische Material. »Sind das ihre Kleider?«, wiederholte er mit gewohnt besorgter Miene. Jennifer Marks' Slip, Rock und blutiges T-Shirt lagen auf einem leeren Seziertisch. Mit der Spitze eines Kugelschreibers stieß er in einen NIKE-Joggingschuh mit grünen Grasflecken. »Hat sie die angehabt?« Noel Dunne ignorierte die Fragen und fuhr fort, auf seinem Klemmbrett zu schreiben. Einer der Gerichtsmediziner, ein großer Mann mit beginnender Glatze und pockennarbigem Gesicht, trat zu ihm. »Ja, das ist alles, was von ihr übrig ist.« Molloy betrachtete die Kleidung. Deprimiert nahm er den schwarzen Rock in Augenschein, dann das T-Shirt, dann die Joggingschuhe, schließlich wieder den Rock. „Das hat sie ganz sicher nicht in der Schule getragen.« Er berichtete von seinem Besuch in der Klosterschule, was er erfahren hatte, was er glaubte, nicht erfahren zu haben, und was er geahnt hatte. Er deutete mit dem Kugelschreiber auf die Kleidung. »Sie 593

nehmen es sehr genau mit der Schuluniform. In dieser Aufmachung hätte sie nicht in den Unterricht gedurft.« Einer der Detectives überflog seine Notizen. »Sie ist nach der Schule nicht nach Hause gegangen. Wo hat sie sich umgezogen?« Clarke legte seine Krücke auf eine Bank und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. „Alles, was gefunden wurde, ist hier. Es gibt keine andere Kleidung.“ Molloy stocherte mit seinem Kugelschreiber am Rock herum und drehte das Innere nach außen. »Was ist das?« Der Ton seiner Frage ließ alle innehalten. Einer nach dem anderen trat näher. Der Saum von Jennifer Marks' kurzem schwarzen Rock war rundum aufgeschnitten worden. Spuren von getrocknetem Blut färbten die aufgerissene Naht rostbraun. An einer Stelle war ein spitz zulaufender Blutfleck zu erkennen. „Holt das Messer“, verlangte Clarke, und die Mordwaffe mit dem hanfumwickelten Griff wurde wieder ausgepackt. Clarke zog einen Handschuh an und hielt die Spitze des Messers an den Fleck. Sie passte perfekt. Einen Moment lang sagte niemand ein Wort. »Was hat er gesucht?« Noel Dunne stellte die Frage, die allen durch den Kopf ging.

19.12 Uhr »Hast du Stoff? Komm schon, Jimmy, ich verrecke. Ich brauch einen Schuss!« Micko Kelly war zurück auf der Straße. Der Schmerz in seinem Körper wurde von Minute zu Minute schlimmer, das Verlangen 594

noch stärker. Er fühlte sich desorientiert und wackelig, aber seine Beine trugen ihn wie von selbst zu den üblichen Treffpunkten. Auf den Straßen war allerhand los, denn Käufer und Säufer ließen sich in dem warmen Abendsonnenschein Zeit. »Was suchst du denn, Micko?« Ein Halbwüchsiger mit Wieselgesicht, schmutzigen Jeans und über die Stirn gezogener Kappe schlurfte vor einem Pub in Dublins Moore Street nervös auf und ab. Unter seiner Jacke hielt er ein Handy. »Stoff, Jimmy. Ich verrecke, Jimmy, komm schon, halt mich nicht hin. Hast du Stoff?« Er zog am Griff eines Messers, das er durch das Gurtband seiner Jogginghose gesteckt hatte. »Ich schlitz dich auf, wenn du mich hinhältst.« Jimmy wich zurück. Am Messergriff klebte eingetrocknetes Blut. »Wie viel hast du?« Kelly zog ein Bündel Zwanzigpfundnoten, das er sich eben erst etwas gewaltsam angeeignet hatte, aus einer Seitentasche. »Gib mir für hundert!« Jimmy wählte, dann entfernte er sich ein Stück und murmelte etwas ins Telefon. Keine zehn Minuten später schlenderte ein hagerer, finster aussehender Ganove in Jeans und mit vier Silberringen in beiden Ohren geradewegs zu Micko Kelly und klemmte ihm ein braunes Päckchen unter den linken Arm. So schnell seine zittrigen Finger es gestatteten, händigte ihm Kelly fünf der Geldscheine aus. »Du siehst großartig aus, Micko«, log Narko, der Dealer. »Brauchst du sonst noch was?« »Nee«, brummte Kelly. Er setzte zu seinem schwerfälligen Rückweg nach Hillcourt Mansions an. »Was hast du ihm gegeben?«, fragte der wieselgesichtige Jimmy 595

und drehte den Kopf nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass keine Polizei in der Nähe war. Seine blutunterlaufenen Augen, die nicht an hellen Sonnenschein gewöhnt waren, blinzelten. Jimmy zog die Finsternis vor. »Scheiß drauf. Ein bisschen Scag und eine Tonne Natron.« Er hatte Kelly den Albtraum eines Junkies verkauft: weißes Pulver, das etwa drei Prozent Heroin und ansonsten nur Natron enthielt. »Hast du ihn dir angesehn?«, fragte Narko. »Er ist am Verrecken. Wär schad, guten Scag an ihn zu vergeuden, er wird sowieso nicht mehr lange durchhalten.« Jimmy winselte. »Er wird mich abmurksen, wenn er es rausfindet.« Narko grinste und riss dabei seinen Mund so weit auf, dass sämtliche schwarzen Zahnstümpfe zu sehen waren. »Keine Angst, Jimmy, ich kümmere mich um meine Kunden, oder vielleicht nicht? Micko schaut nicht so aus, als ob er noch lange viel Geld ausgeben tut. Zeit, neue Märkte zu suchen, neue Kunden.« Der wieselgesichtige Jimmy liebte solche Unterhaltungen, er kam sich dabei wichtig vor, wie ein echter Geschäftsmann. Er lächelte. Das Lächeln trug nicht gerade dazu bei, sein Aussehen zu verschönern. Da erinnerte er sich an das Messer. Das Lächeln schwand. »Ich sag dir, er ist ein gefährlicher Bastard, er wird es uns heimzahlen, wenn er dahinter kommt!« Narko spuckte auf den Bürgersteig. »Scheiße! Soll er es doch versuchen.« Kelly schaffte es nur mit Müh und Not zurück zu seinem Zimmer. Er kam an drei anderen Junkies in den Korridoren vorbei, die ihn von Kopf bis Fuß musterten und sich fragten, ob er etwas »von dem Zeug« bei sich hatte. Sie ließen ihn vorbei, als er 596

würgte und kotzte. Im Zimmer zog er Leitungswasser in einer der Spritzen auf, die er aus dem Mülleimer gefischt hatte, um sie von dem getrockneten Blut zu säubern. Die Dringlichkeit, mit der er Stoff brauchte, ließ ihn die Prozedur verkürzen. Er zog das braune Päckchen aus seinem Gurtband, um sich einen Schuss zu setzen. Seine Hände zitterten heftig. Wenige Augenblicke später wusste er, dass Jimmy und Narko ihn reingelegt hatten. »Diese Scheißkerle! Ich werd sie umlegen, diese Bastarde!« Aber die Schmerzen kamen schnell, seine Kopfhaut war schon schweißgebadet. Micko fischte rasch alle Spritzen aus dem Mülleimer und bereitete sich so viele Schüsse vor, wie aus dem Zeug nur möglich waren. Er wusste, dass ein wenig Heroin in dem Pulver war und dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich neuen Scag zu beschaffen. Er schoss sich sieben Spritzen voll schmutzig aussehender Flüssigkeit in die Vene, die einzige, die noch brauchbar war. Dann taumelte er zum Waschbecken, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen, dabei starrte er in den zerbrochenen Spiegel. Sein strähniges Haar war klatschnass, sein Gesicht verzerrt, seine blutunterlaufenen Augen wiesen einen gelblichen Ton auf. Er fühlte sich grauenvoll. Er sah aus wie ein menschliches Wrack. Heftig fluchte er und schwor, Jimmy und Narko umzubringen, sobald er seine Kraft zurückhatte. Er setzte sich und wählte ein Messer mit breiter Klinge, mit dem er zur Übung auf die Matratze einstach. Die Füllung begann herauszuquellen. »Ja, so sieht es aus.«

Im Polizeihauptquartier nahm ein Phantombild Form an. Man sorgte dafür, dass der Junge vom Pizza-Service sich so wichtig 597

fühlte wie wahrscheinlich in seinem ganzen Leben nie wieder. Er saß neben einem Schreibtisch, umgeben von sieben Männern der Soko, während ihm immer aufs Neue andere Variationen des Gesichts vorgeführt wurden. »Nee, nicht so, schmäler«, oder »Ja, so is gut, das Haar vielleicht ein bisschen länger«, und »Mein Gott, nee, ganz anders. Nee, war mehr über seiner linken Augenbraue, wissen Sie, was ich mein?« Der penetrante Gestank nach altem Backfett und die absichtlich langsame Art, wie er die Gelegenheit nutzte, sich in Szene zu setzen, machte die Detectives allmählich wütend. Hinter seinem Rücken drohte einer mit der Faust, ihm den Kopf von den Schultern zu ballern. »Habt ihr nen Glimmstengel?« Widerwillig streckte man ihm eine Sweet Afton hin, und er grapschte nach der vollen Schachtel. »Ich glaub, wir kommen hin«, erklärte der Pizza-Junge, der sich auf dem Stuhl räkelte und Rauchringe in die Luft blies. »Ja, bestimmt.« Er grinste alle an. »Ganz bestimmt.« Kurz nach zwanzig Uhr wurde das komplette Phantombild an die Nachrichtenredaktion

des

nationalen

Fernsehsenders

in

Connybrook im Süden von Dublin gefaxt. Die zweite Seite des Faxes enthielt eine detaillierte Beschreibung. Als der Pizza-Junge auf die Straße zurückkehrte, war er um fünfzig Pfund sauberen Geldes reicher. Die Nachrichtensprecherin der Nine O'Clock News schob zusätzliche drei Minuten für den Bericht über den Mord ein, einschließlich des Phantombilds und der Beschreibung. »Sind Sie absolut sicher?«, vergewisserte sie sich zweimal telefonisch bei Jim Clarke. 598

Er spürte ihre Besorgnis, denn es war ihm durchaus bewusst, dass in einem anderen Fall ein Phantombild mit den falschen Angaben gesendet worden war. »Es gibt glaubhafte Hinweise«, versicherte ihr Clarke. »Der Mann wurde von acht unterschiedlichen Zeugen gesehen, als er sich vom Tatort entfernte. Auch sah man ihn zur vermutlichen Tatzeit in Begleitung des Mordopfers.« Tatsächlich hatten zwei Bewohner der nahen Apartmenthäuser sich unabhängig voneinander gemeldet und ausgesagt, dass sie den Verdächtigen gesehen und spät am vergangenen Abend Schreie und Verwünschungen aus dem Park gehört hatten. Jetzt gab es auch einen Zeugen, der den Mann im Park gesehen hatte, in der Gesellschaft von Jennifer Marks und zur angenommen Zeit ihres Todes. Die Spur dieses Verdächtigen war von Sandymount durch Ringsend verfolgt worden, dann die Pearse Street entlang, ehe sie sich in einer der vielen Gassen zum Liffey verlor. Auf seinem von Ungeziefer verseuchten Bett in Hillcourt Mansions schluckte Micko Kelly Reste von Methadon und die letzten beiden Rohypnol-Tabletten, die er hatte finden können. In seiner Verzweiflung war ihm nichts anderes übrig geblieben, als seine Privatapotheke

mit

diversen

ihm

unbekannten

Tabletten

aufzustocken, die er einem anderen, im Koma liegenden Junkie gestohlen hatte. Als Micko Kelly, während er noch an seinem Joint zog, schließlich in einen halluzinatorischen Stupor fiel, enthielt sein Blut Heroin, seinen legalen Ersatz Methadon, Rohypnol, Valium und Cannabis. Es wies auch minimale Spuren von Kokain auf. Es hatte sich auf alten Folien befunden, die er an seinem Gaumen abgewischt hatte. Micko Kelly ließ nichts verkommen. 599

»Die Polizei hat bestätigt, dass die heute am frühen Morgen im Sandymount Park aufgefundene Ermordete die vermisste Schülerin Jennifer Marks ist.« Der Nachrichtensprecher saß mit ernstem Gesicht und in steifer Haltung auf seinem Stuhl hinter dem breiten Nachrichtentisch der Nine O'Clock News. »Die Achtzehnjährige wurde vermutlich vergangene Nacht gegen zweiundzwanzig Uhr erstochen. Die Polizei erbittet Hinweise über einen Mann, der zu dieser Zeit in der Nähe des Tatorts gesehen wurde.« Das Phantombild erschien auf den Bildschirmen der Nation. »Er wird als ungefähr eins achtzig groß beschrieben, schlank, mit langem dunklen Haar, das seine Ohren und Schultern bedeckt. Er ist zwischen dreißig und zweiunddreißig Jahre alt. Sein Gesicht ist schmal, und er hat eine Tätowierung über der linken Braue. Er trug ein weißes T-Shirt, eine schwarze Jogginghose und schmutzige weiße Joggingschuhe. Auf dem T-Shirt dürften sich Blutflecken befunden haben. Er wurde zuletzt gesehen, als er im Norden der Stadt die Pearse Street entlanglief. Wer diesen Mann kennt oder weiß, wo er sich aufhält, wird ersucht, sich mit dem nächsten Polizeirevier oder dem Polizeihauptquartier in Verbindung zu setzen.« Die Nachrichten gingen weiter. Es wurde über Jennifer Marks' Herkunft berichtet, über die medizinische Karriere ihres Vaters und die Rekrutierung des Dreamteams. Sie endeten mit Kommentaren von Kollegen aus dem Mercy Hospital sowie Publicityfotos von Dan Marks im operationsgrünen Kittel, wie er sich mit sichtlich dankbaren glücklich lächelnden Patienten unterhielt. Für viele zerbrach das Bild Irlands als der Nation, in der es keine Gewaltverbrechen gab, politische natürlich ausgenommen. Hier 600

war ein Herzchirurg der Spitzenklasse, den man überredet hatte, Boston zu verlassen, um in Dublin eine Herz-Stiftung zu leiten, und nun hatte man hier sein einziges Kind brutal ermordet. Alle fragten sich, was die Regierung in diesem Fall wohl unternehmen würde. John Regan, der Gesundheitsminister, reagierte sofort. Kaum waren die Nachrichten beendet, griff er in seinem Büro im Ministerium zum Telefon und begann zu wählen. Sein Gesicht war weiß vor Zorn, und er umklammerte den Hörer so fest, dass er beinahe befürchtete, ihn zu zerdrücken. Mit seiner freien Hand schaltete er per Fernbedienung den kleinen Fernsehapparat in einer Ecke des Büros ab. »Haben Sie die Nachrichten gesehen?« Am anderen Ende der Leitung stellte Paddy Dempsey, der Justizminister, den Ton seines Fernsehgeräts leiser. »Ja. Sind Sie das, John?« »Das ist eine Katastrophe für unsere Regierung.« »Ich weiß, ich weiß.« »Wir müssen jetzt rasch handeln. Ich werde eine Pressekonferenz einberufen, sämtliche an der Untersuchung Beteiligten an einen Tisch setzen. Können Sie kommen?« »Selbstverständlich. Ich werde einige Anrufe tätigen und dafür sorgen, dass die Verantwortlichen teilnehmen. Wir werden uns als vereinte und entschlossene Front präsentieren.« »Guter Mann, Paddy. Ich fahre sofort zu Dan Marks und lasse ihn wissen, dass wir zutiefst betroffen sind. Ich werde ihm versichern, dass keiner im Justizministerium zur Ruhe kommt, ehe der Bastard, der dieses Mädchen ermordet hat, öffentlich gekreuzigt wird.« 601

»Behalten Sie einen klaren Kopf«, riet der Justizminister. »Enthalten Sie sich lieber einer solch blumigen Sprache. Sagen Sie nichts Unüberlegtes.« Regan war dafür bekannt, heftig zu reagieren und plötzlich zu explodieren. Man hatte ihn schon mehrmals gewarnt, erst zu denken, bevor er verbal zuschlug. Regan legte auf und begann gleich darauf, fünf seiner besten Kontakte bei den Medien zu aktivieren. Eine solche Gelegenheit, sich in Szene zu setzen, durfte er doch nicht ungenutzt lassen.

10.05 Uhr Moss Kavanagh fuhr Jim Clarke nach Beendigung der Nine O'Clock News zu dessen Haus in Crumlin, einem Vorort von Dublin. Kavanagh machten das Phantombild und die Beschreibung des blutbefleckten Verdächtigen ziemlich zu schaffen. Clarke versuchte ihn zwar abzulenken und über andere Dinge zu reden, aber der Schmerz in seinem Bein war fast unerträglich. Er konnte sich nicht konzentrieren und nahm schließlich innerhalb von dreißig Minuten vier starke Tabletten ein. Als er die Tür seines kleinen Reihenhauses aus rotem Backstein aufschloss, begann sein Magen bei den Gerüchen, die ihm aus der Küche entgegenschlugen, zu knurren. Er empfand zum ersten Mal an diesem Tag Hunger, obwohl er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Die vielen Pillen, die er im Lauf des Tages schlucken musste, nahmen ihm häufig seinen Appetit, und er hatte seit dem Attentat gut sechs Kilo verloren. „Du siehst völlig fertig aus, Jim«, sagte Maeve, seine brünette, zierliche, sechs Jahre jüngere Frau und musterte ihn besorgt. „So fühle ich mich auch«, entgegnete er gereizt. 602

»Katy!«, rief Maeve über die Schulter, während sie ihm die Uniformjacke auszog. »Dein Dad ist zu Haus. Hilf mir bitte.« Der Sechzehnjährigen mit den aschblonden Locken gelang es immer, ihren Vater mit einem gewinnenden Lächeln zu entspannen. „Hi, Dad“, begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Wange. »Wie gefällt dir meine Frisur?« Sie drehte sich vor ihm auf den Zehenspitzen und fing die Jacke auf, die ihre Mutter ihr zuwarf. Sie war fast so groß wie ihr Vater. »Hat nichts gekostet«, fügte sie hastig hinzu, weil sie wusste, dass er nichts von teuren Frisuren hielt. Ihr Vater stammte von Bauern auf dem Land ab, und das Haareschneiden hatte seine Mutter selbst vorgenommen, indem sie ihm und seinen Brüdern eine Schüssel über den Kopf stülpte und um sie herum schnipselte. »Nora Mallon hat nichts dafür verlangt.« „Katy“, tadelte ihre Mutter, »belästige deinen Vater nicht mit diesem Kram.« Das nicht ernst gemeinte Geplänkel, das Ritual, ihm die Uniform abzunehmen, half Clarke, sich zu Hause zu fühlen, die Tragödien und das Grauen seiner Arbeit zur Seite zu schieben und besser mit seinem schmerzenden Bein zurechtzukommen. „Ich hole den Föhn.« Katy hüpfte die Treppe hinauf, um ihren Eltern ein paar Minuten Alleinsein zu gönnen. Sie umarmten einander kurz, aber innig. Das war wichtig für ein Paar, das einander fast verloren hatte. Sie hatten größere Seelenqualen durchgemacht, als man sich vorstellen konnte, und nutzten jeglichen beruhigenden Körperkontakt, voller Angst, sie würden nie wieder die Chance dazu haben. 603

„Irgendwas Neues? Wisst ihr schon, wer der Verdächtige ist, den sie im Fernsehen gezeigt haben?« „Noch nicht.“ Wahrend Maeve ihren Mann mit Fragen bestürmte, brachte sie ihn zu einem Sessel im Wohnzimmer und half ihm, sich dort niederzulassen. Ein leise gestellter Fernseher stand etwas wackelig auf einem Tischchen in der Ecke. Maeve half Jim aus der schweren dunkelblauen Uniformhose, dabei wurden seine knochigen Knie und das narbige, deformierte Bein entblößt. Olivenöl, in einer Teigschüssel gewärmt, wartete schon seit etwa einer Stunde. »Katy, hast du ihn gefunden? Er ist im hinteren Zimmer.« Das junge Mädchen sprang die Stufen hinunter und stürmte mit dem hocherhobenen Föhn ins Wohnzimmer. »Kein Problem. Es würde die Sache allerdings erleichtern, wenn du ihn immer am selben Platz verstaust.« Clarke grinste über ihre Unverfrorenheit und zwinkerte ihr zu. Katy zwinkerte zurück und steckte die Föhnschnur in die Steckdose. »Was macht das Bein?«, erkundigte sie sich und runzelte die Stirn, als sie die violette Verfärbung entlang der Narben bemerkte. »Großer Gott! Es sieht heute aber schrecklich aus, Dad.« Von ihrer Mutter wurde sie mit einem strafenden Blick bedacht. »Ich kümmere mich um das Abendessen für deinen Vater, während du sein Bein behandelst.« Katy nagte besorgt an ihrer Unterlippe. »Ist gut, Mum.« Sie überlegte, wo sie anfangen sollte. Sie schaltete den Föhn ein und ließ die warme Luft das Bein auf und ab streichen. Als sie bemerkte, dass allmählich ein gesünderer 604

rosiger Ton das Violett vertrieb, stellte sie ihn eine Stufe höher. »Tut es weh?« Clarke blinzelte auf die Schlagzeilen der Abendzeitung. Er hasste es, sein Bein anzusehen, und wünschte sich insgeheim, man hätte es ihm abgenommen, denn es verbitterte ihn und schien sogar seinen Charakter zu verändern. »Nein, so fühlt es sich viel besser an.« Er blickte auf seine Uhr. »Nur noch zwei Minuten, dann kannst du das Öl einreiben.« Ein Tablett wurde auf seinen Schoß gestellt und ihm ein Glas Weißwein in die Hand gedrückt. Wahrend er nippte, genoss er die Wärme und entspannte sich. Er war hungrig und momentan zufrieden mit sich. Ich lebe noch! Ihr Hundesöhne seid tot, aber ich lebe noch! Er lachte heimlich, als ihm seine Gedanken bewusst wurden. Ich lebe noch! Als das Ritual, sein Bein zu wärmen und einzuölen, endete, hatte auch der Schmerz aufgehört. Clarke vermengte seine Kartoffeln mit der Soße, schnitt das Hühnchen in mundgerechte Stücke, fügte ein paar Karotten und Erbsen dazu und nahm eine Gabel voll. Er nippte vom Wein und kaute bedächtig. Eine Decke wurde ihm über die Beine gelegt, und Katy setzte sich zu seinen Füßen und schlang einen Arm um sein gesundes Knie. Maeve hatte sich auf einem Stuhl hinter ihm niedergelassen und massierte inzwischen seinen Nacken. Sie schauten sich die Nachrichten auf Sky an und diskutierten den Bericht über den Mord an Jennifer Marks. Katy lachte erfreut, als sie kurz ihren Vater auf dem Bildschirm sah, der etwas mit dem gerichtsmedizinischen Team besprach. »Dad, du siehst wie ein sehr wichtiger Mann aus!« Clarke zwickte sie in den Arm, dass sie aufstöhnte, woraufhin ein unbeschwertes Geplänkel zwischen allen dreien begann. Es lief jeden Abend ziemlich gleich ab, auch schon ein Ritual. Clarke 605

und seine Frau hatten schon jetzt Angst vor dem Tag, an dem jemand kommen und ihnen ihre Tochter wegnehmen würde. Sie konnten nur hoffen, dass es ein Freund sein würde, der sie wirklich liebte, nicht ein Feind voller Hass. Später, als Clarke mit seinem Bein auf drei Kissen gestützt im Bett lag, verfluchte er die Männer, die sein Leben zerstört hatten. So unruhig waren seine Nächte, dass er das Ehebett für sich allein brauchte, weil er im Schlaf um sich schlug. Die Schmerzen hielten ihn meist stundenlang wach, und er grübelte, betete oder hing finsteren Gedanken nach. Es fiel ihm schwer, abzuschalten, und oft war er überhaupt noch nicht eingeschlafen, wenn das Morgenlicht sich durch die Gardinen stahl. Er drehte sich zur Seite und starrte auf den Digitalwecker. Draußen, irgendwo in der Ferne, heulte eine Alarmanlage. »Lauf, Jimmie, lauf! Komm schon, Junge, lauf!« Seit kurzem führten ihn seine Träume immer wieder auf den väterlichen Hof im Nordwesten Irlands zurück. Er war der mittlere von fünf Jungen gewesen, aber der mit den kräftigsten und schnellsten Beinen. »Komm schon, Jimmie, komm! Du hast einen großen Vorsprung, komm!« Er hatte viele Rennen gewonnen, querfeldein, Sprints und Langläufe. Er hatte sich sogar gut im Dreisprung gemacht und in einem erinnerungswürdigen Jahr seine Schule in sieben verschiedenen Disziplinen vertreten. »Kein Zweifel«, hatte seine Mutter lachend bemerkt, als er mit einer Hand voll Medaillen heimgekommen war, »in unserer Gemeinde bist du der Schnellste.« Sie hatten ihm den Spitznamen »Road-runner« gegeben. Er war vierzehn gewesen, als sein Vater von der Bushaltestelle 606

aus stolz mit ihm über die nassen Feldwege zu ihrem Hof gestiefelt war. Eine Hand hatte er seinem Sohn auf die Schulter gelegt, in der anderen hielt er eine Goldmedaille, ein Siegerpreis, den Jim sich bei einem nationalen Leichtathletik-Meeting gegen harte Konkurrenz erkämpft hatte. Immer wieder erlebte Clarke in seinen Träumen, wie er heimgekommen war, die begeisterte Begrüßung, die Freudentränen seiner Mutter. Dann riss ihn scharfer Schmerz aus dem Schlaf und brachte ihn in die verdammte Wirklichkeit zurück. Er tat sein Bestes, sofort weiterzuschlafen, zurück in die Erinnerung an seine Jugend einzutauchen, die glücklicheren Tage dieser vergangenen Zeit wiederzugewinnen, die Kraft in seinen Beinen zu spüren. Aber der Schmerz ließ es nicht zu, und er massierte das narbige Fleisch, um ihn zu lindern. Er verfluchte die mordenden Hundesöhne, die seinen Tod geplant hatten. In schwärzeren Momenten verfluchte er sogar die Ärzte, weil sie ihn am Leben gehalten hatten. Im Mercy Hospital hatte er das Gesicht der Wand zugedreht und sich mit aller Willenskraft gewünscht, für immer einzuschlafen. Es waren nur Katys Schluchzen und ihre verzweifelte Stimme gewesen, die den Lebenswillen in ihm zurückbrachten. »Du hast ein Kind großzuziehen«, erinnerte ihn Maeve eines Vormittags mit flehender Stimme. »Wir müssen uns um unser Mäclchen kümmern. Hör mit deinem Selbstmitleid auf. Du darfst nicht sterben, hörst du! Du musst zurückschlagen! Schnapp die Hundesöhne!« Nie zuvor hatte er solche Wut in ihrer Stimme gehört. Sich die Hundesöhne zu schnappen wurde zu seiner motivierenden Kraft, und er verließ das Krankenhaus entgegen dem Rat seiner Ärzte früher als vorgesehen. Aber andere Verbrecher verhinderten, dass 607

er seine Rache ausführte, sie töteten seine persönlichen Feinde, und Clarke musste die aufgestaute Energie in seine Arbeit umleiten. Er schuf sich rasch einen Ruf als Besessener, der jeden Verbrecher hetzte, bis dieser in der Falle saß. Er folgte allen Spuren, sah sich in jeder finsteren Gasse um, spähte in die Tiefe jedes Verbrechens. Er wollte Ergebnisse. Während er ruhelos in seinem Bett lag, schob sich das Bild von Jennifer Marks' Leiche auf dem kalten, weißen Marmortisch vor sein inneres Auge. Sie war nur ein unreifes Mädchen gewesen, kaum achtzehn. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Katy so alt ist. Lieber Gott, womit wird sie uns dann Sorgen bereiten? Mit nichts, beruhigte er sich. Jedenfalls mit nichts Schlimmem, ihre Mutter hat sie streng, aber liebevoll erzogen. Sie ist ein gutes Mädchen. Maeve ist eine gute Frau und Mutter. Und Katy gerät ganz nach ihr. Er erinnerte sich, wie Noel Dunne sich vorgebeugt und den totenstarren linken Arm untersucht hatte. »Da sind Nadelspuren.« Und wenn sie sich auch Drogen gespritzt hatte. Sie hatte ihr Leben noch nicht einmal richtig angefangen und nichts getan, wodurch sie einen so schrecklichen Tod verdient hatte. Irgendein Hundesohn hatte ein junges Leben ausgelöscht. Er musste erwischt werden! Er musste dafür bezahlen! Von diesem Augenblick an nahm Jim Clarke den Mord an Jennifer Marks persönlich. Er langte nach dem Handy neben sich, das während der meisten Nächte sein einziger Bettgenosse war. Er wählte und wartete. „Hallo?“ „Hier ist Superintendent Clarke.“ „Jawohl, Sir.“ 608

„Mit wem spreche ich?“ „Officer Grimes.“ »Sind Sie im Sandymount Park?« »Ich sitze im Augenblick in einem daneben geparkten Streifenwagen.« »Tut sich etwas?« »Nein, Sir. Der Park ist noch geschlossen, und auf der Straße hat sich den ganzen Abend niemand blicken lassen.« »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.« Der schnellen Antwort entnahm Clarke, dass Grimes sich nicht sicher war. »Sehen Sie noch einmal nach. Sorgen Sie für Einzelheiten über jeden, der sich auch nur in die Nähe begibt.« »Jawohl, Sir.« »Tun Sie es jetzt! Sofort!« »Jawohl, Sir.« Clarke schaltete das Handy aus und wartete. Fünf Minuten lang hörte er ungeduldig dem Ticken des Weckers zu, dann drückte er auf Wahlwiederholung. Auch diesmal meldete sich Grimes. »Haben Sie etwas gesehen?« »Nein.« Das klang überrascht. »Steigen Sie aus, und sehen Sie sich noch einmal um!« »Jawohl, Sir.« Clarke legte sich aufs Kissen zurück und versuchte wieder einzuschlafen. Er hob beide Arme in die Höhe und ließ sie langsam wieder sinken. Das war eine seiner Entspannungsübungen. Ehe sie das Bett erreichten, streiften die Fingerspitzen seiner rechten Hand die Aluminiumkrücke neben dem Nachttisch. Sofort 609

schloss er die Hand um die Krücke und hob sie so, dass der Griff sich unmittelbar vor seinem Gesicht befand. Er blinzelte durch das Dämmerlicht, bis er die winzigen Schrauben sehen konnte, wo der Griff mit dem Stock verbunden war. Er hielt beides fest in seiner Linken, dann streifte er mit der Rechten den Griff entlang, bis zwei Fingerspitzen die Schrauben ertasteten. Er drückte und drehte gleichzeitig. Der Griff bewegte sich ein wenig. Die Fingerspitzen gaben die Schrauben frei, und die Hand schloss sich nun um den Griff. Er drehte ihn um hundertachtzig Grad und zog ihn zurück. Der Griff löste sich vom Stock. Die Fingerspitzen drückten jetzt auf zwei separate Schrauben an der Seite. Mit einem plötzlichen Zischen schoss eine zehn Zentimeter lange, doppelschneidige Klinge mit scharfer Spitze hervor. Clarke bewunderte den Stahl, er drehte ihn herum, sodass Licht von der Straße schimmernd und tanzend darauf fiel. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Federmechanismus funktionierte, tätigte er die gleichen Handgriffe in umgekehrter Reihenfolge, und die Klinge verschwand wieder im Innern des Griffs, den er auf den Aluminiumstock drückte und so lange drehte, bis er einrastete. Jetzt stellte er die Krücke an den Nachttisch zurück. Bevor er die Augen schloss, prüfte er den Behälter seiner Geheimwaffe. Er sah aus wie eine ganz gewöhnliche Krücke, nichts anderes. Clarke lächelte im Dämmerlicht. Er war schon einmal überrascht und fast getötet worden, er wollte kein Risiko mehr eingehen, falls man es noch einmal versuchte. Ihm war klar gewesen, dass seine Abhängigkeit von der Krücke bei jeder physischen Auseinandersetzung ein Nachteil sein würde, darum hatte er die kleine Änderung daran vornehmen und die Klinge, verborgen an einem starken Federmechanismus, anbringen lassen. 610

»Meine kleine Überraschung«, hatte er grinsend erklärt, als ihm die Krücke schließlich ausgehändigt wurde. »Mein eigener kalter Stahl.« Officer Grimes sehnte sich auf der Straße, die am Sandymount Park entlangführte, nach dem Komfort seines Streifenwagens. Grimes war hoch gewachsen und hager, seine Uniform hing an ihm, als gehörte sie ihm nicht, und hielt ihn kaum warm. Er fluchte stumm, während er über das Gitter in die Dunkelheit des Parks spähte und die Absperrungsbänder um den Tatort im Wind flattern sah. Die Luft war jetzt kalt, und aus den nahen Wohnblöcken fiel orangefarbenes Licht auf eine Seite des Parks. Grimes stapfte langsam auf und ab, gähnte und streckte sich, blinzelte auf seine Uhr und sehnte das Ende seiner Schicht herbei. Schließlich blieb er stehen, lehnte sich übers Gitter und spähte mit müden Augen in die Dunkelheit. Den Bruchteil einer Sekunde lang glaubte er zu sehen, wie eine schattenhafte Gestalt sich im Unterholz bewegte. Er tat es als eine Täuschung des Lichts ab.

10 Mittwoch, 13. Mai, 9.30 Uhr »Okay, gehn wirs an.« Es war die erste Einsatzbesprechung des Tages. Jim Clarke wirkte müde und angespannt. Er bemühte sich, sein schütteres wirres Haar zu ordnen, während er wartete, bis alle ihm zuhörten. Er trug seine komplette Uniform, Katy hatte, ehe sie zur Schule ging, die Hose frisch gedämpft, und Maeve hatte die Jacke sorgfältig ausgebürstet. Moss Kavanagh stand rechts von ihm, die Prankenhände auf der Rollstuhllehne, sein Handy war abge611

schaltet. Er hatte seine Jacke ausgezogen und trug ein kurzärmeliges Hemd. »Nachts kamen einige Informationen herein, und es sieht so aus, als hätten wir eine heiße Spur.« Zufriedenes Murmeln wurde laut. Die Sonderkommission aus zwanzig Detectives hatte kaum Platz in dem kleinen Konferenzzimmer, einige scharten sich um den Tisch, andere lehnten an den Wänden. Hinter Clarke saß Tony Molloy mit drei dicken Büchern auf dem Schoß; etwas links von ihm hatte John Regan, der Gesundheitsminister, Platz genommen und neben ihm Paddy Dempsey, der Justizminister. Verglichen mit Regans Hugo-BossAnzug wirkte Dempseys Tweed-Kombination wie von einem Ramschtisch. Auch ihre Gesichtszüge hoben den Kontrast hervor: Regan war attraktiv und selbstbewusst, während Dempsey wulstige Lippen, eine fleischige Nase und grobporige Haut hatte. Police Commissioner Donal Murphy überblickte das Ganze von der Seite. Der ehemalige Armee-Kommandant war ein hoch gewachsener Mann mit grauem, dichtem Bürstenhaarschnitt, er trug eine komplette marineblaue Uniform mit Goldschnüren um die Achselstücke. „Ich werde ohne Dr. Dunne anfangen“, erklärte Clarke. Überraschte Blicke wurden ausgetauscht. Noel Dunne, der Gerichtspathologe, nahm selten an Einsatzbesprechungen der Mordkommission teil. Aber die Anwesenheit der Politiker und des Commissioners deutete darauf hin, dass es sich in diesem Fall um keine gewöhnliche Untersuchung handelte. In einer Ecke war ein Flipchart bereitgestellt, auf dessen erster Seite mit dickem schwarzen Filzstift der Name Jennifer Marks gekritzelt war. Darunter hatte man Aufnahmen des Tatorts geheftet. In ei612

nem Plan des Gebiets waren mit rotem Textmarker der Sandymount Park, das Unterholz und der Fundort der Leiche angezeigt. Ein mit blauem Reißnagel festgehaltenes Brustbild fand sich in der rechten unteren Ecke. »Jennifer Marks wurde seit vorgestern Abend vermisst«, begann Clarke. »Als sie um neunzehn Uhr dreißig noch nicht nach Hause gekommen war, ersuchte ihre Mutter die Polizei um Hilfe.« Er machte eine Pause, denn er wusste nur zu gut, dass sich alle an der folgenden Untersuchung Beteiligten im Zimmer befanden. »Der Diensthabende beruhigte sie, dass für eine Achtzehnjährige eine Verzögerung von zwei Stunden nicht ungewöhnlich sei«, fuhr er fort, »und riet ihr, noch eine Weile zu warten.« Zustimmendes Murmeln wurde laut. »Mrs. Marks war mit diesem Rat nicht zufrieden und rief ihren Mann an, der telefonisch einige Bekannte kontaktierte, die nicht ganz ohne Einfluss sind. Gegen zweiundzwanzig Uhr wurde dann eine Suchaktion eingeleitet.« »Kann ich etwas dazu sagen?« John Regan stand plötzlich auf. »Ich bestehe auf einen Vermerk in den Akten, dass Dan Marks mich anrief«, seine Stimme klang scharf, »und ich mich unverzüglich an den Justizminister wandte. Dank seiner sofortigen Initiative wurde ein Suchtrupp mobilisiert. Und das war, wie sich herausstellte, die richtige Entscheidung.« Er setzte sich heftig auf den Stuhl zurück, und seine Miene verriet seinen Zorn. Sein Designer-Anzug und die bunte Krawatte wollten nicht zu seiner finsteren Stimmung passen. Eine Tür am hinteren Ende des Zimmers öffnete sich, und der korpulente Gerichtspathologe Noel Dunne stürmte herein. Er trug dem für die Jahreszeit überraschend warmen Wetter Rechnung 613

und hatte sich in ein leichtes Leinenjackett und eine marineblaue Hose geworfen. Er nickte den Anwesenden zu und zwängte sich zwischen die Männer, die sich um den Tisch drängten. In der Rechten hielt er einen cremefarbenen Ordner. Clarke nutzte die Unterbrechung und fuhr fort: »Der auf Seite elf beschriebene Mann wurde mehrfach gesichtet.« Einige nickten mit dem Kopf. »Sehen Sie sich das Phantombild an.« Alle Augen konzentrierten sich nun auf die Kohle- und Bleistiftzeichnung. »Ein Name wird hier immer wieder genannt.« Clarke legte eine Reihe Faxe auf den Tisch. Im Zimmer wurde es still. Die Minister beugten sich vor, um besser zu hören. »Es handelt sich dabei um einen überführten Killer und Drogenabhängigen namens Michael Leo Kelly, besser als Micko Kelly bekannt.« Kellys neuestes Polizeifoto wurde neben das Phantombild gelegt. Die Ähnlichkeit war auf fast unheimliche Weise frappant, nur war der Mann auf dem Phantombild hagerer. »Holen wir uns den Bastard!« Die wütend hervorgestoßene Bemerkung John Regans überraschte alle. Er war aufgesprungen, sein Gesicht kreidebleich, er hatte die Fäuste geballt und zitterte vor Erregung. »Sie wissen, wer er ist, verhaften Sie ihn!« Dempsey zupfte an seiner Jacke und versuchte ihn zurück auf den Stuhl zu ziehen. Regan entzog sich ihm. »Weshalb tun Sie nichts? Sie wissen offenbar alles über diesen Scheißkerl, warum bewegen Sie nicht Ihren Arsch und schnappen ihn?« Die Wut in seiner Stimme, die ungewohnten ordinären Ausdrücke erstaunten sogar jene, die glaubten, ihn näher zu kennen. Verlegenes Schweigen setzte ein. »Bei allem Respekt, Mr. Regan«, wandte Commissioner Mur614

phy ruhig ein, »aber Ihre Befugnisse schließen nicht das Recht ein, sich in Angelegenheiten meines Departments zu mischen.« Paddy Dempsey vergrub das Gesicht in den Händen und starrte auf den Boden. Nur sein Eingreifen konnte Regan von einem neuerlichen Ausbruch zurückhalten. Obwohl der Gesundheitsminister vor Wut kochte, gelang es Dempsey diesmal, ihn wieder zurück auf seinen Stuhl zu ziehen. »Kelly haust in Hillcourt Mansions«, fuhr Clarke ungerührt fort, »und das ist ein Höllenloch. Es wimmelt dort von Drogenabhängigen, Dealern und Pushern. Sobald sich auch nur ein Streifenwagen zeigte, käme es zu einer blutigen Auseinandersetzung.« Noel Dunne hörte mit amüsiertem Lächeln zu. Clarke war überzeugt, dass der Commissioner es genossen hatte, Regan zurechtzuweisen. »Wir haben auch nicht die geringste Ahnung, in welcher Wohnung er sich verschanzt haben mag. Wir können nicht jede Tür dort aufbrechen.« Clarke drehte den Kopf Regan zu. »Diese Süchtigen sind häufig bewaffnet und würden nicht zögern, mit schmutzigen Spritzen, Messern, zerschlagenen Flaschen, ja sogar Schusswaffen gegen uns vorzugehen. Ich bin nicht bereit, das Risiko einer solchen Konfrontation einzugehen. Die Presse würde jubeln.« Das Scharren von Stuhlbeinen unterbrach ihn, und ohne auch nur ein Nicken oder Wort verließ Regan das Zimmer. Clarke ignorierte auch das. »Dr. Dunne, hätten Sie die Güte, uns die Ergebnisse

der

Obduktion

wissen

zu

lassen?«

»Selbstverständlich.« Dunne schlug den Ordner auf, den er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. 615

»Okay, lassen Sie mich mit den Fakten anfangen.« Er zwirbelte seinen Schnurrbart, während er die losen Seiten überflog. »Die Mutmaßungen nehmen wir uns dann am Schluss vor.« Er legte drei Seiten in den Ordner zurück und stapelte die restlichen ordentlich zusammen. »Das Mädchen hatte Alkohol getrunken, wie viel, das erfahre ich erst, sobald ich den Bericht von der Toxikologie bekommen habe, jedenfalls schlug mir unverkennbar Alkoholgeruch entgegen, als ich den Leichensack in der Halle öffnete. Sie hatte Einstichspuren,

die

auf

intravenösen

Drogenmissbrauch

hinweisen. Genaueres werde ich ebenfalls erst aus dem toxikologischen Befund erfahren.« Seine Stimme war eintönig, als lese er einen Verkehrsbericht vor. Einen Moment lang hielt er inne und versuchte eine Notiz am Seitenrand zu entziffern. Er lockerte seine Krawatte und öffnete die beiden obersten Hemdknöpfe, dann fächerte er sich mit dem Kragen Kühlung zu. »Ich würde sagen, der erste Stich kam mit ziemlichem Kraftaufwand von links. Die Klinge drang durch ihren linken Lungenflügel und Bronchus. Die Atemwege enthielten schaumigen, blutdurchsetzten Schleim.« Einige der Anwesenden verzogen bei diesen Worten entsetzt das Gesicht. »Der zweite Stich war tödlich, da er ihre Aorta fast durchschnitt.« Dunne erklärte: »Von dem Moment an, da dieses Blutgefäß durchschnitten wurde, verblutete das Mädchen mehr oder weniger. Ihr Blutdruck muss drastisch gefallen sein und die Blutzufuhr zu ihrem Gehirn aufgehört haben, was bedeutet, dass sie innerhalb kürzester Zeit tot war.« Es wurde ganz still in dem kleinen Konferenzzimmer. Alle 616

dachten an die Fotografie des jungen, dunkelhaarigen Mädchens, das in die Kamera gelächelt hatte, und an ihr schreckliches Ende. »Zu diesem Zeitpunkt muss sie auf den Boden gekippt sein«, fuhr Dünne mit eintöniger Stimme fort, »denn es befand sich eine beachtliche Menge Blut am Tatort. Dann erst wurde sie zu dem Gestrüpp gezerrt, wobei die Fersen durchs Gras schleiften. Unter beiden Armen blieben blutige Handabdrücke zurück.« Dunne legte die Seite hin und überflog vier weitere, bis er zu den nächsten wesentlichen Notizen kam. Er kramte in seiner Jackentasche und brachte seine Bifokalbrille zum Vorschein, die er sich auf die Nasenwurzel klemmte. Jetzt erst fiel ihm auf, dass die Gläser verschmiert waren, und er wischte sie mit dem Ende seiner Krawatte ab. »Sie muss auf den Rücken gelegt worden sein«, fuhr er fort und diesmal ohne zu blinzeln, »denn am Rücken ihrer Kleidung hafteten Spinnweben, Schmutz und ein zerquetschtes Insekt.« »Dr. Dünne«, warf Clarke ein, »das Mädchen dürfte zu diesem Zeitpunkt am Sterben gewesen sein.« »Nicht am Sterben, Superintendent, sondern bereits tot«, berichtigte Dünne düster. »Diese anderen Verletzungen, die sie davontrug, als sie sich wehrte, wie Sie in Ihrem Bericht erwähnten, muss sie sich demnach früher zugezogen haben.« »Ich nehme an, unmittelbar vor der ersten Stichwunde.« Dunne blätterte die Seiten zurück. »Am Hals befanden sich Blutergüsse und Kratzspuren, was darauf hindeutet, dass ihr Angreifer sie dort gepackt hat.« Er streckte die Linke aus und legte sie um den Hals des Detectives zu seiner Rechten. Der junge Mann lächelte gezwungen und massierte sich die Stelle, nachdem Dunne wieder losgelassen hatte. 617

»Sie leistete verzweifelt Widerstand gegen diese würgende Hand und versuchte gleichzeitig das herabschwingende Messer abzuwehren. Die Klinge streifte die Hand und drang tief in ihre Brust ein.« Dunnes Rechte schwang in die Luft und stieß seitwärts in einem Bogen herab. »Diese erste Stichwunde drang durch den Lungenflügel, und gleich darauf folgte die tödliche Wunde.« „Aber warum hat er ihr das Messer in den Rücken gestoßen?“, wunderte Molloy sich laut. »Sie war doch inzwischen bereits tot.« Dunne lächelte schwach und verstaute seine Brille wieder in der Jackentasche. »Das zu klären ist Ihre Sache, Sergeant. Ich bin nur hier, um Ihnen zu sagen, was er getan hat, nicht warum.« Die beiden Männer lächelten schief, es war das erste Mal, dass Molloy nicht besorgt wirkte. Clarke unterbrach wieder. Er blickte auf den Report. »Was ist das mit diesem IUD?« Dunne lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und erklärte: »Ein IUD ist Ihnen vielleicht besser als Pessar bekannt, es dient zur Empfängnisverhütung.« Besorgt, dass ihm irgendeine Kleinigkeit entgehen könnte, erkundigte sich Clarke: »Sonst noch irgendetwas anderes Wesentliches?« Er wusste nur zu gut, wie schwierig es war, an Dunne heranzukommen, nachdem er seine Berichte abgegeben hatte. „Nun, es lässt darauf schließen, dass das Mädchen sexuell aktiv war“, entgegnete Dünne. »Diese Pessare werden gewöhnlich niemandem eingesetzt, der noch so jung ist.« Clarke machte sich ein paar Notizen, dann lächelte er, um anzudeuten, dass er seinen Ausführungen nichts mehr hinzuzufügen 618

gedachte. Commissioner Murphy hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen. »Legen wir eine Pause ein«, schlug er vor.

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10.15 Uhr »Hätten Sie ein paar Minuten Zeit für mich?« Dr. Frank Clancy stand an der Tür zu Linda Speers Sprechzimmer in ihrer im obersten Stockwerk des Hospitals gelegenen Suite, die sie sich ganz nach ihren persönlichen Wünschen hatte einrichten lassen. Unter den vielen kleinlichen Eifersüchteleien und beruflichen Rivalitäten kam nichts dem Ärger und Groll gleich, der durch die Aufmerksamkeit und das viele Geld laut geworden war, mit dem man das Dreamteam regelrecht überhäufte. Nur wenige Tage, nachdem die drei Koryphäen aus Boston ihren Einzug gehalten hatten, wurde die oberste Etage geräumt, komplett neu eingerichtet und mit der Bezeichnung »HERZ-STIFTUNG« versehen. Equipment auf dem aktuellsten technologischen Stand, wie zum Beispiel Geräte für Angiogramme, Radioisotop-Scanning oder ein Echokardiograph, war installiert worden, obwohl das meiste der ausgetauschten Ausrüstung durchaus noch gut war. Ein neues Spezial-Labor wurde sofort neben der Intensivstation für frisch operierte Patienten eingerichtet. Auf demselben Korridor entstand die allermodernste Koronar-Wachstation mit der neuesten diagnostischen und intensiv-medizinischen Einrichtung. »Die Nähe des Labors zu diesen beiden Nervenzentren der Kardiologie«, hatte der Gesundheitsminister Regan dem verärgerten Krankenhauspersonal am Tag der Eröffnung erklärt, »wird Dr. Stone 619

Colman gestatten, innerhalb weniger Minuten nach einem akuten Herzinfarkt die biochemischen und zellularen Veränderungen zu analysieren.« Das Bostoner Trio, das hinter Regan stand, hörte aufmerksam zu. Dan Marks' Florida-Sonnenbräune war in dem sonnenlosen irischen Winter verblasst, trotzdem sah er wie üblich leger und ungemein selbstbewusst aus. Linda Speer, die neben ihm stand und ihm hin und wieder etwas zuflüsterte, trug unter einer grau karierten Jacke eine Leinenbluse und dazu eine beige Gabardinehose. Stone Colman lehnte grinsend an einer Wand. Er hatte immer noch seinen Bürstenschnitt und seine Vorliebe für zerknittert wirkende Anzüge, aber er wirkte entspannter als bei seinem ersten öffentlichen Auftreten in Irland. Regan schnurrte fast vor Begeisterung und sah wie ein zufriedener Kater aus, während er fortfuhr: »Sie wird auch die elektronische Überwachung ähnlicher Veränderungen bei frisch am Herzen operierten Patienten ermöglichen.« Sein strahlendes Gesicht bot einen deutlichen Kontrast zu den Mienen der keineswegs so begeisterten Ärztekollegen, die sich nun mit einem drastisch gekürzten Budget herumschlagen mussten. Das Lebertransplantations-Team, das pädiatrische Asthma-Forschungs-Team, die Genetiker, sie alle wussten nur zu genau, mit welchen Unsummen Regans Kardiologen-Team verwöhnt wurde. Es gab niemanden im Mercy Hospital, der die drei Bostoner Spezialisten nicht auf den Mond gewünscht hätte. Das machte den Superstars der Medizin freilich wenig aus, sie verkehrten weder dienstlich noch privat mit ihren Kollegen. Abgesehen von den Cocktailpartys, die die Regierung gab, blieben sie unter sich und vertieften sich in ihre Arbeit, denn sie wussten, dass sie entscheidende Ergebnisse vorweisen muss620

ten, um das enorme Budget zu rechtfertigen, das ihnen zugestanden worden war. Falls sie ein Privatleben hatten, blieb es ein wohl gehütetes Geheimnis. Niemand sah sie je privat in der Stadt. Linda Speer hob den Kopf nicht einen Millimeter von den Papieren auf ihrem Schreibtisch, als Frank Clancy sie ansprach. »Tut mir Leid, ich bin beschäftigt.« Sie klang sehr verärgert über die Störung. Clancy sah sich in ihrem Sprechzimmer um und bewunderte die Rosenholzmöbel, die indirekte Beleuchtung, die grüne Ledercouch und das Getränkewägelchen, das diskret in einer Ecke untergebracht war. »Ich muss aber jetzt mit Ihnen sprechen«, drängte er. Speer bedachte ihn mit einem ungehaltenen Blick, sodass Clancy sich noch unwohler fühlte. Er spürte, wie billig er gekleidet war, verglichen mit diesem perfekt gestylten Top-Designer-Wunder vor ihm. »Ich bin Frank Clancy, der Hämatologe des Krankenhauses.« »Und?« »Ich habe ein Problem, über das ich mit Ihnen reden möchte.« »Ich hoffe, es ist ein medizinisches Problem«, Speer blickte immer noch nicht auf, »sonst würde ich vorschlagen, dass Sie nachsehen, ob die Sozialarbeiter noch im Haus sind.« Clancy ignorierte den billigen Spott. »Es handelt sich um einen Ihrer Patienten.« Jetzt hörte Speer zu schreiben auf und drehte sich um. »Und was«, fragte sie gedehnt mit noch stärkerem Akzent als sonst, »haben Sie mit einem meiner Patienten zu tun?« Sie zog eine Braue hoch. Die besondere Betonung des Wortes »meiner« wirkte fast sexuell aufdringlich, und Clancy musste sich räus621

pern, um sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Ihm entging nicht, dass Speer sich heimlich über ihn lustig machte. »Es handelt sich um einen Einundsechzigjährigen namens Harold Morell«, las Clancy aus der Krankenakte, die er schon die ganze Zeit in der Hand hielt. »Vielleicht erinnern Sie sich an ihn?« Speer schüttelte unwirsch den Kopf. »Nein. Reden Sie schon weiter.« Clancy blickte sie überrascht an. »Nun, an Mr. Morell wurde vor etwa vier Wochen hier oben eine dreifache Bypass-Operation vorgenommen. Sie verlief sehr gut und ...« »Das ist üblicherweise der Fall«, unterbrach ihn Speer scharf. »Nächste Woche werden die Ergebnisse unserer ersten sechs Monate hier bekannt gegeben, dann können Sie sich überzeugen, wie gut wir mit unserer Arbeit vorankommen.« Clancy zupfte nervös an der Brille in der Brusttasche seines weißen Kittels. Er hatte in der nationalen Presse gelesen, dass John Regan bei einer Pressekonferenz am Mittwoch, 20. Mai, ein Scheck über zwanzig Millionen Pfund EU-Gelder überreicht werden würde. Clancy beabsichtigte an diesem Ereignis nicht teilzunehmen, ihm würde bei all dieser Beweihräucherung nur die Galle hochkommen. »Ja, davon bin ich überzeugt. Da gibt es jedoch ein Problem, das mir zu schaffen macht.« »Und Sie wollen, dass ich Ihnen helfe?« Speers Aufmerksamkeit schweifte ab, Clancy spürte es. »Nun, da ist eine Sache, in die Sie zweifellos etwas Licht bringen könnten.« Clancy ging auf Speer zu, legte die Mappe mit Harold Morells Krankengeschichte auf den Schreibtisch und blätterte 622

rasch darin. Ein Hauch teuren Parfüms streifte seine Nase. »Ist das ein kardiologisches Problem?« »Nein.« »Hat es irgendetwas mit Kardiologie zu tun?« Speers Blick schien ihn zu durchbohren. »Nein.« »Was zum Teufel wollen Sie dann hier?«, brauste sie auf. »Ich habe eine Menge Arbeit zu erledigen.« Ihr goldenes Armband streifte über einen Stapel Diagramme. »Nun, wissen Sie«, versuchte Clancy es erneut, »der Patient kam von dieser Station und ...« »Wo ist er jetzt?«, fauchte Speer wütend. »Sagen Sie bloß nicht, dass er unten auf der Dermatologie-Station liegt. Ich verstehe nichts von Hautkrankheiten.« Clancy legte die Mappe auf das Blatt, an dem sie arbeitete. »Nein«, erwiderte er ruhig, »er befindet sich auf meiner Station, in der Hämatologie. Er ist schwer krank. Er hat Agranulozytose.« Speer blickte nur kurz auf die Aufzeichnung. »Ihm fehlen weiße Blutkörperchen, richtig?«, fragte sie. »Ja. In seinem Fall sowohl im peripheren Blutkreislauf wie auch im Knochenmark.« »Das ist wohl ein Hämatologie-Problem, nicht wahr, Dr. Clancy?« Speer begann ihm deutlich zu zeigen, dass er jetzt gehen und sie mit solchen Nebensächlichkeiten nicht länger belästigen sollte. »Ja.« »Und Sie sind der Hämatologe, richtig?« »Ja.« »Nun«, sie schlug die Mappe zu und gab sie Clancy zurück, »sollten Sie nicht bei Ihrem Patienten sein?« 623

Clancy ließ sich nicht abwimmeln. »Ich muss herausfinden, wieso es bei Morell dazu gekommen ist.« Er fixierte Speers Gesicht. »Und ich muss wissen, warum es innerhalb von drei Monaten in diesem Krankenhaus zu gleich drei Fällen dieser seltenen Funktionsstörung des Blutes gekommen ist.« »Sie sind der Hämatologe, Dr. Clancy! Bei allem Respekt, aber das ist Ihr Job.« Clancy beschloss seine Zurückhaltung aufzugeben. »Niemand weiß das besser als ich, Dr. Speer. Aber was zu denken gibt, ist die Tatsache, dass jeder dieser drei Patienten etwa vier Wochen, ehe diese äußerst seltene Funktionsstörung des Blutes ausbrach, für die eine oder andere Behandlung in dieser Herzstation war. Ich frage mich, ob es da eine Verbindung gibt. Schließlich ist es die Aufgabe eines Hämatologen, auch nach den Ursachen einer Krankheit zu suchen.« Speer griff angewidert nach Harold Morells Krankengeschichte, als müsse sie Hundekot entfernen, und blätterte sie durch, bis sie zu der Seite mit seiner stationären Behandlung kam. Sie ließ die Mappe fallen und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu, ehe sie sich herabließ, Clancy zu antworten. »Er hatte die übliche Versorgung: ein routinemäßiges Belastungs-EKG, gefolgt von einem Angiogramm und danach einer dreifachen Bypass-Operation. Die postoperative Phase verlief völlig ohne Probleme.« Sie langte nach einem anderen Ordner und blätterte durch die eselsohrigen Seiten. »Was aus diesen Patienten wird, nachdem sie die Herzstation verlassen haben, geht mich nichts an.« Einen Moment lang war Clancy wie betäubt. Linda Speers Arroganz war an sich schon schlimm genug, aber dass ihr die dras624

tische Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines ihrer Patienten völlig gleichgültig war, bestürzte ihn zutiefst. „Ich finde Ihre Haltung in dieser Sache mehr als befremdlich.“ Er konnte sich kaum noch beherrschen. Er hatte von ihrer legendären Sachlichkeit und Kälte gehört, von ihrer Einstellung gegenüber Patienten, in denen sie lediglich interessante pathologische Muster sah, an denen sie herumhantieren und die sie nach Belieben zur Seite legen konnte. »Aber«, fuhr er verbittert fort, „dass Sie glauben, Sie könnten Ihre Patienten sang- und klanglos aus dieser Station entfernen und sich einen Deut um ihr weiteres befinden scheren, ist, gelinde gesagt, verblüffend, um nicht zu sagen, erschreckend!« Er zitterte vor Wut. Speer beschäftigte sich weiter mit ihren Papieren. »Denken Sie, was Sie wollen. Das ist Ihr Problem, nicht meines.« Clancy ließ sich auch jetzt nicht abwimmeln. »Es ist mehr als mein Problem, Dr. Speer, es ist sehr viel mehr.« Speer sah langsam hoch. „Die beiden anderen Patienten, eine Mary Hyland und ein James Murphy«, Clancy las von einem Zettel ab, den er aus einer Seitentasche gezogen hatte, »erkrankten beide jeweils sechs Wochen, nachdem sie aus dieser großartigen Herzstation entlassen worden waren, an Agranulozytose.« Seine Stimme zitterte vor Wut. »Ich frage mich, welcher Behandlung wurden sie unterzogen? Welche Medikamente, für das Herz oder möglicherweise für etwas anderes, wurden ihnen verschrieben, die ihre Blut- und Knochenmarkbeschaffenheit so drastisch verändert haben können?« 625

Linda Speers Gesicht blieb unbewegt. »Was kann, von Drogentherapien einmal abgesehen, Agranulozytose verursachen?«, entgegnete sie. „Radioaktive Strahlung sowie zytotoxische und auch antimetabolische Therapien«, rasselte Clancy herunter, »schwere Infekionen oder manchmal Blutkrankheiten wie Leukämie.« „Haben Sie ...?«, begann Speer, aber Clancy unterbrach sie sofort. »Nichts davon trifft zu.« Speer ließ ihren Schuh von den Zehen ihres rechten Fußes baumeln. Ihre Stirn lag in Falten. »Gibt es da nicht eine idiopathische Form, bei der wir nie eine Ursache finden können?« Diese Frage war wohl als hilfreiche Erklärung gedacht. »O ja, die gibt es durchaus«, bestätigte Clancy, »aber drei Fälle von idiopathischer Agranulozytose in den letzten Monaten wären wohl doch ein zu großer Zufall, meinen Sie nicht auch?« »Nun«, Speer seufzte, während sie aufstand und sich streckte, womit sie unmissverständlich ausdrückte, dass das Gespräch zu Ende war, zumindest so weit es sie betraf. »Sie sind der Hämatologe, Dr. Clancy. Das ist Ihre Angelegenheit.« Clancy ging zur Tür und lehnte sich dagegen. Speer funkelte ihn wütend an. »Sie wollen doch nicht etwa versuchen, mich hier festzuhalten, bis ich Ihr Problem löse, oder?« Clancy ignorierte ihren spöttischen Ton. »Wurden diesen Patienten noch irgendwelche anderen Medikamente verschrieben, die möglicherweise nicht in ihre Krankenakte eingetragen sind?« Speer setzte sich langsam wieder, ihr Blick war eisig. »Worauf genau wollen Sie hinaus?« Der Bostoner Akzent klang abgehackt und feindselig. 626

Clancy ging zum Schreibtisch zurück und blätterte durch Harold Morells Ordner, bis er zu der Seite mit den zur Behandlung verabreichten Medikamenten kam. »Ich sehe, dass Sie D/N Aspirin benutzen, nicht das übliche Blutverdünnungsmittel, das wir in der Hospitalapotheke haben.« Er hielt inne und wartete. Weder Antwort noch Erklärung folgten. Linda Speer starrte ihn lediglich mit einer Mischung aus Verachtung und Wut an. Clancy ließ nicht locker. »Ich bin nicht mit D/N Aspirin vertraut, und ich wunderte mich, weshalb Sie es benutzen, wenn wir hier im Krankenhaus gleichwertige Mittel haben.« Er zog fragend die Brauen hoch. Speers Gesicht war wutverzerrt, als sie zischte: »Weil wir es mit vollem Erfolg in Boston anwendeten. Es ist das Aspirin, das im Vergleich mit scheinbar gleichwertigen Produkten die am längsten anhaltende Wirkung hat. Wir verwenden dieses Aspirin seit fünf Jahren, und wie Sie selbst wissen müssten, bleiben Ärzte bei Medikamenten, die sich bewährt haben.« »Aber«, fuhr Clancy ungerührt fort, »D/N Aspirin ist in Irland nicht erhältlich. Ich habe mich selbst vergewissert.« »Wir haben unsere eigene Grundausstattung an Medikamenten mitgebracht«, schrie Speer, deren glatte Fassade endlich anfing zu bröckeln. »Gottverdammt, wir haben ein paar Kisten von dem Zeug mitgebracht! Clancy, lassen Sie mich verdammt nochmal in Frieden! Gehen Sie, und arbeiten Sie etwas, oder ich lass Sie vom Sicherheitsdienst rauswerfen!« Sie stand auf, ging zur Tür und riss sie auf. Der Arm mit dem Goldschmuck deutete fuchtelnd zum Korridor. »RAUS!«, brüllte sie. Clancy sammelte die Blätter von Harold Morells Krankenakte bedächtig ein. Dann fragte er scheinbar arglos mit gekrauster 627

Stirn: »Wie schreibt sich eigentlich Ihr Familienname?« Verblüfft buchstabierte sie mit ihrem überbetonten Bostoner Akzent: »S - P - E - E - R.« Voller Verachtung wiederholte sie die Buchstaben fonetisch: »SSS - PPP - EEE - EEE - RRR. Speer. Zufrieden?« Clancy schob sich an ihr vorbei. »S - P - E - E - R«, wiederholte er langsam und nachdenklich, dabei schüttelte er den Kopf, als wundere er sich über etwas. Schließlich blickte er zu der Kardiologin zurück und lächelte. »Ein so gewöhnlicher Name für eine so ungewöhnliche Frau.« Linda Speer blieb sprachlos vor Zorn zurück. Auf dem Korridor hielt Stone Colman Clancy auf. Seine Sprechzimmertür stand weit offen. Er hielt eine Hand hoch. „Wow! Was ist los? Warum zum Teufel dieses Gebrüll?« Linda Speer kam heraus. »Ist schon okay, Sam. Dr. Clancy wollte nur zeigen, was er für ein Arschloch ist, und ich habe ihn in seine Schranken verwiesen.« Sie winkte abfällig. »Es ist keine große Sache. Vergessen Sie es.« Colman bedachte Clancy mit einem finsteren Blick. »Benehmen Sie sich. Sie sind hier in einem Hospital, nicht in einem Bordell.« Clancy ging. Bei den Aufzügen drehte er sich kurz um. Speer und Colman waren in ein Gespräch vertieft.

12

11.07 Uhr Während der Kaffeepause hatte Commissioner Donal Murphy sich abgesondert und nicht um die Gespräche der kleinen Gruppen rundum gekümmert. Er hatte wenig zu der Besprechung 628

beigesteuert, außer dass er John Regan an seinen Platz verwiesen hatte. Aber er machte sich Sorgen. Er war mit voller Absicht als Letzter in das Konferenzzimmer gekommen, denn er hatte wenig Zeit für offene politische Streitereien, und eigentlich wollte er hauptsächlich sehen, welche Heinis von der Regierung auftauchen würden. Er wusste, dass die Untersuchung in diesem Fall Furore machen würde, es hatte ihn deshalb auch nicht wirklich verwundert, dass bereits drei Fernsehteams draußen warteten, noch ehe die Besprechung überhaupt begann. Das Büro der News in Boston hatte sich seit dem frühen Morgen mehrmals nach dem neuesten Stand erkundigt. Eine Medienmeute würde bald jeden Schritt verfolgen. Er war überzeugt, dass Regan aus diesem Fall herausholen würde, was er nur konnte, noch leichter und billiger konnte er gar nicht zu Eigenwerbung kommen. Erklärungen und Fotos des höchstpersönlich an der Morduntersuchung beteiligten Gesundheitsministers, das musste ein Volltreffer für seinen Publicityberater sein. Regan würde alles in seiner Macht Stehende tun, um seinen Ruf zu schützen und natürlich auch seinen größten Aktivposten: das Dreamteam. Der Mord an Jennifer Marks könnte die Herz-Stiftung in ihren Grundfesten erschüttern, seine Ambitionen zunichte machen und ihn der Gnade der irischen Ärzteschaft ausliefern. John Regan, unübertrefflicher Politiker, Sozialist in teuren Designer-Klamotten und Liebling der Medien, könnte durch die Mordtat eines unbedeutenden Messerstechers und Drogenabhängigen zerquetscht werden wie eine Fliege. Murphy war klar, dass Regan Micko Kellys Kopf auf einem silbernen Tablett serviert bekommen wollte und zwar schnell! »Was wissen wir sonst noch über Kelly?«, fragte er jetzt. »Wie 629

gefährlich ist er? Wie schwierig könnte es sein, ihn zu verhaften, ohne dass die Aktion in eine Schießerei ausartet?« Murphy war sich der Schwierigkeiten sehr wohl bewusst. Es war für keinen Außenstehenden ratsam, Hillcourt Mansions zu nahe zu kommen. »Concerned Parents Against Drugs«, Eltern, die sich Sorgen machten, dass ihre Kinder sich Drogen besorgten, hatten dagegen demonstriert. Manch einer dieser Demonstranten war bald darauf von Drogendealern, denen es gar nicht gefiel, dass ihrem Stützpunkt so viel Aufmerksamkeit gezollt wurde, überfallen und übel zugerichtet worden. Die Demonstrationen hatten daraufhin aufgehört, und die Bewohner der Hillcourt Mansions konnten wieder ihrem Tagwerk nachgehen, sich voll spritzen und danach durch Rauben und Stehlen Geld für ihre Sucht beschaffen. Die Mansions hatten ihr eigenes Frühwarnsystem. Die Dealer wechselten sich ab, die einzige Zufahrt zu bewachen, die breit genug für Streifenwagen und die grüne Minna war. Kaum wurde eine

blaue

Uniform

gesichtet,

schlugen

sie

mit

Mülltonnendeckeln gegen die Hauswand, und innerhalb kürzester Zeit hallten scheppernde Deckel und wüste Flüche in dem Betondschungel wider. Alles, was sich auf dem Hof bewegte, wurde mit Steinen beworfen, und Toiletten wurden mit ungewöhnlicher Häufigkeit gespült, um Drogenvorräte verschwinden zu lassen. Hillcourt Mansions zu durchsuchen würde reiflicher Überlegungen bedürfen. »Die Mansions sind sehr gefährlich«, erklärte Molloy und schlug einen der drei dicken Ordner auf seinem Schoß auf. Die Sonderkommission bemühte sich, Platz am Tisch zu finden. Manche drängten sich zu zweit auf die Stühle. Trotz der offenen 630

Fenster war die Luft zum Schneiden dick. Der Police Commissioner bedeutete, ihm einen der Stühle frei zu machen, und setzte sich. Er schlüpfte aus seiner Jacke und hängte sie über die Rückenlehne. »Reden Sie weiter«, befahl er. »Kelly ist als Kleinkrimineller amtsbekannt. Er ist zwar ein unberechenbarer Gewalttäter, hat aber unseres Wissens bis jetzt keine größeren Dinger gedreht.« Molloy blätterte durch die Seiten. »Seine Familie wohnte in einem städtischen Mietshaus in der Innenstadt, ehe sie im Außenbezirk unterkam. Sie nahm ihre sozialen Probleme mit.« Er hielt kurz inne, um eine Seite zu überfliegen. »Er ist der dritte von vier Söhnen. Außerdem gibt es noch drei Töchter. Der Vater wurde nach einem Saufgelage aus dem Liffey gefischt. Die Mutter tat vergebens ihr Bestes, um ihre Kinder von der Straße fern zu halten.« Jemand öffnete ein Fenster, und Verkehrslärm drang in das überfüllte Zimmer. »Kelly machte sich einen Ruf als Messerstecher, nachdem er ein paar

Tankstellen

überfallen

und

mit

Bowiemessern

herumgefuchtelt hatte. Eine Überwachungskamera nahm ihn auf, er wurde identifiziert und verhaftet. Er war auf Kaution frei, und seine Verhandlung stand bevor, als er sich mit...« Molloy musste nach dem Namen suchen. »... Dinny Johnstone aus Finglas, einem ebenfalls

Drogenabhängigen,

anlegte.

Sie

stachen

aufeinander ein, und Johnstone starb, noch ehe er im Krankenhaus ankam. Kellys Messer hatte ihn unter anderem direkt ins Herz getroffen.« »Sonst noch etwas?«, fragte Murphy. Seine Miene war unbewegt, doch sein analytischer Verstand arbeitete auf Hochtouren. 631

»Er wurde zu zehn Jahren verurteilt, aber er konnte auch im Gefängnis nicht von den Drogen lassen.« Molloy klappte den Ordner zu. »An einem Wochenende wurde seine Zelle auf den Kopf gestellt.« Murphy wischte sich Schweißtropfen vom Haaransatz. »Wurde etwas gefunden?« »Das Übliche: Heroinpäckchen, Spritzen, Alufolie mit Crack, Kokain, ein paar Aufputschtabletten. Nichts, was überrascht hätte.« »Was war dann das Besondere?« Murphy zog die Brauen hoch. »Nun, Micko nahm die Durchsuchung offenbar persönlich«, erklärte Molloy. »Er ließ sich Zeit, bis er einen der Wärter in der Druckerei allein erwischte. Er zog sein selbst fabriziertes Messer und säbelte ihm fast die Hand ab. Zwei weitere Sträflinge hielten den Mann fest, während Micko sägte. Der Wärter wurde sieben Stunden lang in der Chirurgie operiert, bis die Hand angenäht war.« »Himmel!« Jemand pfiff durch die Zähne. Der Commissioner sprach die Gedanken aller Anwesenden aus: »Es ist also nicht zu spaßen mit ihm.« »Stimmt.« Molloy nickte. »Und er ist noch aggressiver geworden. Seine Spezialität sind jetzt schmutzige Spritzen und Klingen. Er ist heroinabhängig und würde keine Sekunde zögern, jemandem die Kehle aufzuschlitzen, wenn er sich dadurch Geld für einen Schuss verspräche.« Die Tür ging auf, und eine junge blonde Sekretärin zwängte sich herein. Die Männer blickten sie bewundernd an und freuten sich über die angenehme Ablenkung. Das Mädchen überflog suchend die Gesichter, bis es Clarke entdeckte. Unwillkürlich pfiff 632

jemand, unterdrückte es jedoch sofort wieder. Die Sekretärin gab Clarke zwei Faxe. Er las sie rasch durch und wandte sich dann wieder der ersten Seite zu. Er runzelte die Stirn. »Okay.« Er nickte. »Zeugen haben ausgesagt, dass Jennifer Marks und ihre Freundin Joan Armstrong nicht an der Haltestelle Sydney Parade ausgestiegen sind. Beide fuhren bis zur nächsten. Später wurden sie in Balfe's Pub in Ringsend gesehen.« Balfe's war eine typische Drogenkaschemme, wo viele Dealer ihre Ware verteilten und Bestellungen entgegennahmen. »Man hat gesehen, dass Micko Kelly und die Marks kurz nach achtzehn Uhr dreißig das Pub verließen und sich Richtung Sandymount Park begaben. Die Armstrong begleitete sie nicht.« Er hielt inne und bemühte sich, die verwischten Angaben der zweiten Seite zu entziffern. »Marks trug keine Schuluniform mehr, hatte jedoch eine Tasche bei sich.« Murphy stand bedächtig auf und zwängte sich zur Tür durch. Seine Jacke hatte er über die Schulter geworfen. Ehe er die Tür öffnete, drehte er sich noch einmal um. »Jetzt übernehmen Sie, Jim. Ich würde sagen, wir holen uns Kelly. Aber starten Sie um Himmels willen keinen Aufstand.« »Sorgen Sie dafür, dass unsere Spitzel Bescheid bekommen«, wandte Clarke sich an seine Leute. Er fuhr mit einem Taschentuch über Gesicht und Haare. Dadurch sah er noch verschwitzter aus. »Wir wollen Kelly. Wenn er gesichtet wird, schnappt ihn euch. Er darf keinen Verdacht schöpfen, denn sonst setzt er sich in den Untergrund ab, und wir haben das Nachsehen.« Notizblöcke fächelten verschwitzten Gesichtern Kühlung zu. »Streckt eure Fühler in der Szene aus, findet heraus, wo genau sein Unterschlupf ist, ob er ihn auf Dauer benutzt oder nur hin 633

und wieder dort untertaucht. Quetscht alle aus, die euch einen Gefallen schulden. Schreckt nicht davor zurück, euren Forderungen etwas Nachdruck zu verleihen. Der Zweck heiligt in diesem Fall die Mittel.« Er spürte den Adrenalinstoß, der neue Lebensgeister in ihm weckte. »Schaffen Sie ihn mir noch heute herbei.« Sein Gesicht wurde hart. »Wenn das nicht möglich ist, holen wir uns den Hundesohn in der Morgendämmerung.« Alle applaudierten begeistert. Clarke zog Molloy zur Seite. »Reden Sie noch einmal mit dem Armstrong-Mädchen. Am besten, Sie nehmen sie sich vor, wenn ihre Mutter zu Hause ist.« Molloy beugte sich zu ihm vor. »Sagen Sie ihr, dass Sie erfahren haben, wohin Jennifer ging, nachdem sie aus der Bahn ausstieg. Aber erwähnen sie weder Balfe's Pub noch überhaupt irgendwas, das mit Kelly zu tun hat. Sagen Sie ihr, sie soll noch einmal gründlich nachdenken, ob sie bei ihrer Aussage nicht etwas vergessen hat. Belassen Sie es dabei.« Von draußen war das Surren und Klicken von Kameras zu hören. »Es steckt mehr dahinter als nur die Drogen. Sie hätte nicht lügen müssen, wenn es da nicht etwas gäbe, das sie verheimlicht.« Er blinzelte in das Sonnenlicht, das durch die jetzt weit offene Tür hereinfiel. »Und finden Sie die Schultasche der Marks und ihre Schuluniform.« Die Suche nach Micko Kelly begann kurz nach Mittag. Zwischen den städtischen Polizeirevieren wurden Faxe und Anrufe ausgetauscht. Diverse Zivilwagen parkten in den schmalen Straßen und Gassen um Hillcourt Mansions, und Polizisten in Zivil sahen sich in der Gegend um und hielten über Handy Kontakt zueinander. 634

Bekannte Dealer, Junkies und Informanten wurden unauffällig angehalten und befragt. Haben Sie Kelly heute gesehen? Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen? Welche Drogen nimmt er zurzeit? Woher bekommt er sie? Wohin geht er, wenn er unbedingt sofort was braucht? Die Antworten kamen spärlich. Sie wurden sofort zu Clarke weitergeleitet, der im Polizeihauptquartier wartete. Er hatte Moss Kavanagh weggeschickt, der sich auf dem Straßenstrich umhören sollte. Viele Mädchen waren unterwegs, um sich Geld für Heroin zu beschaffen oder das Zeug selbst. Sie kannten die Drogenszene in- und auswendig. Das Angebot, sich ein paar saubere Zwanzigpfundnoten ohne die üblichen Unannehmlichkeiten zu verdienen, löste die Zunge. Es gingen mehr Informationen ein, als Clarke erwartet hatte - sie enthielten alles Mögliche, nur nicht, wo Micko Kelly sich aufhielt. Zu dieser Zeit, es war inzwischen neunzehn Uhr, richtete sich Kelly einen starken Fix in seinem Zimmer her, das er den ganzen Tag nicht verlassen hatte. Die Junkiemutter mit ihrem Junkiebaby war bereit gewesen, ihm einen Gefallen zu tun, sie war auf die Straße gegangen und hatte ihm für siebzig Pfund Crack, zwei Deals Heroin und sechzehn Rohypnol-Tabletten besorgt, außerdem zwei Tabletten, von denen man ihr gesagt hatte, es sei Ecstasy. Als Dank hatte er ihr fünfzig kürzlich geraubte Pfund gegeben und einen Beutel Haschisch. Die beiden waren sehr zufrieden mit diesem Geschäft. Kelly vergaß sogar seine Drohungen, dem kreischenden Kind die Kehle aufzuschlitzen. Sie verschwanden in ihren Zimmern, um die Nacht im Drogen-Stupor hinter sich zu bringen.

13 635

19.45 Uhr Frank Clancy sah auf Station Drei nach seinen Patienten. Die Diensthabende Schwester hielt ihn an, ehe er Harold Morell erreichte. »Es geht ihm nicht gut«, warnte sie ihn. »Er hat wieder sehr hohe Temperatur, sein Mund ist stark ulzerös, und innerhalb der vergangenen Stunde hatte er drei Rigors.« Clancy griff nach der Krankenakte, die sie ihm entgegenstreckte, und studierte die halbstündlichen Eintragungen. Morells Befund war äußerst bedenklich: schwankende, meist enorm erhöhte Temperatur, zu schnelle Herzfrequenz, niedriger Blutdruck und zu starkes Harnverhalten. Langsam ging Clancy zum isolierten Intensivraum außerhalb der Station weiter, in den man den Schwerkranken gebracht hatte. Morell lag zusammengesackt auf mehrere Kissen gestützt, in beiden Nasenlöchern eine Kanüle, durch die Sauerstoff zugeführt wurde, und Infusionen mit Antibiotika in den Armen. Ein langer Katheter sorgte für den Urinabfluss aus seiner Blase. Der Mann auf dem Bett war nur noch ein Schatten des großen, kräftigen Kerls aus besseren Tagen. Seine Frau, eine große, dickliche Person mit grau meliertem Haar, hielt seine Hand. Ihr Gesicht war vor Sorgen verhärmt. Sie zerknüllte ein weißes Taschentuch in der Hand. Clancy genügte ein Blick auf den Patienten, um zu erkennen, dass er im Sterben lag. Er trat näher ans Bett und wich dem fragenden Blick von Morells Frau aus. »Harry!« Fast schrie er in das linke Ohr des Mannes. Harold Morell öffnete flüchtig die Augen, benetzte die Lippen und versuchte zu sprechen, dann schüttelte er den Kopf. 636

»Harry«, beschwor Clancy seinen Patienten trotz dessen Schwäche, »ich muss Sie wegen der Tabletten befragen, die Sie einnahmen, ehe Sie ins Krankenhaus kamen.« Morell nickte kaum merklich. »Ich weiß, dass Ihnen Adizem und D/N Aspirin verschrieben wurden, richtig?« »Ja, das stimmt, Herr Doktor«, warf Mrs. Morell ein. »Ich kümmere mich immer darum, denn er ist manchmal so vergesslich.« Clancy wandte sich der Frau zu. »Könnte es sein, dass er mehr genommen hat, als er sollte? Sie wissen schon, aus Versehen, vielleicht war er verwirrt?« »Nein, Herr Doktor.« Mrs. Morell verneinte es energisch, und Clancy zweifelte nicht daran, dass sie besonders in diesen Dingen eine sehr gewissenhafte Frau war. Er hatte Patienten gehabt, die eine Tablette nicht von einem Stück Schokolade unterscheiden konnten, und andere, die mit den Dosierungsanweisungen nicht zurechtkamen. Mrs. Morell war aus anderem Schrot und Korn. Sie befolgte die Direktiven mit äußerster Gewissenhaftigkeit. „Ich bewahre sie immer in einer kleinen Pillenschachtel auf und nehme nur die tägliche Dosis heraus. Den Rest habe ich im Arzneischrank.« Sie sprach mit Norddubliner Akzent. Clancy lächelte anerkennend über ihre Sorgfalt und tat so, als beschäftige er sich mit einem Infusionstropf, um Zeit zum Überlegen zu haben. »Gab es nur diese zwei unterschiedlichen Tabletten?«, erkundigte er sich, während er die Nasenkanülen überprüfte. »O ja!«, versicherte ihm Mrs. Morell. »Die rosa-blaue Kapsel für seinen Blutdruck und die kleine blaue Tablette für sein Blut.« »Sie haben sie nicht zufällig bei sich?« Clancy fügte der Krankenkarte am Bett eine überflüssige Bemerkung hinzu. »Nein, tut mir Leid, Herr Doktor. Ich dachte nicht, dass Sie sie 637

brauchen würden. Sie sind zu Hause.« Clancy lächelte sie an, ehe er das Zimmer verließ. »Vielleicht könnten Sie sie morgen mitbringen, wenn Sie Ihren Mann besuchen?« »Tue ich, Herr Doktor. Ich mache einen Knoten in mein Taschentuch, um mich daran zu erinnern.« Sie ließ den Worten sofort die Tat folgen. »Sehen Sie«, sie hielt das Taschentuch hoch, »ich werde es nicht vergessen.« »Vielen Dank. Bringen Sie mir alle, lassen Sie keine zu Hause.« »Nein, ich bringe Ihnen alle«, versprach die tüchtige Mrs. Morell. Clancy fasste die Stationsschwester am Arm und zog sie in eine Ecke des Korridors. »Louise«, bat er und kramte in den Taschen seines weißen Kittels, »würden Sie bitte diese beiden Krankenakten für mich heraufbringen lassen?« Die Schwester nahm den zerknitterten Zettel und las die gekritzelten Namen. »Mary Hyland ... James Murphy?« Clancy nickte und machte sie auf die Aktenzeichen aufmerksam, die er daneben notiert hatte. »Sie sind beide tot«, fügte er hinzu und schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand mithören konnte. »Sie müssen also bereits im Archiv sein.« Der Blick der Stationsschwester haftete auf den beiden Namen. »Versuchen Sie die Unterlagen bis morgen für mich zu besorgen. Ich habe einen ganzen Berg von Papierkram zu erledigen, ehe ich heimgehe. Es wäre großartig, wenn Sie das bis morgen für mich tun könnten.« Er zwang sich zu einem hoffnungsvollen Lächeln. Während der beunruhigte Blutspezialist eine Reihe von Testergebnissen anderer Patienten durchforschte, saß Linda Speer in 638

der Herzstiftungs-Etage am Telefon. Sie hatte die Tür ihrer Suite verschlossen und die Jalousien heruntergelassen.

Nachdem um zweiundzwanzig Uhr dreißig am Mittwoch, 13. Mai, immer noch kein Hinweis auf den Aufenthalt von Michael Leo Kelly eingegangen war, traf Jim Clarke die Entscheidung, Hillcourt Mansions im Morgengrauen des folgenden Tages zu stürmen. Er beauftragte Molloy und Kavanagh, den Sturmtrupp zusammenzustellen und den genauen Angriffspunkt zu bestimmen. Zu Hause sackte er ins Bett und versuchte zu schlafen, doch der Schlaf entzog sich ihm. Die Schmerzen, die Erregung, Kelly zu verhaften, den Fall mit einem dramatischen Schlag abzuschließen, pumpten Adrenalin durch seinen Körper. Er wälzte sich die ganze Nacht herum und beobachtete, wie die Zeiger seines Weckers sich viel zu langsam bewegten. Auch Molloy und Kavanagh, die im Polizeihauptquartier geblieben waren, konnten nicht schlafen. Sie hatten sechsundzwanzig Männer ausgewählt und die morgendliche Razzia mit ihnen besprochen. Auch sie behielten die Uhr im Auge, während sie sich die Zeit mit Pokern und Gesprächen vertrieben und dabei nervös eine Zigarette nach der anderen rauchten. Kavanagh stahl sich für fünf Minuten davon,

um Barry Nolan, dem

Gerichtsreporter der Post, einen Tipp zu geben. »Wir haben dem Einsatz den Kodenamen >Operation Sturm auf die Barrikaden< gegeben«, erklärte er triumphierend. Nolan verbrachte den Rest der Nacht zusammengekauert in einem engen Lieferwagen in der Nähe der Mansions. Er hatte drei Kameras bei sich, zwei mit 639

Teleobjektiven, und genügend Film, um einen kleinen Krieg zu dokumentieren. Kurz zuvor hatte er mit dem Boston Globe bereits

ein

fettes

Honorar

für

eine

Exklusivreportage

ausgehandelt. Joan Armstrong lag hellwach in ihrem Zimmer im Dubliner Vorort Sandymount. Die Einstichspuren an ihren Armen waren schwerer zu verbergen, als sie dachte. Sie hatte das Telefon nicht benutzen können, ohne dass jemand sie gehört hätte. Am Abend hatte Tony Molloy angerufen. Seine abschließenden Worte machten ihr sehr zu schaffen. »Vielleicht ist da etwas, das Sie vergessen haben, Joan? Ich werde morgen noch einmal vorbeikommen. Könnte ja sein, dass Sie sich bis dahin erinnern, egal, wie unwichtig es Ihnen erscheinen mag. Okay?« Sie hatte ihren durchgeschwitzten Schlafanzug bereits zweimal gewechselt, dabei war die Nacht zur Abwechslung mal wieder ziemlich kühl. Micko Kelly schlief in seinem von Ungeziefer wimmelnden Zimmer in Hillcourt Mansions. Ungewöhnliche und beunruhigende Träume störten seinen Schlaf. Er warf sich auf seiner Matratze hin und her. Im Drogenrausch verfolgten ihn Feuer speiende Ungeheuer, die versuchten, seine Arme und Beine zu erwischen. Er schrie um Hilfe. Seine blutbefleckten Joggingschuhe und das noch blutigere ehemals weiße T-Shirt lagen unberührt in einer Ecke. Wenn Hillcourt Mansions in Flammen aufgegangen wäre, hätte es Micko gar nicht gleichgültiger sein können. Der Drache hatte Micko fest im Griff.

In New York, der Stadt, die nie schläft, stiegen nach dem unerwarteten Großeinstieg eines unbekannten europäischen Käufers 640

die Aktien von Cynx Pharmaceuticals von 17,22 auf 19,04 USDollar.

14

Donnerstag, 14. Mai 5.30 Uhr »Operation Sturm auf die Barrikaden« »Vergesst nicht, die Junkies werden euch mit Injektionsspritzen attackieren. Diese Schutzhandschuhe wurden entwickelt, um Verletzungen an den Händen zu vermeiden. Ein unentbehrlicher Teil der Ausrüstung.« Tony Molloy sprach auf dem kleinen Hof des Polizeihauptquartiers zu den sechsundzwanzig Männern des Einsatzkommandos. Das düstere Licht des Morgengrauens verbreitete sich allmählich über die aus der georgianischen Zeit stammenden Häuser. Lieferwagen waren schon mit den noch druckfeuchten Morgenzeitungen unterwegs. Der Geruch von geröstetem Malz aus der Guinness-Brauerei hing in der stillen, kalten Morgenluft. Entfernte Alarmanlagen und bellende Hunde übertrafen sich darin, die noch Schlafenden aufzuwecken. »Wir haben auch nadelsichere Jacken und Leggings. Sie jucken, aber ihr müsst sie ja nicht lange anbehalten.« Molloy betrachtete seine Leute. Sie sehen wirklich beeindruckend aus, fast ein wenig Furcht einflößend, dachte er. Die meisten waren stämmig und trugen einen Bürstenhaarschnitt. Ihre Mienen waren einschüchternd. Alle waren über eins achtzig, darauf hatte er geachtet. Zehn kamen vom Elite-Rangers-Kommando und waren im Antiterroreinsatz und in der Bekämpfung von Straßenunruhen ausgebildet. Diese zehn würden sich in zwei Fünfergruppen auf641

teilen. Die ersten fünf sollten Hillcourt Mansions betreten, um sich Micko Kelly zu holen, die übrigen fünf würden den Wohnungskomplex von außen bewachen. Die anderen Männer des Einsatzkommandos sollten sich auf strategische Punkte in den Treppenhäusern verteilen und niemanden vorbeilassen. Molloy wollte kein Handgemenge, bei dem seine Männer mit jeder nur vorstellbaren Waffe angegriffen werden konnten. „Sobald wir den Innenhof betreten, befinden wir uns auf Feindgebiet, das dürft ihr mir glauben. Ich will keine Rambo-Touren, keine Einschüchterungsversuche, keine Provokationen, legt euch mit keinem der Typen dort an. Unser Job ist, Kelly zu schnappen, nichts weiter.« Sein Blick wanderte über die unbewegten Gesichter der Männer. Er wusste genau, dass einige sich den menschlichen Abschaum nur zu gern vornehmen würden. Sie befanden sich in einem solchen Erregungszustand, dass sie jede feindliche Kaserne gestürmt hätten, nur um ihrer aufgestauten Aggression Luft zu machen. »Kelly darf nicht verwundet werden. Ich möchte einen Mann tür jeden Arm und jedes Bein und einen für seinen Kopf. Seht zu, dass er nicht beißt. Wenn der Kerl in die Enge getrieben wird, reagiert er wie ein tollwütiger Hund. Tragt ihn mit dem Gesicht nach unten. Stopft ihm nichts in den Mund, um zu verhindern, dass er wie ein Verrückter schreit. Er wird umgehend in Verwahrung genommen und dann pausenlos verhört.« Die kalte Luft legte sich beim Reden auf seine Lippen. Ihm entging der beschleunigte Atem seiner Männer nicht. Je mehr er redete, desto unruhiger schienen sie. Ihm wurde klar, dass sie direkt darauf brannten, ihren Job zu erledigen. »Ich sage es noch einmal, es ist sehr wichtig, dass er unverletzt 642

bleibt.« Niemand sprach. »Er wird den Medien vorgeführt werden, es dürfen also nicht die geringsten Spuren von Gewaltanwendung an ihm erkennbar sein.« Der Trupp hörte schweigend zu. »Sobald er draußen ist, werden Männer der Spurensicherung das Haus betreten und alle Beweismittel sicherstellen. Wir brauchen Beweise, verstanden? Auch das scheinbar unbedeutendste Indiz kann entscheidend sein.« Die Männer nickten stumm. »Okay«, fuhr Molloy fort. »Schlüpft in die Schutzkleidung. Wir brechen um Punkt sechs hier auf.« Er blickte auf seine Uhr und bedeutete den Männern, dasselbe zu tun. Im dämmernden Morgenlicht wurden siebenundzwanzig Armbanduhren einheitlich auf fünf Uhr achtundvierzig gestellt. Sechsundzwanzig Männer begaben sich in eine Übungshalle und machten sich daran, die Schutzkleidung überzuziehen. Nicht ein Wort wurde gewechselt, keiner blickte den anderen an. Die Stille war fast Furcht erregend. Molloy murmelte in ein Walkie-Talkie, und nur wenige Minuten später rollten vier schwarze Kleinbusse heran, deren Fenster mit Maschendraht verstärkt waren. Die weiße Markierung »POLICE« hob sich grell von beiden Seiten und dem Dach ab. Vier Fahrer sprangen wie auf Kommando vom Fahrersitz und öffneten die seitlichen Schiebetüren, die so gut geölt waren, dass es absolut geräuschlos vonstatten ging. »Okay, gehen wirs an«, befahl Molloy, und die Gruppe teilte sich auf. Die Visiere der schwarzen Schutzhelme waren einstweilen noch hochgeklappt. Alle trugen kugelsichere Westen sowie Jacken und Leggings, die aus einem besonderen Material hergestellt waren, das Schutz gegen als Waffen eingesetzte Injek643

tionsspritzen bot. In die schwarzen Spezialhandschuhe würden sie erst beim Aussteigen schlüpfen.

6.00 Uhr Die Türen schlossen sich, und die vier Kleinbusse fuhren hinaus auf die Harcourt Street, wo Jim Clarke auf dem Rücksitz seines neutralen Streifenwagens saß. Die Beifahrertür stand weit offen. Tony Molloy kam herbeigerannt und schwang sich auf den Sitz neben Kavanagh, der den Wagen hinter die Kolonne lenkte. »Sie sind bereit«, erklärte er grimmig, »und können es kaum erwarten, zuzuschlagen.« Clarke beugte sich vor, sein Bein hatte er seitwärts gestreckt, was momentan etwas bequemer war. »Sie haben sie doch gewarnt, nicht handgreiflich zu werden?« Molloy drehte sich nicht um, sein Blick ruhte auf dem schwarzen Kleinbus, der vor ihnen fuhr. »Keine Angst, das habe ich. Sie wissen genau, was sie tun müssen. Wir werden das Ganze in zehn Minuten hinter uns bringen«, versprach er. »Zehn Minuten.« Die kleine Kolonne raste durch die verlassenen Straßen, am St. Stephen's Green entlang und die Dawson Street hinunter, vorbei am Mansion House. Tauben und Elstern, die sich vor offenen Mülltonnen um Essensabfälle stritten, flatterten erschrocken auf. Clarke hatte seit Jahren keinen solchen Adrenalinkick verspürt und umklammerte den Türgriff. Im Rückspiegel konnte er Molloys besorgtes Stirnrunzeln sehen. Er wandte sich der Straße zu. An geschlossenen Ladenfronten vorbei bog die Kolonne in die Nassau Street, wo sich ihnen der schwarze Wagen mit dem 644

Team des Gerichtsmedizinischen Instituts anschloss, und beschleunigte in Richtung Hillcourt Mansions das Tempo.

6.15 Uhr Da zu dieser Morgenstunde nur wenig Verkehr herrschte, erreichten sie die Einfahrt der Hillcourt Mansions ohne Verzögerung. Die Motoren wurden abgeschaltet, und die Kolonne rollte lautlos in den menschenleeren Innenhof. Unrat lag herum, weggeworfene Pizzaschachteln, leere Getränkedosen und Flaschen. Folien, Papierbeutel und leere Drogenpackungen flatterten im Luftzug herum. Der Hof war an drei Seiten von verwahrlosten Mietshäusern umgeben, deren Wände mit Graffiti verschmiert waren. Die Treppenaufgänge befanden sich an beiden Enden. Nichts rührte sich entlang der Korridore, die Junkies schliefen entweder oder waren stoned.

6.18 Uhr Die Bustüren glitten auf, und das Einsatzkommando sprang heraus. Clarke beobachtete die Aktion aus der Sicherheit seines Wagens, der quer in der Einfahrt geparkt war, um mögliche Fluchtversuche zu verhindern. Rasch ließ er das Fenster herunter, damit durch seinen Atem nicht die

Scheibe beschlug.

Sechsundzwanzig schwarz gekleidete Gestalten rasten über den Betonboden zu den ihnen zugeteilten Positionen. Die RangersKommando-Einheit befand sich an der Spitze, und die vorderen fünf hatten bereits den Treppenabsatz im zweiten Stock erreicht. Im Laufen lasen sie jede Türnummer. Einer blieb plötzlich stehen und winkte seine Kameraden herbei. Sie hatten ihr Einsatzziel 645

erreicht. Am Abend hatte jemand Micko Kellys Aufenthaltsort verraten - für zwanzig Pfund, weniger, als er durchschnittlich für einen Schuss ausgab. Als die Tür aus ihren Angeln flog, begann der erste Mülldeckelalarm. 6.23 Uhr Kelly war schon wach. Er saß halb aufgerichtet auf seiner Matratze und fummelte nach einem Fix. Die ganze Nacht hindurch hatte er in seinen Wachträumen gegen Dämonen gekämpft und verloren. In seinem Gehirn herrschte Aufruhr. Er war zittrig und aufgeputscht. Seine Augen schienen nicht im Stande zu sein, den herumliegenden Unrat wahrzunehmen. Er fühlte sich unsichtbar. Schwerfällig hob er eine Hand und bewegte sie vor seinen Augen. Er konnte sie nicht sehen. Scheiße. Ich bin unsichtbar. Er hörte den plötzlichen Lärm, als die Wohnungstür nach innen krachte. Wie aus weiter Ferne vernahm er fast gleichzeitig das schrille Gekreische des Drogenbabys und die Verwünschungen der Junkiemutter, als sie versuchte, die Wohnungstür mit ihrem ausgemergelten Körper zu versperren. Micko kramte nach einem Messer, konnte jedoch keines finden. Die Dämonen waren zurück, gewaltiger denn je. Sie befanden sich im Zimmer und kamen auf ihn zu. In einer Mischung aus hilflosem Grauen und angsterfüllter Faszination beobachtete er, wie die dunkel gekleideten Gestalten näher kamen. Er starrte auf die schwarz uniformierten Arme und schwarz verhüllten Hände, die sich nach ihm ausstreckten. Aber Kelly fühlte sich unsichtbar. Sie können mich nicht sehen, sie können mich nicht packen, ich bin unsichtbar! Er fing zu grinsen an. Es war das dumme Grinsen eines Mannes, der sich nicht sicher ist, was als Nächstes geschieht, und der glaubt, dass es nicht ihm passieren kann. Der 646

es hofft. Die erste Hand, die sich um seinen Arm legte, erschreckte ihn bis ins Innerste. Er fing zu brüllen an.

6.25 Uhr »Packt den Bastard!« Zwei Mann des Ranger-Kommandos zogen seinen Kopf an den langen, fettigen Haaren brutal nach hinten. Zwei Augenpaare spähten durch geschlossene Visiere. »Maul halten, oder du kriegst eins über den Schädel.« Während seine Schreie die Junkies in den Nachbarwohnungen und im tiefer liegenden Stockwerk weckten, spürte Kelly, wie sein Körper mit Gewalt herumgedreht wurde, bis sein Gesicht auf dem Boden lag. Über die eingetretene Wohnungstür hinweg schleppte man ihn hinaus auf den äußeren Korridor. Die Junkiemutter wurde umgeworfen, und schwere Stiefel trampelten über sie drüber. Eine grobe Hand beendete ihre schrillen Verwünschungen. Einer stieß sie in eine Toilette und verschloss die Tür. Während man Kelly in die Morgendämmerung trug, schoben sich die Männer der Spurensicherung mit Säcken für Beweismittel an dem Trupp vorbei ins Innere. Die zweite Hälfte des Ranger-Kommandos schloss sich zu ihrem Schutz an.

6.37 Uhr Als die Bewohner des Hauses sich auf die Korridore wagten, rissen sie die Augen auf. Sie konnten nicht begreifen, was hier vor sich ging. Es war, als würden zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander treffen. Auf der einen Seite die riesenhaften, stämmigen Polizisten des Sondereinsatzkommandos, die mit ihrer dunklen Schutzkleidung, den geschlossenen Helmvisieren 647

und den Schlagstöcken in den Händen an Furcht erregende Wesen von einem anderen Planeten erinnerten. Auf der anderen Seite sie, die verwahrlosten Junkies mit ihren ausgemergelten Gesichtern, der verwahrlosten Kleidung und den verwirrten Mienen. Dann endlich begriffen sie, was gerade vor sich ging. Das war eine Razzia! Köpfe beugten sich über das Geländer und beobachteten, wie Micko Kelly durch den Hof geschleppt wurde. Sechs schwarz gekleidete Männer des Einsatzkommandos boten Geleitschutz. Ihre Bewegungen wirkten ruckartig. Inzwischen war eine kleine Schar von Bewohnern auf den Hof gestürzt. Sie stießen Verwünschungen hervor, Steine flogen, und der Krach des Mülldeckelalarms trieb die Menge an. Zum ersten Zwischenfall war es bereits gekommen, als einer der Mutigeren sich an den Trupp heranmachte, der zum Schutz des Spurensicherungsteams abgestellt war. Ein Schlagstock traf seinen Kopf. Blut floss, und Flüche hallten durch das Geviert. Das Geheul lockte weitere Junkies auf den Hof, und innerhalb kürzester Zeit kam es zum Handgemenge. Mit den Beweismitteln in Plastiksäcken eilten die Männer von der Spurensicherung zum Treppenabsatz und ihren Kameraden zu Hilfe. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg die Treppe hinunter und wichen Steinen und Flaschen aus, mit denen sie bombardiert wurden. Mehrmals gingen Türen auf, und Hände stachen mit schmutzigen Injektionsspritzen zu. Nichts drang auf die Haut durch. Auch wenn die Schutzanzüge von Klingen aufgeschlitzt wurden und man an ihnen zerrte, hielt doch der Nadelschutz darunter allen Angriffen stand. Rasch erreichten sie den Hof und duckten sich für den letzten Sprint über den Albtraum aus Beton. 648

»Los!«, drängte Molloy durch ein Megafon. »Alle zurück in die Busse!« Mit Hilfe der Schlagstöcke zogen die schwarz Gekleideten sich vor dem tobenden Mob zurück. Aufruhr herrschte ringsum, das Blut kochte. Die Mülltonnendeckel klapperten weiterhin im Dschungelrhythmus, immer mehr Steine und Flaschen flogen durch die Luft. Der Hof war zum Schlachtfeld geworden. Das Einsatzkommando sah wütende Blicke aus blutunterlaufenen Augen auf sich gerichtet. Tödliche Klingen und Injektionsspritzen bedrohten sie. Als plötzlich die Hupen der Einsatzfahrzeuge ertönten, kehrte für einen kurzen Augenblick so etwas wie Ruhe ein, und die Polizisten konnten sich in den Bussen in Sicherheit bringen.

Sechsunddreißig

Minuten,

nachdem

die

Türen

aufgeglitten waren, schlossen sie sich wieder, und die kleine Kolonne setzte sich durch die Ausfahrt in Bewegung, weg von der brüllenden Meute.

6.54 Uhr Micko Kelly wurde über seine Rechte belehrt und offiziell verhaftet. Er verstand nicht ein Wort von dem, was gesagt wurde. Die Kolonne brauste mit Sirenengeheul durch den Frühmorgenverkehr und verursachte in der City ein beträchtliches Verkehrschaos. Einer der Männer hielt eine volle, noch ungeöffnete Dose Bier in der Hand. »Himmel«, er schüttelte den Kopf, »wenn sie mit vollen Dosen gegen uns

vorgegangen sind, waren sie wirklich total

ausgerastet.« Die anderen grinsten. An einem vorher vereinbarten Punkt lösten sich ein Bus und ein Wagen aus der Kolonne und fuhren zur 649

Haftanstalt. Im Bus lag der völlig benommene, verängstigte und am ganzen Körper zitternde Micko Kelly mit dem Gesicht auf dem Boden und fragte sich: Wie zum Teufel konnten sie mich erwischen, ich bin doch unsichtbar? Grobe, kräftige Hände hielten seine Füße, seine Arme und seinen Kopf fest. Nicht ein einziges Mal stieß er sich auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße die Stirn an, das verhinderte der schraubstockgleiche Griff um seinen Nacken. Scheiße, was geht hier vor? Kurz nach acht Uhr am Donnerstagmorgen, 14. Mai, während strahlender Sonnenschein die Laune in der Stadt verbesserte, wurde Kelly grob in eine Einzelzelle im zweiten Stock des Bridewell Gefängnisses gestoßen. Die Zelle war zuvor ausgeräumt worden, und nicht einmal eine Decke oder ein Kissen hatte man zurückgelassen. Nachdem die Tür zugeschlagen worden war, kroch Kelly in eine Ecke und sackte auf seinen Hintern. Er zog die Knie an und stützte sein Kinn darauf. Die Arme verschränkte er mühsam über dem Kopf und zog sie fest herunter. Er zitterte und war übernervös. Schweiß klebte überall an seinem Körper. Er konnte seinen eigenen Geruch nicht mehr ertragen. Seine Zähne klapperten. Entzugserscheinungen stellten sich ein. Schmerz nagte an seinen Eingeweiden. Jimmy, wo bist du? Ich brauch Stoff, ganz schnell! Halt mich nicht hin, Jimmy. Scheiße. Ich brauch unbedingt einen Schuss! Hast du Scag? Aber da war kein Jimmy. Da waren nur die Stille der Zelle und die Qual seines drogenzerfressenen Hirns. Micko Kelly war in gewaltigen Schwierigkeiten. Wieder einmal.

»Ich möchte mit Arnie Leeson sprechen.« Jim Clarke stand am Empfang des Instituts für Rechtsmedizin im Dubliner Phoenix 650

Park. Er war den Jungs von der Spurensicherung wie ein Bluthund gefolgt und hatte sie nicht aus den Augen gelassen. »Sie sind aber früh auf«, stellte Arnold Leeson fest, der Gerichtsmediziner und Direktor des Instituts, ein hoch gewachsener, schlanker Mann in weißem Kittel, dessen Brusttasche mit Zetteln und Kugelschreibern voll gestopft war. Sein sich lichtendes Haar war gleichmäßig grau. Er blickte zu den erregten Männern und sagte sich, dass jetzt nicht die richtige Zeit für Höflichkeitsfloskeln war. »Was ist los?« Seine zuvor fast heitere Stimme wurde brummig. »Was ist in den Säcken?« Die Laboratorien des Instituts für Rechtsmedizin beanspruchten eine Etage in einem neuen Bürogebäude neben alten viktorianischen Häusern. Helles Tageslicht fiel durch die Fenster, durch die man auf Kinderspielplätze

schaute.

Jede

Abteilung

hatte

eigene

Funktionen. Eine war für Drogen zuständig, eine andere für Schusswaffen, wieder andere, um anhand von Fasern, Blut- und Gewebespuren Anhaltspunkte zu finden und auszuwerten. Als Clarke dem Team den Korridor entlang folgte, sah er an vielen Stellen Säcke und andere Behälter herumstehen, die Beweismittel enthielten. Schließlich erreichten sie eine verschlossene Tür, die rasch aufgesperrt wurde. Dahinter befand sich ein kleines, gut beleuchtetes Zimmer mit mehreren Labortischen. Auf einem war Jennifer Marks' Kleidung ausgebreitet und mit Anhängern versehen, auf denen die Fallnummer stand. Auf der rechten Seite hatte man ein wenig Platz gelassen, um Notizen machen zu können. Dort stand auch ein Diktafon. Eine geöffnete Schachtel mit Latexhandschuhen stand in einer Ecke. Ein Handschuhfinger ragte heraus und schien herausfordernd auf irgendetwas zu 651

deuten. Clarke sah rasch die Kleidung durch, dann verließ er das Zimmer und verschloss es wieder. Ein Stück weiter wartete ein einstweilen noch unbenutztes Zimmer auf Kellys Sachen. Dort hinein wurden die Beweismittelsäcke geschafft, dann wurde ihre Versiegelung aufgebrochen. „Ich möchte die Kleidung einschließlich der Schuhe sehen«, forderte Clarke. Ein blutbeflecktes T-Shirt wurde auf einen Labortisch gelegt, ihm folgten die Hose eines Jogginganzugs und schließlich zwei Paar Joggingschuhe. Auf dem einen Paar waren unverkennbar Blutflecken. »Wann kann ich das DNS-Profil haben?« »In einer Woche, vielleicht einen Tag früher, wenn ich diese Untersuchung vorziehe«, antwortete Leeson. »Ziehen Sie sie vor!« Clarke blickte auf drei Beweismittelzylinder aus Pappe. »Öffnen Sie diese Dinger da.« Die Siegel an den Zylindern wurden gebrochen, und drei Klingen glitten auf den Labortisch. Bei einer handelte es sich um ein langes Bowiemesser mit breiter Klinge, bei der zweiten um ein schmaleres Stilett, bei der dritten um ein Schnappmesser mit Perlmuttgriff. An dem Stilett klebte altes Blut. »Ah, ein Connaisseur«, brummte Leeson. »Was hat er denn angestellt?« Clarke antwortete nicht. Er betrachtete eingehend die Kleidung, vor allem die Schuhe, und stellte sich vor, wie sie einige Monate später im Gerichtssaal als Beweismittel vorgelegt würden. Leeson ließ nicht locker. »Was hat er denn angestellt?« »Mord«, murmelte Clarke schließlich. »Wir haben ihn wegen des Mordes an dem Marks-Mädchen festgenommen.« Leesons Brauen schossen hoch. »Der Chirurgentochter?« Clarke 652

nickte. »Dafür wird er lebenslänglich brummen!« Nun hatte die allgemeine Aufregung auch Leeson erfasst. »Wenn es nach John Regan ginge, würde er hängen.« Clarke schürzte nachdenklich die Lippen. »Wir müssen ganz sichergehen, dass wir auch wirklich den Richtigen haben, Arnie.« Leeson deutete mit einem Kugelschreiber auf das blutbefleckte T-Shirt und die Schuhe. »Es ist alles da. Wenn die DNS stimmt, haben Sie ihn.« Clarke runzelte die Stirn. »Könnten Sie schon heute damit anfangen?« Leeson protestierte. »Es wartet schon eine Unmenge Arbeit auf mich.« »Ich weiß«, versuchte Clarke ihn zu beruhigen. »Aber nichts, was solche Wellen schlagen wird.« »Wie ist es gegangen, Chef?« Moss Kavanagh wartete neben dem Lift. »Fein«, log Clarke. »Wir brauchen nur das DNS-Ergebnis.« Er wandte, von Zweifeln gequält, den Blick ab. Er hatte keine Spinnweben an Micko Kellys Jogginghose haften sehen. Er hoffte, im Labor würde man welche finden.

15

8.33 Uhr Dr. Frank Clancy war wütend, seit er sich auf dem Schreibtisch in seinem Sprechzimmer im dritten Stock des Mercy Hospitals umgesehen hatte. »Was soll das heißen, dass Sie sie nicht finden können?«, bellte 653

er das Mädchen vom Archiv übers Telefon an, nachdem er die Notiz vor sich gelesen hatte: KRANKENAKTEN DER PATIENTEN MARY HYLAND (115CD346) UND JAMES MURPHY (224CD579) SIND NICHT AUFZUFINDEN. »Es tut mir sehr Leid, Dr. Clancy«, antwortete eine Mädchenstimme verlegen. »Wir haben überall gesucht. Sie sind nicht, wo sie sein müssten.« Clancy holte tief Luft. Reiß dich zusammen, mit Brüllen erreichst du gar nichts, ermahnte er sich. »Haben Sie denn auch wirklich dort nachgesehen, wo die Krankenakten der hier Verstorbenen abgelegt sind?«, fragte er, diesmal in ruhigerem Ton. »Sie wissen, dass beide Patienten tot sind?« »O ja. Ich war den ganzen Morgen im Archiv«, versicherte ihm die verlegene Stimme. »Seit ich zur Frühschicht kam.« »Nun«, meinte Clancy betont ruhig, »vielleicht wurden sie nie dorthin gebracht. Vielleicht befinden sie sich noch zwischen den Krankenblättern unserer derzeitigen Patienten?« »Dort habe ich nachgesehen, Dr. Clancy. Da sind sie aber auch nicht.« Die Stimme klang jetzt fester. »Die Computersuche ergab, dass sie ohne Zweifel unter VERSTORBEN eingetragen und abgelegt wurden. Aber die Krankenakten sind weder in der einen noch in der anderen Abteilung.« Clancy dachte darüber nach. »Möglicherweise aus Versehen irgendwo anders abgelegt?«, fragte er, noch mit einer Spur Hoffnung. »Wir suchen überall, Dr. Clancy, das dürfen Sie mir glauben. So etwas ist noch nie vorgekommen.« Die Stimme klang ehrlich besorgt. »Es ist sehr merkwürdig.« Clancy versuchte es mit einer letzten verzweifelten Überlegung. 654

»Vielleicht hat jemand sich die Akten geholt?« »Das nehmen wir auch an. Aber die Ausleihbestimmungen sind außerordentlich streng geregelt.« »Ja«, brummte Clancy, »das weiß ich.« Wie jedes medizinische Institut hatte das Mercy Hospital narrensichere Bestimmungen, was den Einblick in Patientenakten oder gar ihre Entnahme betraf. Wegen möglicher Schadensersatzprozesse wurden solche Unterlagen nie vernichtet. Die über zehn Jahre alten Akten oder solche ohne zusätzliche Eintragungen während dieser Zeitspanne sowie die von verstorbenen ehemaligen Patienten wurden in einem extra konstruierten Anbau an der Rückseite des Krankenhauses aufbewahrt. Die Lufttemperatur in dieser Abteilung wurde elektronisch überwacht, um Feuchtigkeit und Zerfall zu verhindern. Es war vorgekommen, dass Anwälte, die sich mit früheren medizinischen Kunstfehlern befassten, bis zu zwanzig Jahre alte Unterlagen angefordert hatten. Es machte vor Gericht keinen guten Eindruck, wenn man eine Akte gar nicht vorlegen konnte oder nur eine, die auf Grund ihres Zustands so gut wie unbrauchbar war. Alle Akten wurden gewissenhaft gelagert. Zugang zu alten Unterlagen und vor allem zu den Akten Verstorbener gab es nur mit einem genehmigten Antrag. Der Ausleiher musste dafür unterschreiben, und die Akte wurde bei Rückgabe gewissenhaft überprüft. Alle Seiten wurden nummeriert und mit einem Stempel versehen. Daher war es so gut wie unmöglich, Änderungen vorzunehmen, um vielleicht wegen eines befürchteten Prozesses ein besseres Licht auf die Behandlung oder den Operationsvorgang zu werfen. Clancy wusste,

dass

außerhalb

der üblichen

Dienststunden

nur

Stationsleiter Zugang zu den Schlüsseln für den Anbau hatten. 655

»Suchen Sie weiter«, befahl er und legte auf. Bald darauf kam weiterer Ärger auf ihn zu. »Ich verstehe es einfach nicht, Herr Doktor. Ich bin ganz sicher, dass ich Harrys sämtliche Tabletten im Apothekenschränkchen eingeschlossen hatte.« Harold Morells tüchtige Frau stand an der Tür und versuchte den Verlust zu erklären. Clancy hörte ihr mit wachsender Bestürzung zu. »Ich weiß, dass ich bis zu seinem nächsten Besuch in der Klinik genügend Tabletten vorrätig hatte, ich weiß es ganz genau!« »Wann wäre er fällig gewesen?«, erkundigte sich Clancy. Mrs. Morell brachte ein schwarzes Notizbüchlein zum Vorschein und blickte auf eine der eselsohrigen Seiten. »Nächsten Monat, am Freitag, dem zwölften Juni, um zehn Uhr«, las sie laut. »In der Kardiologischen Ambulanz von Frau Dr. Speer. Sie gibt die Pillen selbst aus.« Clancy merkte auf. »Sie gibt die Tabletten selbst aus?« Seine Stimme hob sich. Er wusste, dass die Medikamente, die man sich im Krankenhaus abholen konnte, nur aus der hauseigenen Apotheke im Erdgeschoss kamen. »O ja. Für die rosa-blauen Anginakapseln gibt sie uns immer ein Rezept, und wir holen sie uns bei unserem Apotheker, aber die kleinen blauen Tabletten bekommen wir hier von ihr. Immer nur genug für zwei Wochen. Alle vierzehn Tage gehe ich selber zu ihr und hole mir die Ration für die nächsten zwei Wochen.« Clancy saß hoch aufgerichtet und hörte aufmerksam zu. Außer ihm und Mrs. Morell befand sich niemand in seinem Sprechzimmer. »Und«, vergewisserte er sich so gleichmütig, wie er nur vortäuschen konnte, »von wem erhalten Sie dann die Tabletten?« „Von Dr. Speer höchstpersönlich. Sie ist eine so nette Dame, 656

nicht wahr? Nicht wie so manche andere Ärzte hier.« Mrs. Morell schaute sich verschwörerisch um und flüsterte: »Manche bilden sich ein, sie seien der liebe Herrgott selber. Aber nicht Dr. Speer, nein, sie ist eine echte Dame!« »Ja«, murmelte Clancy mit nachdenklich gerunzelter Stirn. »Wahrhaftig eine echte Dame.« »Deshalb geht es mir ja einfach nicht in den Kopf, Herr Doktor«, klagte Mrs. Morell. »Ich weiß genau, dass ich genügend vorrätig gehabt habe. Aber als ich nachgeschaut habe, waren sie nicht mehr da!« »Sie könnten sie nicht versehentlich woanders aufbewahrt haben?« Clancy fragte nur vorsichtshalber, obwohl er es selbst nicht glaubte. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich tue sie nie woanders hin!« Die Frau drückte besorgt ihre Handtasche an sich. Nachdem Mrs. Morell gegangen war, wandte Clarke sich seinem Bildschirm zu und begann auf der Tastatur zu tippen. Er holte sich die Datei über Mary Hyland und sah als Erstes, dass sie tatsächlich als verstorben eingetragen war. Danach suchte er nach ihre persönlichen Daten und notierte sich ihre letzte Adresse, Telefonnummer und ihren nächsten Angehörigen. Er rollte die Datei auf dem Schirm herunter und las, dass sie schon vor vierunddreißig

Jahren

mit

neunundzwanzig

wegen

eines

Ausschlags zum ersten Mal in eines der jetzt dem Mercy Hospital angeschlossenen Krankenhäuser gekommen war. In ihren Fünfzigern war sie wegen einer Gallenblaseninfektion wieder dort gewesen. Man hatte ihr mit Antibiotika helfen können und sie nicht operieren müssen. Zwölf Jahre später kam sie wegen Schmerzen in der Brust, »besonders bei Anstrengungen«, dies657

mal ins neue Mercy Hospital. Das sollte ihr vorletzter Krankenhausbesuch werden. Sie wurde in die neu eröffnete Herzstation überwiesen und von Dr. Linda Speer behandelt. Was von da an geschah, konnte Clancy am Schirm nicht näher feststellen. Nur grundsätzliche Details waren von der üblicherweise handgeschriebenen Krankenakte ins Datensystem übertragen worden: Diagnosen, wesentliche medikamentöse und/oder operative Behandlungen, Therapien, Kontraindikationen etc. Die täglichen Werte, wie die von Blutdruck, Temperatur, Puls usw., waren jedoch nur in der Krankenakte aufgelistet. In der verschwundenen Krankenakte. Trotzdem konnte Clancy sich zumindest Einblick in Medikation und Behandlungsmethode verschaffen. Belastungs-EKG, Koronarangiogramm, empfohlene Bypassopemtion. Er rollte die Datei weiter herunter. Crescendogeräusch verbunden mit leicht erhöhten Herzenzymen. Dringende Bypass-Operation: Chirurg Dan Marks. Clancy suchte nach dem Namen des assistierenden Arztes. Wieder erschien Linda Speers Name. Was zum Teufel hatte sie als Assistent bei Operationen zu suchen? Er las die kardiologischen Anmerkungen. Wieder ein Patient beziehungsweise eine Patientin mit voroperativer Mangeldurchblutung, die einen Bypass erforderlich machte. Clancy lehnte sich in seinem Sessel zurück und verlor sich in Gedanken darüber, ob die Reihenfolge der Behandlung in diesem Fall vielleicht von Bedeutung war. Wie abwesend starrte er auf seine Frau und seine zwei Kinder, die ihn von einem Foto auf dem voll bepackten Schreibtisch anlächelten. Er kam diesmal nicht wie sonst auf den Gedanken, ihnen einen Kuss zu schicken. Obwohl ihm bewusst war, dass er sich für seine Morgenvisite und die Unterweisung der Medizinstudenten noch mehr als üblich 658

verspäten würde, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Computermonitor zu und studierte die Medikation von Mary Hyland. Er rollte die Datei an den ersten Medikationen vorbei und wandte sich ihrer letzten zu: Capoten 12,5 Milli gramm und D/N Aspirin 300 Milligramm täglich waren die einzigen verschriebenen Medikamente. Capoten war ein übliches Mittel gegen Bluthochdruck. D/N Aspirin scheint Speers Lieblingstablette zu sein, dachte er, während er sich notierte, wann Hyland sie zum ersten Mal hatte nehmen müssen. Ihm fiel auf, dass zwischen ihrer Herzoperation und ihrer Neueinweisung wegen Agranulozytose nur sechs Wochen vergangen waren. Dann schloss er die Mary-Hyland-Datei und gab die von JAMES MURPHY, Aktenzeichen 224CD579, ein. Während er darauf wartete und die Festplatte surrte, betrachtete er seine Fingernägel. Plötzlich blinkte ein rotes Warnzeichen, und auf dem Bildschirm erschien: DATEI 224CD579 WIRD GERADE BENUTZT. Clancy starrte fast drei Minuten lang auf den Schirm, ehe er es noch einmal versuchte. Das gleiche Ergebnis. Rotes Warnzeichen und DATEI 224CD579 WIRD GERADE BENUTZT. Wieder wartete er eine Zeit lang und ließ dabei den Blick nicht vom Monitor. Jetzt gab er verschiedene Kombinationen des gleichen Namens, der Adresse und des Geburtsdatums des Patienten ein, um Zugang zur Datei zu bekommen. Doch immer erschienen das blinkende

rote Warnzeichen und die

Nachricht DATEI

224CD579 WIRD GERADE BENUTZT. Wer zum Teufel studierte zu dieser Zeit die Datei? Und warum? Er senkte den Kopf, sein Herz raste, und er bemühte sich, das ganze vernünftig und logisch anzugehen. Was ist hier los? Die beiden Patientenordner, die ich suche, sind plötzlich auf geheimnisvolle Weise 659

verschwunden, jetzt wird eine der Computerdateien von jemand anderem im Krankenhaus benutzt. Dabei handelt es sich um einen toten Patienten! Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. Fieberhaft klickte er zur Datei von Mary Ryland zurück und tippte, so rasch seine Finger es vermochten. Plötzlich erschien das blinkende rote Warnzeichen, gefolgt von der Nachricht DATEI 115CD346 WIRD GERADE BENUTZT. »Großer Gott!«, entfuhr es ihm. Schweißtropfen rannen von seiner Stirn. Er wollte sie gerade mit dem Ärmel seines weißen Kittels wegwischen, als das Telefon läutete. „Dr. Clancy, wir haben die Akten gefunden.« Diese Mitteilung verblüffte ihn so sehr, dass er keinen Ton herausbrachte. »Hallo? Hallo, ist dort Dr. Clancy?« Es war die gleiche Mädchenstimme wie vorhin. „Ja, ja. Entschuldigen Sie bitte, es tut mir Leid«, murmelte Clancy, während sein Verstand auf Hochtouren lief. »Ich habe gerade an einigen Tests gearbeitet«, log er. »Verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe, ich dachte nur, weil Sie diese Akten so dringend haben wollten, dass ich Ihnen sofort Bescheid gebe.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich bin sehr froh über Ihren Anruf. Wo in aller Welt waren sie denn?« Eine Verlegenheitspause entstand. »Im Anbau, die ganze Zeit. Jemand hat sie so weit nach hinten geschoben, dass ich sie ewig nicht sehen konnte. Erst als wir ein ganzes Regal zur Seite rückten, entdeckte ich sie.« »Aber warum«, wunderte Clancy sich laut und bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte, »waren das die einzigen Akten, die man versteckt hat?« 660

Die Mädchenstimme antwortete nicht sofort. Dann sagte sie: »Ich weiß es wirklich nicht, Dr. Clancy. Ich dachte nur, Sie wären froh, dass wir sie überhaupt gefunden haben.« Sie klang so bedrückt, dass Clancy sich sofort für seine Unhöflichkeit entschuldigte. »Hören Sie, es tut mir schrecklich Leid. Natürlich freue ich mich. Danke, dass Sie sich so viel Mühe gegeben haben.« »Soll ich sie Ihnen hinaufbringen?« Clancy blickte auf seine Uhr und stöhnte. Er hatte sich bereits um eine ganze Stunde verspätet. »Nein. Haben Sie einen sicheren Platz, wo Sie sie einstweilen aufbewahren können?« »Ja.« »Dann geben Sie sie bitte dorthin, bis ich später selbst komme. Lassen Sie niemanden an sie heran, okay?« »Nein, natürlich nicht, Dr. Clancy«, versprach die Mädchenstimme. Clancy stand auf, blickte durch die Glasscheibe, die sein Sprechzimmer von der Station trennte, und zupfte seine Krawatte zurecht. Dann griff er nach einem Stoß Unterlagen und machte sich zu seiner Visite auf. Als er ging, verschwand das rote Warnzeichen auf seinem Computerschirm.

16

»Sieh mich an, Michael!« Die Stimme erschien ihm wie Sirenengesang. Die Zelle, in der Micko Kelly kauerte, war drei mal zwei Meter groß. An der Wand stand eine harte Pritsche, doch sonst befand sich nichts darin, keine Schlafdecke, kein Kopfkissen, kein Fädchen auf dem gesprenkelten Marmorboden, nicht einmal ein 661

Kübel für die Notdurft. Die Wände waren drei Meter hoch, und in eine war fast unmittelbar unter der Decke ein kleines quadratisches Fenster mit festen Gitterstäben eingelassen. Die Scheibe war aus dickem unzerbrechlichen Glas. Die nur ein schwaches Licht verbreitende Deckenbeleuchtung war so gesichert, dass kein Insasse an sie herankam, denn früher war es des Öfteren passiert, dass Häftlinge sich durch elektrischen Strom getötet hatten. Die neue Installation machte solche Versuche fast unmöglich. Eine zwei Meter fünfzig hohe Stahltür war die einzige Öffnung zum Korridor, an ihrer Innenseite gab es weder eine Klinke noch sonst einen Griff. Ein Spion war in Augenhöhe positioniert, damit die Wärter sich vergewissern konnten, dass der Häftling keine Selbstmordversuche unternahm. Die Zellenwände waren mit Graffiti verschmiert, den Namen früherer Sträflinge und der Zeitspanne ihres Einsitzens sowie Bemerkungen über einzelne Wärter und das Gefängnis, auch über die Gesellschaft allgemein. Kaum ein Wort war richtig geschrieben, das meiste waren Flüche. Alles war Scheiße, und alles wurde einem Scheiß Soundso zugeschrieben. In den Himmel gehoben wurden alle Arten von Drogen: Ecstasy, Crack, Kokain, Scag sowie Uppers und Downers. In den Zellen hatten schon die meisten Drogendealer logiert, die in und um Dublin ihr Unwesen trieben. Einem Gekritzel war zu entnehmen, dass sogar ein Jamaikaner wegen Heroinschmuggels hier gesessen hatte. An der Tür, etwa fünfundzwanzig Zentimeter unterhalb des Spions, hatte jemand ein kunstvolles Bildnis von Jesus Christus erschaffen. Da alle Sträflinge

gründlich

Gegenstände,

durchsucht

einschließlich

und

ihnen

Schreibstifte,

alle

spitzen

weggenommen

wurden, war nicht nur die künstlerische Qualität des Bildes 662

erstaunlich, sondern dass es überhaupt an diesem Ort existierte. Es war das übliche Motiv: Jesus mit schulterlangem Haar, unterwürfigem Blick und sanften Augen, mit denen er nach rechts unten schaute. Er hatte einen dichten Bart und Schnurrbart. Seine Lippen waren verhältnismäßig schmal, die Brauen buschig. Eine Dornenkrone stak auf seinem Kopf, und Blutstropfen sickerten aus der Haut. Eine Hand, die rechte, versuchte eine Geste der Vergebung, und auf der linken Brust hatte der Künstler liebevoll ein Herz mit einem Kreuz darauf gezeichnet. Auch dieses Kreuz umgab eine Dornenkrone, und es war deutlich erkennbar, dass das Herz ebenfalls blutete. Das Gesicht schließlich, obwohl zerkratzt, etwas unsicher und da und dort übertrieben, war trotz allem eine bemerkenswerte Darstellung - wahrhaftig das eines leidenden und doch vergebenden Jesus. Die Schrift UNSER ERLOESER war verkratzt. Diese gesamte Darstellung war nicht größer als sechsundvierzig mal sechsundvierzig Zentimeter und teilweise über ältere Graffiti gemalt worden, deren Gekritzel kaum noch sichtbar war. Das Abbild des leidenden Jesus zu verunstalten hatte offenbar keiner der späteren Insassen gewagt. »Michael, sieh mich an! Ich habe eine Botschaft für dich!« Die Stimme klang eher wie die einer Frau als die eines Mannes, sie war weich, beschwörend, sanft und verführerisch. »Seht alle paar Minuten nach diesem Bastard!«, hatte der Diensthabende Sergeant befohlen, nachdem die Stahltür hinter Kelly zugeschlagen war. »Ihm darf nichts passieren, verstanden?« Die drei für den zweiten Stock des Gefängnisses zuständigen Wärter nickten. Sie waren nicht sicher, wer genau der Bursche in der Zelle war oder was er ausgefressen hatte, aber der Tumult bei seiner Einlieferung 663

verriet ihnen, dass es sich um einen großen Fang handelte. Sie beschlossen, alle drei Minuten in die Zelle zu sehen. Häftlinge hatten manchmal sehr einfallsreiche Methoden, zwischen den Fünfminutenüberprüfungen Selbstmord zu begehen. »Was macht er?«, fragte der Sergeant nach dem ersten Blick durch das Spionloch. »Nicht viel. Er hockt bloß zusammengekauert in der Ecke und rührt sich kaum.« »Aber er lebt noch?« Die Frage klang erschrocken. »Ganz bestimmt. Ich habe gesehen, wie er mit den Fingern durch sein Haar gefahren ist.« Der Sergeant stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und trug die exakte Zeit und die Beobachtungen in eine große Kladde ein. Er nahm die Eintragung mit einem Füllfederhalter und verschnörkelter Schrift vor. Drei Minuten später: »Er gähnt und niest und kauert immer noch in derselben Ecke.« Drei Minuten später: »Er zupft an seinen Klamotten, als würde er Fusseln entfernen.« »Hat er sich abgesehen davon gerührt?« »Nee, er hockt immer noch in derselben Ecke.« Drei Minuten später: »Er muss ziemlich erkältet sein oder so was, er niest dauernd, und seine Augen tränen.« Das beeindruckte den Dienst habenden Sergeanten nicht sonderlich. »Scheiße!« »Sieh mich an, Michael. Dies ist dein Herr und Gottjesus Christus. Ich habe eine Botschaft für dich.« Micko Kellys erstes Anzeichen des durch Drogenmissbrauch verursachten Wahnsinns war diese Stimme, die zu ihm sprach. Er schüttelte den Kopf, versuchte die Stimme loszuwerden und hatte 664

Angst aufzublicken. Das an die Tür gezeichnete Abbild von Jesus war ihm sofort aufgefallen, nachdem er in die Zelle gestoßen worden war, aber seither hatte er nicht mehr dorthin geblickt. Er zog die Beine enger an seine Brust und presste die Hände fester an die Ohren. Fuck off, fuck off! »Er schlurft in der Zelle herum und faselt irgendwas.« Der Dienst habende Sergeant vergewisserte sich vorsichtshalber noch einmal. »Er hat doch nicht etwa Schnürsenkel oder dergleichen?« »Er hat nichts, womit er sich aufhängen könnte«, beruhigte ihn der Wärter. »In seinem Zustand denkt er bestimmt nicht daran. Er hat bloß blöd gegrinst, wie ich nachgeschaut habe.« Darüber ärgerte sich der Dienst habende Sergeant außerordentlich, denn er wusste, weshalb der Häftling angeklagt werden würde. »Der Bastard!«, knurrte er, als er mit seiner verschnörkelten Eintragung fertig war. »Michael, der Teufel kommt. Er steht vor diesem Zimmer. Du darfst dich nicht von ihm fassen lassen!« Kelly starrte fasziniert auf das Abbild des leidenden Christus. Er konnte das Blut wirklich sehen, leuchtend rot tropfte es von der bohrenden Dornenkrone auf dem Kopf und am Herzen. Er konnte wirklich sehen, wie sich die schmalen Lippen von Jesus Christus bewegten, wie die buschigen Augenbrauen sich hoben und senkten. Er konnte die Sirenenstimme wahrhaftig hören, sie klang wie die einer Frau, und die Worte waren beschwörend, flehend, verführerisch. Und er konnte ganz klar und unverkennbar sehen, wie sich der durchdringende Blick des leidenden Christus hob, sich ihm zuwandte und ihn bannte. Micko Kelly hatte eine 665

Erfahrung. Die schlimmste Erfahrung eines Junkies: Halluzinationen. »Der Teufel kommt, um dich in die Hölle zu holen. Du wirst rösten, und niemand wird dich hören. Ich kann seine Schritte hören. Ich kann ihn riechen. Lass dich nicht von ihm holen, Michael!« »Lass ich auch nicht. Scheiße!«, kreischte Kelly, während er schweißgebadet und vor Angst am ganzen Körper zitternd wild auf die Zellentür starrte. Er hörte, wie die Klappe des Gucklochs aufgeschoben wurde, und sah, wie ein Auge ihn anblinzelte. Es war das Auge des Teufels! Der Teufel war gekommen, ihn zu holen. Der Teufel studierte ihn, überlegte, wie er am besten an ihn rankam. »Du wirst mich nicht kriegen, du Scheißkerl!« Seine schrillen Schreie drangen durch die Zellentür, und der ihn beobachtende Wärter bekam es mit der Angst zu tun. Er kehrte zum Diensthabenden Beamten zurück und erstattete Bericht. »Wenn der Teufel kommt, musst du ihn töten!« Die Lippen bewegten sich schneller, die Blutstropfen fielen jetzt wie dichter liegen, der Blick des leidenden Christus durchbohrte ihn. Das Abbild verließ die Zellentür und trat in den freien Raum zwischen der Tür und der Ecke, in der Kelly schwitzend und bebend lag. Die vergebende Hand zitterte heftig und drohte. In der Zelle wurde es so heiß wie im Höllenfeuer. „Wenn der Teufel kommt, musst du ihn töten!« »Das werd ich!«, wisperte Kelly. Eine furchtbare Vorahnung ergriff wie ein Dämon Besitz von ihm. »Ich bring ihn um, bevor er mich holen kann!« Er zitterte am ganzen Körper, noch mehr als zuvor, und Schweiß ergoss sich von seiner Stirn über das ganze Gesicht und den Körper. Das Herz hämmerte in seiner Brust. 666

Seine Nase war verstopft, und er nieste immer wieder. Seine Augen tränten. »Es ist das Beste, wenn Sie die Zelle aufschließen und zu dritt nach ihm sehen. Sorgen Sie aber dafür, dass er Sie nicht beißen kann, er steht unter Drogen.« Die Wärter wechselten müde, resignierte Blicke. »Das hat mir gerade noch gefehlt«, beschwerte sich einer verärgert. Sie zogen Schutzhandschuhe an und marschierten den Korridor entlang. Aus den Zellen kamen Verwünschungen und Gebrüll, doch das war nichts, verglichen mit dem Heulen aus Kellys Zelle. Es hörte sich an wie das eines verwundeten Tiers, dessen Bein in einer scharfzahnigen Falle steckt und das erwartet, jeden Moment vom Jäger erschlagen zu werden. Oder wie das eines unglückseligen Tiers, das sein eigenes Bein abbeißt, um sich aus der Falle zu befreien. Die Wärter blieben stehen und lauschten. »Hört sich an wie ein tollwütiger Hund«, brummte einer. »Der Teufel kommt. Töte ihn!« Das Klingeln des Schlüsselbundes alarmierte Kelly, und er bereitete sich auf den Kampf vor. Er kauerte sich in der hintersten Ecke 569 zusammen, bereit, den Ersten, der die Zelle betrat, anzufallen. Mit der Linken stützte er sich auf die Pritsche. Kampflos würde er sich dem Teufel und seinen Helfershelfern nicht ergeben. »Steh auf, räudiger Hund!«, befahl der Wärter, der nun mitten in der Zelle stand. Er machte zwei Schritte, und seine Kollegen folgten ihm dichtauf. Er bemerkte Schaum um Kellys Mund, den irren Ausdruck seiner Augen, den Wahnsinn. Was Kelly sah, war 667

ein Teufel mit schwarzer Fratze, Ziegenbockfüßen und Hörnern vorn am Schädel. Feuer sprühte aus seinen Augen, und die Zunge war eine lodernde Flamme. Der Teufel lachte, als er die runzligen Hühnerhautpranken

mit

den

spitzen

Krallen

nach

ihm

ausstreckte. »Steh auf, du Hundesohn!«, befahl der Wärter. »Er ist der Teufel. Töte ihn!« Kelly stürzte sich wie ein Leopard auf seine Beute. Seine langen Fingernägel zogen sich tief über das Gesicht des Mannes, und seine Zähne verbissen sich in den nackten Hautfalten am offenen Hemdkragen. »Aaagghh!«, schrie der Wärter und schlug wild auf den Angreifer ein. »Aaagghh!«, heulte er aufs Neue, als er spürte, wie Nägel sein Gesicht zerfleischten und Zähne sich in seinen Hals gruben. Er fühlte die Wärme seines eigenen Blutes, das vom Hals herunterströmte, und sackte auf den Marmorboden. »Lass los, du Bastard!«, brüllte der zweite Wärter, während er versuchte, Kellys Kiefer auseinander zu reißen. Aber Kelly hatte fest zugebissen. Er hielt den Teufel in seinem Mund, konnte fühlen, wie das Feuer zwischen seinen Zähnen erlosch, und verspürte Erleichterung, als die Kraft des Teufels in seinem Griff erlahmte. Die Schlange in seinen Zähnen zuckte. Als Schlagstockhiebe auf seinen Kopf und die Schultern eindroschen, starrte der irrsinnige Micko Kelly zu seinen Folterern auf. Der blutige Schaum um seinen Mund, der Ausdruck der wild starrenden, glasigen, gelb verfärbten Augen erinnerten an ein Tier, das den langsamen Todeskampf seiner Beute zwischen den Zähnen genoss. Kelly lockerte seine Kiefer nur kurz, um ein Lachen auszustoßen, das wie das hysterische Heulen eines Tiers den Korridor entlang widerhallte und auch die abgebrühtesten Gefangenen in ihren 668

Zellen verstummen ließ. „Großer Gott!“ Der Dienst habende Sergeant glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Großalarm war gegeben worden, und aus allen Winkeln des Gefängnisses hasteten Wärter in den zweiten Stock. Das Erste, was sie sahen, war ein bewusstloser, blutüberströmter und immer noch blutender Uniformierter, der weggeschleppt wurde. »Barmherziger Jesus!«

Zwei Wärter

standen

über dem

zusammengekauerten Kelly, die Schlagstöcke zu neuen Hieben bereit. Der Wahnsinnige war zurück in eine Ecke gekrochen. Seine Lippen und das ganze Gesicht waren blutig, und blutiger Schaum quoll aus seinem Mund. An seinen Nägeln hafteten Hautfetzen und Blut. Er lachte und heulte abwechselnd, fuhr mit den Händen seine Arme und Beine auf und ab, als wolle er sich vergewissern, dass sie noch an seinem Körper waren. Er kicherte nervös, dann wurde sein Gesicht hart, als er den Diensthabenden Sergeant bemerkte. Eine weitere Schlange hatte das Zimmer betreten. »Der Teufel ist zurück!« Die Zeit reichte gerade noch, um die Stahltür zuzuschmettern.

11.17 Uhr »Ich glaube es nicht.« Die Stimme am anderen Ende der Handyleitung schrie vor Erregung. »Langsam, langsam! Beruhigen Sie sich um Himmels willen!«, bat Moss Kavanagh. Der Streifenwagen steckte im Vormittagsstau entlang der Dubliner Kais fest. Jim Clarke hörte auf seinem Rücksitz offensichtlich nichts von dem Gespräch. Tony Molloy starrte auf das Heck eines Bäckereilieferwagens. Er hatte das Gespräch nur unvoll669

ständig mitbekommen. »Was ist los?« Kavanagh hielt den Wagen mit der rechten Hand in einer verhältnismäßig geraden Spur und bedeutete mit der linken, ihn nicht zu unterbrechen. Molloy wandte den Blick stirnrunzelnd von dem Bäckereilieferwagen ab. »Wer spricht denn?«, fragte Kavanagh ungehalten. Weitere erregte Schreie waren zu hören. »Ich glaube es nicht.« Die Stimme am anderen Ende meinte, es sei an der Zeit, dass er was unternahm. »Wohin bringen sie ihn?« Weitere Schreie. Kavanagh knallte das Blaulicht aufs Dach und scherte aus, um die vor ihm im Stau steckenden Wagen zu überholen. Im letzten Moment konnte er noch einem offenen Kanaldeckel

ausweichen

und

hätte

dabei

fast

einen

Straßenarbeiter umgefahren. Unbeeindruckt ignorierte er die drohenden Fäuste und heftigen Verwünschungen. Jetzt erst schien Jim Clarke aus seinen Gedanken zu erwachen. »Was ist denn los, Mossy?«, fragte er besorgt. Kavanagh blickte in den Rückspiegel. »Es wird Ihnen nicht gefallen, Chef.« Der Gefängnisarzt erschrak, als er die erregte Gruppe vor Micko Kellys Zelle erreichte. Die ersten beiden Wärter gingen nervös hin und her und umklammerten ihre blutigen Schlagstöcke einmal fester, einmal lockerer. Vier weitere Wärter standen nicht weniger erregt einsatzbereit. Alle hatten in der Wärme des engen Raums die Jacken ausgezogen, die Krawatten und Kragen geöffnet. Sie warteten an der offen stehenden Tür. Im Innern der Zelle befand sich der Diensthabende Sergeant, ein stämmiger Mann mit prallem Bauch. Immer wieder wischte er sich die Stirn ab, während er sanft und langsam sprach. Kelly saß auf der Pritsche. 670

Seine Fußgelenke waren eng aneinander gefesselt und seine Hände steckten in einem dicken Ledergurt, der um seinen Bauch zusammengezogen und hinter dem Rücken an einem Ring in der Wand befestigt war. Über sein Gesicht hatte man eine aus geflochtenen Bändern bestehende Ledermaske gezogen, die so fixiert war, dass er den Kopf nicht zu bewegen vermochte. Nur seine wild starrenden Augen waren zu sehen. »Wozu braucht er den Maulkorb?«, erkundigte sich der Arzt ungehalten. Bei diesem plötzlichen Tonwechsel von leise und beruhigend zu laut und zornig begann Kelly plötzlich zu zittern. Er schaukelte mit dem Kopf, schüttelte die Beine und versuchte aufzustehen, er stöhnte. Der Bauchgurt hielt ihn noch weiter zurück, und so stieß er einen rasselnden, schnaubenden Laut aus, der den Anwesenden einen Schauder über den Rücken jagte. Der Sergeant drängte den Arzt hinaus, und die beiden sprachen verärgert aufeinander ein, bemühten sich jedoch, ihre Stimmen zu dämpfen. Als der Arzt erfuhr, was geschehen war, wechselte seine Haltung von wütend zu gelähmt, von gelähmt zu professionell, von professionell zu mitleidig. Er kehrte vorsichtig in die Zelle zurück und machte sich daran, den Maulkorb zu öffnen und über Kellys zerzaustes Haar zu ziehen. Der Sergeant sah dem Arzt besorgt zu und war bereit, ihn, falls nötig, aus der Gefahrenzone zu zerren. »Mr. Kelly, ich bin Dr. Hamilton, der Gefängnisarzt.« Die Stimme war nun beruhigend, ohne jede Spur von Drohung oder Rüffel. »Ich muss mit Ihnen reden, verstehen Sie? Ich werde Sie beim Vornamen nennen, ist Ihnen das recht, Michael?« Kelly starrte ihn an, aber er verstand nichts. Der Arzt sprach 671

Dubliner Akzent, doch es war ein Dublin, das Lichtjahre von Kellys Revier entfernt war. Hier der kultivierte Intellektuelle, da der unterprivilegierte Junkie. Hamilton bemerkte den leeren Blick und den gelben Schimmer in den Augen des anderen. »Michael, wissen Sie, wo Sie sind?« Pause. Die Augen zuckten, die schaumbefleckten Lippen zitterten. »Michael, wissen Sie, warum Sie hier sind?« Der Blick richtete sich auf einen Punkt schräg hinter dem Arzt. Auch das bemerkte Hamilton. Er blickte nach unten, und erst jetzt fiel ihm das Blut auf dem Boden auf. »Michael«, sagte er, »wissen Sie, welchen Tag wir haben, weshalb Sie hier sind? Wissen Sie, warum diese Männer hinter mir stehen?« Er deutete auf den Dienst habenden Sergeanten und die Wärter. »Satan hat diesen Mann gesandt. Töte ihn!« »Wissen Sie, wer Sie ... aaaagghh!« Hamilton entging den zuschnappenden Zähnen nur um Zentimeter. Er spürte die Hitze von Kellys Atem und den Schaum, als er über sein Gesicht strich, fühlte den Wahnsinn, der ihn töten wollte, beinahe körperlich. »Er ist irrsinnig«, knurrte der professionelle Dr. Hamilton, als er sich Kellys Geifer von den Lippen wischte. »Schnallen Sie ihn wieder fest.« Der Maulkorb wurde erneut über den widerstrebenden Kopf gezogen.

13.45 Uhr An diesem Nachmittag, während die Menschen sich an dem wärmenden Sonnenschein erfreuten, Hemd- und Blusenkragen 672

öffneten, wurde der in seiner Gesichtsmaske und den Fesseln bewegungsunfähige Michael Leo Kelly durch den Korridor des zweiten Stockwerks im Bridewell Gefängnis geschleppt. Vier Wärter hatte seine Arme und Beine gefasst, ein Fünfter seinen Kopf, und einer überwachte vorsichtshalber das Ganze. Kellys Speichel tropfte auf den Boden. Er trug dieselbe Kleidung wie bei seiner Verhaftung: Bluejeans, schwarzes T-Shirt und schwarze Joggingschuhe. Es war viele Jahre her, seit er an einem Tag gleich zweimal in einem Fahrzeug transportiert worden war. Kurz vor vierzehn Uhr am Donnerstag, dem 14. Mai, befand er sich wieder in einem Wagen und wurde ins Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte überführt.

17

14.53 Uhr »Dan, Sie sollen der Erste sein, der erfährt, dass die Polizei den Mann verhaftet hat, den wir aus berechtigten Gründen für Jennifers Mörder halten.« John Regan saß im vorderen Wohnzimmer des Marks-Hauses, neben ihm auf dem Sofa Flanagan, sein persönlicher Berater und Arzt im Gesundheitsministerium, ein schlaksiger junger Mann. Ihnen gegenüber hatte Dan Marks Platz genommen. Er war unrasiert und trug ein am Hals offenes kariertes Hemd und Jeans. Er wirkte gefasst und aufmerksam und hatte die Hände verschränkt. Sein Blick war auf das aus Rosenholz gefertigte Beistelltischchen zwischen den Besuchern gerichtet. 673

»Er wurde früh am heutigen Morgen verhaftet.« Regan wusste nichts von den späteren Ereignissen, hatte keine Ahnung, dass der Mann, den sie »aus berechtigten Gründen für Jennifers Mörder hielten«, im Norden der Stadt, auf dem Weg zur Anstalt für kriminelle Geistesgestörte, in einem Stau feststeckte. »Ehe ich das Ministerium verließ, sprach ich mit dem Justizminister, und er versicherte mir, dass der Commissioner ständig in Verbindung mit der Sonderkommission steht und sehr zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Untersuchung ist. Sie sind überzeugt, dass der Verhaftete mit dem Verbrechen etwas zu tun hat.« Regan hatte vor vierzig Minuten das Ministerium mit heulenden Sirenen in einer Kolonne aus drei Wagen verlassen. Er hatte grimmig dreingeschaut, als er sich auf den Rücksitz seines Mercedes mit den dunklen Fenstern setzte. Die vor dem Ministerium wartenden Fotografen und Kameraleute sollten seine Stimmung genau dokumentieren. Auch vor Marks' viktorianischem Haus hatten die Medien, auf einen Tipp Flanagans hin, ihre Leute postiert. Regan war unbeirrt zur Haustür geschritten, kommentarlos, nachdem Flanagan ihm erklärt hatte, welche Journalisten der hiesigen Medien möglicherweise wichtig waren und welche von den internationalen unerlässlich. »Die Regierung behandelt dieses furchtbare Ereignis mit allem Nachdruck. Wir sind immer noch geschockt. Betäubt.« Er legte eine Pause ein, um sich wie ein Schauspieler zu vergewissern, dass seine Darbietung auch ankam. Dan Marks hob schwerfällig den Kopf. Seine Augen waren rot gerändert, und Regan spürte das tiefe Leid hinter der professionellen Fassade. 674

»Danke, John, ich weiß Ihren persönlichen Einsatz zu schätzen.« Marks' Stimme hatte ihre übliche Kraft verloren. Er klang müde, fast geschlagen. »Wie kommt Annie damit zurecht?« Regan fühlte sich unwohl in der Wärme des Zimmers und in dem überwältigenden Gefühl des Leids. Marks schüttelte bedrückt den Kopf und senkte wieder den Blick. »Gar nicht gut, John. Ich musste ihr ein Beruhigungsmittel injizieren, es hat sie so mitgenommen. Offenbar hat es sich auf ihre Multiple Sklerose ausgewirkt, ihre Hand- und Beinbewegungen waren heute Morgen ungemein starr. Ich habe ihr etwas Starkes gespritzt. Sie schläft jetzt oben.« Regan nutzte die Gelegenheit, sich hilfsbereit zu geben. »Möchten Sie, dass ich Ihnen für die nächsten paar Tage eine Schwester zur Aushilfe schicke?« Marks wehrte sofort heftig ab. »Nein, auf keinen Fall, das wird nicht nötig sein. Wir trauern lieber, ohne dabei von Außenstehenden beobachtet zu werden. Aber trotzdem vielen Dank.« Flanagan warf rasch ein: »Aber vielleicht könnten wir für ein paar Stunden am Tag eine Aushilfe zum Kochen und Saubermachen schicken?« Gequält schüttelte Marks den Kopf. »Nein, nein, nein. Das ist nicht nötig. Wir kommen viel besser allein zurecht, jedes fremde Gesicht im Haus würde Annie nur noch mehr verstören. Sie ist psychisch äußerst labil und schon erregt genug.« Plötzlich hatte Marks' Stimme ihre übliche Kraft zurück, er wirkte sehr entschlossen. »Ich bin sicher, es ist für uns besser, wenn man uns in Ruhe lässt.« Vor dem Haus, ehe sie zum Mercedes zurückgingen, flüsterte 675

Flanagan Regan schnell zu: »Sagen Sie nichts weiter, als dass die Untersuchung gut vorankommt. Sie haben Dr. Marks besucht, um ihn auf dem Laufenden zu halten. Sprechen Sie leise und ruhig, und richten Sie den Blick jeweils nur auf den Fragesteller.« Er nickte einem wartenden Reporter zu. »Lassen Sie Ihre Bewegungen von den Kameras verfolgen, und tun Sie, als ignorierten Sie sie. Und lassen Sie sich auf keinen Fall von den gestellten Fragen ablenken. Die Medien aus den USA haben bereits ihr großes Interesse an dem Fall bewiesen, also wählen Sie Ihre Worte sorgfältig.« Regan blickte zu Boden, sodass es aussah, als bewundere er Flanagans auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe. »Das könnte hier so großes Aufsehen erregen wie der Louise-WoodwardProzess in Boston.« Flanagan bürstete unauffällig ein Fussel von Regans Jackettrücken ab. »Versichern Sie ihnen, dass wir der Marks-Familie jede nur erdenkliche Unterstützung angeboten haben.« Er unterbrach sich. »Nein, sagen Sie lieber Dan und Annie Marks, das ist besser als Marks-Familie. Okay?« Regan nickte. »Erwähnen Sie nicht, dass er Ihr Entgegenkommen abgelehnt hat.« Flanagan hielt wieder inne und blickte zu den Fotografen und Reportern vor dem Gartenzaun. »Warum, glauben Sie, weigerte er sich mit einer solch verdammten Heftigkeit, Hilfspersonal ins Haus kommen zu lassen?« Regan setzte sich in Bewegung und schritt über den Kiesweg seiner nächsten Gelegenheit entgegen, sich in Szene zu setzen. »Ich weiß es nicht. Auf keinen Fall will er jemanden im Haus, der 676

nicht zur Familie gehört.« Er bemühte sich um ein ernstes, mitfühlendes Gesicht, dessen er sich bei schwierigen Anlässen und Beerdigungen bediente. »Guten Tag, meine Damen und Herren, ich bin bereit, Ihnen ein paar Fragen zu beantworten.«

15.42 Uhr Frank Clancy drückte die Ordner, die Mary Hylands und James Murphys Krankenakten enthielten, an seine Brust. Mit einigen lahmen Ausreden gegenüber seinem Personal und der Stationsschwester zog er sich in sein Sprechzimmer im dritten Stock des Mercy Hospitals zurück und verschloss die Tür. Schwer atmend und mit leicht zitternden Händen setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Er legte die Ordner vor sich hin und starrte sie an. Ihm war klar, dass der Inhalt sich als beunruhigend, ja erschütternd erweisen mochte, trotzdem dachte er nicht daran, ihn rasch zu überfliegen. Es war, als wolle er den Augenblick, die Wahrheit zu finden, noch ein wenig hinauszögern. Er dachte an die Ereignisse vor ein paar Tagen, an seine Entdeckung des dritten Falls von Agranulozytose, an seine Konfrontation mit Linda Speer und seine Besorgnis, dass jemand sich an den Patientenunterlagen zu schaffen machte. Clancy befürchtete, dass eine neue Art von Behandlungsmethode die Ursache des Blutproblems seiner drei Patienten gewesen sein konnte. Aber er wusste auch, dass die verschriebenen Medikamente gebräuchlich waren. Außer dem D/N Aspirin. Aber auch das schien in den Staaten durchaus üblich zu sein. Nur die ungewöhnliche Art und Weise, wie die Patienten diese Tabletten bekamen, gab ihm zu denken. Die »kleinen blauen Tabletten«, wie Mrs. Morell sie beschrieben 677

hatte, wurden ausschließlich von der behandelnden Kardiologin ausgegeben. Sehr ungewöhnlich, dachte Clancy, während er seine Hände auf den ersten Ordner legte. Er wollte sich nicht selbst zum Narren machen, indem er die falschen Schlüsse zog und den Zorn des Dreamteams heraufbeschwor. Er war auch nicht bereit, sich mit dem Gesundheitsminister John Regan anzulegen. Er wusste, wie viel Steuergelder, Zeit und Mühe Regan in die Gründung der Herzstiftung gesteckt hatte. Er musste absolut sicher sein, ehe er möglicherweise die ganze Einrichtung in Misskredit brachte und als Nestbeschmutzer dastand. Er sah ein wahres Minenfeld vor sich: Anklagen und Gegenanklagen, den Verlust seiner Stellung, gerichtliche Schritte gegen ihn, das Krankenhaus

in

Kampfbereitschaft.

Nein,

beschloss

er

entschieden, ich brauche harte Fakten und dann einen tüchtigen Rechtsbeistand. Er öffnete den ersten Ordner, den der verstorbenen Mary Hy land, Aktenzeichen 115CD346, und begann zu lesen. Der Ordner selbst bestand aus zwei Blatt bräunlicher Pappe mit Klemmheftung, die eine Menge eselsohriger Seiten zusammenhielt. Auf dem Deckblatt standen der Name der Patientin, ihre Adresse, ihre Versicherungsnummer, außerdem waren die Mittel aufgelistet, die bei ihr möglicherweise Allergien auslösten. Er drehte den Ordner

um und

las

auf dem bräunlichen Karton die

Klinikstationen, auf denen die Patientin behandelt worden war: DERMATOLOGIE, ALLGEMEINE CHIRURGIE, HERZ CHIRURGIE, schließlich HÄMATOLOGIE. Unwillkürlich verspürte er ein schlechtes Gewissen, denn seine Station war die letzte gewesen, auf der Mary Hyland Hilfe gesucht hatte, und er war nicht im Stande gewesen, ihr Leben zu retten. Langsam 678

blätterte er durch die Seiten, ohne auf die Eintragungen der Dermatologie und der Allgemeinen Chirurgie zu achten. Erst bei den Seiten der Herzchirurgie hielt er an. Er erkannte Linda Speers gestochene Handschrift sofort und studierte aufmerksam jeden ihrer Schritte in der Behandlung der Patientin. Symptome, Untersuchungen, präoperativer

stationäre

Zustand,

Beobachtungen,

plötzliche

Resultate,

Verschlechterung

und

vorgezogene koronare Bypass-Operation. Alles schien absolut unkompliziert zu sein. Er blätterte zu der rosafarbenen Seite weiter, auf der die verschriebenen Medikamente eingetragen waren. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, und er stand auf, um sich seine Brille zu holen. Er setzte sie auf, dabei zitterten seine Hände. Sein Mund war plötzlich trocken. Die Eintragung war unverkennbar: Capoten 12,5 mg. Nichts weiter. Kein D/N Aspirin. Er kramte in seinen Kitteltaschen und brachte ein Stück zerknittertes Papier zum Vorschein, auf dem er die im Computer eingetragenen Daten abgeschrieben hatte. Da war es, genau wie er es auf dem Monitor gelesen hatte: Capoten 12,5 mg täglich und 300 mg D/N Aspirin. Noch einmal blickte er auf die rosafarbene Seite. Die Medikation stimmte nicht damit überein. Schnell blätterte Clancy durch die restlichen Seiten, bis er zu den Operationseintragungen kam. Sie waren in einer anderen Schrift geschrieben, wahrscheinlich in der von Dan Marks, vermutete er. Unter den angegebenen Assistenten fand er wieder Linda Speers Namen. Fast gegen seinen Willen griff er zum Telefon und wählte die Nummer des Operationssaals. »Schwester«, sagte er ruhig, um nicht den leisesten Verdacht aufkommen zu lassen. »Hier spricht Dr. Clancy von der Hämato679

logie. Könnten Sie mir vielleicht bei ein paar Fragen behilflich sein?« Die Operationsschwester am anderen Ende der Leitung warnte ihn, dass ihre Zeit sehr knapp sei. »Wir sind gerade mit579 ten in einer schwierigen Herzoperation«, erklärte sie scharf. Aus dem Hintergrund hörte Clancy das Klirren von Instrumenten auf den Edelstahltischen, das Klappern der Clogs, die im Operationssaal üblicherweise getragen wurden, und ein paar laute Anweisungen. Im Operationssaal schien man wirklich sehr beschäftigt zu sein. »Ich werde nur einen Augenblick brauchen«, besänftigte er die Schwester, nur damit die Verbindung nicht unterbrochen wurde, »ich wollte nur fragen, ob Frau Dr. Speer — Sie wissen doch, wen ich meine, die Kardiologin?« »Ja, ich weiß, wen Sie meinen.« »Ob sie bei allen Herzoperationen assistiert?« Eine kurze Pause trat ein. »Nein«, antwortete die Operationsschwester nachdenklich. »Jetzt, wo Sie es erwähnen. Soweit ich mich erinnere, bietet sie nur bei Koronararterien-Bypässen an zu assistieren.« »Nie bei Herzklappeneingriffen? Aneurysmaresektionen? Oder dergleichen?« Die Worte kamen scheinbar gleichmütig, die Frage klang fast uninteressiert. Wieder eine kurze Pause. »Nein, ganz sicher nicht.« Dann fügte die Schwester ungefragt hinzu: »Sie möchte, dass wir sie immer gleich benachrichtigen, wenn ein Patient auf der Bypass-Warteliste Schwierigkeiten bekommt und eine Notoperation vorgenommen werden muss. Das sind die einzigen Fälle, bei denen sie 680

assistiert. Gibt es ein Problem, Dr. Clancy? Irgendetwas, das mit uns hier zu tun hat und dessentwegen Sie sich Sorgen machen? Ich hab ihr zugesehen, und sie ist wirklich sehr tüchtig.« Clancy beeilte sich, ihr zu versichern, dass es keine Probleme gebe. Absolut keine. »Sie arbeitet bei diesen Fällen Hand in Hand mit Dr. Stone Colman«, fügte die Schwester hilfsbereit hinzu. »Er führt vor, während und nach jeder Operation eine Blutuntersuchung durch und alle vier Stunden während des Aufenthalts auf der Intensivstation.« Clancy blätterte rasch zu der Seite in Mary Hylands Ordner, wo die kardiologischen Blutwerte aufgezeichnet waren. Ihm fiel sofort auf, dass keine von Stone Colman beauftragte Blutuntersuchung aufgeführt war. »Haben Sie eine Ahnung, welche Analysen vorgenommen werden?« »Tut mir Leid, Dr. Clancy, da kann ich Ihnen nicht helfen. Ich meine, auf dieser Station ist man ständig mit Forschungsprojekten beschäftigt. Vielleicht hat es damit zu tun.« Durch das Telefon hörte Clancy irgendwelche Rufe und neuerliches Klacken von Clogs. »Ich muss gehen und helfen. Wenn Sie weitere Informationen brauchen, dann hinterlassen Sie doch eine Nachricht, und ich rufe zurück, sobald ich mehr Zeit habe, okay?« Sie legte auf, und Clancy starrte auf den Hörer, kein bisschen klüger als zuvor. Er überlegte, ob er einige der anderen Schwestern des Herzoperationsteams anrufen sollte, entschied sich aber dagegen, denn dann würde Speer wahrscheinlich Wind von seiner Fragerei bekommen. Vorsicht, ermahnte er sich, geh ganz

vorsichtig

vor!

Durch

die

Rollläden

seines

Sprechzimmerfensters blickte er auf die Station hinaus, wo Ärzte 681

und Pflegepersonal ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Patienten wurden

untersucht,

Krankenblätter

studiert,

Blutproben

genommen, Beobachtungen aufgezeichnet. Er dachte daran, die Sache aufzugeben und das Ganze zu vergessen. Du siehst ja schon Gespenster, wo alles völlig in Ordnung ist, rügte er sich. Mach Schluss, bevor du unnötige Probleme schaffst! Er blickte auf seine Armbanduhr. Es war jetzt fast sechzehn Uhr dreißig, und er schätzte, dass er mit seiner Routinearbeit schon neunzig Minuten im Verzug war. Er musste eine Vorlesung vorbereiten, weitere Bluttests auswerten und sich um drei neue Patienten kümmern. Er sagte sich, dass er sich erst einmal Zeit nehmen müsse, um über das Ganze gründlich nachzudenken.

16.37 Uhr »Rockdale?« Jim Clarkes Gesicht wurde weiß vor Wut. »Wann?« Er war im Bridewell Gefängnis, um nach Michael Leo Kelly zu sehen. Der Diensthabende Sergeant hatte ihm zuvor kurz erklärt, was vorgefallen war. Noch jetzt liefen ihm Schauer über den Rücken. »Gegen vierzehn Uhr. Der Gefängnisarzt hat die Überweisung befohlen.« Dann berichtete er ausführlich und blickte zur Bestätigung immer wieder in seine Kladde. Tony Molloy überprüfte die Eintragungen, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Hätten Sie denn nicht warten können, bis ich hier bin?« Der Sergeant zog seine Uniformhose am Gürtel hoch und strich mit einer Hand über den schweißnassen Kragen seines Hemdes. »Sie verstehen nicht, er ist irrsinnig. Er hat einen meiner Männer 682

fast umgebracht. Wir hätten ihn nicht hier behalten können. Er war eine Gefahr für sich selbst und alle anderen.« Seine Stimme hob sich unwillkürlich. »Er war wie ein tollwütiger Hund. Der Arzt konnte es nicht erwarten, ihn von hier wegschaffen zu lassen.« Clarke schrie wütend: »Hätte er ihn denn nicht ruhig stellen können?« Durch die bohrenden Schmerzen in seinem Bein war er noch griesgrämiger als sonst. »Fragen Sie ihn selbst«, entgegnete der Sergeant verärgert. »Hamilton ließ ihn so schnell hinausschaffen, dass ich kaum Zeit für den Papierkram hatte.« Clarke drehte sich auf dem Absatz um und humpelte fluchend zu einer Bank. »Verdammter Hamilton!« Molloy und Kavanagh wechselten Blicke. »Mossy«, presste Clarke durch seine zusammengebissenen Zähne, »rufen Sie in der Rechtsmedizin an, und fragen Sie, ob schon Neues über die Kleidung und die Tasche des Mädchens bekannt ist.« Kavanagh begab sich mit seinem Handy in eine ruhigere Ecke. »Nichts, Chef«, meldete er kurz darauf. »Tony«, Clarke stand unbeholfen auf, »fahren Sie zu Joan Armstrong, und setzen Sie sie ein wenig unter Druck. Wir müssen Jennifers Schultasche finden!« Dann hinkte er zu der Treppe, die zum Eingang führte, und winkte Kavanagh herbei. »Mossy, Sie und ich werden eine Fahrt aufs Land machen.«

18

16.17 Uhr »Waren Sie schon einmal hier?«, fragte Moss Kavanagh nervös. 683

Er fuhr die drei Kilometer lange, von Fichten gesäumte Einfahrt zum Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte im County Meath entlang. County Meath lag nördlich von Dublin und das Krankenhaus etwa eine Stunde Fahrt mit dem Auto von der Stadtmitte entfernt. Das Thermometer war im Freien auf sechsundzwanzig Grad gestiegen, und im Auto waren es über dreißig. Clarke und Kavanagh schwitzten stark. Sie hatten ihre Jacken längst ausgezogen, so waren die ausgedehnten Schweißflecken auf ihrem Hemd nicht zu übersehen. Clarkes schweißnasses Haar klebte am Kopf. Alle Fenster waren heruntergelassen, um einen Durchzug zu ermöglichen, und er blickte ohne großes Interesse auf die vorbeirollende grüne Landschaft. Der April war ein nasser Monat gewesen, die zweite Maihälfte war warm und sonnig, was für ein rasches Wachstum in der Natur gesorgt hatte. »Dort sind noch zwei Irre, die ich verhaftet habe«, antwortete Clarke jetzt. »Was

haben

sie

angestellt?«

Kavanagh

versuchte

fast

verzweifelt, das Gespräch in Gang zu halten. Clarke grinste, als er das Unbehagen des Jüngeren spürte. »Mord. Beide wurden vor Gericht gestellt, aber beide waren unzurechnungsfähig.« Kavanagh blieb fast stehen, als er den Wagen durch ein überdimensionales Schlagloch lenken musste. »Wen haben sie ermordet?« Er spritzte Reiniger auf die Frontscheibe und schaltete die Scheibenwischer an, um die angesammelten Insekten zu entfernen. »Merkwürdigerweise«, Clarkes Interesse wuchs, als er die Mauern der Anstalt in der Ferne auftauchen sah, »waren nur Familienangehörige die Opfer. Der eine Kerl hatte seinem Vater die 684

Kehle durchgeschnitten, weil es ihm jemand im Radio befohlen hatte, wie er behauptete.« Kavanagh schluckte und riss das Lenkrad scharf herum, um einem Schaf auszuweichen, das stur in der Mitte der Einfahrt stehen geblieben war. Erst als er auf die Hupe drückte, sprang es in das lange Gras am Straßenrand. »Und der andere?« Die Granitmauern der Hauptgebäude kamen näher. Clarke beugte sich über den Beifahrersitz nach vorn und stützte das Kinn auf die verschränkten Arme. »Ich bin sicher, Sie wollen gar nicht wirklich Näheres über sie wissen, Mossy, es würde Ihre gute Meinung über Frauen für immer zerstören.« Kavanagh fuhr fast in den Graben, als er sich zu Clarke umdrehte. »Eine Frau?«, fragte er ungläubig. »Gewissermaßen.« Clarke grinste. »Sie hat ihre vier Kinder mitten in der Nacht erdrosselt, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Mann es mit irgendeinem jungen Ding trieb.« Kavanagh hielt den Wagen mit laufendem Motor an. »Das ist doch nicht einer Ihrer schlechten Witze, oder?« Clarke schüttelte den Kopf. Er starrte auf die letzten Meter der Einfahrt vor ihnen. »Nein, leider nicht, Mossy. Als ihr Mann heimkam, zerschmetterte sie seinen Schädel mit einem Hammer, dann blieb sie drei Tage allein im Haus, umgeben von Leichen.« Kavanagh legte den ersten Gang ein und ließ den Wagen vorwärts rollen. »Großer Gott!« Er schirmte die Augen vor der Sonne ab. »Was für eine Art, einen schönen Nachmittag zu verbringen.« Vor dem riesigen Stahlgittertor bremste er. »Wie kommen wir hinein?« Das Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte stand auf 685

einem Grundstück von sechs Hektar Größe, begrenzt von fruchtbarem Ackerland. Die Anstalt war von einer zehn Meter hohen und zwei Meter dicken Betonmauer umgeben. Das sechs Meter hohe und zehn Meter breite Stahlgittertor bot den einzigen Zugang. Zwei Männer, die es von einem kleinen Steinanbau aus bewachten, der von außen kaum zu sehen war, waren für seine Bedienung zuständig. Der ursprüngliche Bau war in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts ein Armenhaus gewesen, dann ein »Asyl für Schwachsinnige«. Die Regierung hatte 1906 das Gebäude sowie zusätzliche vier Hektar erstanden, um eine sichere Anstalt für kriminelle Geistesgestörte zu errichten. 1956 wurde der Komplex modernisiert, 1983 wurde ihm eine Sportanlage hinzugefügt. Trotzdem blieb Rockdale mehr oder weniger das Irrenhaus, das es schon Anfang des Jahrhunderts gewesen war. Der größte Teil des steinernen Baus stammte noch aus der viktorianischen Zeit, und die Einstellung der Einheimischen in der sieben Kilometer entfernten Ortschaft anscheinend ebenfalls. Der »Rock«, wie sie den

Komplex

nannten,

würde

immer

die

»gefährliche

Klapsmühle« bleiben. Kavanagh hupte, und gleich darauf erschien ein stämmiger Sicherheitsmann. Er blieb hinter dem Gittertor stehen und studierte den Wagen sowie die beiden Männer. Dann verlangte er, dass sie sich identifizierten, bevor er ins Wachthaus zurückkehrte. Clarke und Kavanagh warteten schwitzend. Fernes Muhen und Blöken brach die gespenstische Stille, und um sich abzulenken, beobachteten sie, wie Bienen emsig von einer Wildblume zur anderen schwirrten, um Pollen zu sammeln. Der Wächter kam zurück und machte sich daran, das Tor zu öffnen. Scheinbar leicht schwangen die zwei Flügel so 686

weit auseinander, dass der Wagen hindurchfahren konnte. Der Wächter ließ ihn anhalten und studierte Clarkes und Kava-naghs Ausweise. Kavanagh schaute sich um. »Sicherheit wird hier offenbar ganz groß geschrieben«, stellte er fest. Die Begrenzungsmauer war, so weit das Auge reichte, an den oberen drei Metern mit messerscharfen eisernen Spitzen versehen, auf denen die Sonne glitzerte. Nach zehn Metern Niemandsland umgab ein zweiter Zaun aus Stahl und Stacheldraht die Anlage. In regelmäßigen Abständen von ebenfalls zehn Metern waren Flutlichter und Überwachungskameras auf den Komplex gerichtet. »Sobald sich das elektronische Tor ganz geöffnet hat«, der Wächter deutete auf ein Tor im inneren Zaun, »können Sie durch. Fahren Sie zu der blauen Eingangstür des grauen Gebäudes da drüben links.« Er lehnte sich durchs Beifahrerfenster und musterte die beiden Männer aus nächster Nähe. »Ich hab Sie auch schon angemeldet.« Kavanagh murmelte ein Danke und fuhr los. »Warten Sie lieber noch einen Moment«, warnte der Sicherheitsmann, der nebenher rannte. »Fahren Sie erst durch, wenn es ganz offen ist.« Als Kavanagh wieder angehalten hatte, lehnte er sich noch einmal in den Wagen. Er grinste breit. »Sie wollen doch keinen Alarm auslösen, oder? Wir haben schon genug Spaß mit Jack the Ripper gehabt.« Er lachte über seinen Witz und sah dem Wagen nach, der auf die neu geteerte Straße fuhr. Die Hitze war stickig in der stillen Luft, und Mückenschwärme sammelten sich um die offenen Wagenfenster. Durch den Rückspiegel beobachtete Kavanagh, wie das äußere 687

und innere Tor sich schlossen. Er legte den zweiten Gang ein. Die neu geteerte Straße war nach etwa zehn Metern zu Ende. Schilder

-

EINLIEFERUNG

...

UNTERKÜNFTE

...

SPORTHALLE ... BIBLIOTHEK ... HOSPITAL - deuteten auf Abzweigungen. »Können Sie sich vorstellen, dass es hier einen Swimmingpool, eine modernst eingerichtete Fitnesshalle und eine wirklich gute Bibliothek gibt?« Clarke staunte selbst, dass er sich so gut daran erinnerte. »Tatsächlich?«, murmelte Kavanagh. Clarke spürte, dass sein Partner sich immer noch unbehaglich fühlte. »Ja, und nach allem, was ich gehört habe, werden sie kaum je benutzt«, fuhr er fort. »Wie ich von den Ärzten weiß, starren die Insassen den ganzen Tag nur auf die Fernseher, egal, was läuft, Die Simpsons, Sesamstraße, Nachrichten, Eishockey. Wenn sich was auf dem Schirm bewegt und man es hören kann, stieren sie drauf.« Das graue Hauptgebäude kam in Sicht, und sie stellten den Wagen auf einem mit »Personal« markierten Parkplatz ab. »Gehen wir.« Clarke stieg vorsichtig aus, ihre Jacken ließen sie im Wagen. Aus der Entfernung sah die blaue Eingangstür ganz gewöhnlich aus, bis sie die tiefen Kratzer um ein überraschend großes Schlüsselloch bemerkten. Ehe sie sie erreichten, bewunderten sie die viktorianische Pracht. Das Gebäude hatte graue Granitwände, schmale Fenster, einen hohen Giebel und war mit Schiefer gedeckt. Kavanagh entdeckte den altmodischen Klingelknopf und drückte. Nichts tat sich. Sie wischten sich den Schweiß vom Gesicht und schlugen nach den lästigen Fliegen. Kavanagh wollte gerade 688

noch einmal drücken, als die Tür von einem hübschen jungen Mädchen geöffnet wurde. »Sind Sie die Kriminalbeamten?« Sie nickten. »Treten Sie bitte ein. Dr. Dillon wird gleich Zeit für Sie haben.« Sie drehte einen Schlüssel in dem riesigen Schloss, um das auch an der Innenseite der Tür tiefe Kratzer zu sehen waren. In der Eingangshalle bot sie den beiden Männern Platz auf einer Holzbank an, ehe sie ohne ein weiteres Wort in ein durch eine Glaswand abgetrenntes Büro ging und nach einem Telefon griff. Clarke bemerkte, dass Kavanagh grinste. »Na, da können Sie Ihrer Frau ja etwas erzählen«, meinte er. Kavanaghs Blick wanderte über den kühlen, weiß gefliesten Boden. »Nicht in ihrem Zustand«, brummte er. »Unser Baby kommt bald. Ich möchte nicht, dass die Wehen vor Schreck womöglich früher einsetzen.« Die dunkle Eingangshalle mit ihren schmalen vergitterten Fenstern betonte die düstere, bedrückende Atmosphäre. Das Klicken von Schlüsseln in einem Schloss war zu hören. Eine Tür wurde geöffnet. Der Kriminalpsychologe Patrick Dillon kam heraus. Er trug eine dunkelblaue Hose und ein kurzärmeliges weißes Hemd mit offenem Kragen. Eine Brille ragte aus der Brusttasche. Er verschloss die Tür hinter sich. Sein Lächeln lockerte die Stimmung ein wenig auf. »Tut mir Leid, dass ich Sie so lange warten lassen musste, aber es dauert seine Zeit, durch die Stationen herunterzukommen und jede Tür auf- und zuzusperren.« In seiner Rechten hielt er einen überdimensionalen Schlüsselring. Die drei gaben einander die Hand. »Sie wollen Ihren Mr. Kelly besuchen?« 689

»Ich bin hier, um ihn wieder mitzunehmen«, entgegnete Clarke. »Das könnte sich als schwierig erweisen.« Dillon klang, als erkläre er ein mechanisches Problem. »Wieso?« »Es könnte den ganzen Tag dauern, wenn ich versuchte, Ihnen die medizinischen Befunde zu erklären«, warnte Dillon. »Das Beste ist, Sie sehen ihn sich selbst an.« Er ging zu dem Glasbüro und ließ sich von dem Mädchen Unterlagen geben, die sie gemeinsam durchblätterten. Schließlich kehrte er in die Halle zurück. »Bevor wir nach oben gehen, möchte ich einiges klarstellen.« Dillon war etwas kleiner als Kavanagh und unterstrich seine Worte mit einem permanenten Kopfnicken. »Das hier«, erklärte er, »ist ein Klinikum, kein Gefängnis. Mein vorrangiger Job ist, meinen Patienten zu helfen, ihre geistige Gesundheit wiederzugewinnen oder das Elend ihres Wahnsinns zu lindern.« Kavanagh blickte Clarke flüchtig an, doch der ignorierte ihn. »Die Zimmer hier mögen wie Zellen aussehen, aber die Türen sind meistens offen, damit die Patienten auf den Korridoren herumspazieren können, wenn sie möchten.« Kavanaghs Kinn fiel herab. »In gewissen Grenzen, selbstverständlich«, fügte Dillon hastig hinzu. »Die Insassen freuen sich schon über die kleinste Abwechslung in ihrer täglichen Routine, und es könnte sein, dass sie sich sehr für Sie interessieren werden.« Er schloss die erste Tür auf. Die drei gingen schweigend einen schmalen Flur entlang zu einer weiteren Tür mit großem Schloss und Kratzern rundum. »Besucher sind meistens beunruhigt wegen der starrenden Blicke 690

und der ausdruckslosen Gesichter der Insassen.« Aufsperren, zusperren. Eine weitere Tür. Aufsperren, zusperren. »Die Patienten sehen Sie an, aber Sie werden das komische Gefühl haben, dass sie etwa fünfzehn Zentimeter an ihnen vorbeischauen. Wenn sie reden, können ihre Gedanken meilenweit entfernt sein. Das mag an ihrem Geisteszustand liegen oder den Medikamenten, die wir ihnen geben.« Erneut blieben sie vor einer Tm stehen. Dillon wählte einen großen Schlüssel aus. »Irgendwelche Fragen?« Clarke lehnte sich mit dem Rücken an die Korridorwand. Kavanagh schüttelte den Kopf. »Das hier ist eine sehr ruhige Anstalt«, fuhr Dillon fort. »Es kommt nur sehr selten vor, dass ein Patienten durchdreht. Wir benutzen keine Schlagstöcke, Zwangsjacken oder dergleichen. Unser Personal ist ausgebildet, unangenehmen Vorfällen mit einem Mindestmaß an Gewalt zu begegnen.« »Dem Himmel sei Dank«, murmelte Kavanagh und beobachtete, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Dillon grinste. »Ich fürchte, bei Kelly musste eine Ausnahme gemacht werden.« Die Tür schwang auf, und sie standen vor einer schweren Stahlgittertür. Dillon wartete, bis sich nach vier Minuten ein Sicherheitsschloss öffnete. Eine kleine Überwachungskamera war auf sie gerichtet. »Das hier ist der Hochsicherheitstrakt.« Das Erste, was Clarke auffiel, waren die abgekratzten Stellen an den Wänden. Die Korridore, durch die sie bisher geführt worden waren, hatten einen sauberen, ordentlichen Eindruck gemacht, die Farbe war unversehrt gewesen, und das Tageslicht, das durch die vergitterten Fenster fiel, hatte sie auch freundlich erscheinen 691

lassen. Hier im Hochsicherheitstrakt waren die Wände von ähnlicher Beschaffenheit und Farbe, aber etwa in Taillenhöhe war da und dort die Farbe abgekratzt. Dillon entgingen Clarkes prüfende Blicke nicht. »Kellys Werk«, erklärte er. »Und wir haben alles erst vor kurzem frisch streichen lassen«, fügte er düster hinzu. Auf ihre Stimmen hin spitzte ein Kopf aus einer Reihe offener Türen auf den Korridor. Dem Kopf folgte der Körper eines kleinen, rothaarigen Mannes. »Dr. Dillon?« Die Stimme klang schrill. Der Mann watschelte herbei. »Werden Sie mich in die Sonne hinauslassen? Ich möchte hinaus.« Er wandte sich Clarke und Kavanagh zu. »Sind Sie hier, um mit mir zu reden?«, bellte er. »Sind Sie von der Zeitung?« Sein Tipperary-Dialekt war durch die gedehnte Sprechweise schwer zu verstehen. Dillon nahm sich seines Patienten an und führte ihn den Gang zurück zum Stationszimmer. Er vertraute ihn einem weiß bekitlelten Pfleger an, der ihn mit freundlichen Worten überredete, zu seinem Zimmer zurückzukehren. Dort legte er sich auf sein Bett und starrte blicklos zur Decke. »Hat seine Schwester, seine Mutter und den Hund der Familie erwürgt«, erzählte Dillon. Moss Kavanagh warf im Vorbeigehen einen Blick in die einzelnen Zellen. Die meisten Patienten saßen oder lagen herum und starrten Wände oder Decke an. Manche murmelten vor sich hin. Die Zimmer waren sauber und verhältnismäßig geräumig. Viele Insassen hatten Zeitschriftenbilder von Pin-up-Girls an die Wände geheftet, andere von irgendwelchen Sportskanonen. In einer Zelle war die Wand fast lückenlos mit religiösen Postern 692

bepflastert, und auf dem Fenstersims standen kleine Heiligenstatuen. Vom Ende des Korridors erschallte ein markerschütterndes Heulen. Über einer geschlossenen Tür glomm ein grellgrünes Licht. Zwei Pfleger hatten dort Posten bezogen. Die abgekratzten Stellen an den Wänden befanden sich in Kopfhöhe, und Scherben von Sicherheitsglas lagen auf dem Boden. Dillon stieß mit der Fußspitze nach einer Scherbe. »Schauen Sie zum Monitor hinauf«, forderte er die beiden Besucher auf. An der Wand war ein FünfundvierzigzentimeterMonitor angebracht. Als Clarke hinaufsah, verzog sich sein Gesicht. Dillon änderte die Perspektive mit einer Fernbedienung. In einer Ecke des kleinen Zimmers kauerte ein Mann, der wie ein Tier wimmerte. »Dieses Häufchen Elend ist der von Ihnen verhaftete Verdächtige«, sagte Dillon. Das Wimmern verstummte, und urplötzlich sprang Micko Kelly mit ausgestreckten Armen in die Luft. »Er versucht, die Glühbirne in der Deckenmitte zu ergreifen«, erklärte der Psychiater. »Das hier ist die einzige Gummizelle im Hospital. Es ist ein drei mal zweifünfzig großer Raum, vierzwanzig hoch. Die Polsterung ist mit flaschengrünem Drillich überzogen, der ein Hochklettern schwer macht. In der Decke befindet sich eine einzelne grüne Glühbirne. Die Überwachungskamera ist gut versteckt.« Dillon drückte auf einen anderen Knopf. Kelly war bis auf die Unterhose ausgezogen, und man konnte seine nackten Beine sehen. Die Kamera begleitete ihn, während er versuchte, an die Lichtquelle heranzukommen. Dieser Anblick und die tierischen Laute trieben den Polizisten kalte Schauer über den Rücken, trotz der Wärme im Korridor. Aufs Neue drückte Dillon auf einen 693

Knopf und zoomte mit einem Joystick auf eine Matratze, auf der eine Decke zur Seite gezogen war. »Er hat sich wieder benässt«, murmelte er. »Wir gehen hinein und stellen ihn ruhig, dann ab mit ihm in die Sicherheitszelle.« Die postierten Pfleger nickten müde. Dillon wandte sich an Clarke. »Die vorherrschende Farbe in dieser Gummizelle ist flaschengrün. Nach Meinung zuständiger Psychologen ist das eine beruhigende Farbe.« Er grinste. »Einmal habe ich mich darin einschließen lassen, aber mich hat es gar nicht beruhigt.« Clarke zwang sich zu einem schwachen Lächeln. Dillon schnippte mit dem Joystick. »Patienten werden hierher gebracht, wenn sie zur Gefahr für sich selber oder für andere werden.« Das Bild auf dem Monitor änderte sich. »Für Kelly traf beides in höchstem Maße zu.« Die Gruppe beobachtete den Monitor. In der Gummizelle versuchte Kelly wieder in Richtung Glühbirne zu hüpfen. Flüchtig wanderte die Kamera über sein vom Wahnsinn verzerrtes Gesicht, den Schaum auf seinem Mund, den irren Blick. Clarke beobachtete das Bild mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen. Dann drehte er sich wütend auf einem Absatz um und humpelte über den Korridor zurück. Frustration und Wut drohten überzukochen. »Ich habe ihn noch nicht komplett untersucht«, erklärte Dillon in der angenehm kühlen Eingangshalle. Die drei hatten auf einer der hölzernen Bänke Platz genommen. Dillon hielt einen gelben Ordner, auf den in einer Ecke mit Filzstift der Name MICHAEL LEO KELLY geschrieben stand. »Er wurde gefesselt und mit Beißkorb eingeliefert. Meine Leute 694

glaubten, sie hätten ihn ruhig gestellt. Sie waren gerade dabei, ihm die Fußfesseln zu entfernen, als er durchdrehte. Sechs Pflegern gelang es schließlich, ihn trotz seines Tobens festzuhalten. Die Pfleger sind ausgebildet, sanften Zwang anzuwenden, aber damit erreichten sie nichts, sie konnten ihn nur mit

Gewalt

niederzwingen.«

Clarke

nestelte

an

einem

Hemdenknopf. »Er war außerordentlich psychotisch«, fügte Dillon hinzu. Clarke zog die Brauen hoch. »Was heißt das?« Der Psychiater las eine Eintragung im Ordner. »Er hatte eine Vision und war sehr aggressiv. Seine Schreie machten den anderen Patienten zu schaffen.« Clarke stand auf und stützte sich an der Wand ab. »Was halten Sie von dem Ganzen?« »Es dürfte einige Zeit dauern, bis sein Zustand sich bessert«, antwortete Dillon. »Und ehe ich nicht überzeugt bin, dass er zumindest teilweise zurechnungsfähig ist, wird niemand ihn vernehmen.« Er ignorierte Clarkes noch finsterer werdende Miene. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.« Er klemmte sich den Ordner unter den Arm und stand ebenfalls auf. »Sie können ihn nicht vor Gericht bringen, ehe er nicht versteht, worum es geht.«

19

17.37 Uhr Als Joan von der Schule nach Hause kam, empfing ihre Mutter sie mit sorgenvoller Miene an der Haustür ihres zweistöckigen Ziegelhauses in Sandymount, einem Vorort im Süden von Dub695

lin. »Joan, geh gleich ins Arbeitszimmer. Dein Vater wartet.« Das Mädchen hatte bereits dessen schwarzen Lexus in der Einfahrt geparkt gesehen. Das konnte nichts Gutes bedeuten, denn üblicherweise kam er selten vor neunzehn Uhr heim. »Der Polizist, der gestern mit dir gesprochen hat, ist wieder da. Du hast doch nichts angestellt, oder?« Mrs. Armstrong, eine kleine, dickliche Dame mit sich lichtendem Haar, tupfte mit eine m Spitzentaschentuch eine nicht vorhandene Träne aus dem Auge. „Nein, Mum, nichts“, stieß ihre Tochter hervor. »Ich weiß nicht, was er will.« Ihre Hände zitterten, als sie die Jacke ihrer Schuluniform auszog und in den engen Dielenschrank hängte. Ihre Mutter beobachtete sie sorgenvoll, dann winkte sie ihr stumm zu, ins Arbeitszimmer zu gehen. Harold Armstrong war der perfekte Bankfilialleiter. Sein Aussehen - hoch gewachsen, grauhaarig, gediegen gekleidet - war ein Spiegelbild seiner Persönlichkeit: konservativ, ruhig und langweilig. Joan war sein drittes Kind und, wie Schwester Concepta so scharfsinnig bemerkt hatte, ein Fehler in jeder Beziehung. Sie war zu einem Zeitpunkt geboren worden, als er ein Kind am wenigsten gewollt hatte und er keineswegs darauf vorbereitet gewesen war, noch einmal Vater zu werden. Sie hatte nichts als Schwierigkeiten mit sich gebracht, sie war rebellisch, unverschämt, anmaßend und eine notorische Lügnerin. Als Teenager war ihr Benehmen immer schlimmer geworden, je älter sie wurde. »Wo hat sie das Geld her?«, hatte Armstrong während eines der vielen Streitgespräche über seine aus der Art geschlagene 696

Tochter erbost gefragt, nachdem er sie wieder einmal, gelinde gesagt, beschwipst ertappt hatte. »Ich bin zu alt für so was«, hatte er geklagt. »Ich habe keine Beziehung mehr zu ihrer Generation.« Am schlimmsten war der Anruf von Schwester Concepta gewesen, als sie ihn auf Joans Verbindung zur Drogenszene aufmerksam gemacht hatte. Wahrend er ihr zuhörte, hatte sich sein Magen verkrampft. »Sie ist gerade erst achtzehn geworden und bildet sich ein, sie weiß alles besser«, hatte die Nonne abfällig gesagt. »Sie weiß gar nichts über das Leben.« Armstrong hatte ihr beigepflichtet. »Vielen Dank, Schwester.« Joan

erhielt

einen

Monat

lang

Hausarrest

und

wurde

hochnotpeinlich befragt, wie sie zu dem Geld gelangte, mit dem sie ihren Drogenkonsum finanzierte. Es kam nichts Neues ans Licht. Keine zwei Monate später war die Leiche von Jennifer Marks im Sandymount Park aufgefunden worden. Harold Armstrong war zutiefst erschüttert. Gerüchte, wie und warum sie getötet worden war, verbreiteten sich rasch, und alle hatten etwas mit seiner Tochter zu tun. Als Tony Molloy anrief, weil er noch einmal mit Joan sprechen wollte, beschloss Armstrong, sich nicht einzumischen. Er hoffte, es würde seiner Tochter eine Lehre sein und sie endlich auf den rechten Weg bringen. Nachdenklich saß er an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer und kaute an einer Magentablette. »Hi, Dad«, grüßte Joan nervös und setzte sich in den noch freien Sessel, der strategisch so platziert worden war, dass beide Männer sie direkt im Blickfeld hatten. Armstrong ignorierte den Gruß und kam sofort zur Sache. 697

»Joan, Sergeant Molloy möchte dir noch einige Fragen stellen.« Er ließ die Worte wirken, ehe er fortfuhr: »Ich will, dass du absolut ehrlich zu ihm bist. Du kannst allein mit ihm sprechen, weder deine Mutter noch ich werden mithören.« Er stand auf, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Molloy musterte das Mädchen, das ihm mit gesenktem Blick gegenübersaß und beide Armlehnen umklammerte, damit ihre Hände nicht zitterten. Sie wirkte so verwundbar, gar nicht mehr überheblich. Er sah sich im Arbeitszimmer um, betrachtete rasch die silbergerahmten Familienbilder,

darunter

auch

eines

von

Joan

bei der

Erstkommunion in weißem Spitzenkleidchen, die Hände zum Gebet gefaltet. Dann wanderte sein Blick zu der achtzehnjährigen Schülerin zurück. »Ich habe nicht vor, Stunden mit Ihnen zu vergeuden.« Seine Stimme klang streng, sein Blick suchte den seines Gegenübers. »Sie haben mir bei der ersten Befragung Lügen aufgetischt, und das weiß ich jetzt.« Joan Armstrong blickte auf, und Molloy spürte sofort ihre Angst. »Sie sind nicht an der Sydney Parade Haltestelle ausgestiegen, sondern mit Jennifer Marks weiter zur nächsten, Ringsend, gefahren.« Joan nickte verlegen. »Vielleicht möchten Sie mir ja jetzt erzählen, was wirklich passiert ist? Ich habe Aussagen von mehreren Zeugen, einschließlich Ihrer Mitschülerinnen, also versuchen Sie gar nicht erst, mir etwas verheimlichen zu wollen. Wir wissen jetzt alles, und ich bin nur an Ihrer Bestätigung interessiert. Okay?« Er schaltete sein Mikrokassetten-Diktiergerät ein. »Fangen Sie da an, als Sie beide in Kingsend ausstiegen.« 698

Mit zitternden Händen löste Joan die Haarspange und schüttelte ihre pechschwarzen Zöpfe, dann ordnete sie sie und steckte sie wieder fest. „Wir gingen zum Balfe's Pub, um Stoff zu besorgen. Jenny war schon ziemlich abhängig, und ich begleitete sie oft, Sie wissen schon, um ihr Gesellschaft zu leisten.« Die Stimme klang resigniert und nicht überzeugend. „Versuchen Sie gar nicht erst, mir was vorzumachen, Joan. Sie können vielleicht Ihre Eltern für dumm verkaufen, mich nicht! Es ist mir verdammt egal, ob Sie Gras rauchen oder nicht, aber beleidigen Sie meine Intelligenz nicht mit Ihrem Geschwafel, >dass Sie ihr bloß Gesellschaft leisten< wollten.« Das Mädchen geriet jetzt völlig aus der Fassung. Sie zitterte am ganzen Körper, als die Worte hinaussprudelten: »Wir gingen in Balfe's Pub und warteten auf Jennys Kontakt. Sie hatte diesen Kerl, der sie mit allem versorgte, was sie wollte, und sie trafen sich immer dort.« Sie kann es nicht erwarten, sich alles von der Seele zu reden, dachte Molloy. „Da war dieser große Junkie mit der Tätowierung auf der Stirn, der sich auch erbot, ihr was zu besorgen, und sie hat angefangen, sich mit ihm abzugeben.« Molloy unterbrach sie. »Was meinen Sie damit?« »Sie hat aus seinem Glas getrunken, an seiner Zigarette gezogen und dergleichen.« Molloy drehte das Diktiergerät mehr in ihre Richtung. »Wie hat er ausgesehen?« Es folgte eine perfekte Beschreibung von Micko Kelly. »Ich ging gegen achtzehn Uhr. Ich war bereits spät dran und musste mich beeilen. Jenny blieb und trank mit dem Junkie.« 699

„Hat sie Stoff bekommen?“ „Nicht von ihrem üblichen Kontakt, der ist nicht aufgetaucht, aber der Junkie hat ihr was abgetreten. Was das für Stoff war, weiß ich nicht. Ich sagte ihr, dass ich jetzt heimgehen würde. Sie wollte noch bleiben und dann später allein nach Hause gehen.« »Und sie ist bei diesem großen Junkie mit der Tätowierung auf der Stirn geblieben?« »Ja. Ehrlich.« Joan Armstrong bestätigte, dass Balfe's Pub ein beliebter Treffpunkt für Jugendliche sei, die Stoff wollten. Dealer aus der Innenstadt hatten sich in den vornehmeren Vororten breit gemacht, wo sie mehr für ihre Ware bekamen und weniger Ärger mit der Polizei hatten. Das Balfe's war Jennifers Lieblingspub gewesen. Sie waren oft nach der Schule und am Wochenende dort gewesen. »Wo haben Sie geraucht oder getrunken? Oder haben Sie nur in dem Pub gesessen?« Molloy nahm ihre Antworten nicht nur mit dem Diktiergerät auf, sondern notierte sie sich zusätzlich. »Nein, wir sind gewöhnlich in den Park gegangen.« Molloy riss den Kopf hoch. »Welchen Park?« »Sandymount.« Molloy hörte zu kritzeln auf und blickte Joan Armstrong in die Augen. Er bemerkte, dass ihre Angst und Unsicherheit verschwunden waren, weil sie sich jetzt endlich die Wahrheit von der Seele reden konnte. »Haben Sie sich oft in diesem Park aufgehalten?« »Ja, an den meisten Wochenenden und manchmal nach der Schule. Es gibt dort einen alten hölzernen Schuppen, der war schon wie ein zweites Zuhause.« Die Stimme war jetzt fester. 700

Molloy überflog seine Notizen und drehte die Kassette um, dann schaltete er das Gerät wieder ein. »Als Jennifer Marks' Leiche gefunden wurde, trug sie nicht ihre Schuluniform.« Joan Armstrong wartete nicht auf die Frage. »Sie zog sich auf der Toilette des Pubs um. Das haben wir immer getan,

um nicht aufzufallen. Sie wissen schon, kleine

Klosterschülerinnen in einem Pub voller Junkies.« »Was hat sie mit ihrer Uniform gemacht?« »Was wir immer getan haben, sie in die Schultasche gestopft.« Molloy registrierte, dass sie »wir« gesagt hatte, nicht »sie«. »Aber wir haben ihre Tasche im Park nicht gefunden.« »Ich weiß.« Molloy starrte sie überrascht an. »Was heißt, Sie wissen es ? Wo ist sie denn?« »Ich werde Sie dort hinführen müssen. Ich bin sicher, dass das Zeug noch dort ist, wo wir es immer verstecken.« »Führen Sie mich hin.« Joan Armstrongs Eltern atmeten erleichtert auf, als sie sahen, wie sie in den Fond von Molloys Wagen stieg, und noch erleichterter, weil er nicht als Polizeiwagen erkennbar war. »Ich bringe sie in einer halben Stunde zurück«, versprach Molloy. Ausnahmsweise hatte einmal ein Grinsen seine sorgenvolle Miene verdrängt. »Wir kommen großartig voran.« Harold Armstrong brachte als Entgegnung sogar ein schwaches Lächeln zu Stande.

17.54 Uhr Dr. Frank Clancy säuberte seine Brille an einem Zipfel seines weißen Kittels. Er hauchte die Gläser an, wischte sie erneut tro701

cken, und setzte die Brille wieder auf. Ohne große Begeisterung blätterte er in den eselsohrigen Seiten der Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Er hatte die Angaben studiert, während er sich das Blutbild einer akuten Leukämie im Labor vornahm. Wie ein Anwalt vor Gericht hatte er sich das Für und Wider einer Verschwörungstheorie durch den Kopf gehen lassen. Dann, um ein wenig der verlorenen Zeit zurückzugewinnen, hatte er seinen Assistenten beauftragt, die Vorlesung zu halten. Egal, wie aggressiv er das Für vortrug, sein Instinkt plädierte für »nicht schuldig«. Die Angst vor den Konsequenzen, falls er sich täuschte, machte ihm sehr zu schaffen. Das ist ein rechtliches Minenfeld, sagte er sich. Du kannst nicht erwarten, dass dir nichts passiert, wenn du auf eine Mine trittst. Wieder blätterte er den Mary-Hyland-Ordner durch und hielt bei den rosafarbenen Medikationsseiten an. Nervös spielte er mit dem Rand, während er auf die einzige Eintragung starrte: Capoten 12,5 mg. Er wollte gerade weiterblättern, als ihm der Unterschied zwischen dieser Seite und den übrigen im Ordner auffiel. Sie sah neu aus, ganz im Gegensatz zu den abgegriffenen anderen. Das beunruhigte ihn sehr. Mit größter Behutsamkeit zog er die anschließenden Blätter so weit es ging aus der Klemmbefestigung heraus. Da sah er, dass ein winziges Stück rosafarbenes Papier an den Klemmen haften geblieben war. Jemand hatte in aller Eile die Originalseite entfernt. Irgendwer hatte sich am Mary-Hyland-Ordner zu schaffen gemacht. Frank Clancy fuhr sich mit dem Ärmel seines Kittels über die Stirn. Jemand versucht etwas zu vertuschen. Als er sich nach einem kurzen Blick durch die Jalousie zum Flur vergewissert hatte, dass ihn niemand stören würde, zupfte Clancy das Stückchen 702

rosa Papier aus der Klemmheftung und gab es in einen Briefumschlag, dann kehrte er zu den Seiten zurück, auf denen die postoperativen Maßnahmen verzeichnet waren. Die Handschrift wechselte, je nachdem, wer vom Team der Herzchirurgie die Untersuchung durchgeführt und die Eintragungen vorgenommen hatte. Manches war gut lesbar, anderes kaum zu entziffern. Da und dort konnte er Linda Speers gestochene Schrift erkennen. Aber die Eintragung, die er suchte, der eine Hinweis, den er benötigte, um die Puzzlestücke im Kopf zusammenfügen zu können, war nicht zu finden. Bis ihm die unverkennbare TippEx-Ausbesserung endlich auffiel. Auf einem der weißen Blätter mit den laufenden handschriftlichen Eintragungen, nachdem Mary Hyland von der Intensivstation in ein Krankenzimmer verlegt worden war, stand außer ihren Blutdruckwerten, der Temperatur etc.: Behandlung mit einmal täglich Capoten 12,5 mg fortsetzen. Danach folgte ein durch die Verwendung von Tipp-Ex entstandener freier Platz. Als er mit seiner Schreibtischlampe durch die Rückseite des Blattes blickte, konnte er mit viel Mühe die vorherige Eintragung erkennen:... und D/N Aspirin 300 mg. Ohne den Ordner zuzuschlagen, öffnete Clancy den zweiten, den des Patienten James Murphy, und blätterte rasch bis zu den letzten Eintragungen auf der rosafarbenen Medikationsseite, die ebenfalls nagelneu aussah. Auch hier steckten winzige Überreste der ursprünglichen Seite in der Klemmheftung. Laut den hinzugefügten Aufzeichnungen hatte auch James Murphy kein D/N Aspirin erhalten. Aber genau wie bei Mary Hyland wusste Clancy, dass er auf dem Computerschirm einmal täglich 300 mg des

Medikaments

gelesen

hatte.

Jemand

hatte

die

Medikationseintragungen geändert, aber in einer solchen Eile, 703

dass er unverwechselbare Beweise zurückgelassen hatte. Er kehrte zu seinem Computer zurück und rief die Dateien beider Patienten auf. Diesmal kam keine Warnung, dass momentan jemand anderer sie benutzte. Seine Befürchtung bewahrheitete sich: Irgendwer hatte die Eintragungen über das D/N Aspirin gelöscht! Clancy lehnte sich schwer in seinem Sessel zurück und starrte auf den Bildschirm. Sein Herz raste, und er schwitzte stark. Er spürte, wie unnatürlich rasch seine Brust sich hob und senkte. Was geht da vor? Er blickte auf seine Uhr, es war achtzehn Uhr zehn. Er rechnete nach. Achtzehn Uhr zehn in Irland war gegen Mittag in Chicago. Er hatte in einem dortigen Krankenhaus eine einjährige Ausbildung absolviert und wusste, dass es für dringende Auskünfte einen Medikamentennotruf gab. Das ermöglichte es behandelnden Ärzten und Notärzten, sofortige Informationen über jegliches Medikament zu erhalten. Diese Form der Kommunikation konnte, wenn es zur Einnahme einer Überdosis gekommen war, zwischen Leben und Tod entscheiden. Oder wenn ein stationärer Patient plötzlich ein ungewöhnliches medizinisches Problem entwickelte, das die Folge eines eingenommenen Medikaments sein mochte. Ein Anruf genügte, und innerhalb weniger Minuten erfuhr man über die Datenbank des Krankenhauses alles über legale und illegale, vom Arzt verschriebene oder rezeptlos besorgte Mittel. Clancy sah in seinem Notizbuch nach, griff nach dem Hörer und wählte. »Medikamentennotdienst.« Der freundliche Mittwesternakzent hob sofort seine Stimmung, fast wünschte er sich, er wäre wieder in Chicago. 704

»Hi«, begann er und wusste nicht, ob er sagen sollte, von wo aus er anrief. Die Verbindung war so gut, als befände er sich nur zwei Blocks entfernt. »Ich bin Dr. Frank Clancy und rufe aus Dublin in Irland an.« Er hatte sich für Halbwahrheiten entschieden. »Hi, Dr. Clancy. Was können wir hier in Chicago für Sie tun?« Die Stimme klang hilfsbereit. »Nun, eigentlich ist es ein simples Problem. Ich behandle einen Patienten aus den USA, der ein Medikament einnehmen soll, das es jedoch bei uns nicht gibt.« Er erfand eine Geschichte, während er sprach, das war einfacher, als irgendwelche Verschwörungstheorien erklären zu müssen. »Ich möchte eigentlich nur wissen, ob Ihnen dieses Mittel bekannt ist und welche Nebenwirkungen es haben kann.« »Kein Problem, Dr. Clancy. Sagen Sie mir nur, was Sie wissen, und ich sehe sofort nach.« »Es handelt sich um D/N Aspirin. Könnten Sie mir bitte sein Anwendungsgebiet auflisten und seine Nebenwirkungen?« »Einen Moment bitte.« Sogar über die Transatlantikverbindung konnte Clancy das Tippen auf der Tastatur hören. »Ah, hier ist es«, sagte die Schwester des Telefonnotdienstes nach zwei Minuten. »D/N Aspirin gibt es nur in einer Dosierung, dreihundert Milligramm. Es wird von Cynx Pharmaceuticals in Boston hergestellt und ist ein einmal täglich einzunehmendes Depotpräparat.« »Haben Sie eine Beschreibung davon? Ich meine, wissen Sie, wie es aussieht?« Tip-tip auf der fernen Tastatur. »Ja, Sir. Es ist eine ovale gelbe Tablette mit einem beidseitigen Teilspalt in der Mitte. Die Buchstaben CP stehen nur auf einer Seite.« 705

Eine Stimme echote plötzlich in Clancys Kopf. Harold Morells gewissenhafte, tüchtige Frau hatte gesagt: »Die rosa-blaue Tablette für seine Angina.« Clancy wusste, dass es sich dabei um das Capoten 12,5 mg handelte. Aber die zweite Tablette, »die kleine blaue« war ein Rätsel. Das D/N Aspirin, das Linda Speer höchstpersönlich ausgab, passte nicht zu der Beschreibung im US National Pharmaceutical Formulary. »Entschuldigen Sie«, Clancy klang so verwirrt, wie er sich fühlte, »könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?« Er hielt seinen Füllfederhalter in der Hand, um mitzuschreiben. »Aber sicher, Sir. Es ist eine ovale gelbe Tablette mit einem beidseitigen Teilspalt in der Mitte. Die Buchstaben CP stehen nur auf einer Seite.« »Sind Sie ganz sicher?« Die freundliche Stimme wurde hart. »Dr. Clancy, es ist mein Job, sicher zu sein. Wenn jemand hier anruft, will er Informationen und erwartet, dass sie stimmen.« »O Gott, es tut mir Leid«, entschuldigte sich Clancy. »Es ist nur, dass Ihre Beschreibung nicht auf die Tablette zutrifft, die ich hier habe.« »Dann kann es nicht D/N Aspirin sein.« Clancy starrte sprachlos auf den Hörer. »Sind Sie noch da, Dr. Clancy?« »Ja«, murmelte der Hämatologe verwirrt. »Möchten Sie noch die Angaben über die Nebenwirkungen?« Clancy starrte auf die Beschreibung von D/N Aspirin, die er mitgekritzelt hatte. »Nein, danke, nicht notwendig. Ich glaube, Sie haben Recht. Was vor mir liegt, ist kein D/N Aspirin.« »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, und grüßen 706

Sie Dublin von mir.«

18.10 Uhr »Biegen Sie hier links ab und dann bei der zweiten Seitenstraße noch einmal.« Joan Armstrong hatte sich auf dem Rücksitz geduckt, damit niemand sie sehen und erkennen konnte. Den Kopf hob sie nur so weit, dass sie Molloy den Weg zu beschreiben vermochte. »Nehmen Sie jetzt diese Straße bis zur Kreuzung, und fahren Sie dort nach rechts.« Molloy fuhr vorbei an roten Ziegelreihenhäusern, Wohnanlagen, Kricketplätzen und einer Reihe von Läden, in denen es alles zu kaufen gab, von Videogeräten bis zu chinesischem Fast Food. Die Straßen führten vorbei an den stilvollen Villen der Reichen und den protzigen Häusern der Neureichen. »Sehen Sie das nicht mehr benutzte Trafohäuschen weiter unten an der Straße?« Joan Armstrong hatte sich nun aufgesetzt und bemühte sich, an Molloy vorbeizusehen. Der Kriminalbeamte fuhr jetzt ganz langsam und ließ einen Motorradkurier auf der falschen Seite vorbeirasen. »Wo?« Dann entdeckte er es. Er fuhr auf die andere Straßenseite und parkte direkt daneben, dann sah er sich um. Es herrschte nicht der geringste Verkehr. Ein mit Graffiti verunziertes Schild verriet, dass dies hier die Mercers Road war. Unter dem Schild lag Unrat aus einem geplatzten Müllsack. Ein Hund schnüffelte an einem leeren Päckchen Crisps. »Ziemlich ruhig hier, nicht wahr?«, bemerkte Molloy. »Deshalb sind wir ja hergekommen.« Molloy drehte sich um und grinste. »Wo ist die Schultasche?«, fragte er rasch, damit sein unwillkürliches Grinsen nicht zu sehr 707

den Ernst der Situation milderte. »Drinnen.« »In dem Trafohäuschen?« »Ja, sehen Sie nach, ich wette, sie ist dort, wo sie sie hingestopft hat. Dort verstecken wir gewöhnlich unsere Beutel.« Joan Armstrong blieb im Wagen sitzen. Molloy stocherte mit der Kugelschreiberspitze am rostigen Schloss des Trafohäuschens, und die Tür ging mühelos auf. Die Schultasche stand in einer Ecke. Sie sah nicht so aus, als hätte sich jemand an ihr zu schaffen gemacht. Eine Spinne hatte ihr Netz über die Verschlusslasche gewoben. Er streifte sich Gummihandschuhe über und holte einen Plastiksack aus dem Kofferraum. Darin verstaute er die Schultasche. Dann sah er sich gründlich in dem Trafohäuschen um und betrachtete es auch eingehend von außen. Absolut nichts. Wieder schaute Molloy die Straße auf und ab. Auch jetzt war sie menschenleer, und niemand stand an einem Fenster der nahen Häuser. Niemand, der das Drama mit angesehen hatte, das sich in der warmen Abendsonne an der stillen Nebenstraße in Sandymount abgespielt hatte. Nur die Spinne, deren Netz er hatte zerreißen müssen. »Warum hier? Wo ist der Sandymount Park?« Molloy konnte sich nicht erinnern, je hier gewesen zu sein, und er wusste nicht, wo sie sich jetzt befanden. Er setzte sich auf den Fahrersitz. Die Tür hatte er offen gelassen, damit Luft hereinkam. Joan Armstrong hatte sich auf dem Rücksitz wieder geduckt, denn ein Lieferwagen fuhr vorbei, viel zu schnell für diese Nebenstraße, aber Molloy ignorierte ihn. »An der oberen Seite des Parks ist ein schmaler Durchgang, den Junkies benutzen. Sie können ihn von hier aus erreichen.« Ein Finger deutete an Molloys linkem Ohr vorbei. 708

»Fahren Sie bis zum Ende dieser Straße und biegen dann nach rechts ab. Dort sieht man drei große Granitsteine mit den Namen der Mietshäuser dort. Sie können sich an den Steinen vorbeizwängen, dann sind Sie an einem schmalen Pfad, der am Park entlang führt. Es sind nur ein paar Minuten von hier.« Der Finger wechselte die Richtung und Molloy drehte den Kopf, um ihm zu folgen. Er wusste immer noch nicht, wo sie sich befanden, aber er ließ den Motor wieder an und das Auto zum Ende der Straße rollen. Rechts, in einer Sackgasse, stand ein zweistöckiges Apartmenthaus. Die Straße endete nach etwa hundert Metern. Die Granitsteine sahen aus wie Meteoriten. »THE PALMS« war in einen gemeißelt. Molloy betrachtete blinzelnd die Häuser und dachte, dass ihm kaum ein weniger passender Name eingefallen wäre. Er stieg aus dem Wagen, zwängte sich zwischen zweien der Steine hindurch und entdeckte den schmalen Pfad. Vergeblich versuchte er, mit den Händen den Staub und Schmutz von der Kleidung zu entfernen, und kehrte dann zum Wagen zurück. »Woher hatte sie das Geld für die Drogen?« »Von ihren Eltern.« Joan Armstrongs Stimme wechselte wieder von überzeugt zu unsicher. »Die schwimmen im Geld«, fügte sie der Glaubwürdigkeit halber hinzu. »Wissen Sie, die haben ihr alles gegeben, was sie wollte.« Molloy fragte sich, was wohl in der Schultasche sein mochte. Er war so sehr damit beschäftigt, dass er kaum auf ihre Worte achtete. Er blickte das Mädchen durch den Rückspiegel an. Sie hatte den Kopf mit den pechschwarzen Haaren gesenkt und kaute an den vollen Lippen. Das Make-up konnte ihre Angst nicht verbergen. Er fand, dass sie genug für diesen Tag hatte. 709

»Braves Mädchen«, lobte er, als er sie zu Haus absetzte. »Sie hat mir sehr geholfen.« Die Armstrongs zwangen sich zu einem schwachen Lächeln, als sie ihre Tochter ins Haus ließen.

19.35 Uhr IST PSYCHO-JUNKIE JENNYS MÖRDER? Jim Clarke überflog die Schlagzeilen der Evening Post und las rasch Barry Nolans reißerischen Bericht. Vier Seiten waren der Morgenrazzia in

Hillcourt

Mansions

gewidmet

(»Dublins

berüchtigtes

Drogennest, wo Junkies sich verkriechen«) und der Verhaftung eines namentlich nicht genannten Mannes »in den Dreißigern, ein alter

Kunde

der

Polizei«.

Nolan

beschrieb,

wie

»der

Verdächtige« zuerst zum Bridewell Gefängnis gebracht worden war und dann zum Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte. Der Bericht war mit Bildern der Wagenkolonne aufgelockert, als sie von Hillcourt Mansions wegraste, und einer älteren Pressefotografie von Rockdale. Es folgte eine Auflistung der bekannteren Insassen des Hospitals und ihrer Schandtaten. Clarke steckte die Zeitung unordentlich zusammengefaltet in eine Jackentasche und blickte hinaus auf den schleppenden Verkehr entlang der O'Connell Street, Dublins Hauptverkehrsstraße. »Sie bringen mich besser heim, Mossy, mein Bein bringt mich um.« Moss Kavanagh blickte rasch durch den Rückspiegel auf das schmerzverzogene Gesicht und stieg aufs Gas. »Dein Vater ist wie ein Bär, sag um Himmels willen nichts, was ihn verärgern könnte.« Clarkes Frau war dabei, in der Küche eine Fleischpastete aufzuwärmen. Sie schenkte ein Glas Weißwein 710

ein. »Bring ihm das, und unterhalt dich mit ihm, bis ich ihm sein Dinner bringen kann.« Katy nahm heimlich einen Schluck und trug den Rest zu ihrem Vater. Clarke lag auf der Couch und blickte abwechselnd zum Fernseher und zu einer Blase an seinem kaputten Bein, die er eben erst entdeckt hatte. Die Frühabendnachrichten begannen mit der Verhaftung des namentlich noch nicht erwähnten Micko Kelly, der verdächtigt wurde, etwas mit dem Mord an Jennifer Marks zu tun zu haben. Ein rasches Zappen durch die Sender bestätigte, dass die meisten diese Story übernommen hatten. Clarke nahm wortlos das Glas und schüttete den Wein hinunter. Katy verzog das Gesicht und kehrte in die Küche zurück, um nachzuschenken. »Sein Bein sieht heute ganz schlimm aus, Mum«, flüsterte sie, während sie die Flasche aus dem Kühlschrank holte. „Psst“, ermahnte ihre Mutter sie leise. »Ich weiß, aber erwähn es ihm gegenüber nicht, es würde ihm nur noch mehr zu schaffen machen.« Katy goss das Glas voll und nahm wieder einen Schluck. Ohne sich umzudrehen, schimpfte ihre Mutter: »Trink ihm ja keinen weiteren Tropfen weg. Das ist alles, was ich zu Hause habe, und bei seiner Laune ist es vielleicht besser, wenn er ein wenig mehr trinkt als sonst.« Katy grinste, nahm einen größeren Schluck, füllte das Glas erneut bis an den Rand und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück. Die Atmosphäre war unerträglich. Sie stahl sich auf ihr Zimmer und griff nach einem Buch. Clarke aß sein Dinner schweigend, trank fast drei Viertel der Flasche leer und schleppte sich stöhnend zu Bett. Er sprach we711

der mit seiner Frau noch mit seiner Tochter und gönnte ihnen auch keinen Blick. In seinem Zimmer betrachtete er die Blase. Sie war größer geworden, hatte jetzt fast zweieinhalb Zentimeter Durchmesser und war mit dunklem Blut gefüllt. Das Bein schmerzte unerträglich, und er schluckte zwei Tabletten mehr, als er sollte, trotz der Warnung, dass sie nicht mit Alkohol eingenommen werden dürften. Dann sackte er ins Bett und schlief sofort ein.

20

21.45 Uhr »Ich finde, Sie sollten jetzt herauskommen.« Dr. Patrick Dillon stand vor der einzigen Gummizelle des Rockdale Hospitals für kriminelle Geistesgestörte. Neben ihm im Korridor warteten drei Wärter und zwei Medizinstudentinnen. Dillon hatte leise aufgeschlossen und die Tür geöffnet. Es war später, als ihm lieb war, aber Micko Kellys Zustand hatte es nicht früher zugelassen. Schließlich hatte Dillon ihn mit einer intramuskulären Injektion ruhig gestellt. »Es ist ein rasch wirkender Tranquilizer, dessen Wirkung bereits einsetzen müsste.« Die Studentinnen hörten ihm aufmerksam zu und machten sich Notizen. »Er kauert seit etwa vierzig Minuten in dieser Ecke. Ich bin dafür, dass wir ihm jetzt gut zureden.« Dillons Stimme war leise und ruhig, denn Kelly war der gestörteste Patient, den er seit langem gesehen hatte. Man wusste hier inzwischen alles über seinen Anfall in Bridewell. Niemand wollte ein Risiko eingehen. Es war sogar eine extra Zelle für ihn eingerichtet worden. 712

»Ich finde, Sie sollten jetzt herauskommen. Ihnen ist bestimmt kalt, und es ist auch schon spät.« Kelly hob den Kopf, als er nach der Stimme suchte. Fast fünf Minuten lang rührte er sich nicht, und niemand näherte sich ihm. Seine Augen wirkten glasig und sahen aus, als blickte er in weite Ferne. Hin und wieder blinzelte er langsam, wie um einen Fremdkörper zu entfernen. Die Wartenden waren gewarnt worden, sich völlig still zu verhalten. »Ich komme jetzt hinein«, murmelte Dillon und machte ein paar vorsichtige Schritte. Die Wärter folgten ihm. Die beiden Medizinstudentinnen beobachteten sie aufmerksam, sie hatten ihre Kladden eingesteckt und notierten alles im Kopf. Das hier war ein menschliches Drama in Reinkultur, nichts, was man aus Lehrbüchern erfahren konnte. Kellys Haar war schweißverklebt. Er hob eine Hand, als wolle er die sich nähernde Gestalt abwehren. „Ist schon gut, Michael, Sie sind jetzt in Sicherheit.“ Wieder hob sich die Hand, diesmal wie zum Verjagen von Fliegen, und Kelly starrte Dillon an. Seine Augen bewegten sich langsam, als registrierte sein Gehirn kaum, was er sah. Dillon kniete sich nieder. Kelly zuckte heftig zurück. »Fuck off.« Das klang halbherzig. Dillon griff sacht nach Kellys Hand und hielt sie fest. »Versuchen Sie aufzustehen. Sie frieren.« Die dicken Mauern der Anstalt hielten die Korridore und Zimmer immer warm, doch in die Gummizelle drang keine Wärme. Dillon legte nun die andere Hand fest um Kellys Ellbogen und zog ihn auf die Füße. Er stand unsicher, rollte die Augen, öffnete und schloss den Mund, während er an einer Seite seiner Zunge 713

kaute. Dillon führte ihn auf den Korridor. Kelly fröstelte und schirmte die Augen vor der plötzlichen Helligkeit ab. Mit einer Hand stützte er sich an die Wand. Die kleine Gruppe Wartender wich zurück. Kelly sah unterernährt aus, die Rippen ragten durch das Fleisch, und die Hüften schienen nur mit Haut überzogen zu sein. Seine Beine waren dünn und seine langen, verklebten Haare zerzaust. Seine Augen wirkten leer, und seine Hände bewegten sich wie in Zeitlupe. Dillon führte seinen Patienten am Ellbogen durch den Korridor, hielt an, wenn Kelly anhielt, und gestattete ihm sich umzusehen. Sein starrer Blick drückte Erstaunen, Verwirrung, Verständnislosigkeit aus. Zweimal versuchte er die stützende Hand abzuschütteln. »Ich möchte, dass Sie in dieses Zimmer gehen.« Dillon lenkte ihn in die für ihn hergerichtete Zelle. Kelly blieb an der Tür stehen und blinzelte auf das Bett in der Mitte des Raums. Seitlich davon befanden sich ein kleines Waschbecken und ein Klosett. Die Wände waren sauber und nicht zerkratzt. Nur die Gitterstäbe am Fenster wiesen darauf hin, dass es eine Zelle war. Kelly gestattete, dass Dillon ihn hineinführte und ihm half, sich schwerfällig auf dem Bett auszustrecken. Er blieb auf dem Rücken liegen und starrte zur Decke. Auch die Wärter und Studentinnen betraten den Raum. Kelly kaute weiterhin langsam an einer Seite seiner Zunge, gähnte hin und wieder und öffnete dabei den Mund so weit, dass der schlechte Zustand seiner Zähne zu erkennen war. »Angela«, Dillon wandte sich an die hübsche Studentin, die ihr blondes Haar zu einem Knoten zusammengesteckt hatte. »Ich werde ihn jetzt untersuchen. Wir müssen physische Gründe für 714

diese Psychose ausschließen. Würden Sie bitte meine Beobachtungen aufzeichnen?« Ein Wärter händigte ihr Micko Kellys Krankenblatt aus, und Angela zückte ihren Kugelschreiber. Dillon schlüpfte in Latexhandschuhe, je zwei übereinander. »Das Kopfhaar und der Bart sind von Läusen befallen.« Er hielt inne. »Wir werden Ihnen wohl einen Haarschnitt und eine Rasur verpassen müssen.« Kelly rollte die Augen und murmelte eine Antwort, die nicht zu verstehen war. Einer der Wärter trat ans Kopfende des Bettes und nahm eine Schere zur Hand. Minuten später lag das Haar mit Läusen und Nissen in einer kleinen Pappschachtel. »Verbrennen Sie das«, befahl Dillon und fuhr fort zu diktieren. »Die Nase weist eine Schwellung der Schleimhaut auf, und es besteht konjunktive Hyperämie mit ikterischen Veränderungen.« Dillon wies die Studentin auf die Verfärbung von Kellys Augen hin, die auf Gelbsucht schließen ließen. »Öffnen Sie den Mund.« Kelly gehorchte und rollte die Augen, während er den Arzt beobachtete. Dillon achtete darauf, dem Mund mit den Fingern nicht zu nahe zu kommen. »Sehr mangelhafte Zahnpflege.« Die Finger glitten jetzt Kellys Hals entlang. »Drüsen sind nicht vergrößert.« Die Finger strichen über Schultern und Arme. »Injektionsspuren an beiden Armen mit Venenthrombose. Die Fingernägel sind zu lang.« Der Wärter schnitt sie. »Setzen Sie ihn auf.« Er drückte ein Stethoskop auf Kellys Brust. »Lungenflügel in Ordnung, Herzgeräusche normal. Sie können ihn wieder hinlegen.« Der Blutdruck wurde gemessen. »Sein Körper weist unverkennbare Gynäkomastien auf.« Dillon erklärte 715

diese Beobachtung. »Sehen Sie die fast weibliche Verteilung von Fett auf der Brust?« Köpfe beugten sich interessiert vor. »Das deutet auf einen bereits lange bestehenden Leberschaden hin.« Dillons Finger betasteten nun Kellys Bauch. »Die Leber ist vergrößert und reicht fünf Querfinger unter den rechten Rippenbogen. Der Rand ist hart und unregelmäßig. An der Hautoberfläche von Rumpf und Abdomen befinden sich Lebersternchen.« Seine Hände untersuchten jetzt Kellys Leisten unter der Unterhose. »Es besteht eine Hodenatrophie.« Dillon vergewisserte sich noch einmal. »Ja, sie ist sogar sehr ausgeprägt.« Die klinischen Befunde und Vorschläge für die Behandlung von Patient 1142, Michael Leo Kelly, wurden auf dem Korridor diskutiert. »Er zeigt aggressive, paranoide Psychose«, begann Dillon. Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Wärter in die Zelle gingen und wieder herauskamen. »Dass er schon lange Drogen nimmt, ist bekannt. Das deutet darauf hin, dass es sich dabei um einen durch diese Sucht hervorgerufenen Anfall handelt. Es gibt auch Anzeichen von chronischem Leberversagen. Seiner Gefängnisakte nach hat er Hepatitis B und C.« »Könnte das seine Psychose erklären?«, fragte die Studentin mit dem blonden Haarknoten. »Vielleicht ist das eine toxische Reaktion auf Grund seiner geschädigten Leber?« Dillon dachte darüber nach. »Es wäre eine Möglichkeit. Wir werden eine komplette Analyse seines Blutes vornehmen, mit Leber- und Nierenfunktionstests,

sowie

toxikologische

Drogenmissbrauchuntersuchungen.

Und

Alkohol-

seinen

und

infektiösen

Hepatitis-Status werden wir auch noch überprüfen.« Er warf 716

einen Blick in die Zelle. Kelly lag so, wie er ihn verlassen hatte. Er starrte mit glasigen Augen zur Decke, dabei gähnte er mit weit aufgerissenem Mund und kaute weiterhin an seiner Zungenseite. Dillon wandte sich wieder den Studentinnen zu. »Er ist jetzt viel ruhiger und, zumindest für seine Verhältnisse, umgänglicher geworden. Wir werden ihn behutsam behandeln müssen, ihn aufpäppeln, damit er wieder Fleisch auf die Rippen bekommt, und ihn körperlich und geistig gesund pflegen.« Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Jim Clarke. »Dann wird er ans Kreuz geschlagen.«

21

23.17 Uhr »Dr. Clancy, wie geht es Ihnen?« Der Mann an der Tür in Blanchardstown, dem Westdubliner Vorort, blickte Frank Clancy im gelblichen Schein der lichtschwachen Eingangslampe an. »Großer Gott, Sie sehen aber müde aus! Möchten Sie nicht auf eine Tasse Tee hereinkommen? Es ist schon spät, Sie müssen ja völlig erschöpft sein.« Clancy dankte, sagte aber, er sei in Eile. Nachdem er die vorsätzlichen Änderungen, Fälschungen, wenn man es richtig ausdrücken wollte, in den handschriftlichen Krankenakten und in den Computerdateien sowohl von Mary Hyland als auch von James Murphy entdeckt hatte, war er sich sicher, dass im Mercy Hospital manches nicht mit rechten Dingen zuging. Sein Gespräch mit Chicago hatte ihn zutiefst erschreckt. Er war überzeugt, dass es gar nicht D/N Aspirin war, was die Patienten bekommen hatten. Aber was dann? Was waren diese »kleinen blauen« Ta717

bletten, die jeder der drei Patienten eingenommen hatte und die vermutlich zu dieser Agranulozytose geführt hatten? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: Er musste an eine diese Tabletten herankommen! Deshalb stand er jetzt vor der Haustür von Ned Hylands kleinem Cottage in Blanchardstown. Er hatte zuvor angerufen und erklärt, wer er war. Er war überzeugt, dass sich der Mann der verstorbenen Mary Hyland nur zu gut an ihn erinnerte. »Ah, Dr. Clancy«, hatte ihn Ned Hyland am Telefon begrüßt. »Ich freue mich, wieder von Ihnen zu hören. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen für alles bin, was Sie für Mary versucht haben. Aber gegen Gottes Willen sind wir eben alle machtlos.« Clancy hatte höflich zugehört und das Gespräch allgemein und simpel gehalten. Dann hatte er ein paar Fragen über Mary Hylands Medikation gestellt, bevor sie zum letzten Mal ins Mercy Hospital eingeliefert worden war. »Die >kleinen blauen< Tabletten, erinnern Sie sich an sie, Ned?« »Und ob ich mich erinnere. Dr. Speer hat sie selber ausgegeben, jeden Donnerstag. Ich musste sie persönlich abholen.« Das war alles, was Clancy wissen wollte. »Es sind nicht zufällig welche übrig geblieben?«, fragte er scheinbar gleichmütig. »Die meisten Leute entsorgen sie, aber vielleicht haben Sie welche aufgehoben?« »Die kleinen blauen?« „Ja, die kleinen blauen.« »Sie werden es nicht glauben, Dr. Clancy.« Ned Hyland war einer dieser Leute aus der Provinz, die die Gewohnheit haben, jeden Satz wie eine wichtige Aussage klingen zu lassen. »Ich werfe 718

nie was weg. Medikamente sind zu verdammt teuer, um sie einfach wegzuwerfen. Ich habe eigentlich vorgehabt, sie für irgendeinen armen Teufel, der nicht dafür zahlen kann, ins Krankenhaus zurückzubringen. Bin bloß noch nicht dazu gekommen.« „Sie haben sie also noch?«, vergewisserte Clancy sich. „In einer kleinen Schachtel oben in der Rumpelkammer.« “Dürfte ich zu Ihnen kommen und sie abholen?“ „Ah, die Mühe müssen Sie sich nicht machen. Sie haben bestimmt hundert und mehr wichtigere Dinge zu tun. Ich bringe sie Ihnen morgen ins Krankenhaus.« „Nicht notwendig. Ich bin später sowieso in Ihrer Gegend«, log Clancy. »Ich komme auf einen Sprung bei Ihnen vorbei.« „Ist gut, Dr. Clancy. Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Was offenbar stimmte. Er hatte die Schachtel mit den »kleinen blauen« Tabletten auf das Dielentischchen gleich hinter der Haustür gelegt. Mit bedeutungsvoller Geste nahm er den Deckel ab. »Da sind sie. Tut mir Leid, dass bloß fünf übrig geblieben sind.« Clancy hob eine vorsichtig hoch und drehte sie um. Ohne seine Brille und in dem schlechten Licht konnte er die Buchstaben darauf nur schlecht erkennen, aber schließlich machte er sie doch aus: CYN. Auf der Rückseite stand XR »Perfekt«, murmelte er. Sein Herz raste vor Aufregung. Flüchtig sah er vor seinem inneren Auge das schadenfrohe Gesicht von Linda Speer. »Haben Sie allerbesten Dank.« Ned Hyland strahlte in der Düsternis. Er freute sich sehr, dass er einem so wichtigen Mann helfen konnte. »Es müssen arg teure Tabletten sein.« Clancy, der gerade hatte gehen wollen, drehte sich um. »Wieso sagen Sie das?« 719

»Na ja, so ungefähr eine Stunde, nachdem Sie mich angerufen haben, hat irgend so ein Kerl auch angerufen und mich nach diesen Tabletten gefragt.« »Haben Sie ihm etwas gesagt?« Clancy gelang es nicht, seine Besorgnis zu verbergen. »Nur dass Sie kommen und sie abholen, sonst nichts. Ich habe ihm gesagt, dass Sie ihm vielleicht eine abtreten könnten.« Hyland hielt inne, denn er merkte, wie erregt Clancy plötzlich war. »Habe ich was falsch gemacht, Dr. Clancy? Hätte ich das nicht sagen sollen?« Clancy zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln und schüttelte Hylands Hand. »Nein, Sie haben nichts falsch gemacht, Ned. Bestimmt nicht. War vermutlich einer der anderen Ärzte, der mich bei meinen Forschungsarbeiten überholen möchte.« Ned Hyland seufzte erleichtert. »Sie werden Ihren Konkurrenten bestimmt davonrasen, Dr. Clancy. Zeigen Sie es den anderen Bastarden, bevor die auch bloß aus ihren Startlöchern kommen! Clancy lächelte, als er zu seinem Wagen zurückkehrte. Die kleine Schachtel hielt er fest in der Rechten. »Das werde ich, Ned«, rief er über die Schulter. »Ich werde meinen Gewinn schon abholen, wenn die anderen noch gar nicht am Ziel sind.« Hyland schloss die Tür und amüsierte sich über diesen Vergleich mit den Pferderennen. Wenige Augenblicke später hörte er, wie ein zweiter Wagen startete und mit hohem Tempo davonfuhr. »Elende Hurensöhne«, murmelte er. »Verdammte Wichtigtuer.« Er wandte sich dem Fernseher zu, um die Spätnachrichten anzuschauen.

720

22

Freitag, 15. Mai, 7.46 Uhr Das Wetter änderte sich über Nacht. Vom Atlantik breitete sich eine Schlechtwetterfront über die Täler und Höhen von Kerry und Westcork aus. Schwarze Wolken überzogen das Land und brachten Sturm mit sich. Als wollte der Wettermacher seine Wut austoben, ließ er den Sturm an den Fensterläden rattern und jagte den Haustieren solche Angst ein, dass sie sich unter Betten und in Nischen verkrochen. Blitze erhellten Himmel und Felder, wie um vor dem kommenden Wolkenbruch zu warnen. Der einsetzende Regen ergoss sich sintflutartig über stille Landstraßen, Feldwege, grüne Wiesen und dunkle Moore. Er bohrte sich in die Erde und wusch tausende von Grabsteinen im Land. Gegen fünf Uhr erreichte das Unwetter Dublin. Der Sturm fegte wie ein Tornado zwischen den Häusern und verstreute den Müll der Reichen zwischen dem Unrat der Armen. Der Regen füllte Gullys und Fallrohre und spülte die Blutflecken ab, die immer noch an den Grashalmen im Sandymount Park geklebt hatten. Gegen sechs Uhr waren dort alle Spuren des Mordes an Jennifer Marks weggewaschen. In dem Moment, als das Unwetter die irische Hauptstadt erreichte, platzte die blutgefüllte Blase an Jim Clarkes Bein. »Wach auf, Jim, dein Bein blutet.« Die sanfte Hand seiner Frau rüttelte ihn behutsam. Er hatte zum ersten Mal seit Wochen durchgeschlafen und seine Rückenlage während der Nacht nicht ein einziges Mal verändert. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Tochter Katy neben ihm lag. Erschrocken über die Schmerzen ihres Vaters war sie vor dem Schlafengehen noch zu einem Gute721

nachtkuss zu ihm gekommen. Da er bereits schlief, hatte sie sich vorsichtig, mit einem Arm um seine Taille, an ihn gekuschelt und war ebenfalls eingeschlafen. So hatten sie die ganze Nacht über gelegen. Maeve hatte nach ihnen gesehen, ehe sie selbst zu Bett ging, sie jedoch nicht gestört. »Jim, wach auf!« Clarke hob benommen den Kopf und blickte zum Fußende des Bettes. Er versuchte sein Bein zu heben, was ihm erstaunlicherweise ohne Schmerzen gelang, aber das Blut war nicht zu übersehen. »O Gott!«, entfuhr es ihm. »Beweg dich nicht«, ermahnte ihn Maeve, während sie sich bemühte, die Decke behutsam vom Betttuch zu entfernen. Katy schlief weiter, jetzt mit einem Arm auf der Brust ihres Vaters. Clarke beugte sich zu ihr hinüber und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe im Krankenhaus angerufen. Du sollst vor neun Uhr dort sein. Dr. Kelleher wird dich persönlich behandeln.« Clarke duschte mit einem Plastikbeutel um sein Bein, dann frühstückte er stumm, während er darauf wartete, dass Moss Kavanagh ihn abholte. Er brauchte nur fünf Minuten in der Notaufnahme zu warten, ehe er das verwuschelte graue Haar seines behandelnden Arztes sah, der auf ihn zukam. »Wieder mal überanstrengt?«, fragte ihn Kelleher. »Ich habe einen Job zu erledigen, Declan. Wir stehen wegen des Mordes am Marks-Mädchen unter großem Druck.« Kelleher nahm das beschädigte Bein gründlich in Augenschein. »Das ist auch eine schreckliche Sache.« Er wartete noch einen Moment, bis das Bein endlich aufhörte zu bluten. »Denken Sie irgendwann einmal auch an sich selbst?« Clarke ignorierte die Frage. »Sie werden besser auf Ihr Bein Acht geben müssen, es bildet sich ein Geschwür.« 722

Ein eisiges Schweigen war Clarkes einzige Reaktion. Kelleher rief eine Schwester und gab ihr Anweisungen für die Behandlung. Ehe er das Zimmer verließ, beugte er sich hinunter und flüsterte Clarke ins Ohr: »John Regan ist auf dem Kriegspfad. Er hat alle im obersten Stockwerk zu einer Pressekonferenz befohlen.« Er grinste schadenfroh. »Gott helfe jedem, der heute mit einem Herzanfall eingeliefert wird.«

10.00 Uhr »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Danke, dass Sie so kurzfristig erschienen sind.« Gesundheitsminister Regan befand sich in demselben großen Saal, in dem er vor acht Monaten seine viel bejubelte Pressekonferenz abgehalten und sein Dreamteam präsentiert hatte. Auf dem Podium hinter Regan saßen Dan Marks, Linda Speer und Stone Colman, alle schwarz gekleidet und mit ernstem Gesicht. Kein Vergleich zu dem Glanz und der gehobenen Stimmung ihres damaligen Auftritts. Auch die Transparente und Plakate mit den Werbeslogans der Regierung fehlten jetzt. Regan hatte sich ebenfalls dem Anlass entsprechend gekleidet. Er trug einen anthrazitgrauen Einreiher und statt eines seiner üblichen farbenfrohen Binder eine schwarze Leinenkrawatte. »Ich will nicht wieder auf die Schreckenstat vom Dienstag eingehen.« Er drehte sich um und blickte zu Dan Marks. »Außer um Ihnen allen zu versichern, dass wir den Mörder von Jennifer Marks vor Gericht bringen werden. Wir haben einen Verdächtigen verhaftet. Er befindet sich in Sicherheitsverwahrung. Er wird die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.« Seine Stimme war laut und Aufmerksamkeit gebietend, seine Haltung verriet mühsam beherrschten Zorn. »Wir sprechen Dan und 723

Annie Marks nochmals unser tiefes Beileid für ihren tragischen Verlust aus.« Dan Marks blickte auf und nickte dankend. »Wir sind uns des Leides und der Trauer bewusst, die nicht nur alle in diesem Saal mit ihnen teilen, sondern auch die Menschen im ganzen Land.« Er schaute ins Publikum. Der Saal war voller Medienvertreter, von denen eine beachtliche Anzahl von der Ostküste der USA gekommen war. Die übrigen waren Kardiologiepersonal des Mercy Hospitals und Regierungsleute, die von ihren Schreibtischen hierher befohlen worden waren. »Diese Regierung ist entschlossen, die Arbeit der Herz-Stiftung fortzuführen.« Er machte eine Pause, und seine Hände umklammerten das Stehpult so fest, dass seine Fingerknöchel sich weiß unter der Haut abhoben. »Ich möchte betonen, dass das Spezialistenteam hinter mir entschlossen ist zu bleiben und die Arbeit, die es begonnen hat, zu Ende zu führen.« Regans Berater Flanagan klatschte Beifall. Kurz darauf war der ganze Saal von begeistertem Applaus erfüllt, während die Fernsehkameras sich auf die ernsten, entschlossenen Gesichter der drei Ärzte des Dreamteams richteten. »Wir werden weitermachen!« Regan musste brüllen, um über den tosenden Applaus gehört werden zu können. »Wir lassen uns nicht unterkriegen.« Dr. Clancy hörte in einer hinteren Ecke des Saals zu. Er hatte sich zu Beginn der Pressekonferenz hineingestohlen und sich hinter einer Fernsehcrew versteckt. Während Regans gesamter Ansprache hielt er den Kopf gesenkt und das Kinn gegen die Brust gedrückt. Sobald der Applaus aufbrandete, verließ er den Saal unauffällig wieder. »Diese Regierung ist entschlossen, die 724

Arbeit der Herz-Stiftung fortzuführen.« John Regans entschiedenes Versprechen beunruhigte ihn. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Regierung das Projekt mit allen Mitteln unterstützen würde.

Der

Mord

an

Jennifer

Marks

schien

Regans

Entschlossenheit noch verstärkt zu haben. Als Clancy auf dem regennassen Bürgersteig stand und sich bemühte, ein Taxi herbeizuwinken, machte er sich wieder Sorgen wegen seiner Verschwörungstheorie. Vorsichtig, Frank, ermahnte er sich. Der Schuss könnte nach hinten losgehen. Du brauchst weitere Fakten und Zeit, dir deine Strategie neu zu überlegen. Ein Taxi fuhr heran, und er stieg ein. Die dunkle Gestalt, die ihn beobachtete, bemerkte er nur aus den Augenwinkeln.

23

11.17 Uhr »Wir haben schon fast alles untersucht, was Sie uns gebracht haben.« Arnold Leeson, der Leiter des Instituts für Rechtsmedizin, spürte Jim Clarkes Ungeduld, und er beschloss, möglichen Bitten oder Vorwürfen vorzubeugen. »Wir wissen vor Arbeit nicht, wo uns der Kopf steht«, erklärte er, während er ein Formular unterschrieb, das ihm einer seiner Assistenten mit Latexhandschuhen vorlegte. »Ich bin nicht hier, um Druck auszuüben«, log Clarke. Leeson kritzelte

eine

weitere

Unterschrift,

die

er

mit

einem

schwungvollen Schnörkel beendete. »Gott sei Dank. Sowohl der Justiz- als auch der Gesundheitsminister haben einen vorläufigen Bericht

über

Kelly

angefordert.«

Er

bemerkte

Clarkes

Erschrecken. »Keine Angst, ich habe ihnen keinerlei Auskunft 725

erteilt. Vor dem Wochenende werden wir sowieso kaum etwas haben. Bis Montag werden Sie doch wohl noch warten können?«, fügte er hinzu. Kavanagh, der hinter Clarke stand, schüttelte den Kopf. »Was ist mit dem Sack, den wir gestern gebracht haben? Dürfen wir uns den Inhalt ansehen?«, bat Clarke. Leeson öffnete die schwere Sicherheitstür zwischen Empfang und Arbeitsräumen. Mit einem Stupsen seiner Krückenspitze deutete Clarke an, dass Kavanagh vorausgehen sollte. »Molloy wartet schon seit neun Uhr auf Sie«, sagte Leeson jetzt. Er ließ die Tür hinter ihnen zufallen. Sie gingen in das kleine Zimmer, das für das Beweismaterial im Fall Jennifer Marks bereitgestellt worden war. Es war so eng, dass Kavanagh auf dem Korridor stehen bleiben musste. Er spähte über die Schultern der Männer ins Innere. Tony Molloy saß mit gerunzelter Stirn auf einem hohen Hocker, der einzigen Sitzgelegenheit, Arnold Leeson zwängte sich in die Ecke und klemmte sich ein Mikrofon in die bleistiftgefüllte Brusttasche seines weißen Kittels, das Mikrokassetten-Diktiergerät steckte in einer Seitentasche. Er nahm ein Klemmbrett und legte eine neue DIN-A4-Seite ein. Molloy bot Clarke den Hocker an, und beide tauschten Platz. »Okay, erst Gummihandschuhe anziehen, ehe Sie irgendetwas anrühren«, ermahnte Leeson sie. Das Siegel an dem Beweissack wurde gebrochen und Jennifer Marks' Schultasche auf den Arbeitstisch gelegt. Alle Augen ruhten auf dem prallen grünen Segeltuchbeutel mit den Lederriemen. Die Umschlagklappe war vorne mit einem Schnappschloss gesichert. Der Name JENNIFER MARKS stand, mit dickem schwarzen Filzstift geschrieben, auf dem Segeltuch. Den äußeren 726

Rand eines jeden Buchstabens hatte jemand mit rotem Filzstift nachgezogen. RADIOHEAD stand, ebenfalls mit schwarzem Filzstift geschrieben, entlang einer Seitenklappe. Es gab zwei Seitentaschen, deren Verschlüsse eingerastet waren. Spinnwebfäden klebten an den Lederriemen und vorne an dem grünen Segeltuch. Clarke hob die Tasche und betrachtete sie von allen Seiten. »Sie ist sehr leicht.« Er blickte Leeson an. »Ich werde sie jetzt öffnen.« Die Schnallenverschlüsse knackten beim Offnen, und die Umschlagklappe wurde nach hinten gezogen. Auf der Innenseite war weiteres Gekritzel mit schwarzen Filzstiften zu sehen, ein Herz und der Name eines Popstars, Jon Bon Jovi. Nach dem Öffnen der Seitentaschen listete man ihren Inhalt auf. In der linken steckten eine geöffnete Packung Tampons, mehrere Kugelschreiber und ein Bleistift. Die rechte Tasche enthielt Kleingeld, eine angebrochene Schachtel Benson & Hedges, einen Lippenstift, einen Lidschattenstift und eine Kompaktpuderdose. Clarke blickte in die Zigarettenschachtel. Sie war etwa halb voll. Leeson führte alles auf seinem Klemmbrett an. »Okay«, schlug er vor, »Sie sprechen deutlich, was Sie gefunden haben, und ich nehme es auf meinem Recorder auf. Fangen Sie mit der linken Seitentasche an.« Gummibehandschuhte Finger drehten das Tamponpäckchen um. Wäre der Boden nicht voller Tinte gewesen, hätte es nicht anders ausgesehen als jedes andere Tamponpäckchen auch. »Es enthält fünf Tampons, davon sind vier noch in ihrer Zellophanschutzhülle«, begann Clarke. »Alle sehen sauber aus.« Er leerte das Päckchen auf den Tisch. Die vier unberührten Tampons und ein unverpackter Pappzylinder mit 727

gepresstem Wattetampon lagen auf der Tischplatte. Der Zylinder war elfeinhalb Zentimeter lang und hatte einen Durchmesser von etwa eineinviertel Zentimetern, bei der Öffnung war ein Stück der Rückholschnur zu sehen. Clarke blinzelte hinein. »Sieht okay aus.« Leeson schürzte die Lippen. »Öffnen Sie ihn.« Clarke drehte

die

Papphülle

von

dem

inneren

Zylinder.

Ein

Selbstklebeband war fest um weißes Pulver gewickelt, das Ganze in die Papphülle gestopft und ein abgeschnittener Wattetampon darauf geschoben worden. »Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Leeson. »Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie einfallsreich Jugendliche sind, wenn es darum geht, Stoff zu verstecken.« Molloys Stirnrunzeln vertiefte sich. Er zeigte mit der Spitze eines Kugelschreibers auf das Päckchen. »Sieht aus wie Heroin.« Leeson beugte sich vor und betrachtete es. »Ich werde es übers Wochenende analysieren lassen.« Kavanagh beschwerte sich kopfschüttelnd. »Übers Wochenende? Ihr Burschen hier arbeitet wohl überhaupt nicht. Wie wärs, wenn Sie sich das Zeug über Nacht vornehmen?« Leeson funkelte ihn finster an, dann wandte er sich wieder an Clarke. »Nehmen Sie sich die Zigaretten vor.« Behandschuhte Finger holten behutsam zwölf Zigaretten aus der Schachtel. Sie hatten Standardgröße. Das untere Ende von drei Zigaretten war fast unmerklich manipuliert worden, es enthielt die unverkennbare Mischung von Tabak und Haschisch. Leeson reichte ihm einen Umschlag. »Stecken Sie sie da hinein.« »Ein viel versprechender Anfang«, stellte Molloy fest. Leeson verzog keine Miene. Er kratzte sich die Nase mit der Kante seines Klemmbretts. »Für eine Klosterschülerin aus bestem Haus, 728

ja. Für übliche achtzehnjährige Drogenabhängige wahrscheinlich weniger, als ich erwartet hätte. Was wir finden und wo es versteckt war, verrät enormen Einfallsreichtum. Wenn dieselbe Meute ihr Geschick und ihre Kreativität für wichtigere Dinge einsetzen würde, wäre das nicht nur besser für die Kids, sondern auch für uns.« Molloy grinste. »Dann wären Sie ja arbeitslos, Arnie, nicht wahr?« Leeson ignorierte ihn. »Machen Sie weiter. Schauen wir mal, was wir noch alles finden werden.« Die pralle grüne Segeltuchtasche war oben mit einem durch Ösen gefädelten, an den Enden verknoteten Lederband zusammengezogen, ließ sich jedoch mühelos öffnen. Obenauf in der Tasche lag eine dunkelblaue Jacke. Darunter fanden sich eine weiße Bluse, eine dunkelblaue Strumpfhose und ein Paar »vernünftige« schwarze Schuhe. Alles wurde herausgehoben und betrachtet, die Taschen umgedreht, die Säume betastet, aber nichts gefunden, ehe man es einstweilen in einer Ecke ablegte. Clarke langte noch einmal in die Tasche und brachte einen dunkelblauen Schal, dunkelblauen Rock und ein einsames Schulheft zum Vorschein. »Eine fleißige Schülerin, nicht wahr?«, bemerkte Kavanagh vor der Tür. Alle Aufmerksamkeit richtete sich nun auf den Rock. Molloy wies darauf. »Der Augenblick der Wahrheit.« Leeson schob sich vorwärts und ermöglichte es Kavanagh dadurch, sich ins Zimmer zu zwängen. In dem winzigen Raum war es nun unangenehm warm, und man lockerte die Binder. Clarke breitete den Rock auf dem Labortisch aus. »Übernehmen Sie.« Molloy inspizierte die äußere Seite. Sie sah sauber und frisch aus. Der Bund war 729

dreimal eingerollt worden, um die Rocklänge zu kürzen. Ein Knopf war am Bundschlitz abgerissen, und eine Sicherheitsnadel hielt die beiden Teile zusammen. Jetzt wendete er den Rock und strich mit den Fingern über den unteren Saum. »Da ist etwas!«, rief er mit aufgeregter Stimme. »Da ist etwas.« Der Saum war in einer Länge von etwa fünfundzwanzig Zentimetern aufgetrennt und unbeholfen mit einem andersfarbigen Faden wieder zugenäht worden. Leeson zog eine kleine Schere mit scharfen Spitzen aus einer Kitteltasche und gab sie ihm. Mit zwei Schnitten war die amateurhafte Naht aufgetrennt. Mit dem kleinen Finger zog Molloy ein aus Selbstklebefolie gefertigtes Beutelchen hervor. »Was ist drin?« Leeson bemühte sich, über Clarkes Schulter zu sehen. Molloy versuchte die Folie zu öffnen. »Weiß noch nicht.« Schließlich gelang es ihm, eine Ecke aufzumachen. Vier kleine, eckige blaue Tabletten lösten sich und fielen nacheinander auf die Tischplatte. Zwei landeten auf der Unterseite, dadurch war die obere Einprägung gut zu erkennen: D117C. Die beiden anderen lagen umgekehrt. Ihre Einkerbung lautete: CYN. »Haben Sie eine Ahnung, was das ist, Arnie?«, fragte Clarke. Leeson hob eine Tablette hoch und betrachtete sie, zuerst ohne, dann mit Brille. »Hab diese Sorte noch nie gesehen. Ich lasse eine analysieren. Wir werden das Ergebnis aber nicht...« »... vor dem Wochenende haben«, unterbrach ihn Molloy und beendete den Satz für ihn. »Ich gebe Ihnen Montag Bescheid.« Leeson drehte sich zu Molloy um. »Wissen Sie, wenn Sie nicht ein so großer Bastard wären, würde ich Ihnen in die Eier treten.« Molloy blickte vom Labortisch auf. »Treten Sie ruhig, Arnie. Dann erleben Sie ausnahmsweise mal was.« Das kleine 730

Geplänkel lockerte die angespannte Atmosphäre und man beschloss, eine Pause einzulegen. Sie wollten gerade das Zimmer verlassen, als Molloy die Schultasche auf den Kopf stellte. Ein Päckchen Zigarettenpapier fiel heraus. Die Worte EE-NIEMEENIE-MO waren darauf gekritzelt. Um das MO herum war ein Herz gezeichnet, durch das ein Pfeil ragte. Der Pfeil war ein nicht sehr gelungener Versuch, einen erigierten Penis darzustellen. »Geben Sie es zu den anderen Beweisstücken«, wies Leeson ihn an. »Es könnte etwas bedeuten, vielleicht ist es aber auch nur eine witzig gemeinte Kritzelei.« Clarke blätterte durch das Schulheft. Es war Jennifer Marks' Französisch-Hausaufgabenheft. Offensichtlich war sie nicht gerade ein Sprachtalent gewesen. Die blaue Tinte ihrer Eintragungen war von roten Korrekturen übersät. Auf jeder zweiten Seite fing eine neue Hausaufgabe an. Des Öfteren stand am Ende: »Kommen Sie nach der Schule zu mir ins Lehrerzimmer.« Nachdem Leeson die Tür verschlossen hatte, gingen die Männer, in ein Gespräch vertieft, den Korridor entlang. Clarke hatte zwei der geheimnisvollen blauen Tabletten in seine Jackentasche gesteckt. »Wir arbeiten an Teilen ihrer Kleidung.« An einer verschlossenen Tür wurden sie aufgehalten. Leeson wies sich aus. »Kommen Sie mit.« Die Biologische Abteilung des Gerichtsmedizinischen Instituts bestand aus vier Räumen an der Westseite des Hauptgebäudes, von denen man einen Blick auf die Sportplätze hatte. Auf den Labortischen standen Mikroskope und ein Absaugschrank. Papiere lagen verstreut herum. In einer Ecke hing über einem 731

großen, trichterförmigen Behälter aus rostfreiem Stahl ein Kleiderbügel, über den ein blutiges Kleid drapiert war. Ein weiß bekittelter Chemiker bürstete es sorgfältig aus und beobachtete, wie Staub und Fusseln sich lösten und in den Behälter fielen. »Hierher«, wies Leeson seine Begleiter an, und Clarke humpelte zu einem breiten Labortisch. Dahinter arbeitete ein junges und sehr hübsches dunkelhaariges Mädchen. »Wir werden uns den schwarzen Rock vornehmen«, erklärte Leeson mit einem Blick auf das Mädchen. Jennifer Marks' schwarzer Rock wurde auf dem Tisch ausgebreitet und der Saum behutsam aufgeschnitten, um die gesamte Länge untersuchen zu können. Das hübsche Mädchen legte ein riesiges Blatt Löschpapier darauf, das sie mit einer Sprühpistole befeuchtete. Sie strich über das Papier, um sich zu vergewissern, dass es auch überall richtig auflag. »Okay«, sie strich das Haar aus dem Gesicht, »es dauert etwa dreißig Sekunden.« Sie legte das Löschpapier in einen Absaugschrank und sprühte eine Chemikalie darüber. Dann schloss sie den Schrank und zog einen Hebel. Das Mädchen wartete, eine Hand hatte es auf den Tisch gestützt. „ Es zeichnet sich etwas ab!« Sie öffnete den Schrank und nahm das weiße Löschpapier heraus. Auf einem unregelmäßigen Fleck von etwa fünfzehn Zentimetern Durchmesser waren purpurrote Spritzer erkennbar. »Sehen Sie diese winzigen Flecken?« Das Mädchen deutete mit behandschuhten Fingern. »Da ist noch einer, ungefähr zweieinhalb Zentimeter höher. Das sind Spermaflecken.« Clarke wandte sich an Leeson. »Was geschieht jetzt?« »Sie wird diese Stelle mit einem Mittel besprühen, damit sich 732

Zellen und Spermatozoen abheben. Davon wird eine Probe zur Erstellung eines DNS-Profils genommen. Wir werden uns der ICR, der Polymerase-Kettenreaktion bedienen. Dadurch erhalten wir ein rasches Ergebnis. Ich werde alle anderen Arbeiten hintanstellen und mich jetzt nur noch dieser Sache annehmen. Am Montag kann ich Ihnen sagen, was wir herausgefunden haben.«

24

16.58 Uhr Als Frank Clancy selbst noch Medizin studierte, hatte er sich vor dem Examen zum Pauken immer die schwierigsten der zu erwartenden Prüfungsthemen herausgesucht. Später, wenn er für Konferenzen Forschungsunterlagen vorbereitete, hatte er sich der gleichen Technik bedient, um gegen inquisitorische Fragen gewappnet zu sein. Clancy blieb gern Herr jeder Situation und mochte es gar nicht, wenn etwas seiner Kontrolle entglitt. Er hatte einen scharfen, analytischen Verstand und verbrachte oft Stunden auf dem Dachboden seines Hauses, wo er sich mit neuen Theorien über die verschiedenen Stadien von Erkrankungen beschäftigte. Er hatte es sich angewöhnt, alles in einen PC einzugeben, es danach auszudrucken, tagsüber durchzulesen und sich dann nachts damit zu befassen. Er besprach sich gern mit Krankenhauskollegen

unterschiedlicher

Fachrichtungen

und

ersuchte sie um ihre Ansicht über Behandlungsmethoden und die Wahrscheinlichkeiten progressiver pathologischer Prozesse. Er hörte sich zwar alle Vorschläge und Anregungen an, aber letztendlich traf er allein seine Entscheidungen. Frank Clancy 733

war ein sich seines Wertes sicherer autarker Mann. Am Nachmittag des 15. Mai empfand Clancy jedoch zum ersten Mal seit vielen Jahren Unsicherheit. Er saß an seinem Schreibtisch im Mercy Hospital, und sein gesenkter Kopf spiegelte sich im Glas der Trennscheibe zum Korridor. Er war völlig in Gedanken versunken, während seine Finger auf der Tastatur tippten. Er hatte eine Datei angelegt, die ihm helfen sollte, sein Bild über die Todesfälle durch Agranulozytose zu vervollständigen. Der Datei gab er den Namen GRANNY. Er hatte zwei Todesfälle eingegeben, die von James Murphy und Mary Hyland, und ihre mögliche Verbindung zum Herzzentrum im obersten Stockwerk. Danach hatte er die neuesten Einzelheiten über seinen Patienten Harold Morell eingetragen. Anschließend führte er sechs kurze Telefongespräche. »Hi, Gerry«, begrüßte er Gerald Hanson, den Oberarzt der Hämatologie im Bartons Hospital in Norddublin. »Ich untersuche einen Fall von Agranulozytose. Könnten Sie mir vielleicht ein paar Fragen beantworten?« »Schießen Sie los.« »Ist Ihnen in letzter Zeit eine ungewöhnliche Häufung von Agranulozytosefällen untergekommen? Patienten, die mit diesem Krankheitsbild im Hospital eingeliefert wurden?« Hanson brauchte nicht erst nachzusehen, er antwortete sofort. »Nein, wir hatten hier in den letzten zwölf Monaten nicht einen einzigen Fall.« Eine ähnliche Antwort erhielt Clancy aus den Krankenhäusern von Cork im Süden, Galway im Westen und Belfast im Norden. Um sicherzugehen, rief er auch in den Hämatologiezentren in London und Edinburg an. Auch da hatte es keine Anhäufung von 734

Fällen mit dieser ungewöhnlichen Blutkrankheit gegeben. Er tippte diese Information fein säuberlich in GRANNY ein. Um siebzehn Uhr dreißig musste Clancy seine Stationsschwester besänftigen, die auf seine Entscheidungen für die Behandlung der stationären Patienten übers Wochenende gewartet hatte. Er bat seinen Assistenten, sich um diese Patienten zu kümmern, dann rief er zu Hause an, um seiner Frau Bescheid zu sagen, dass er noch später als üblich heimkommen würde. Er legte rasch auf, um ihre Gardinenpredigt zu verhindern. Zum Schluss führte er wieder ein Auslandsgespräch. »Medikamentennotdienst.« Es war dieselbe Stimme, die ihm bereits einmal Auskunft erteilt hatte. »Hi«, grüßte Clancy. »Ich bins noch einmal, Dr. Frank Clancy aus Dublin in Irland.« Er klang leicht verlegen. »Oh, hallo, Dr. Clancy. Sie werden ja fast zum Stammkunden. Was kann ich diesmal für Sie tun?« Die Stimme war genauso freundlich wie beim ersten Mal, und Clancy entspannte sich ein wenig. »Sie werden es nicht glauben«, begann er, »aber bei diesem Patienten, von dem ich gesprochen habe, ist noch eine weitere Tablette aufgetaucht, die wir nicht identifizieren können. Ich wollte fragen, ob Sie für mich nachsehen könnten.« »Kein Problem, Dr. Clancy. Sagen Sie mir so viel, wie Sie darüber wissen.« »Nun, es ist leider nicht viel«, entschuldigte er sich. »Erklären Sie mir ganz einfach, was Sie haben. Wir können nur unser Möglichstes tun.« »Okay.« Clancy holte tief Luft. »Es ist eine kleine, viereckige blaue Tablette. Die Einprägung ist auf beiden Seiten in Großbuchstaben.« 735

»Einen Moment«, unterbrach ihn die Schwester. »Nicht ganz so schnell. Ich gebe die Information ein, während ich zuhöre.« »Auf einer Seite stehen ein C, Y und N. Die Buchstaben auf der anderen Seite sind ein wenig kleiner.« Während er redete, betrachtete Clancy eine der Tabletten, die Ned Hyland ihm vergangene Nacht überlassen hatte. »Und was sind das für Buchstaben?«, erkundigte sich die Schwester vom Medikamentennotdienst in Chicago. »X und P.« »Sonst noch etwas?« »Nein, mehr habe ich leider nicht.« »Einen Augenblick bitte.« Wieder war das Tippen auf der Tastatur über die Leitung zu hören. Pause. »Nichts unter dieser Farbbeschreibung. Ich versuche es jetzt mit den Buchstaben.« »Danke.« Clancy fing an, an seinen Daumennägeln zu kauen, eine Angewohnheit, die er sich als Halbwüchsiger eigentlich abgewöhnt hatte. Pause. »Auch nichts unter den Buchstaben. He, da haben Sie mir wirklich was zum Zähneausbeißen gegeben, Dr. Clancy. Lassen Sie mich noch etwas anderes versuchen.« Tippen auf der Tastatur. Pause. »Nicht zu glauben, aber ich habe gar nichts über dieses Produkt. Sind Sie sicher, dass es aus den USA kommt?« »Ganz sicher«, entgegnete Clancy. »Es ist ohne Zweifel kein pharmazeutisches Produkt, das vom Gesundheitsministerium zur Benutzung zugelassen ist.« Clancy wartete mit gezücktem Füller und leerem Notizblock, bereit, jede Auskunft einzutragen. »Sind Sie noch da, Dr. Clancy?« 736

»Ja. Ich überlege nur.« Pause. »Warten Sie, ich werde noch bei den Logos der pharmazeutischen Firmen nachsehen«, erbot sich die Diensthabende Schwester. »Vielleicht ist es ein Testprodukt, das noch nicht zugelassen ist.« Es klickte in Clancys Kopf. »Ja, das muss es sein!«, rief er aufgeregt. »Ja, anders kann ich es mir nicht vorstellen. Bitte sehen Sie nach«, flehte er regelrecht. »Okay«, die Schwester lachte. »Einen Moment.« Pause. »Es tut sich etwas.« Die Feder von Clancys Füller drückte auf die immer noch leere Notizblockseite. »Nichts über das gesuchte Produkt, nur die Herstellerfirma.« »Geben Sie mir bitte, was Sie haben.« »Die in blaue Tabletten geprägten Großbuchstaben CYN werden lediglich von einer Firma benutzt. Sie sind ihr Markenzeichen. Sie benutzen auch nur diese eine Farbe.« »Welche Firma ist es?« »Cynx Pharmaceuticals.« »Kennen Sie die Firma?« »Nur ihren Standort sowie ihre Telefon- und Faxnummer und die E-Mail-Adresse. Sie hat eine Servicenummer für alle Fragen, die ihre Produkte betreffen.« »Wo produziert Cynx?«, erkundigte sich Clancy. »In Boston. Möchten Sie die Adresse?« Boston! Clancy lehnte sich in seinem Schreibtischsessel so weit zurück, dass er fast umkippte. Rasch kam er wieder nach vorn, um die Einzelheiten zu notieren, die durch die Leitung kamen. »Möchten Sie, dass ich mich bei Cynx nach diesen Tabletten er737

kundige?«, erbot sich die Schwester. Clancy erschrak heftig. »Nein, nein, nein. Wirklich nicht!« Er konnte sich kaum noch beherrschen. »Ich werde selbst dort anrufen«, log er. »Vielen Dank für Ihre freundliche Hilfe. Sie sind ein Schatz.« »Wir versuchen nur zu helfen, Dr. Clancy. Dafür sind wir hier.« Die Verbindung wurde beendet, und Frank Clancy starrte auf den Hörer. Er war wie gelähmt. Schließlich tippte er die Information aus Chicago in GRANNY ein. Dann sicherte er alles auf einer Diskette und druckte die Datei aus. Erst als er die zwei DIN-A4-Seiten zusammengefaltet in seine Kitteltasche gesteckt hatte, löschte er GRANNY. Er wollte keine unnötigen Risiken eingehen. Es war jetzt bereits kurz nach achtzehn Uhr. Nur noch wenig Zeit, um nach ein paar Patienten zu sehen, ehe er sich auf den Heimweg machte. Er griff nach den Krankenblättern und trat auf den Korridor. Während er einen jungen Mann in der Mitte einer Bettreihe untersuchte, hörte er unverkennbar John Regans Stimme. Er drehte sich abrupt um und stellte erleichtert fest, dass sie aus einem Fernsehgerät kam. Er trat näher heran, um zuzuhören. Es war eine Medienübertragung der heutigen Pressekonferenz. Regans Anblick beunruhigte Clancy. Er kehrte zu seinem Patienten zurück, um den Politiker nicht mehr sehen zu müssen. Im Gegensatz zu ihm war Jim Clarke beeindruckt. Er saß in seinem Sessel zu Hause, nippte hin und wieder an einem Glas Wein und schob sich dazwischen eine Gabel voll Lasagne in den Mund. Er zappte mit der Fernbedienung durch die Kanäle, und da war Regan wieder - in den BBC-Nachrichten und im Sky-Bericht. Die Sender sprachen von dem internationalen Interesse an 738

den Geschehnissen in Dublin. Maeve kam aus der Küche und schenkte sein Glas nach. »Unser Dr. Regan ist ja ziemlich heftig heute Abend.« Maeve war kein großer Freund der Regierung. »Ich finde, er sieht super aus, so richtig zum Verlieben«, stellte Katy fest, die zu Füßen ihres Vaters auf dem Boden hockte. »Alle Mädchen in unserer Klasse finden ihn echt geil.« Clarke betrachtete Regan eingehender und sah ihn zum ersten Mal mit anderen Augen. »Was meinst du, Maeve? Findest du auch, dass er echt geil ist?« Maeve blieb auf dem Weg zurück zur Küche stehen und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie blickte nachdenklich auf den Schirm, wo die Pressekonferenz sich ihrem Ende näherte. »Ich habe das Gefühl, er würde einen verschlingen und fein zerkaut ausspucken, wenn man ihm in die Quere käme. Und junge Mädchen würde er zum Frühstück vernaschen.« Clarke zwinkerte Katy zu, als er bemerkte, wie sich ihr Gesicht verdunkelt hatte. »Ich glaube, du hast Recht, Maeve.« Katy stand auf. »Du bist bloß neidisch. Er hat noch Haare, und du hast schon bald eine Glatze! Nah-ne-nah-ne-nah-nah!« Sie schaffte es gerade noch, seiner Krückenspitze auszuweichen.

25

Samstag, 16. Mai, 10.26 Uhr »Da kommt etwas rein. Könnte wichtig, könnte aber auch bedeutungslos sein.« Der Magen machte Tony Molloy nach einem etwas zu üppigen Frühstück zu schaffen, und er kaute ein Ant739

azidum. Clarke, Molloy und Kavanagh befanden sich auf dem Polizeirevier von Sandymount. An eine Wand waren drei Reihen von je zehn DIN-A4-Fotografien geheftet. Es waren Aufnahmen von Neugierigen, die an jenem Morgen gemacht wurden, als man Jennifer Marks' Leiche gefunden hatte. Clarke ging näher heran und betrachtete eingehend jedes Bild. »Einer aus dieser Gruppe hat einen falschen Namen angegeben«, erklärte Molloy, der eben einen weiteren Satz auf dem Schreibtisch vor sich studierte. »Und geht es damit voran?«, erkundigte sich Clarke. »Ja. Alle Streifenpolizisten sind mit Abzügen unterwegs und ermitteln die fehlenden Namen.« Clarke setzte sich. »Schon irgendwas Neues über Kelly?«, fragte er hoffnungsvoll. »Nichts.« Molloy verzog das Gesicht, als es in seinem Magen plötzlich heftig rumorte. »Ich habe gleich in der Früh mit Dillon gesprochen, und er hat gesagt, dass Kelly noch in den Wolken schwebt.« »Hat er diese Worte benutzt?«, wunderte sich Clarke. »Vielleicht nicht genau«, gab Molloy zu, »aber der Sinn war derselbe.« Moss Kavanagh grinste. Er lehnte an der hinteren Wand. »Und von der Familie Marks?« »Nichts.« Molloy steckte sich eine weitere Magentablette in den Mund. »Ich habe mehrmals im Haus und im Hospital angerufen. Niemand hat abgehoben oder meine Nachricht auf dem Anrufbeantworter beachtet. Dr. Marks operiert, wie mir eine Schwester erklärte. Sie haben angeblich viel Zeit verloren, weil er sich nach Jennifers Tod nicht mehr im Krankenhaus blicken ließ. Und sie müssen vor der Pressekonferenz unbedingt fertig sein.« 740

»Welcher Pressekonferenz?«, fragte Clarke. »Wenn der EUZuschuss übergeben wird. Das ist nächsten Mittwoch. Falls die Ergebnisse seiner Herz-Stiftung gut aussehen, wird John Regan einen Scheck über zwanzig Millionen Pfund erhalten.« Clarke stand vorsichtig auf. »Dann ist es an der Zeit, sie mal zu besuchen.« Er griff nach den zwei Faxen vom toxikologischen Laboratorium, die Jennifer Marks betrafen. »Gehen wir.« Die Fahrt zum Mercy Hospital auf der verkehrsreichen Straße entlang Dublins Kais dauerte knapp eine Stunde. Die meiste Zeit ärgerte Moss Kavanagh sich über die Dieselabgase eines Lastwagens, der Computerteile transportierte. Kurz vor Mittag stiegen Clarke und Molloy die Freitreppe zum Haupteingang hinauf, während Kavanagh im Wagen sitzen bleiben und die vorbeieilenden Schwestern

bewundern

durfte.

Überall

um

den

Kran-

kenhauskomplex herum herrschte reges Treiben. Rettungswagen brausten mit heulenden Sirenen herbei und warteten vor der Notaufnahme, bis grün bekittelte Pfleger eine Bahre herbeirollten. Weiß bekitteltes Laborpersonal und Krankenschwestern in blauer Kleidung eilten durch die antiseptisch sauberen Korridore, einige trugen Blut- und andere Proben. Besorgte Freunde und Verwandte von Patienten saßen einzeln oder in Grüppchen auf denselben Korridoren und warteten darauf, dass ein Arzt ein paar Worte mit ihnen wechselte. Der Geruch von Desinfektionsmitteln war allgegenwärtig. Patienten in Schlafanzügen schauten kurz einmal aus ihren Zimmern, blickten ihren Korridor auf und ab, dann zogen sie sich resigniert und deprimiert in ihr Bett zurück. Hin und wieder brach das Schreien eines Kindes, das genug vom Warten hatte, die gedrückte Atmosphäre. Während Clarke zu den Lifts humpelte, bemühte er sich, die Erinnerung an seinen 741

eigenen Aufenthalt hier im Mercy Hospital vor zwei Jahren und die besorgten Blicke, die damals ihm gegolten hatten, zu verdrängen. »Ich hasse Krankenhäuser!« Molloy grinste und drückte auf den Knopf. Lichtzeichen verkündeten, dass der Fahrstuhl auf dem Weg zum Erdgeschoss war. Nach dem Einsteigen fiel Clarke sofort auf, dass der Knopf zur Etage der Herz-Stiftung größer als die anderen und als einziger goldfarben war. Ein älterer Mann schlurfte herein und stellte sich zu ihnen. Er trug einen Morgenrock, der einmal bessere Tage gesehen hatte. Sein Gesicht war bleich, und die Haut spannte sich über den Wangenknochen. Er führte ein Selbstgespräch. Clarke hatte das Gefühl, dass er das Mercy Hospital besser kannte, als ihm lieb war, und doch staunte er, als die Fahrstuhltür zum obersten Geschoss aufglitt. Ihm war, als empfinge sie der Luxus eines Fünfsternehotels. Die Korridore waren hier geräumiger und heller, den Boden bedeckte ein nagelneuer bunter Linoleumbelag, und die Wände schmückte eine goldgelbe Tapete mit breiten dunkelblauen Streifen. Statt des üblichen Blau trugen die Schwestern hier eng anliegende weiße Kittel, die vorne mit roten Knöpfen geschlossen waren. Clarke hatte keinen Zweifel, dass sie nicht nur wegen ihrer fachlichen Qualifikation ausgesucht worden waren, sondern auch nach ihrem Aussehen. Image war alles. Auf ihre Frage wurden sie zu einem langen Korridor gewiesen, an dessen Ende die Bostoner Spezialisten ihre Sprechzimmer hatten. Sie gingen an einer Reihe von offenen Drei- und Vierbettzimmern vorbei, in denen Patienten an EKG-Monitoren angeschlossen waren. Manche hingen am IV-Tropf, andere an 742

Kathetern. Bei ihrem Anblick zuckte Clarke zusammen und wandte schnell den Blick ab. Wenige Augenblicke später befanden sie sich vor dem neuen Laboratorium neben dem Operationssaal und der Intensivstation. Die Wände hier waren aus dickem klaren Glas mit Jalousien, die zwar zugezogen waren, aber doch einen Blick in den Raum gestatteten. Clarke spähte hindurch und konnte Mikroskope, Petrischalen und Reihen von vollen Reagenzglashaltern sehen. Fast drei Viertel eines Labortischs war mit Papieren belegt, und Drucker surrten und stoppten und surrten erneut, wenn sie Ergebnisse ausspuckten. Er zählte sieben weiß bekittelte Labortechniker. Auf einem Schild gleich hinter dem Labor wurde um Ruhe gebeten, da hier die Wachstation begann. Molloy kaute ein weiteres Antazidum. Genau wie Clarke wunderte er sich, wie laut es hier zuging. Über die Pieptöne der EKG-Monitore hinweg wurden Anweisungen erteilt. Nach einer kaum merklichen Biegung gelangten sie zur Intensivstation mit ihren vier Betten. Alle waren belegt. Die Patienten waren an den neuesten medizinischen Errungenschaften angeschlossen, wurden von ihnen versorgt und überwacht. Trotzdem wurden die Patienten auch noch von vier Schwestern umsorgt, die aufblickten, als sie bemerkten, dass die Detectives hereinstarrten. Eine forderte sie durch eine Geste auf weiterzugehen. Verlegen gehorchten sie, bis sie die Sprechzimmer des Dreamteams erreichten. Auch hier waren die Wände zum Korridor aus dickem klaren Glas, geschützt durch nicht völlig zugezogene Jalousien. An jeder der drei Buchentüren war ein Messingschild angebracht: Dr. Stone Colman, Dr. Linda Speer, Dr. Dan Marks. Clarke spähte durch die mittlere Jalousie und sah, dass die Zim743

mer innen durch Zwischentüren miteinander verbunden waren. Molloy ergriff die Initative und klopfte. »Herein.« Die Stimme hatte einen unverkennbaren New-England-Akzent. Clarke fand, dass Dan Marks größer war, als er auf den FernsehBildern gewirkt hatte. Auch seine Schultern erschienen ihm breiter, und er sah, dass er große Hände mit langen, schlanken Fingern hatte. Er trug noch seinen blauen Operationskittel mit der dazugehörenden Kappe, die Gesichtsmaske war noch am Nacken gebunden, aber er hatte sie nach unten gezogen. Er nahm gerade eine Eintragung vor, stand jedoch auf, als die beiden Männer sein Sprechzimmer betraten. »Ja? Was kann ich für Sie tun?« »Dan Marks?«, begann Clarke. »Wer sind Sie?« »Ich bin Superintendent Clarke und das ist Sergeant Molloy. Wir ermitteln im Mordfall Ihrer Tochter.« Marks sackte zurück in seinen Sessel. Seine Körpersprache verriet, dass er keineswegs erfreut über die Störung war. »Was wollen Sie?« Clarke rückte einen Sessel näher an den Schreibtisch heran und setzte sich. Molloy zog es vor, sich an die Wand zu lehnen. »Wir haben vergebens versucht, Sie zu erreichen«, erklärte Clarke, »und unsere Anrufe wurden nicht erwidert.« Dan Marks löste die Operationsmaske und stützte sich schwer auf seinen Schreibtisch. Er nahm auch die Kappe ab und fuhr mit einer Hand durch das leicht gekrauste graue Haar. »Was wollen Sie von mir oder Annie?«, fragte er ruhig und beherrscht. »Wir haben genug gelitten. Man hat mir versichert, dass der Mörder verhaftet wurde.« Seine Stimme hob sich leicht. »Ein notorischer 744

und gefährlicher Verbrecher, wie ich hörte.« Er blickte Clarke direkt an. »Wie könnten wir Ihnen denn jetzt noch von Nutzen sein? Wir brauchen unsere Ruhe, wollen mit unserer Trauer allein gelassen werden.« Drei Krankenblätter rutschten über die Schreibtischkante. Niemand machte Anstalten, sie aufzuheben. »Dr. Marks«, sagte Clarke. »Der toxikologische Befund hat ergeben, dass Ihre Tochter Heroin und Haschisch nahm.« Er hielt ein Fax mit den Einzelheiten hoch. »Wissen Sie, wo sie sich dieses Zeug besorgte?« Er wartete, erhielt jedoch keine Antwort. »Haben Sie eine Ahnung, woher sie das Geld hatte, um die Drogendealer zu bezahlen?« Falls Dan Marks diese Fragen überrascht hatten, ließ er es sich nicht anmerken. Er stützte das Kinn auf die Hände und blickte von Molloy zu Clarke. »Bedaure, ich weiß es wirklich nicht. Selbst wenn ich klar denken könnte, wozu ich jedoch seit ihrer Ermordung offenbar nicht mehr fähig bin, wäre es mir schleierhaft.« Clarke blätterte durch ein Notizbuch. »Ein Zeuge meinte, dass Jennifer das Geld von ihrer Familie bekam, also von Ihnen und Mrs. Marks, nehme ich an. Die Frage lautete: >Woher hatte sie das Geld für die Drogen ?< Und die Antwort: >Von ihren Eltern. Die schwimmen in Geld. Wissen Sie, die haben ihr alles gegeben, was sie wollte.<« »Wer hat das behauptet?«, fragte Marks. »Bedaure, ich darf keine Namen nennen.« Dan Marks Miene wechselte von bedrückt zu verärgert. Er beugte sich über den Schreibtisch und fixierte Clarke. »Lassen Sie mich die Sache klarstellen. Es war nie leicht, Jennifer zu erziehen, das gebe ich zu. Wie viele Jugendliche in ihrem Alter 745

probierte sie Drogen, allerdings keine harten. Ich habe mich noch in Boston mit ihr darüber unterhalten.« Er drehte sich halb in seinem Sessel, um sich Molloys volle Aufmerksamkeit zu sichern. »Ich habe eine Frau, die mit Multipler Sklerose an den Rollstuhl gefesselt ist. Annies Fähigkeit, eine Mutter wie jede andere zu sein, endete an dem Tag, als Jennifer geboren wurde. Seither musste ich alles in unserem Haus selbst tun. Ich wechselte jede schmutzige und nasse Windel. Ich saß neben ihr, wenn sie Bauchweh oder Ohrenschmerzen hatte. Ich besorgte ihre Kleider, ihre Schuhe, brachte sie zum Friseur. Ich kaufte Binden, als sie dieses Alter erreicht hatte. Ich weiß alles über meine Tochter.« Er hielt an, als würge ihn die Erinnerung. Doch als er weiterredete, war seine Stimme hart. »Jennifer bekam keinen Cent von Annie oder mir, von dem wir nicht beide wussten.« Molloy warf ein: »Haben Sie eine Ahnung, woher sie das Geld sonst hätte bekommen können?« Er klang nicht überzeugt. »Nein. Aber mein Instinkt sagt mir, dass sie in schlechte Gesellschaft geraten ist.« Marks wandte sich an Clarke. »Sie hatte sich mit einem Mädchen angefreundet, Jane oder June oder so ähnlich Armstrong. Ich mochte dieses Mädchen nicht, genauso wenig wie ihre affektierte Mittelklassefamilie. Fragen Sie doch sie.« Clarke blätterte zu einer anderen Seite seines Notizbuchs um. »Wir haben Joan Armstrong bereits befragt.« »Und?« »Sie hat uns sehr geholfen. Aber wir glauben nicht, dass sie das Geld hatte, Heroin und Haschisch zu kaufen. Beides ist auch in Dublin nicht gerade billig.« Eine Schwester betrat das Sprechzimmer. Sie entschuldigte sich sofort für die Störung. Dan Marks ließ sie nicht ausreden. »Ist 746

schon okay, Schwester, diese Herren wollen sowieso gehen. Womit kann ich Ihnen helfen?« Die Schwester lächelte nervös, die angespannte Atmosphäre in dem Zimmer entging ihr nicht. »Im Operationssaal Zwei ist man bereit. Die Brust ist offen und die Venen sind entnommen. Man wartet nur darauf, dass Sie den Bypass legen.« „Ich komme sofort.« Marks' Stimme klang jetzt ruhig. Er stand auf, zog die Stoffkappe wieder über den Kopf und schob das Haar darunter. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, meine Herren. Selbst in meiner Trauer kann ich meine Arbeit nicht im Stich lassen. Ich war drei Tage nicht hier, und inzwischen starb einer meiner Patienten. Ich darf die anderen nicht länger warten lassen.« Clarke war überrascht, wie der Mann sich unter diesen Umständen beherrschen konnte. »Ich hoffe, Sie kommen zurecht.« Dan Marks zupfte an seiner Kappe und band die Gesichtsmaske um. »Ich habe im Lauf der Jahre gelernt, mein Leben in Teile aufzuspalten. Ich beschäftige mich nur mit Dingen, die ich ändern kann. Die anderen, die außerhalb meiner Kontrolle sind, lasse ich hinter mir zurück. Ich bin nicht der Typ, der jedes Mal nach der Flasche greift oder weint, wenn ihn ein Schicksalsschlag trifft. Man erreicht eine Stellung wie meine nicht durch Sentimentalität. Jennifers Tod hat eine große Leere hinterlassen. Nur erwarten Sie nicht, dass ich meine Trauer zur Schau trage.« Während Clarke und Molloy zu den Fahrstühlen zurückkehrten, schloss sich die Tür zwischen Dan Marks' und Linda Speers Zimmer lautlos. Speer zitterte heftig. Sie zündete sich eine Filterzigarette an und schenkte sich einen Fingerbreit Bourbon ein, den sie in zwei Schlucken trank. Besorgt an ihren Fingern kauend, 747

lief sie nervös auf und ab. Dann zog sie die Jalousie ganz herunter, sodass sie vor neugierigen Blicken sicher war, verschloss die beiden Türen und griff zum Telefon.

26

15.17 Uhr In Frank Clancys Haus war irgendwann zwischen zwölf Uhr dreißig und fünfzehn Uhr eingebrochen worden. Er war mittags mit seiner Frau und den zwei Kindern in den Park gegangen, um ihnen wieder etwas Zeit zu widmen. Er hatte mit ihnen Ball und Fangen gespielt, hatte aufgepasst, dass seine vierjährige Tochter Laura nicht von der Schaukel fiel, und war danach mit ihr auf dem Schoß eine Rutsche hinuntergesaust, bis er sich den Aufschlag seiner Hose abriss. Er unterhielt sich sogar mit seiner Frau Anne über alle möglichen Dinge ihres Familienlebens: Wie die Kinder sich in der Schule und im Kindergarten machten, über die Kosten der Zahnspange und die orthodontische Behandlung insgesamt, über den Stress, in die Stadt zu fahren und Schulsachen zu besorgen. Es gelang ihm, sich zu entspannen und den frühen Nachmittag zu genießen. Er vergaß sogar die Verschwörungstheorie. Zum Lunch setzten sie sich auf Wunsch der Kinder in ein McDonald's, und Clancy zwang sich, dort etwas zu essen. Nie wieder, schwor er sich. Auf dem Heimweg besprachen sie im Auto aufgeregt, wohin sie im August, während seines zweiwöchigen Urlaubs, fahren würden. »Disneyland!«,

krähte

Laura

vom

Rücksitz.

»Ja,

Dad,

Disneyland!«, stimmte der achtjährige Martin ein. Er saß neben seiner Schwester und blätterte durch ein Fußballjournal von 748

Manchester United. »Nein«, entgegnete Anne fest. Sie saß mit den Kindern auf dem Rücksitz, um sicherzugehen, dass sie auch angegurtet blieben. »In Florida ist es zu heiß. Vielleicht einmal, wenn ihr beide ein bisschen älter seid.« Die Kinder machten ihrem Unmut Luft, auch noch, als Clancy in die Greenlead Road in Clontarf einbog, dem nördlichen Vorort von Dublin, wo sie wohnten. Vor ihrem Haus stand ein Streifen wagen, und Nachbarn hatten sich in kleinen Gruppen versammelt. Die Alarmanlage heulte.

»Bleibt im Wagen«, befahl Clancy. Er spürte, wie sein Mund trocken wurde und sein Magen aufbegehrte. Als die Kinder die blauen Uniformen sahen, fingen sie zu weinen an. Anne drückte sie an sich und bemühte sich, sie abzulenken. »Kommt, wir wollen was singen.« Clancy betrat das Haus mit einem der Officer, einem großen, dicken Mann mit Schnurrbart, der seine Uniformmütze halb nach hinten geschoben hatte. »Sie haben die Kabel der zweiten Alarmanlage durchgeschnitten, die sich hinter dem Haus befindet, und dann ein Fenster aufgebrochen. Soweit ich sehen kann, haben sie nicht viel mitgenommen. Sie müssen wohl durch irgendetwas verscheucht worden sein.« Clancy rannte von einem Zimmer zum nächsten. Die Küche war unberührt. Aus dem Wohnzimmer, in dem der größte Teil der Familienwertsachen offen aufbewahrt wurde, schien ebenfalls nichts zu fehlen. Die Waterford Glaskaraffen und der Lüster, das Silberbesteck, ein Hochzeitsgeschenk seiner früheren Kollegen, 749

das ziemlich viel gekostet hatte, alles war noch da. Auch die Bilder, zwei Aquarelle und eine ländliche Szene in Öl, hingen nach wie vor an den Wänden. Seine Hochzeitsbilder und Fotos, wie er sein Diplom überreicht bekam, sowie verschiedene Bilder seiner Kinder, alle in Silberrahmen, waren ignoriert worden. Mit heftig pochendem Herz rannte er die zehn Stufen zu seinem Arbeitszimmer im ausgebauten Dachboden hinauf. Hier hatten die Einbrecher gewütet. Der Monitor lag zersplittert in einer Ecke, die Festplatte hatte man zerschmettert, die Aktentasche umgekippt, die Schreibtischschubladen herausgezogen und den Inhalt, ebenso wie die aus den Regalen gerissenen Bücher, auf dem Boden verteilt. Clancy suchte verzweifelt nach seiner Aktenmappe. GRANNY war verschwunden und mit ihr zwei der blauen Tabletten, die Ned Hyland ihm überlassen hatte. »Wurde irgendwas gestohlen?«, erkundigte sich der Polizist. Er stand hinter Clancy und kratzte sich am Kopf. »Diese Gauner haben ja ganz schön gewütet! Bewahren Sie hier Geld oder Wertsachen auf?« Clancy kniete auf dem Boden, er stapelte Bücher und Papiere, während er nachdachte. »Nein, nur Forschungsnotizen und Patientendaten. Sachen, die für Uneingeweihte nutzlos sind.« Der Polizist schob mit der Fußspitze ein Buch zur Seite. »Sie vermissen also keine Wertgegenstände?« Clancy stand auf, da fielen ihm die Fotografien auf. Sie hatten auf einem Eckregal gestanden, zum Teil hinter einem Ordner verborgen. Das Glas war zerschmettert worden, die Fotografien herausgenommen und in zwei Hälften geschnitten. Nicht einfach auseinander gerissen, sondern mit etwas sehr Scharfem zerschnitten, wie man an den Rändern erkannte. »Nein«, antwortete 750

er ruhig, »nichts Wertvolles.« Der Officer machte sich daran, die Treppe hinunterzusteigen. »Das ist merkwürdig, sag ich Ihnen. Haben hinten die Alarmanlage durchtrennt und sich ins Haus gestohlen, aber dann sind sie einfach vorn rausspaziert und haben da den Alarm ausgelöst.« Clancy hörte ihm nicht zu. Sein Verstand lief auf Hochtouren. Er hatte seinen zweiseitigen Ausdruck der GRANNY-Datei sowie drei der Tabletten im Krankenhaus versteckt. Offenbar war er während der letzten Tage beschattet worden. Wer immer dahinter steckte, versuchte ihm Angst zu machen. Jetzt wussten sie auch noch, woran er arbeitete, welche Informationen er besaß. Was war, wenn er weitermachte? Würden sie dann mehr tun, als nur das Haus verwüsten? Was waren sie bereit zu unternehmen, um ihn aufzuhalten?

16.33 Uhr »Sie gehen da ein verdammtes Risiko ein.« Molloy hatte sich auf dem Beifahrersitz seines Dienstwagens halb umgedreht und sprach zu Clarke. Sie parkten vor Marks' Haus. Kavanagh trommelte nervös auf das Lenkrad. »Marks hat einflussreiche Freunde in der Regierung. Er könnte Ihnen das Leben ganz schön schwer machen.« Clarke starrte auf den gepflegten Rasen und die Bäume im Vorgarten. Dan Marks' Benehmen beunruhigte ihn. Es war nicht das eines trauernden Vaters. Eltern schütteten den Untersuchungsbeamten gewöhnlich ihr Herz aus und bekamen nicht genug davon, alles, auch das Unwichtigste, zu erzählen. Er hatte jedoch nur wenig gesagt, und das Wenige passte nicht zu dem, was sie über seine Tochter Jennifer in Erfahrung gebracht hatten. 751

»Ich gehe jetzt rein.« Clarke stieg aus und drückte die Beifahrertür zu, die Molloy gerade öffnen wollte. »Allein!« Als er die Einfahrt entlanghumpelte, bemerkte er, dass sich ein Vorhang im Erdgeschoss bewegte. Annie Marks öffnete mit einer an ihrem Rollstuhl befestigten Fernbedienung die Haustür. »Wieso haben Sie so lange gebraucht?« Clarke war sprachlos. Er wandte der Frau den Rücken zu, um ein wenig Zeit zu schinden, und schloss die Haustür. »Ich verstehe nicht.« »Sie sind doch der Kriminalbeamte, mit dem ich in der Leichenhalle gesprochen habe?« »Ja.« Clarke fand, dass Annie Marks noch schlimmer als bei dieser ersten Begegnung aussah. Ihr Haar war jetzt völlig grau und sah aus, als hätte es seit Tagen keinen Kamm mehr gesehen. Ihr Gesicht wirkte aufgedunsen, die geröteten Augen lagen tief in den Höhlen. Sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe. Ihre Finger spielten mit der in die Armlehne eingelassenen Bedienung. Starker Whiskeygeruch hing in der Luft. Mit einem Hebel manövrierte sie den Stuhl in einem Halbkreis zu dem großen vorderen Zimmer. Clarke folgte ihr unaufgefordert. Das Zimmer war karg möbliert: zwei Sessel, ein Dreisitzersofa und ein kleiner Nussbaumtisch mit Einlegearbeit in der Mitte, auf dem alte medizinische Zeitschriften lagen. Es gab keine Gemälde an den Wänden, keine Sideboards mit Fotografien oder dekorativen Vasen. Nichts, was es heimelig machte. Die Vorhän752

ge waren halb zugezogen, und nur ein schwacher Sonnenstrahl fand seinen Weg herein. Die Atmosphäre war bedrückend. Es roch muffig, unbewohnt. Clarke setzte sich auf das Sofa. »Mrs. Marks«, fragte er, »weshalb sagten Sie >Wieso haben Sie so lange gebrauche? Wir versuchen seit Tagen Sie zu erreichen!« »Haben Sie mit ihm gesprochen?« »Ihrem Mann?« »Ja.« »Wir haben heute Vormittag im Krankenhaus mit ihm geredet.« »Was hat er Ihnen gesagt?« Clarke spürte ihren nicht nur durch Alkohol verursachten Zorn. »Nicht viel. Nichts, was wir nicht bereits wussten.« Finger drückten auf die Fernbedienung, und der Rollstuhl schoss unerwartet in eine Ecke. Clarke starrte auf Annie Marks' Rücken. Ebenso abrupt rollte der Stuhl zurück und hielt knapp vor Clarke an. Die Augen der Frau bohrten sich in seine. »Er versucht alles zu verbergen.« Unweigerlich musste Clarke an eine Hexe denken. Er erwartete schon fast, dass sie zu kichern anfangen würde. »Das macht er seit Jahren: Er leugnet alles und spielt den Unwissenden, wenn es ihm in den Kram passt. Aber ich weiß Bescheid.« Sie drückte wieder auf die Fernbedienung, und der Stuhl rollte rückwärts. »Das«, sie schlug mit einer Hand auf die Armlehne, »ist seit achtzehn Jahren meine Gruft. Seit dem Tag meiner Entbindung. Ich bin eine lebende Tote.« Atemlos hielt sie an. Clarke verstand jetzt, weshalb Dan Marks seine Frau von der Öffentlichkeit fern hielt. Sie benahm sich, als wäre sie unzurechnungsfähig. »Lassen Sie mich ein paar Tatsachen aufdecken.« Sie spuckte die Worte wütend aus. »Dinge, die Sie von meinem begabten und 753

attraktiven Ehemann nie erfahren werden.« Sie hielt inne und lächelte schief. »Er ist talentiert und sieht blendend aus, nicht wahr?« Clarke nickte düster. »Ein echtes Prachtexemplar von einem Mann«, sagte sie giftig. Clarke zuckte mit den Schultern. »Mein Mann wusste wenig über seine hübsche Tochter. Er hatte keine Ahnung, was sie im Schilde führte. Er war ja nie da. Er war viel zu beschäftigt, Leben zu retten oder seine hübschen Assistentinnen und Schwestern flachzulegen. Er bemerkte Jennifer ja kaum.« Ein Hustenanfall unterbrach sie. »Ich glaube, er war sich gar nicht wirklich bewusst, dass er eine Tochter oder gar eine Frau hatte. Wir waren lediglich Anhängsel, Beiwerk. Er wollte ganz nach oben, davon war er besessen. Sobald ich nicht mehr im Stande war, ihm zu helfen, ließ er mich links liegen.« Ihr Atem ging schwer. »Nicht physisch, o nein«, die Stimme hob sich eine Oktave, »das konnte er sich in Bostons medizinischen Kreisen nicht leisten. Aber emotional existierte ich für ihn nicht mehr.« Sie hielt erregt inne. Clark bemerkte, dass ihr linker Arm zitterte und die linke Gesichtsseite leicht herunterhing. »Er vernachlässigte das Kind. Sie bedeutete zu viel Zeit raubende Arbeit. Während er an gesellschaftlichen Ereignissen teilnahm, musste ich sie allein großziehen.« Clarke war verwirrt. Die widersprüchlichen Behauptungen waren nicht durchschaubar. »Mrs. Marks«, unterbrach er sie. »Jennifer nahm Heroin und Haschisch. Wissen Sie, woher sie das Geld für diese Drogen hatte?« Das Hexengekichere, das Clarke befürchtet hatte, begann tat754

sächlich, erst ein neuerlicher Hustenanfall beendete es. »Sie verdiente jeden Dollar im Liegen.« Der Husten wurde so schlimm, dass Clarke aufstand, um zu helfen, aber sie winkte ab. »Mir war klar, dass sie eines Tages in der Gosse enden würde.« Annie Marks kicherte vor Freude über das gelüftete Geheimnis. »Auf dem Rücken liegend kam sie dorthin.« Diese Worte gingen Clarke den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf.

19.58 Uhr Joan Armstrong hatte sich ein rotes Stirnband übergestreift. Sie stand vor einem hohen Spiegel in ihrem Zimmer und bewunderte ihre Figur. Sie trug hautenge Jeans und eine langärmelige rote Bluse. Sie hatte die Augenbrauen nachgezogen und die Lippen geschminkt. Ihre Eltern machten sich unten zum Ausgehen fertig, sie waren zu einem Dinner eingeladen. Joan schätzte, dass sie kaum vor Mitternacht zurück sein würden. Harold Armstrong hatte seine strikten Anweisungen erteilt. Bis auf weiteres durfte sie nur am Samstag- und Sonntagabend ausgehen, und nie allein. »Du hast wichtige Examen vor dir«, hatte er ihr am Morgen erklärt. »Du musst lernen.« Joan hatte sich um ein gewinnendes Lächeln bemüht. »Ja, Dad.« Aber es funktionierte nicht. »Komm mir nicht mit >ja, Dad<. Du meinst es nicht wirklich, und ich weiß es.« Wieder antwortete sie mit »Ja, Dad«, doch diesmal ohne das falsche Lächeln. »Deine Mutter und ich gehen heute Abend aus.« Im Hintergrund tupfte Mrs. Armstrong mit einem Spitzentaschentuch nervös auf die Mundwinkel. »Ich habe Andrew gebeten, bei dir zu bleiben.« Andrew war einer der geliebten Söhne. Joan konnte ihn nicht ausstehen. »Er wird bleiben, bis wir zurück sind. Falls du aus755

gehen möchtest, wird er dich begleiten.« Joan machte ein verärgertes Gesicht. »So wird es bleiben, junge Dame, bis du zur Vernunft kommst.« Joan protestierte sofort. Harold Armstrong winkte ab. »Das sind die neuen Regeln, nach denen du dich ab jetzt zu richten hast.« Andrew traf kurz vor dem Aufbruch seiner Eltern ein. Wie sein Vater erfreut feststellte, hatte er sich ein Fachbuch zum Thema Banken und Geldverkehr mitgebracht. Andrew war ein hoch gewachsener, dünner Mann Anfang dreißig. Er hatte in zwei Wochen Prüfungen für den Fortbildungskurs seiner Bank. Die »Babysitting«-Abwechslung gab ihm Gelegenheit, seiner Frau und der häuslichen Arbeit zu entgehen und ein paar Stunden ungestört lernen zu können. Darum war er absolut nicht begeistert, als Joan erklärte, dass sie um einundzwanzig Uhr ausgehen wolle. »Zu dieser Zeit?«, jammerte er. »Wohin willst du denn?« Joan verdrehte die Augen. »Nur hinunter ins Pub, um mich mit ein paar Freundinnen zu treffen.« Andrew merkte die Seite ein, bis zu der er gekommen war. »Na gut. Aber nur kurz.« »Klar.« Joan nahm ihn zum Black Bird Pub von Sandymount mit. Es war laut und rauchig, eine kleine Band spielte. Andrew hielt es nicht lange aus. Er war solchen Lärm nicht gewöhnt, und der Rauch brannte in seinen Augen, außerdem bekam er einen Asthmaanfall. »Könnten wir nicht woanders hingehen?«, bat er. Das obligatorische Bier vor ihm blieb unberührt. »Wieso? Mir gefällts hier.« 756

Andrew spähte durch Dunkelheit und Rauch. »Wo sind denn die Freundinnen, die du hier treffen wolltest?« »Wo lebst du denn, Andrew?«, spottete Joan. Sie leerte ihr Bierglas. »Sie kommen nicht vor elf.« Andrew blickte auf seine Uhr und fluchte. »Ich bleibe nicht noch eine Stunde in diesem Loch.« Joan blickte ihn mit vorgetäuschtem Unverständnis an. »Ah, komm schon, Andrew, du bist wirklich ätzend, weißt du? Wir gehen noch nicht heim. Heut ist Samstag!« »Du kannst von mir aus allein hier bleiben«, knurrte ihr Bruder. »Ich geh zurück. Sieh zu, dass du in einer Stunde zu Hause bist!« »Schon in einer Stunde?«, jammerte Joan. »Im Höchstfall eineinhalb. Falls du um halb zwölf noch nicht daheim bist, sitzt du ganz schön in der Tinte.« Andrew beugte sich zu ihr hinüber und schrie, um den Lärm zu übertönen. »Und noch mehr Schwierigkeiten kannst du dir nicht leisten.« Er ging, blickte jedoch

am

Ausgang

noch

einmal

zurück

und

deutete

unmissverständlich auf seine Armbanduhr. Joan wartete fünf Minuten. Um zweiundzwanzig Uhr siebenunddreißig war sie zurück auf der Straße. In Eile. Hin und wieder blieb sie stehen und tat, als binde sie ihre Schnürsenkel. Dabei vergewisserte sie sich, dass sie nicht beobachtet wurde. Sie sah, dass der Goon ihr im Auto folgte. Goon ist eigentlich bloß ein anderes Wort für Schläger, dachte sie müßig. Aber er wird offenbar nur so genannt. Sie blickte auf die Uhr. Zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig. Genau wie vereinbart. Der Goon fuhr an den Straßenrand und ließ den Verkehr vorbeirollen. Es wurde dunkel, und über der Dublin Bay zogen schwere Regenwolken auf. Der Goon ließ die Scheinwerfer kurz aufleuchten. Joan nahm das 757

Stirnband ab, strich ihr Haar mit beiden Händen zurück, dann steckte sie das Stirnband in eine Jeanstasche. Die Wagenscheinwerfer leuchteten noch einmal auf, das war das vereinbarte Zeichen. »Mo sagt, dass du ihn nicht mehr anrufen sollst.« Der Goon saß hinter dem Lenkrad, Joan Armstrong kauerte im Fond, sodass man sie von draußen nicht sehen konnte. Der Goon war Joans Lieferant. Er war ein sehr großer, wuchtiger Mann in den Fünfzigern mit grobporiger Haut und nikotinverfärbtem Schnurrbart. Er trug schwarze Lederkleidung, sogar sein T-Shirt war schwarz. Das silberne Schildband um sein linkes Handgelenk baumelte lose, als er den Arm um den Sitz legte und ein Beutelchen mit weißem Pulver über seine Schulter fallen ließ. Es landete auf dem Boden, und Joan Armstrong griff hastig danach. Der Goon lächelte. »Kannst du es nicht mehr erwarten?« »Scheißkerl.« »Mo will wissen, was aus Jennys Tasche geworden ist.« Joan drehte das Stirnband um den Oberarm und klopfte auf die Venen in ihrer Armbeuge. »Scheiß Mo!«, fauchte sie. Das Verlangen nach dem Schuss war zu groß. »Es wird Mo nicht gefallen, wenn das alles ist, was ich ihm sagen kann.« Der Goon drehte sich herum. Er hielt eine frische Spritze in der Hand. »Gib mir eine Minute.« Jetzt klang die Stimme flehend. Er reichte ihr eine kleine Ampulle mit sterilem Wasser, und sofort steckte sie die Nadelspitze hinein. »Langsam, Joan«, mahnte der Goon. »Überstürz es nicht.« Er langte über den Sitz und löste die behelfsmäßige Aderpresse. Er 758

beobachtete, wie die Augen des jungen Mädchens glasig wurden. »Wo ist die Schultasche, Joan?« Seine Stimme war sanft, fast beruhigend. »Gib mir noch eine Minute.« Die Hälfte des Heroins war bereits verschwunden. »WO IST DIE TASCHE?« Der Goon hatte sich über den Sitz geschwungen und verhinderte, dass sie weiterspritzte. »WAS IST AUS DER TASCHE GEWORDEN?« »Die Polizei hat sie«, kreischte Joan Armstrong. Sie weinte. »Die lassen mich nicht in Ruhe. Ich musste ihnen was geben.« »Fuck it!«, fluchte der Goon und ließ sich auf seinen Sitz fallen. Joan Armstrongs zittrige Finger injizierten den Rest des Heroins in ihren Körper. Der Goon stieg aufs Gas. »Das wird Mo gar nicht gefallen, Joan.« Er blickte in den Rückspiegel und sah, dass das Mädchen jetzt schlaff wie eine Stoffpuppe dalag. Er langte in eine Seitentasche und leerte eine kleine Flasche Wodka über ihrer Bluse und der Jeans aus. Joan Armstrong war um dreiundzwanzig Uhr dreißig zu Hause. Nachdem sie ihrem Bruder verkündet hatte, dass sie zurück war, stieg sie die Treppe hinauf. Ihr Kopf schien sich zu drehen, und sie musste sich am Geländer festhalten, um nicht zu fallen. In ihrem Zimmer zog sie sich rasch aus und blieb nackt. Das war ein alter Trick, mit dem sie ihre Familie vom Betreten ihres Zimmers abhielt. Auf der roten Bluse sah man das Blut kaum, das war auch der Grund, weshalb sie sie gewählt hatte. Mit dem roten Stirnband tupfte sie auf den Einstich. Sie fühlte sich wie in einer anderen, wunderbar warmen und bequemen Welt, und war unendlich glücklich. Sie schlüpfte ins Bett und legte sich genießerisch auf den Rücken. Sogar die Drohungen des Goons 759

vergaß sie.

27

Sonntag, 17. Mai Dunkelgraue Wolken hingen tief über Dublin, und es regnete in Strömen. Die Temperatur sank, und das Außenthermometer auf der vornehmen Grafton Street fiel auf knapp zwölf Grad. Diese Wetteränderung schlug sich aufs Gemüt, und wer Urlaub geplant hatte, fragte sich, ob es so ratsam war, ihn ausgerechnet in Irland zu verbringen. Winterpullover wurden wieder hervorgeholt und sogar im Haus getragen. Die Polizei war mit der Aufklärung einer neuerlichen Reihe von Straftaten in der Drogenszene beschäftigt. Wer sich den Stoff nicht leisten konnte, beschaffte sich das Geld mit Überfällen, wobei die Junkies manchmal an die Falschen gerieten und ihrerseits eine schlimme Lehre erteilt bekamen. Die Drogenbosse setzten ihre Schläger auf die Dealer an, die mit der Zahlung im Rückstand waren oder von denen sie befürchteten,

dass

sie

nicht

rechtzeitig

mit

dem Geld

herausrücken würden. In den Straßen und einschlägigen Kneipen knüpften Dealer Kontakte und brachten ihren Stoff an den Mann oder die Frau. Das übliche gestreckte Heroin wurde in Sackgassen von Männern und Frauen, Jugendlichen, ja sogar von Kindern gespritzt. Die Drogenbarone dinierten in den besten Restaurants und stiegen mitleidlos über die Häufchen Elend, die auf den Bürgersteigen um einen Fix winselten. Geschäft war Geschäft. Wenn der Abschaum Stoff wollte, würden sie ihn besorgen und an ihn verkaufen. Täten sie es nicht, würden andere es tun, und warum sollten sie den blühenden Markt irgendeinem 760

Außenseiter überlassen?

Im Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte erwachte Micko Kelly allmählich aus seiner durch Drogen verursachten Psychose. Die Sedativa und Antipsychotika hatten angefangen zu wirken. Zwar gaben die Stimmen in seinem Kopf noch keine Ruhe, aber sie waren weniger intensiv, nicht mehr so schrill und zornig, weniger gebieterisch. Er misstraute allerdings immer noch allen, die nach ihm sahen, und lag stundenlang auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er hatte keine Ahnung, dass außerhalb der Sicherheitsmauern des Hospitalkomplexes sein Name in aller Munde war. Sogar an eine der Wände von Hillcourt Mansions hatte jemand MAD DOG KELLY gekritzelt. Die Zeitungen berichteten von seiner Verhaftung und Sicherheitsverwahrung und dass er der einzige Verdächtige im Mordfall Jennifer Marks sei. Ohne seinen Namen zu nennen, bezeichneten sie ihn als JUNKIE KILLER und breiteten seinen Werdegang innerhalb und außerhalb der Haftanstalten vor aller Augen aus. Das Volk wusste nun, wer der Erzfeind war, und die Regierung wusste, wem sie die Schuld geben konnte. Micko Kelly war zum Sündenbock geworden. Ein Geistesgestörter, der sich nicht verteidigen konnte. Ein Junkie mit einer Vorgeschichte von Verbrechen und Gewalt. Für viele im Land der absolute Abschaum. Niemand würde etwas zu seiner Verteidigung sagen, wenn man ihn für immer einsperrte. Journalisten und Fernsehcrews folgten dem Trauerzug, der das Marks-Haus in Dublins Botschaftsviertel verließ und durch die alten Dublin-Bezirke zum Krematorium in Glasnevin unterwegs war. Um fünfzehn Uhr wurde die Leiche von Jennifer Marks ein761

geäschert. Die Zeremonie war privat, nur die nächsten Kollegen und Freunde der Familie durften das kleine Gebäude betreten. Im strömenden Regen davor wischten Fernsehcrews aus Irland und von überall her die Kameralinsen ab, um ihre Aufnahmen nicht zu gefährden. Fotografen knipsten alle Personen in schwarzer Kleidung, und Journalisten von Sensationsblättern versuchten die Chauffeure der wartenden Limousinen zu bestechen, damit sie ihnen ein bisschen Klatsch erzählten. Auch Joe Harrison, der Fotograf der Gerichtsmedizin, der zum Untersuchungsteam gehörte, stand im strömenden Regen und wartete. Ob nun Sonntag oder nicht, Jim Clarke hatte unerbittlich befohlen, jeden Einzelnen, der an der Trauerfeier teilnahm, zu fotografieren. Als die ersten Blitze aus den dunklen Wolken zuckten, nahm Harrison eine weitere Filmrolle aus seiner Nikon. In seiner Manteltasche steckten bereits drei belichtete Filme. Er blickte auf seine aufgeweichten Schuhe und fand, dass er genug getan hatte.

17.17 Uhr Frank Clancy überlegte, welche Lügen er erzählen sollte. Arzte lügen oft. Manchmal belügen sie ihre Patienten, wenn es um deren Krankheit geht. Sie lügen Anwälte an, um ihren Ruf zu schützen, wenn ihnen bei einer Operation ein schrecklicher Fehler unterlaufen ist. Hin und wieder lügen sie auch gegenüber ihren Kollegen, wenn es um Behandlungsergebnisse geht oder um ihre Punkte beim Golfspiel oder die Höhe ihrer Bankschulden, und sie täuschen auch manchmal Gleichgültigkeit gegenüber finanziellen Erfolgen vor. Am meisten aber belügen Ärzte ihre Ehepartner. Und sie verfügen über ein beachtliches Repertoire an Lügen. Die Notoperation am späten Abend könnte eine hübsche 762

blonde Medizinstudentin sein, die sich erhofft, durch kleine Affären ihre Karriere zu beschleunigen. Die Tagung, die angeblich zu langweilig für die Ehefrau sei, wäre in Begleitung der Blondine vermutlich recht angenehm. Hinter Clancys Lügen an diesem Nachmittag steckten keine solchen Motive. Er wollte seine Frau und die Kinder schützen, darum brachte er sie zu Annes Mutter. Sie wohnte zweiunddreißig Kilometer entfernt auf dem Land. Clancy hoffte, dass niemand sie dort finden würde. »Hör zu«, log er, »es ist nur für zwei Tage. Ich muss diesen Vortrag bei der Krankenhauskonferenz am Dienstag halten und werde wie ein Wahnsinniger arbeiten müssen, um bis dahin alle Fakten zusammenstellen zu können. Wie wärs, wenn du mit den Kindern zu deiner Mutter fährst? Ab Mittwoch nehme ich mir den Rest der Woche frei, und wir werden uns gemeinsam eine schöne Zeit machen.« So was kam nicht zum ersten Mal vor, darum durchschaute Anne seine Täuschung auch nicht. Sie packte die Koffer. Clancy fuhr seine Familie zum Mercy Hospital und stellte den Wagen auf einem einsamen Parkplatz ab. Unterwegs hatte er immer wieder in den Rückspiegel geschaut und den schwarzen Wagen bemerkt, der sie beschattete. Es war kein Modell, das er kannte. Mit weiteren Lügen brachte er seine Familie ins Krankenhaus und bestellte ein Taxi, das sie an einem Seitenausgang abholte. Er passte genau auf, dass das Taxi nicht ebenfalls beschattet wurde. Aus seinem Sprechzimmer im dritten Stock blickte er ihm nach, bis es über einer schmalen Liffey-Brücke verschwunden war. Er entspannte sich erst, als er überzeugt war, dass kein verdächtiger Wagen dem Taxi gefolgt war. Dann begab er sich zum Laboratorium im Untergeschoss und holte die drei blauen 763

Tabletten aus einem Aktenschrank, danach die zwei Seiten Ausdruck von GRANNY, von denen er rasch zwei Kopien anfertigte. Er steckte je eine in einen braunen Polsterumschlag und gab je eine der blauen Tabletten dazu. Dann verklebte er die Umschläge

mehrfach.

Einen

adressierte

er

an

den

Krankenhausverwalter, den zweiten an seinen Anwalt. Dann schob er alles unter seinen Kittel, er blickte auf seine Uhr. Es war fast neunzehn Uhr dreißig. Er kramte in seinen Taschen. Kreditkarten, Bargeld, Wagenschlüssel. Die Schlüssel für den Aktenschrank ließ er im Labor. Er hatte eine Reisetasche mit Wäsche zum Wechseln vorbereitet. Zufrieden eilte er durch die Stationen zu den Zimmern, die für Ärzte, die Nachtdienst hatten, reserviert waren. Da Sonntag war, würden sicher nicht alle belegt sein, und er fand auch bald ein unbenutztes. Es war klein, mit nur einem Bett und einem Waschbecken darin. Die Toiletten und Duschen befanden sich ein Stück weiter den Korridor entlang. Clancy tätigte einen Anruf, um sicherzugehen, dass Anne und die Kinder gut angekommen waren. »Ruf nicht vor Dienstag an«, riet er ihr. »Ich werde die ganze Zeit an diesem Vortrag arbeiten, und du weißt ja, dass Privatanrufe im Krankenhaus nicht gern gesehen werden.« Es klang überzeugend, doch er fühlte sich elend bei diesen Lügen. Aber, tröstete er sich, sobald ich alles beisammen habe, kann ich die Karten aufdecken. Mir fehlt nur noch ein Stück aus diesem Puzzle. Noch zwei Tage bis zu dieser Pressekonferenz am Mittwoch.

20.30 Uhr Jim Clarke war frustriert und verärgert. Sehr verärgert. Er saß im 764

Wohnzimmer vor dem Fernseher, dessen Ton er jedoch abgedreht hatte. Maeve, die erkannte, wie es um ihn stand, blieb in der Küche. Katy war bei einer Freundin, wo sie auch über Nacht bleiben würde. Clarke hatte sie mit Fragen bedrängt, als er bemerkte, dass sie sich zum Fortgehen fertig machte. Wo gehst du hin? Warum bleibst du nicht daheim? Wer ist diese Freundin? Kennt deine Mutter sie? Wie sind ihre Eltern? Solltest du nicht besser zum Schlafen nach Hause kommen? Den Tränen nahe marschierte Katy los, erleichtert, der bedrückenden Atmosphäre zu entfliehen. Während Clarke aß und das sechste Glas Wein trank, wuchs seine Frustration. Der Mord an Jennifer Marks hatte etwas Ungewöhnliches, aber er kam einfach nicht darauf, was es war. So sehr er sich auch bemühte, sich zu entspannen und nicht mehr an seine Arbeit zu denken, es drängten sich ihm immer wieder die Gespräche mit Dan und Annie Marks auf. Wie verhaltensgestört musste eine Familie sein, wo einer offenbar des anderen Feind war? »Ein Anruf für dich.« Maeve stand an der Tür. Ihr Gesicht drückte Missbilligung aus. »Es ist der Commissioner.« Clarke zog erstaunt die Brauen hoch. »Jim, tut mir Leid, Sie zu stören.« Clarke sagte, er fühle sich durchaus nicht gestört. »Ich muss mit Ihnen reden.« Donal Murphys Stimme sagte Clarke, dass der Sonntag mehr oder weniger vorbei war. Er lehnte sich an den Küchentisch und hielt den Hörer des Wandtelefons. Maeve blickte ihn von der Tür aus tadelnd an, und er winkte ihr zu, ihn allein zu lassen. »Dieser Marks-Fall entwickelt seine eigene Dynamik.« Clarke erstarrte. »Was meinen Sie damit?« »Unser Gesundheitsminister John Regan und sein buckliger Kollege Dempsey geben den 765

Journalisten ein inoffizielles Interview.« Murphys Abneigung gegen den Justizminister war ein offenes Geheimnis. »Sie sagen genug, um Kelly am Spieß braten zu lassen wie einen Ochsen.« »Was zum Beispiel?« »Dass das Blut des Mädchens an ihm klebte. Dass er in einem Zimmer voller Messer gefunden wurde und dass alle blutig waren. Dass er wahnsinnig ist und gar nicht wissen kann, was er in jener Nacht getan hat.« »Damit mögen sie nicht einmal so Unrecht haben.« »Das ist mir egal. Wenn diese Anwälte, die sich in alles einmischen, das hören, kommt es zum Aufruhr!« Clarke kannte Murphy als vernünftigen und mutigen Mann, der sich schon gegen

frühere

Minister

gestellt

hatte,

wenn

politische

Einmischung drohte. »Es sieht nicht gut aus für Kelly«, gab er zu bedenken. »Sein T-Shirt war voller Blut, in seinem Zimmer gab es Messer, und er hat durchgedreht. Sie haben doch gehört, dass er einen Wärter angefallen hat?« »Ja.« »Nun, in diesem Stadium der Untersuchung würde ich darauf wetten, dass er vor Gericht gestellt und verurteilt wird.« »Das würde ich auch, aber ich muss wissen, ob der Fall wasserdicht ist.« »Selbstverständlich.« Clarke schaltete den Wasserkocher ein. »Wann werden Sie die Befunde von der Gerichtsmedizin bekommen?« »Leeson hofft, bis morgen etwas zu haben.« »Er hofft? Er hofft nur?« Murphys Stimme hob sich um eine Oktave. 766

»Sie haben schrecklich viel Arbeit. Ich weiß, dass er sein Bestes tut.« Clarke wusste, was er damit ausrichten würde. Und er hatte sich nicht getäuscht. »Ich werde dafür sorgen, dass sie die Nacht durcharbeiten.« »Das würde helfen.« »Ich möchte für morgen um zehn Uhr eine Besprechung einberufen. Alle, die mit dem Fall zu tun haben, müssen teilnehmen!« »Ist gut.« »Wir müssen wissen, wie es weitergeht. In den USA besteht großes Interesse an dem Fall. Der Vertreter eines Reisebüros beschwerte sich in den Abendnachrichten, dass es wegen der negativen Publicity Stornierungen aus Nordamerika gibt. Ich möchte, dass der Fall bald aufgeklärt wird.« Murphy legte auf. Clarke schenkte sich Whiskey in einen Becher ein und fügte kochendes Wasser hinzu. Dann warf er ein paar Nelken hinein und rührte mit dem Gabelgriff um. Er nippte bedächtig und starrte in die Dunkelheit hinaus. Quäl dich nicht, sagte er zu sich selbst. Kelly hat es getan. Belass es dabei.

28

Montag, 18. Mai Frank Clancy wachte um halb sieben auf. Er duschte, rasierte sich jedoch nicht, sondern schnipselte unter dem heißen Wasser mit einer scharfen Operationsschere an seinem dichten schwarzen Kraushaar herum. Als er danach rasch in einen Taschenspiegel blickte, musste er beinahe lachen. Vorne war sein Haar gezackt, hinten stand es in die Höhe. Seine Frisur erinnerte an einen schlecht gemähten Rasen. Aber für Verbesserungen reichte die 767

Zeit nicht. Es war ihm auch egal. Er hatte sein Aussehen verändern wollen, um weniger leicht erkennbar zu sein und somit seinen Schatten zu verwirren. Unerkannt und ungestört erreichte er gegen sieben Uhr sein Sprechzimmer. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt unter einem Pullover mit tiefem Rundhalsausschnitt und darüber eine lose sitzende Leinenjacke. Er sah eher wie ein Popstar aus, nicht wie ein Hämatologe. Schon gar mit dieser Frisur. Er schrieb rasch ein paar Zeilen, die er als Fax absenden wollte. MUSS SIE SO SCHNELL WIE MÖGLICH TREFFEN, UM WICHTIGES

MEDIZINISCHES

PROBLEM

ZU

BESPRECHEN. RUFE SIE IM LAUF DES TAGES AN. BEANTWORTEN SIE DIESES FAX AUF KEINEN FALL. Er suchte die Faxnummer im medizinischen Adressbuch, sandte das Fax, dann konnte er nach einigen Schwierigkeiten am Dublin Airport einen Direktflug für vierzehn Uhr nach Boston mit Delta Airlines buchen. Anschließend rief er seine Stationsschwester an, dabei hielt er sich mit einer Hand die Nase zu, damit seine Stimme nach Schnupfen und Erkältung klang. »Louise, Dr. Clancy hier.« Louise stöhnte auf, es hörte sich an, als hätte er sie aus dem Schlaf gerissen. »Tut mir Leid, wenn ich Sie störe, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich nicht in meine Praxis kommen kann. Ich habe mich erkältet.« Louise versicherte ihm, wie sehr sie bedaure, das zu hören. »Richten Sie dem Team aus, dass ich mich ins Bett lege und das Telefon ausstecke, ich werde also nicht erreichbar sein. Und noch etwas, Louise, ich habe in die unterste Lade Ihres Schreibtischs 768

zwei große Briefumschläge gelegt, würden Sie diese bitte absenden, falls ich mich bis Mittwochvormittag nicht gemeldet habe?« Louise wiederholte die Anweisungen, um sich zu vergewissern, dass sie alles richtig verstanden hatte. »Den einen können Sie per Kurier senden, den anderen mit der internen Post.« Er legte auf und blickte aus dem Sprechzimmerfenster. Das Frühstück wurde verteilt, Patienten wurden geweckt. Die Tagschicht hatte die müde Nachtschicht abgelöst. Was mache ich eigentlich? Die Station ist voller Patienten, die eine Behandlung benötigen, und ich spiele Detektiv. Ich bin Arzt, kein Privatermittler. Meine Arbeit ist hier auf dieser Station. Er fühlte sich plötzlich so allein und verwundbar. Ich will mich gegen die Macht der Regierung stellen. Ein argwöhnischer Arzt gegen das System. Das ist idiotisch, ausgesprochen idiotisch. Er ließ sich in seinen Sessel fallen, körperlich müde und geistig erschöpft. Da sah er die Nachricht, die an seinen Monitor geheftet war. HAROLD MORELL IST HEUTE NACHT VERSTORBEN. Das arrogant lächelnde Gesicht von Linda Speer schob sich vor sein inneres Auge. Ich muss das zu Ende bringen, es ist zu wichtig. Er griff nach seinem Koffer und schaute sich vorsichtig auf dem Korridor um. Als er sicher war, dass niemand, der ihn kannte, in der Nähe war, schlich er hinaus. Er nahm die Hintertreppe im Wirtschaftstrakt, um keinem Kollegen zu begegnen, stahl sich durch die Küche zum Rettungswagenparkplatz und bat einen Ambulanzfahrer, ihn in die Stadt mitzunehmen. Der Mann musste unwillkürlich grinsen. An der O'Connell Street stieg Clancy an einer Ampel rasch aus und winkte kurz darauf ein Taxi herbei. 769

»Bringen Sie mich zum Flughafen.« Der Taxifahrer bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, während er den Wagen wendete. »Was haben Sie mit Ihrem Haar gemacht?« Clancy betrachtete sich im Rückspiegel. Er sah so lächerlich aus, dass auch er grinsen musste.

10.00 Uhr Die Besprechung wurde in Zimmer 23 im vierten Stock des Polizeihauptquartiers in der Harcourt Street abgehalten, fünf Kilometer von der Innenstadt entfernt. Draußen strömte Regen vom bleigrauen Himmel, und drinnen saßen sechs Männer um einen runden Tisch. Commissioner Murphy trug die marineblaue Uniform, an deren Jacke goldfarbene Epauletten prangten. Er saß mit dem Rücken zu einem Fenster. Ein großes Flipchart vom Tatort mit Diagrammen und Fotografien befand sich in einer Ecke. Ihm gegenüber saß Arnold Leeson, der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, in Hose und Pullover. Neben ihm hatte Dr. Patrick Dillon Platz genommen, der Gerichtspsychiater des Rockdale Hospitals für kriminelle Geistesgestörte. Er trug einen anthrazitgrauen Nadelstreifenanzug, weißes Hemd und seine Universitätskrawatte. Aus seiner Brusttasche spitzte ein weißes

Tuch

heraus.

Jim

Clarke

war

zwischen

dem

Commissioner und Tom Molloy eingeklemmt. Moss Kavanagh lehnte an der Wand. »Die Ermittlungen in diesem Fall haben zügig begonnen«, sagte Murphy. »Innerhalb kurzer Zeit konnten wir den Hauptverdächtigen festnehmen. Es wäre schön, wenn wir in allen anderen Fällen ebenso viel Glück hätten.« 770

Niemand äußerte sich. »Doch in ihrem Bemühen, unliebsame Publicity zu verhindern, haben gewisse Minister durchblicken lassen, dass der Fall so gut wie gelöst sei. Sie gaben bekannt, der Schuldige sei wahnsinnig und befinde sich in Sicherheitsverwahrung im Hospital für kriminelle Geistesgestörte.« Er machte eine Pause. »Also nehme ich an, können wir alle heimgehen und alle fünf gerade sein lassen.« Einige quittierten das mit einem amüsierten Lächeln. Murphy spreizte die langen Finger und strich über die polierte Tischplatte. Dann entdeckte er offenbar ein Staubkörnchen an seinem Ärmel und bürstete es weg. »Aber ich bin nicht ganz zufrieden damit, wie die Sache gelaufen ist. Was gut für die Regierung ist, muss nicht unbedingt gut für die Polizei sein. Wenn es mit diesen Gerüchten so weitergeht, sehe ich schon die Schwierigkeiten, die wir vor Gericht haben werden. Kelly kann nicht für schuldig befunden werden, wenn er nicht versteht, wessen er angeklagt ist.« Zustimmendes Gemurmel erfolgte. »Für die Medien aus aller Welt ist er zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geworden. Seit er den Wärter anfiel, hat man ihn zu einer Mischung aus Dr. Hannibal Lecter und dem Hunnenkönig Attila gestempelt.« Wieder erntete er amüsiertes Lächeln. »Als ich gestern Abend mit Dr. Dillon sprach«, fuhr Murphy fort, »erzählte er mir, dass das Hospital von Fernsehteams und Reportern belagert wird.« Dillon warf ein: »Gestern hatten wir gleich drei Fernsehcrews, die mit Hubschraubern angeflogen kamen. Von der eklatanten Verletzung der Sicherheitsbestimmungen einmal abgesehen, empfanden viele meiner Patienten diese Invasion und den damit 771

verbundenen Lärm als Bedrohung.« »Und ein Aufruhr in Rockdale hätte uns gerade noch gefehlt«, setzte Murphy fort. Aber Dillon hatte noch mehr zu sagen. »Zwei meiner Mitarbeiter wurden von Reportern der Sensationspresse angesprochen, die auf Hintergrundinformation aus waren. Einer war sogar bereit, fünftausend Pfund nur dafür zu bezahlen, Kelly in seiner Zelle fotografieren zu dürfen.« Empörtes Murmeln wurde laut. Murphy hob eine Hand. »Bevor das alles völlig außer Kontrolle gerät, will ich wissen, womit wir es zu tun haben. Ich möchte ruhiger schlafen können, ohne Albträume von endlosen Gerichtsverhandlungen, verstehen Sie?« Er blickte alle der Reihe nach an. Mit ihrer Reaktion zufrieden, ordnete er Faxberichte. »Sie haben den toxikologischen Befund gelesen?« Fünf Männer antworteten mit Ja. »Okay, Jennifer Marks hatte Heroin, Haschisch und Alkohol im Blut. Die vaginalen, rektalen und oralen Abstriche sind negativ.« Murphy nahm sich ein anderes Fax vor. »Die Verfärbungen an ihrem Hals waren älteren Datums und sind für diesen Fall nicht von Bedeutung.« Er blickte auf. »Das ist das Neueste, was wir erfahren haben.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und knetete die Stirn mit den Knöcheln seiner rechten Hand. »Okay, Arnie, und jetzt würden wir gern hören, was Sie haben.« Arnold Leeson ordnete seine Papiere, forensische Berichte und zwei Faxe. »Gut, beginnen wir mit den Fakten, die Sie vorrangig interessieren. Das Blut

auf

Kellys

T-Shirt,

seiner

Jogginghose

und

den

Joggingschuhen stammt von Jennifer Marks. Das hat die 772

Untersuchung ohne Zweifel ergeben.« Der Commissioner seufzte erleichtert. »Das ist gut zu hören.« Leeson hob eine Hand. »Die übrigen Untersuchungen sind noch nicht beendet, ich muss auf die Resultate warten. Was wir haben, schafft allerdings eher Verwirrung als Klarheit.« Murphy beugte sich vor, und seine Augen verengten sich, als Leeson fortfuhr. »Die Bodenspuren an Kellys Joggingschuhen sind nicht identisch mit jenen, die am Leichenfundort genommen wurden. In dem Gestrüpp war der Lehm mit Torf vermischt. Genauso wenig«, führte Leeson weiter aus, »sagen die Bodenproben an den Joggingschuhen aus, wie die Fußabdrücke verwischt wurden.« Er stand auf, um das, was er soeben erklärt hatte, in einer Ecke zu demonstrieren, wo jeder seine Füße sehen konnte. Fünf Köpfe reckten sich. »Wenn man Fußabdrücke in aller Eile verwischen will, scharrt man in der Regel mit der Schuhinnenseite über die Spuren.« Leeson strich den rechten Fuß am Teppich entlang. »Bodenspuren müssten am Spann haften bleiben. Nichts dergleichen an Kellys Schuhen.« Leeson setzte sich wieder und überflog eine weitere Seite. »Dort, wo die Leiche hingeschleppt wurde, fand man dichtes Spinnengewebe. An den Zweigstückchen, von denen Proben genommen wurden, klebten Spinnweben sowie bisher noch nicht identifizierte Fasern. An Kellys Kleidung hafteten keine Spinnweben, und die Baumwollfasern seines T-Shirts und der Jogginghose sind von völlig anderer Beschaffenheit als die im Gestrüpp gefundenen Fasern.« Molloy rutschte auf seinem Stuhl nach vorn und zog seine Jacke aus. Das lenkte flüchtig ab. 773

„Wir konnten keine Fingerabdrücke von dem Messer sichern«, sprach Leeson weiter, »und die Finger- und Handabdrücke der Leiche waren zu verwischt für eine Analyse. An dem schwarzen Rock, den das Mädchen trug, befinden sich Spermaflecke, doch davon haben wir die Analyse noch nicht, ich erwarte sie jedoch noch heute Vormittag.« Murphy strich wieder mit gespreizten Fingern über die Tischplatte. »Widersprüchliche Spuren, Arnie?« »Das kann man wohl sagen«, bestätigte Leeson. Kurzes Schweigen folgte, das nur vom Kritzeln der Kugelschreiber auf Papier unterbrochen wurde. »Was ist mit Ihnen, Dr. Dillon, können Sie Licht in die Sache bringen?« Murphy rückte seinen Stuhl seitwärts und lehnte sich zurück. »Könnte Kelly das Mädchen ermordet haben?« Während der vorhergehenden Darlegungen hatte Patrick Dillon den Kopf gesenkt gehalten und sich hin und wieder Kurzschriftnotizen gemacht. Kaum hatte Murphy ihm diese Frage gestellt, machte er klar, was für ihn wesentlich war. »Ich möchte feststellen, Commissioner, dass ich Arzt bin, kein forensischer Ermittler. Meine Aufgabe ist, Kellys geistige Gesundheit wieder herzustellen.« »Das wissen wir alle zu ...«, wollte Murphy ihn unterbrechen, doch Dillon wehrte ab. »Was ich sagen werde, ist absolut inoffiziell und widerspricht jeder Ethik, da Kelly mich nicht von meiner ärztlichen Schweigepflicht entbunden hat.« Wieder lächelten einige. »Lassen Sie mich trotzdem das Wesentliche sagen. Kellys Krankheitssymptome sind die Folgen von chronischem Drogenmissbrauch. Seine 774

toxikologischen Werte sind beunruhigend. Die Blutprobe, die wir in Rockdale nahmen, wies Alkohol, Haschisch, Heroin, Methadon, Flunitrazepam, Diazepam, Kokain und LSD auf. Noch Besorgnis erregender ist, dass es auch eine hohe Konzentration von Ketamin gab, ein Anästhetikum für Tiere, das auf der Straße als Spezial K oder LA Coke bekannt ist.« Dillon erklärte weiter. »Ketamin wird gewöhnlich mit Ephedrin gemischt und als Ecstasy verkauft. Seine Wirkung auf Herz und Lunge ist katastrophal.« Die Männer rund um den Tisch hörten mit gespannter Aufmerksamkeit zu. »Die Nebenwirkungen allein von Ketamin, ohne den übrigen Drogencocktail, sind Verwirrtheit, Halluzinationen und irrationales Verhalten.« Dillon hakte beim Fortfahren seine Notizen ab. »Auf Grund vermehrter Gallenfarbstoffe im Blut und der Ablagerung von Bilirubin im Gewebe leidet Kelly an akutem Leberversagen und als Folge davon an Gelbsucht.« Moss Kavanagh zog es nun doch vor, sich zu setzen. »Psychisch sieht es sogar noch schlimmer mit ihm aus. Bei seiner Einlieferung litt er unter schweren schizophrenen Anfällen mit Neigung zu Gewaltausbrüchen, er hörte Stimmen und hatte Visionen. Ebenso hatte er paranoide Schübe, er misstraute jedem und glaubte, er würde permanent körperlich bedroht, nicht nur von Menschen, sondern sogar vom Teufel persönlich.« »Großer Gott!«, entfuhr es Kavanagh. »Und diese, eh ...«, Donal Murphy suchte nach dem korrekten Ausdruck, »diese Geistesstörungen waren Folgen seines Drogenmissbrauchs ?« »Davon bin ich überzeugt.« »Könnte er Stimmen vernommen haben, die ihn dazu trieben, das 775

Mädchen zu töten?« »Ja.« »Könnte dieser Zustand noch irgendein anderes bizarres Verhalten herbeiführen?« Murphy stützte das Kinn auf die Hände. »Jedes, das Sie sich nur ausmalen können«, antwortete Dillon. »Ich habe vor kurzem an einer Konferenz teilgenommen, bei der über

zwei

Fälle

von

Metamorphose

berichtet

wurde.«

»Metamorphose?« »Ja, das ist eine Wahnvorstellung. Der Patient bildet sich ein, sich in ein Tier zu verwandeln. In den beiden Fällen handelte es sich um junge Männer mit schizo-affektiven Störungen, einer glaubte, er verwandle sich in ein Schwein, der andere in einen Werwolf.« »Großer Gott!«, flüsterte Kavanagh erneut. »Bei bizarren Denkprozessen kann alles passieren.« Dillon runzelte die Stirn und fing an zu summen. Murphy starrte ihn fragend an. »Entschuldigen Sie.« Dillon lächelte verlegen, als er den Blick des Commissioners bemerkte. »Ich habe nur nachgedacht.« »Wollen Sie uns einweihen?«, fragte Murphy. »Ja. Dieser Fall macht mir zu schaffen.« Er blickte wieder auf seine Notizen. Die anderen schauten ihn erwartungsvoll an. Dillon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, senkte den Blick und stützte das Kinn auf die linke Hand. »Was ich gehört habe, passt einfach nicht zusammen.« »Was passt nicht zusammen?« Murphy lehnte sich schwer auf den Tisch und nestelte an einem Kragenknopf. Als er ihn endlich geöffnet hatte, fuhr er mit einem Finger um den Hals und lockerte den Kragen. Auch die anderen lockerten ihre Krawatten, denn es war ungemütlich warm im Zimmer geworden. Dillon 776

erklärte: »Das Verhaltensmuster bei diesem Verbrechen lässt auf eine gewisse systematische Vorgehensweise, auf ein Mindestmaß an logischem Denken schließen. Das Mädchen wurde erstochen und danach ins Gestrüpp gezerrt. Der Mörder suchte ihren Rocksaum ab, und als er vorn nicht fand, was er suchte, drehte er die Leiche um und setzte seine Suche fort. Das bedeutet, dass er bei vollem Bewusstsein vorging.« Es wurde still im Raum, als die Anwesenden über Dillons Hypothese nachdachten. »Was ist mit diesen blauen Tabletten?«, fragte Clarke schließlich. »Hatten Sie da Erfolg?« Leeson sah kurz in seine Papiere. »Bis jetzt nicht. Wird noch ein paar Tage dauern.« »Könnte Kelly irgendetwas damit zu tun haben?«, erkundigte sich Murphy und tastete nach seiner Jacke. »Das Blut des Mädchens klebte an ihm, das steht nun fest. Wie siehts mit einem sexuellen Motiv aus?« Dillon brauchte nicht lange zu überlegen. »Er könnte sie erstochen haben, aber zu einer Vergewaltigung fehlen ihm Mumm und Rüstzeug. Ich bin sicher, dass Kelly seit über einem Jahr keine Erektion mehr hatte, geschweige denn überhaupt sexuell erregt und fähig gewesen wäre, den Koitus psychisch und physisch zu vollziehen.« Wieder war es im Zimmer ganz still geworden. »Aber was wesentlicher ist, der Versuch, die Leiche zu verstecken und die Fußabdrücke zu verwischen, weist auf einen zu Überlegungen fähigen Verstand hin.« »Und Kellys Verstand ist nicht zu Überlegungen fähig?«, fragte Murphy nachdenklich. »Sein Verstand ist bereits so gut wie nicht mehr vorhanden. Er ist der typische geistig total verwirrte Fixer, nur noch zu nackten 777

Emotionen im Stande und vom Drang beherrscht, Stoff zu bekommen. Er könnte die ersten beiden Stichwunden verursacht haben, doch er hat nichts mit dem zu tun, was danach geschah. Ich kann daraus nur folgern, dass nicht er, sondern jemand anderer das bewerkstelligt hat.« Gemurmel setzte ein, bis Murphy mit noch tieferem Stirnrunzeln als sonst fragte: »Haben wir es mit einem Psychopathen zu tun?« Dillon zog an seinen Manschetten und steckte den Binder tiefer in die Jacke. »Psychopathisches Verhalten ist ein eigenartiges Phänomen«, sagte er. »Die Polizei wird auf viele Psychopathen nicht einmal aufmerksam, da diese Leute ein scheinbar völlig normales Leben führen. Tatsächlich kommt es vor, dass einige dank ihrer List und Schlauheit hohe Positionen erringen.« Er blickte rund um den Tisch und bemerkte, dass alle gespannt warteten. »Sie haben ein hohes Selbstwertgefühl und eine eigene Art von Charme. Sie sind pathologische Lügner und kennen kein moralisches Dilemma. Ihnen fehlt die Einsicht, und sie können nicht aus ihren Fehlern lernen.« »Da müssten sie es in der Politik weit bringen«, meinte Arnold Leeson, und alle lachten. Dillon schob seine Notizen in eine Jackentasche und stand auf, um zu gehen. »Soweit ich sehen kann, gibt es nur einen Einzigen, der Licht in die Sache bringen kann.« Murphy blickte auf. »Wer?« »Kelly. Nur er weiß, was in jener Nacht geschehen ist.«

11.37 Uhr Im Hochsicherheitstrakt des Rockdale Hospitals saß Micko Kelly 778

auf dem Gang vor seiner Zelle. Mit großem Interesse beobachtete er alles, was sich bewegte. Er trug die übliche Anstaltskleidung, einen langen weißen Schlafanzug ohne Knöpfe oder Kordeln, nur mit

Druckknöpfen

und

nachgiebigem

Gummiband.

Das

verringerte die Suizidrate. Kelly war nicht mehr so erregt, und da er nun regelmäßig aß und trank, war er kräftiger. Er war auch nicht mehr ganz so verwirrt und benommen, denn die antipsychotischen Mittel und die Medikamente, die ihm den Drogenentzug erleichtern sollten, hatten sein bisschen Verstand wenigstens teilweise aktiviert. Davon war jedoch im Augenblick nichts zu merken. »Pass auf das kleine Schweinchen auf, pass auf das kleine Schweinchen auf. Grunz grunz, kleines Schweinchen.« Er hörte dann und wann immer noch Stimmen und hatte auch hin und wieder Halluzinationen. »Was machst du auf dem Boden?« Der kleine rothaarige Patient aus einer der anderen Zellen des Korridors wollte sich unterhalten, aber Kelly reagierte nicht. Er sah keinen kleinen rothaarigen Mann, sondern ein kleines fettes Schwein. Jedes Mal wenn er näher kam, nahm Kelly Schweinegeruch wahr und hörte Grunzen. Einmal, als das Schweinchen zu nahe gekommen war, hatte Kelly sich zusammengekauert und gesehen, wie sich der Kopf des Schweinchens in den des Teufels mit Hörnern verwandelt hatte und er Feuer spie. Kelly kauerte sich noch enger zusammen und wimmerte. Der kleine rothaarige Mann ließ nicht locker. »Was machst du auf dem Boden? Warum stehst du nicht auf?« Kelly rollte wie ein Ball in seine Zelle. Er hielt erst an, als er gegen die Wand prallte. »Du bist verrückt!«, krähte der Rothaarige an der Tür. Murmelnd und den Kopf schüttelnd, kehrte er in seine Zelle zurück. Kelly 779

setzte sich auf, den Rücken an sein Bett gelehnt. Er spürte etwas Warmes zwischen den Beinen. Er blickte hinunter und sah seinen Urin die Bodenfliesen entlangsickern. Fasziniert beobachtete er ihn. Ein paar Sekunden lang färbte sich der Urin blutrot, und Kelly wich entsetzt zurück. Dann nahm er die Farbe von Honig an. »Bienen nippen, Michael, Bienen trinken. Summ, summ, summ. Bienen nippen. Summ.« Kelly streckte einen Finger aus und zeichnete Kreise in den Honigfluss, dann leckte er ihn ab und genoss den süßen Honig, den sein krankes Gehirn ihm vorgaukelte. »Bienen summen, summen, summen, summen.« »O Gott, du hast dich wieder voll gepinkelt!« Ein Wärter hatte Kelly in seinem nassen Schlafanzug auf dem Boden sitzen sehen. »Leck das Zeug nicht, um Himmels willen. Du bist so schon krank genug.« Er zog Kelly die tropf nasse Hose aus und half ihm, sich aufs Bett zu legen. »Bleib da liegen«, befahl er. »Ich komme zurück, um dich abzuwaschen.« »Wasch das fette Schweinchen auch. Wasch das schwarze hässliche Gesicht des Schweins.« Von dem Telefon auf seinem Schreibtisch wählte der Wärter eine Nummer und wartete. Nach sechsmaligem Läuten wurde abgehoben. »Sind Sie Dr. Dillons Assistentin?« »Ja.« »Ich rufe aus Rockdale an. Es geht um die Nachricht, die er hinterlassen hat.« »Ja?« »Würden Sie ihm bitte ausrichten, dass Michael Leo Kellys Ge780

sundheitszustand eine Vernehmung durch die Polizei noch nicht zulässt?« »Selbstverständlich. Ist das alles?« »Ja, das ist alles.« Der Wärter seufzte, als er auflegte.

14.45 Uhr »Möchten Sie etwas zu trinken, Sir?« Frank Clancy starrte von seinem Fensterplatz im Flugzeug der Delta Airlines auf die fernen Wolken. Jetzt wandte er sich um. Eine lächelnde Stewardess stand neben dem Getränkewägelchen .in der Tür zur Bordküche. »Nein, danke, ich warte, bis es zu essen gibt.« » Selbstverständlich.« Sein Blick kehrte zu den Wolken zurück. »Hatten Sie Streit mit dem Friseur?« Clancy hätte sich am liebsten versteckt. Mit rotem Gesicht wandte er sich wieder der Stewardess zu. »Ich hab es selbst getan, ob Sie es glauben oder nicht.« Die junge Frau betrachtete ihn eingehender. »Ich glaube es.« Sie schob das Wägelchen den Gang entlang. Clancy blätterte durch ein im Flugzeug ausliegendes Exemplar der Irish Times. Auf Seite fünf hielt er inne und las. Dann trennte er die Seite heraus und schob den Rest unter seinen Sitz, ehe er den zweispaltigen Artikel mit Begleitfotos las. REGANS TRIUMPH Um achtzehn Uhr am kommenden Mittwoch dürfte Gesundheitsminister John Regan sich als reicher Mann fühlen, denn er wird einen Scheck über zwanzig Millionen Pfund in seine Brieftasche stecken können - ein Zuschuss der EU. Diese Summe wird ihm von Dr. Hans Otto Mayer, dem deutschen EU781

Kommissar,

bei

einer

Pressekonferenz

im

Gesundheits-

ministerium ausgehändigt werden. Dr. Mayer ist Vorsitzender des Euro-Medizinischen Fonds, und es handelt sich um den größten Zuschuss, der je gewährt wurde. Es wird John Regans größte Stunde sein, eine Anerkennung für seine Bemühungen während der vergangenen zwei Jahre. Bedingung für die hohe Summe waren die Erfolgsergebnisse der Herz-Stiftung während der

ersten

sechs

Monate

im

Mercy

Hospital.

Aus

Regierungskreisen verlautet, dass das Geld bereits so gut wie auf der Bank liegt, denn die von Regan engagierten Bostoner Spezialisten medizinischer

haben

hervorragende

Durchbruch«,

wie

Arbeit es

auch

geleistet. in

»Ein

ärztlichen

Fachkreisen heißt. Es mag Tage gegeben haben, an denen Regan am Erfolg des Projekts gezweifelt hat. Da waren die anfängliche Feindseligkeit der hiesigen Ärzteschaft, der Kampf um den Zuschuss durch die EU, die Eifersüchteleien und der passive Widerstand des Mercy-Hospital-Personals. Allein schon all das hätte das Projekt zu Fall bringen können. Doch dann kam das nicht nur für Regan schrecklichste aller Ereignisse: die Ermordung von Jennifer, der Tochter des Herzchirurgen Dan Marks. Unterrichtete Kreise bestätigen, dass dieser Todesfall Regan zutiefst getroffen hat. Er verfolgt seine Ziele zum Wohle des Landes seither zwar noch entschlossener, aber seine Nerven haben darunter gelitten, er ist einerseits deprimiert, neigt andererseits bei den geringsten Schwierigkeiten zu plötzlichen Anfällen von Jähzorn. Inoffizielle Kommentare von Kriminalbeamten deuten darauf hin, dass Regan, was den Mord an Jennifer Marks betrifft, mit allen Zweifeln aufräumen möchte. Wie eine namentlich nicht genannte Quelle meint: »Regan will seine 782

zwanzig Millionen Pfund. Und er will noch vor achtzehn Uhr am Mittwoch Micko Kellys Kopf auf einem silbernen Tablett.« Dan Marks ist nicht bereit, zu den noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen irgendwelche Kommentare abzugeben. »Nach der Pressekonferenz«, sagte er zum Personal des Mercy Hospitals, »werden ich und meine Kollegen uns einen schwer verdienten Urlaub von Dublin gönnen. Wir wollen diesen schrecklichen Vorfall hinter uns lassen.« Doch kein Wort darüber, wohin die Reise des Dreamteams gehen soll. Clancy faltete die Seite zusammen und steckte sie in seine Hosentasche. Hast du auch genügend Mut? Bist du bereit, sein Kartenhaus zum Einsturz zu bringen? Er bestellte sich einen Gin Tonic.

17.17 Uhr Der Goon wartete. Als Joan Armstrong an der Haltestelle Sydney Parade Station ausstieg, sah sie ihn sofort. Er trug Jeans und Jeansjacke und lehnte am zweiten Laternenpfahl von Ailesbury Gardens, ihrem üblichen Treffpunkt. Auf der schmalen Straße, die parallel zu den Gleisen verlief, war es ungewöhnlich ruhig. Joan vergewisserte sich, dass niemand ihr folgte, und überquerte die Eisenbrücke zur anderen Seite der Schienen. Der Goon schien noch nervöser zu sein als sonst, seine braunen Augen blitzten. Immer wieder fuhr er sich mit der Zunge über den Schnurrbart. Joan spazierte an ihm vorbei und tat, als rutsche ihr die Schultasche aus der Hand. Sie bückte sich, um die Bücher wieder hineinzuräumen. »Ich kann jetzt nicht mitkommen. Man wartet zu Hause auf 783

mich.« Der Goon packte sie am Arm und wollte sie die Seitenstraße entlangziehen. »Lass mich los, du Bastard, ich kann jetzt nicht.« Der Goon lockerte den Griff nicht. »Mo wartet«, knurrte er. »Er will mit dir reden.« Mit einer geschickten Drehung riss Joan Armstrong sich los und taumelte rückwärts gegen einen baufälligen Zaun. Schritte alarmierten sie, und der Goon zwang sich zur Ruhe. Ein älterer Herr starrte sie im Vorbeigehen an. Dann blieb er plötzlich stehen und sah die Schülerin durchdringend an. Ihm entging nicht, dass ihr Blick verstört und ihr Rock verrutscht war. »Sind Sie in Ordnung?« Der Goon warf ihr einen warnenden Blick zu. Joan Armstrong hob ihre Schultasche auf und ging rasch davon. »Ja, danke. Ich will nur schnell heim.« Der ältere Herr wartete, bis sie auf der Fußgängerbrücke war, und bedachte den Goon mit strafendem Blick, ehe er weiterschlenderte. Auf der anderen Seite angekommen, hörte Joan Armstrong den Goon rufen: »Ich komm zurück! Mo muss mit dir reden!« Sie rannte heim.

29

18.10 Uhr Jim Clarke wandte sich im Polizeirevier von Sandymount an das Ermittlungsteam. Die dicken Regenwolken waren zur Irischen See weitergewandert. Dublin war zwar noch nass, aber die Sonne schien. 784

»Es besteht die Möglichkeit, dass jemand anderes in den Mord an Jennifer Marks verwickelt ist.« Sein Gesicht zeigte Anspannung und Verärgerung. »Die Gerichtsmediziner sind der Meinung, Kelly kann es nicht allein getan haben. Ich möchte, dass Sie sich wieder da draußen umsehen. Möglicherweise ist da jemand, der jeden unserer Schritte beobachtet und nichts anderes möchte, als dass der geistesgestörte Kelly für schuldig befunden wird.« Er deutete mit seiner Krücke auf eine Liste, die er an das Flipchart geheftet hatte. »Lesen Sie meine Anmerkungen bitte ganz genau. Wie Sie sicher alle wissen, geschehen die meisten Verbrechen zwischen Menschen, die einander kennen.« Er machte eine kurze Pause. »Gehen Sie noch einmal die Lebensumstände des Mädchens durch, und stellen Sie die gleichen Fragen wie beim ersten Mal. Nur stellen Sie sie diesmal eindringlicher, und horchen Sie bei den Antworten auf Zwischentöne.« Er humpelte zur anderen Seite des Flipcharts. »Was ist in jener Nacht geschehen? Wer könnte dieses Verbrechen verübt haben? Wusste sie vielleicht zu viel und wurde deshalb getötet? War der Mörder ein Psychopath, der darauf versessen war, jemanden umzubringen, oder ist sie nur einfach jemand, der zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist?« Clarke sah, wie die Anwesenden etwas in ihre Notizbücher kritzelten. »Dr. Patrick Dillon, der Psychiater, sagt, dass Kelly nicht genug Gehirnzellen hat, um überhaupt zu wissen, wie er die Leiche hätte verstecken und die Fußabdrücke verwischen können.« Einige lachten auf. »Nehmen Sie nochmals dieselben Zeugen in die Zange, die Leute an der Abtrennung, die Schülerinnen, die Aussagen gemacht haben, das Personal vom Balfe's Pub. Fragen Sie, ob sie außer Kelly noch jemanden gesehen haben. Rütteln 785

Sie sie auf.« Als das Team im schwachen Sonnenschein verschwunden war, fuhr Clarke mit seinen Anweisungen fort. Er schickte Molloy noch einmal zu Joan Armstrong. »Finden Sie heraus, wer sich sonst noch in dem Pub aufgehalten hat. Wer der Dealer war. Fragen Sie nach diesen blauen Tabletten. Stellen Sie fest, woher sie das Geld bekommt, sich regelmäßig Stoff für ihre Sucht zu besorgen. Stochern Sie da nach.« Molloy lutschte ein Antazidum und stapfte stirnrunzelnd zur Tür, aber Clarke rief ihn wieder zurück. »Wir beide haben noch etwas Wichtiges zu erledigen. Wir fahren nochmals zum Park.« Die Seitenstraßen des Sandymount Park blieben vom Frühabendverkehr verschont. Katzen machten sich an Abfallsäcken zu schaffen, und Hunde beschnüffelten alles Interessante auf den Fußwegen und an den Telefonmasten. Die Sonnenwärme ließ Dampf aufsteigen, und Insektenschwärme schwirrten über den Pfützen. Die unmittelbare Nachbarschaft war eine angenehme Mischung aus gutem Geschmack, teuren Häusern und gehobenem Lebensstil. Clarke ignorierte missbilligende Blicke, als Jogger und Spaziergänger aufgefordert wurden, den Park zu verlassen. Er selbst blieb im Fond des unauffälligen Streifenwagens sitzen. Erst als der letzte protestierende Nachzügler herausgeführt worden war, machte er sich auf den Weg zum Tatort. Kavanagh hielt respektvollen Abstand. Uniformierte Polizisten postierten sich an strategischen Winkeln und standen danach gelangweilt herum. Clarke betrachtete die grasbewachsene Stelle, wo vor sieben Tagen ein junges Leben brutal beendet worden war. Mit einer Drehung stieß er die Krückenspitze in die nasse Erde und stützte sich schwer auf ihren Griff. Sein Blick war 786

nachdenklich. Eine sanfte Brise stellte sein widerspenstiges Haar auf. Er versuchte sich die letzten Augenblicke des Mädchens vorzustellen. Hatte sie geschrien? Wie laut, wie oft? Hatte jemand die Schreie gehört? Wie konnte Kellys Kleidung mit ihrem Blut verklebt sein? Er verharrte einige Minuten, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den mit Graffiti bemalten hölzernen Unterschlupf, keine dreißig Meter entfernt. Hatte sich dort jemand versteckt und das Mädchen überfallen? Nein! Wohin war die andere Person danach gegangen? Niemand hatte zwei Personen den Park verlassen sehen. Clarke erinnerte sich an Molloys Beschreibung des Pfades am hinteren Ende des Parks. An dieser Seite gab es große Bäume und dichtes Gebüsch. Als der Wind mit dem Laub spielte, bemerkte er das rote Ziegelhaus an der Straße. Es verschwand, als der Wind nachließ, und lugte hervor, sobald er wieder stärker blies. »Mossy.« Kavanagh blickte herüber. »Überprüfen Sie die Seite dort.« Clarke zog die Krückenspitze aus dem Boden und ging langsam zu dem Gestrüpp, in dem Jennifers Leiche über Nacht gelegen hatte. Das hohe Gras hinterließ nasse Spuren an seinen Schuhen. Er bückte sich und betrachtete das Geäst, die Büsche und die Insekten. Er sog die Luft ein, dann strich er mit der Hand prüfend über den aufgeweichten Boden. Die Spinnen hatten frische Netze gewebt. Regentropfen tanzten an den Fäden. Eine plötzliche Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit, und er drehte sich um. Wieder spielte ein Windstoß mit den Bäumen, und die ziegelrote Hauswand war erneut zu sehen. Der heftige Regen hatte staubige Erde in Schlamm verwandelt, und von den Blättern tropfte es auf Clarkes Schultern, während er bedächtig 787

dem viel benutzten Pfad folgte, der den Sandymount Park mit der Straße dahinter verband. Wenige Minuten später stand er vor The Palms und den großen Granitsteinen. Kavanagh ging zu ihm und bemühte sich, interessiert zu wirken. »Sehen Sie etwas, Chef?« Clarke schüttelte den Kopf und humpelte die stille Straße entlang, vorbei an dem Trafohäuschen, in dem Jennifer Marks' Schultasche gelegen hatte. Blinzelnd betrachtete er Türen und Fenster und versuchte sich klar zu werden, welches Haus er vom Park aus gesehen hatte. Sie waren einander jedoch zu ähnlich, und er gab nach fünf Minuten auf. »Ich möchte, dass die Zweige und das Gebüsch entlang dem Pfad untersucht werden.« Kavanagh sprach in sein Handy. »Sie hat mir nichts Neues erzählt, und ihr alter Herr drohte mit seinem Anwalt, falls ich noch einmal wiederkäme.« Tony Molloy und Clarke hatten im Fond des Streifenwagens Platz genommen. Kavanagh saß wütend auf dem Fahrersitz, es gefiel ihm gar nicht, dass er seine hochschwangere Frau so lange warten lassen musste. Es war bereits zweiundzwanzig Uhr dreißig, und wurde dunkel. Der Wagen parkte ohne Licht an der Seite des Parks. Scheinwerfer vorbeifahrender Wagen bildeten bizarre Schatten auf den Bäumen. »Sie hat geschworen, dass sie nichts von einem anderen Mann weiß und ganz sicher ist, dass sie nur Kelly mit Jennifer Marks gesehen hat.« Molloy berichtete von seinem letzten Gespräch mit Joan Armstrong. »Sie hat Todesangst«, fügte er hinzu und spähte aus dem Rückfenster. Sein Magen rumorte, und er massierte seinen aufgeblähten Bauch. »Angst wovor?«, fragte Clarke. »So genau weiß ich das nicht. Vielleicht vor den Ermittlungen, vielleicht befürchtet sie, dass wir ihren Eltern von ihrer Drogen788

abhängigkeit erzählen. Vielleicht«, er machte eine Pause und drehte das Fenster ein wenig herunter, »weiß sie mehr und glaubt, es sei besser, wenn sie es uns nicht auf die Nase bindet.« »Hat sie was über den Dealer im Balfe's gesagt?« »Nein«, brummte Molloy, »sie behauptet, sie kennt ihn nicht.« »Und woher sie das Geld für die Drogen bekommt?« »Sie sagt immer noch, dass Jennifers Eltern ihrer Tochter massenhaft Geld gaben, sodass sie ihr davon abtreten konnte.« Kavanagh drehte sich um. »Sie musste ihr ziemlich viel abgetreten haben, bei dem Verbrauch, den sie hat.« »Wem sagen Sie das«, warf Molloy mit seinem besten BrooklynAkzent ein. »Haben Sie was über Liebschaften erfahren?«, erkundigte sich Clarke. »Über Burschen, mit denen Jennifer schon mal gegangen ist oder mit denen sie geschlafen hat?« Molloy schüttelte den Kopf. »Nichts. Sie sagt, sie weiß nichts.« »Und was ist mit den Tabletten?« »Auch darüber weiß sie angeblich nichts. Hat zumindest sehr überrascht getan, als ich sie fragte.« Clarke öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Es passt einfach gar nichts zusammen.« Er ließ sich vom Wind das Gesicht kühlen. »Das Sperma an ihrem Rock war jedenfalls nicht von Kelly, das haben wir heute Nachmittag erfahren. Also, mit wem hat sie es getrieben?« »Mit mir jedenfalls nicht«, brummelte Kavanagh. Im Dunkeln stapften sie durch das nasse Gras. Immer wieder schaute sich Clarke die Bäume an, die den Sandymount Park von der Seitenstraße trennten. Der Wind war sanft, die Nacht angenehm kühl. Lichter aus den roten Ziegelhäusern funkelten. Er ging zu 789

dem Gestrüpp und wartete. Der Wind strich durch sein Haar, während er dem Rauschen der Blätter lauschte. »Hab dich, verdammt, hab dich.« Molloy und Kavanagh schauten ihn an. »Warten Sie!« Clarke flüsterte, als hätte er Angst, durch laute Worte die Orientierung zu verlieren. »Rühren Sie sich nicht.« Wieder spielte der Wind mit dem Laub der Bäume, und Licht glomm aus einem Fenster. »Ich habe heute Nachmittag die Wetterberichte durchgesehen. In der Mordnacht ging ein leichter Wind, genau wie jetzt. Wer immer in dem Haus ist, könnte möglicherweise etwas gehört haben. Es war ein warmer Abend, und die Fenster standen vielleicht offen.« Die Aufregung in seiner Stimme war unüberhörbar. »Wir sehen uns sofort dort um.« »O Gott, Chef«, klagte Kavanagh, »wir haben ja schon fast Mitternacht.«

30

17.17 Uhr, Ortszeit Boston, Massachusetts Der Flug 747 der Delta Airlines landete auf dem Bostoner Logan Airport mit einer Stunde Verspätung, da ein Fluglotse möglicherweise übervorsichtig gewesen war. Strahlender Sonnenschein, der sich auf der Glasfront des Towers spiegelte, verhinderte, dass Frank Clancy die Innenstadt sehen konnte. Vom Hauptterminal aus rief er sofort das Springton Hospital an, konnte jedoch seinen Ansprechpartner nicht erreichen. Er bat, ihm einen Termin am kommenden Vormittag freizuhalten. Als Nächstes wählte er die Nummer einer Hotelreservierungsagentur. Ein Zimmer im Ritz Carlton lehnte er zu Gunsten eines 790

preiswerteren im John Jeffries ab. »Es ist eine um die Jahrhundertwende erbaute Villa im vornehmen Bezirk Beacon Hill«, erfuhr er von der Agentur. »Sie wurde durch Renovierung auf den modernsten Stand gebracht, ohne dass die ursprüngliche Fassade darunter gelitten hat.« Clancy wäre es auch völlig egal gewesen, wenn es sich um eine hypermoderne Stahl-GlasMonstrosität gehandelt hätte. Er wollte nur ein Bett für die Nacht, ohne seinen letzten Cent ausgeben zu müssen. Er nahm die Subway, stieg am Government Center T-Stop aus und hielt ein Yellow Cab an. Es war ein warmer Tag mit hoher Luftfeuchtigkeit, und schon bald sammelte sich Schweiß auf seiner Stirn. Das John Jeffries bot jeglichen Komfort. Es hatte ein geschmackvolles Doppelfoyer im New-England-Stil. »Wie lange werden Sie uns beehren, Dr. Clancy?«, erkundigte sich das brünette Mädchen am Empfang. »Nur eine Nacht.« »Das ist aber ein kurzer Aufenthalt nach einer so langen Reise.« Sie trug seine persönlichen Angaben ein. Clancy zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist die Geschichte meines Lebens, immer in Eile, nie Zeit.« Das Mädchen lächelte und gab ihm seinen Reisepass zurück. »Genießen Sie Ihren Aufenthalt trotzdem.« Er bemerkte, dass sie auf sein Haar starrte. »Ich probiere ein neues Image aus.« Sie lehnte sich über den Empfangstisch und schaute sich um, ehe sie flüsterte: »Sie sollten es mit einem anderen versuchen.« Clancy errötete. In seinem Zimmer mit Aussicht auf den Charles River staunte er über die Einrichtung in französischem Landhausstil und verbrachte die ersten Minuten damit, das Mobiliar zu bewundern. Doch die Erschöpfung durch den Flug übermannte ihn. Er ließ 791

sich in einen tiefen Sessel fallen und starrte hinaus auf den Verkehr auf dem Fluss. Ruderboote glitten über das Wasser. Jachten mit weißen Segeln ließen sich vom sanften Wind dahintreiben und wurden nur dann und wann vom Heckwasser vorbeirauschender Motorboote in ihrer Beschaulichkeit gestört. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses schien sich der Gebäudekomplex des Massachusetts Institute of Technology dem Ufer entgegenzudrängen. Ausgelaugt und müde warf Clancy sich auf das französische Doppelbett und schlief sofort ein. Das schrille Klingeln des Telefons riss ihn aus tiefem Schlaf. Das Zimmermädchen erkundigte sich, ob sie jetzt sein Bett für die Nacht aufdecken dürfe. Benommen und desorientiert im unerwarteten Dämmerlicht blinzelte Clancy auf seine Uhr. Es war zwanzig Uhr Ortszeit. Nachdem er eine Antwort gebrummt hatte, duschte er, um sich zu erfrischen, und zog sich um. Eine Stunde später saß er in einem kleinen italienischen Restaurant nahe der Commonwealth Avenue und nippte an einem Glas mit tiefrotem Barolo. Sein Hunger war so gewaltig, dass er das frische Brot aus dem Körbchen auf dem Tisch verschlang, noch ehe er die Speisekarte studierte. Er bestellte sich eine Fischvorspeisi-und als Hauptgericht Pasta, dann lehnte er sich entspannt zurück und schaute aus dem Fenster. Die Tische füllten sich teils mit Collegestudenten, teils mit betont leger gekleideten Yuppies, die zwischen zwei Gabeln voll dampfender Spagetti in ihre Handys murmelten. Die Frauen waren eleganter gekleidet und wirkten sogar selbstsicherer. Er kam sich hier fehl am Platz vor. »Bringen Sie mir die andere Hälfte der Flasche«, sagte er. »Ich muss mir Mut antrinken.« 792

Der Kellner grinste. »Warum nicht, es wird eine lange Nacht.« |a, das wird es wohl, dachte Clancy, während sein Glas nachgefüllt wurde. Der Wein half ihm, sich wieder zu entspannen. Ich wollte, Anne wäre mit den Kindern hier. Wenn sie auch bloß die geringste Ahnung hätte, wo ich mich in dieser Minute befinde, würde sie die Koffer packen und mich verlassen. Die Ungewissheit machte ihm wieder zu schaffen. Noch ist Zeit, dein Vorhaben aufzugeben und wieder dein normales Leben zu führen. Nimm gleich morgen Früh den ersten Flieger, dann bist du am Spätnachmittag auf der Station zurück. Niemand braucht etwas zu erfahren. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er als Einziger im Lokal allein an einem Tisch saß, und die Einsamkeit und Sehnsucht machten ihm zu schaffen. Wenn er wenigstens ein Foto der Kinder eingesteckt hätte! Bei seiner überstürzten Flucht hatte er nicht daran gedacht. Er sah eine zurückgelassene Ausgabe des Boston Globe herumliegen und begann sie durchzublättern, alles nur, um sich von zu Hause abzulenken. Zwischen

Pasta

und

Wein

las

er

über

Ereignisse

in

Massachusetts, die ihm gleichgültig waren, bis er auf eine Überschrift stieß.

STEIGENDE

AKTIENKURSE

BEI

DER

BOSTON

PHARMACEUTICAL CO.

Wie schon letztes Jahr sind an der New Yorker Börse bei den Banken und in der Pharmaindustrie hohe Aktiengewinne zu erwarten. Seit Januar ist der Dow Jones All Share Index um vierzehn Prozent gestiegen, während Pharma-Aktien beeindruckende 793

achtundzwanzig Prozent zugelegt haben. Das Zusammentreffen von gesundheitspolitischen Maßnahmen, ständig steigernder Nachfrage

und

einer

den

aktuellen

Markterfordernissen

angepassten Produktentwicklung ging einher mit Konsolidierungen und globalen Marketingstrategien. Für Investoren und Aktionäre

sind

daher

folgende

an

der

Börse

notierte

Unternehmen interessant: Smith-Kline Beecham, Glaxo, Zeneca und die hiesige Firma Cynx. Wie aus informierten Kreisen zu vernehmen ist, wird Cynx in Kürze die Versuchsergebnisse eines »Wundermittels« (so zumindest nennen die Cynx-Werbeleute es) gegen

Herzerkrankungen

veröffentlichen.

Diese

geschickt

verbreitete Insiderinformation hat den Aktienkurs auf $ 19,95 hochgetrieben. Wall-Street-Experten glauben daher nicht an das Gerücht einer möglichen Übernahme von Cynx durch einen der multinationalen Pharmariesen. Clancy legte die Gabel beiseite und las den Artikel noch einmal. Der Appetit war ihm vergangen. Aber immerhin wusste er nun Bescheid und konnte die letzten Stücke des Puzzles einfügen. Er riss die Seite aus der Zeitung und steckte sie zusammengefaltet in seine Tasche. Eine schöne Notizensammlung, die du dir da anlegst! In seinem Hotelzimmer blätterte er durch die Gelben Seiten des Bostoner Telefonbuchs, bis er die Krankenhäuser fand. Mit dem Stadtplan neben sich entdeckte er Springton in einem Gebiet zwischen den Brookline und Huntingdon Avenues, wo sich eine größere Zahl von Kliniken befand: das Beth Israel Hospital, die Brigham- und Frauen-Klinik, die Kinderklinik, das Massachusetts Center für geistige Gesundheit und die Harvard Medical School. Nach seiner Schätzung war Springton etwa zwei Blocks 794

vom Wentworth Institute entfernt, in der Nähe der Ruggles Street. Er legte sich ins Bett, konnte jedoch nicht einschlafen und wälzte sich immer wieder herum. Ein paar Mal döste er ein, doch dann weckte ihn sein hämmerndes Herz. Endlich komme ich der Sache auf den Grund!

Dublin, 23.37 Uhr »Wer ist da?« Clarke, Molloy und Kavanagh standen vor dem Eingang zu Mercers Road 17, fünf Häuser von der Sackgasse des Apartmentblocks The Palms entfernt. »Wer sind Sie?« Die Tür war von einem älteren Mann geöffnet worden, der sie nach einem Blick auf die unerwarteten Besucher sofort wieder zugeschlagen hatte. Molloy drückte erneut auf die Klingel, öffnete die Klappe des Brief Schlitzes und rief hindurch: »Keine Angst, wir sind von der Kriminalpolizei.« Diesmal wurde die Tür bei vorgelegter Sicherheitskette einen Spaltbreit geöffnet, und misstrauische Augen spähten hindurch. »Wie soll ich Ihnen das glauben? Zeigen Sie mir Ihre Ausweise!« Die Nervosität war nicht zu überhören. Ausweise wurden durchgereicht und studiert. Die argwöhnischen Augen wurden noch schmaler. »Warum kommen Sie mitten in der Nacht?« Molloy seufzte. »Wir ermitteln in dem Mord an dem Mädchen, das vergangene Woche im Park gefunden wurde. Sie haben doch davon gehört? Jennifer Marks, die Tochter eines Herzchirurgen.« Der Mann blickte sie unverwandt an. »Wir waren eben im Park und bemerkten das Licht in dem oberen Zimmer.« Molloy blickte nach oben, und die misstrauischen Augen taten es ihm gleich. »Wir fragen uns, ob sich in jener 795

Nacht vielleicht jemand in dem Zimmer aufgehalten und etwas gehört hat? Wir müssen nicht ins Haus, aber vielleicht können Sie sich erkundigen?« Die Sicherheitskette wurde zurückgezogen, und der ältere Mann öffnete die Tür. »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich, »aber seit dem Mord an dem jungen Mädchen fühlt sich hier niemand mehr sicher.« Die drei gaben ein paar mitfühlende Laute von sich. Der Mann war klein, leicht gebückt und hatte eine Glatze. Er trug einen karierten Morgenmantel und warm gefütterte Hausschuhe. Ein Pfeifenstiel ragte aus einer Tasche mit Tabakflecken. Obwohl er durch das Öffnen der Tür bewies, dass er sich nicht bedroht fühlte, ließ er die Besucher nicht ein. »Das Licht brennt jede Nacht, wir lassen es eingeschaltet, damit Einbrecher wissen, dass jemand da ist. Niemand benutzt das Zimmer, es ist leer.« Molloy behielt sein starres Lächeln bei, doch Clarke hinter ihm fluchte laut. »Ich lebe allein und hab in jener Nacht weder was gesehen noch gehört. Ich wusste überhaupt nicht, dass was passiert ist, bis ich am nächsten Tag die Zeitung las.« Molloy lächelte weiter. »Entschuldigen Sie, dass wir Sie so spät gestört haben. Sollte Ihnen irgendwas einfallen, das uns helfen könnte, dann geben Sie uns bitte Bescheid.« Die Tür wurde geschlossen, noch ehe sie sich umdrehen konnten. Sie hatten gerade die Querstraße erreicht, als sie den älteren Mann rufen hörten. Er stand an seiner Gartentür, hielt mit einer Hand seinen Morgenrock am Hals zusammen und winkte ihnen mit der anderen zu. »In dem Wohnblock dort ist ein junger Bursche, der Ihnen mög796

licherweise helfen könnte. Er ist ein bisschen einfältig, aber er führt ein Tagebuch und trägt alles ein, was sich hier tut. Vielleicht weiß er was.« »Welche Wohnung?«, rief Clarke. »Nummer sieben, glaub ich. Die nach vorn schaut, und wo jetzt noch Licht brennt. Versuchen Sie es mal bei Nummer sieben.« »Hören Sie, wir wollen ihn zu dieser späten Stunde nicht stören.« Molloy hatte sich und seine Kollegen vorgestellt und um Entschuldigung gebeten, dass sie mitten in der Nacht gekommen waren, dann hatte er auch noch sein Glück auf die Probe gestellt, indem er nach dem »jungen Burschen« fragte, »der ein Tagebuch führt«. Sein Läuten war durch eine Sprechanlage an der verschlossenen Haustür von The Palms beantwortet worden. Eine Frauenstimme hatte ihn erst einmal fünf Minuten lang gelöchert und dann verlangt, dass sie sich auf die Straße stellten, damit sie sie vom Treppenhausfenster aus sehen könne. Schließlich rief die Frau, eine dicke Grauhaarige in blauem Jogginganzug, jeden einzeln zu sich. Sie ließ Clarke als Ersten ein. Molloy und Kavanagh schauten aus der Dunkelheit zu, wie sie ihn hinter der Glastür eingehend befragte. Ein etwa sechzigjähriger Mann schloss sich aus dem Erdgeschoss an. Er blinzelte durch die Tür auf die beiden Männer im Freien, dann bestand er darauf, dass sich Clarke mit dem Hauptquartier in Verbindung setzte. Er lauschte aufmerksam, bevor er Clarke den Hörer aus der Hand nahm und seine eigenen misstrauischen Fragen stellte. Als er mit den Antworten zufrieden war, gestattete er, dass Molloy und Kavanagh hereinkamen und die Treppe zu Nummer sieben hinaufstiegen. »Er schläft nachts nicht«, erklärte die Frau atemlos. Ihre Klei797

dung roch stark nach Zigarettenrauch. »Nie?«, fragte Clarke, nur um ein Gespräch mit ihr anzufangen. »Selten. Was immer ihm bei dem Unfall passiert ist, hat seinen Lebensrhythmus durcheinander gebracht. Er schläft den ganzen Tag und liegt nachts wach.« »Das muss unangenehm sein«, meinte Clarke. »Es ist ein Albtraum.« Die Frau atmete schwer, während sie die drei ins Wohnzimmer führte. Es war mit einem kleinen Sofa eingerichtet, zwei hohen Sesseln, und in einer Ecke stand ein großer Fernseher mit riesigem Bildschirm. Auf einem Beistelltischchen lag ein Stoß Zeitschriften. Zigaretten hatten Löcher in den gesprenkelten Teppich gebrannt, und dicker Rauch hing in der Luft. »Möchten Sie eine Zigarette?« Die drei schüttelten den Kopf. »Stört es Sie, wenn ich rauche? Ich bin Annie, Annie Carton.« Die drei versicherten, dass es sie nicht störe. »Er ist fünfundzwanzig, aber die Ärzte in der Klinik haben gesagt, dass er nicht über das geistige Alter eines Zwölfjährigen hinausgewachsen ist.« Annie Carton nahm einen tiefen Zug von ihrer filterlosen Zigarette und hustete leicht, ehe sie sich in einen der hohen Sessel plumpsen ließ und Rauch in die Luft blies. Die drei Besucher setzten sich auf das Sofa, was sie auf der Stelle bereuten, denn sie konnten sich kaum bewegen. Kavanagh schnitt hinter Clarkes Rücken eine Grimasse, die nur Molloy sehen konnte. »Er kann nur sehr langsam reden und sich bewegen, aber er versteht sehr schnell und gut«, sagte sie unglücklich. »Es geht ihm nichts ab.« Sie drückte die kaum zu einem Viertel gerauchte Zigarette aus. »Was ist passiert?«, fragte Clarke mitfühlend. »Der Albtraum aller Eltern. Er radelte von der Schule nach Hause und kam unter 798

ein Auto. Längere Zeit dachten wir, dass er es nicht schaffen würde, so schlimm hatte es seinen Kopf erwischt. Aber die Ärzte gaben ihn nicht auf, und er kam wieder zu sich.« Sie schwieg, als die Erinnerung in ihr lebendig wurde, dann zündete sie eine neue Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Er war monatelang in der Rehabilitation, litt unter totalem Gedächtnisschwund.« Ihre raue Stimme hob sich. »Er kannte nicht einmal mehr seine eigene Mutter und seinen Vater. So haben sie ihn uns zurückgegeben. Manchmal wünsche ich, er wäre gestorben.« Müde und resigniert stützte sie die Stirn auf eine Hand. Clarke unterbrach ihre düsteren Gedanken. »Verbringt er viele Nächte am Fenster?« Annie hob den Blick. »Ja, und er schreibt alles in eines seiner Schulhefte. Das tut er schon, seit er aus der Rehabilitation heimgekommen ist. Er hat Fahrpläne von Zügen, Fliegern und Bussen von überall her auf der Welt in seinem Zimmer.« »Dürften wir uns ein paar Minuten mit ihm unterhalten?« »Ja, ich glaube, diese Abwechslung täte ihm sogar gut. Gehen Sie. Aber ermüden Sie ihn nicht zu sehr.« Clarke versprach es. Annie Carton wollte sich eine neue Zigarette anzünden, unterließ es jedoch und warf das Päckchen auf den Beistelltisch. »Nennen Sie ihn Danny.« Danny Carton saß, an einen Stoß Kissen gestützt, auf seinem Bett, das mit einer Seite direkt unter dem einzigen Fenster stand. Das fiel Clarke sofort auf. Das Zimmer war klein, zehn Quadratmeter groß, aber so eingerichtet, dass der wenige Platz gut genutzt war. An einer Wand waren Bretter angebracht, auf denen ein kleiner Fernseher, ein CD-Spieler und ein PC standen. Die Seite links davon war vom Boden bis zur Decke als Regalwand 799

genutzt, sie war voller Computer-Handbücher, Jahrbücher irischer und englischer Fußballvereine sowie Zeitschriften aller Art. In einer Ecke fanden sich Fahrpläne von Zügen, Fluglinien und Bussen, alles geradezu penibel geordnet. An den freien Wänden hingen Poster des FC Liverpool. Danny Carton lächelte, als seine Mutter das Zimmer betrat, runzelte jedoch sofort die Stirn, als die drei Detectives ihr verlegen folgten. »Ist schon okay, Danny«, versicherte ihm seine Mutter. »Das sind Kriminalbeamte. Sie möchten nur über deine Hobbys mit dir reden.« Danny blickte sie verwundert an. »Du weißt schon, die ganzen Statistiken von diesem Gebiet.« Annie Carton zwinkerte Molloy verschwörerisch zu. »Danny nennt seine Arbeit statistische Analyse.« Sie wandte sich wieder lächelnd ihrem Sohn zu, dessen Gesicht aufleuchtete. Clarke hinkte zum Bett und setzte sich schwer ans Fußende. Es knarrte und gab ein wenig nach. »Seien Sie vorsichtig«, warnte Danny. »Die Schwester hat sich mal dort hingesetzt, das Bett hat diese Belastung nicht ausgehalten. Aber die Schwester war auch ziemlich massig, ein richtiges Schwergewicht.« Die Stimme kam schleppend und klang näselnd. Der Junge hatte kurzes, gerade geschnittenes rotes Haar, und das Gesicht war voller Sommersprossen. Seine Augen wirkten intelligent und wachsam, und einen Moment lang konnte Clarke den Mann hinter dem Jungen spüren, und er fühlte Mitleid mit ihm. Eine Gesichtsseite hing leicht herab, und Speichel sammelte sich im Mundwinkel. Clarke bemerkte, dass der Plastikpapierkorb neben dem Bett voll benutzter Papiertaschentücher war. Danny trug 800

Jeans, über den Knöcheln abgeschnitten, und ein schwarzes TShirt. Er hielt einen Kugelschreiber in der Linken, und auf der gehäkelten Bettdecke lag ein einfaches liniertes Schreibheft. Es war aufgeschlagen, und Clarke las aus den Augenwinkeln das heutige Datum. Es war rechts oben mit sorgfältigen Großbuchstaben, wie von Kinderhand, geschrieben, gefolgt von weiteren Eintragungen. Er deutete mit dem Kopf auf das Heft. »Stehen wir darin?« Danny blickte darauf und drehte es mit dem Kugelschreiber nervös mehrmals herum. Schließlich hob er es hoch und hielt es dicht vors Gesicht. »Seine Augen sind nicht sehr gut«, erklärte Annie und schaltete eine Tischlampe ein. Das Zimmer wurde dadurch eine Spur heller, und an der Wand hoben sich groteske Schatten ab. »Ja.« Danny grinste und wischte frischen Speichel ab. »Ich hab Sie kurz vor Mitternacht eingetragen.« Kavanagh fluchte leise. »Wenn Ma Sie später reingelassen hätt, hätt ich eine neue Seite anfangen müssen.« Er lachte nervös und laut. »Tragen Sie alles ein, Danny?«, fragte Clarke. »Nur was ich selber sehe. Meine Ma erzählt mir manchmal, wenn sie was sieht, aber das gilt nicht.« »Darf ich das Heft sehen, Danny?« »Nein«, wehrte Danny energisch ab. »Ah, komm schon, Danny«, beschwatzte ihn seine Mutter. »Zeig dem Mann das Heft. Er ist doch Polizist. Erinnerst du dich, wie du mich immer gebeten hast, der Polizei dein Heft mit den Autonummern zu zeigen? Erinnerst du dich? Wie wir noch drüben in Rathmines gewohnt haben?« Annie erklärte, dass Danny stundenlang Kennzeichen von Autos aufgeschrieben hatte, die an der Ampel vor dem alten Kino in 801

Rathmines, einem weiteren Vorort von Dublin, hatten anhalten müssen. Sie hatten dort in einer Einzimmerwohnung gelebt. »Kurz bevor mein Mann gestorben ist«, fügte sie erklärend hinzu. »Mit dem Geld von seiner Lebensversicherung konnten wir hierher ziehen.« Molloy unterdrückte ein Gähnen und nickte mitfühlend. »Ich möchte mir nur eine Eintragung ansehen«, beruhigte Clarke den Jungen, als er dessen besorgtes Gesicht sah. Danny blickte auf. »Von der Nacht, wo das amerikanische Mädchen umgebracht worden ist?« Alle erstarrten. Annie Carton wollte etwas sagen, aber Molloy hielt sie mit einem festen Griff um ihr Handgelenk davon ab. Clarke versuchte ruhig zu bleiben und zupfte Fusseln von der Bettdecke. »Nun, es wäre uns eine große Hilfe, wenn Sie etwas über diese Nacht wüssten.« »Über den Mann, der dort drüben aus dem Park gelaufen ist?« Wieder wischte Danny Speichel aus dem Mundwinkel, dann legte er das Heft auf das Bett. Mit langsamen, unsicheren Bewegungen blätterte er darin. Niemand sagte etwas. Draußen fuhr ein Wagen vorbei, seine Scheinwerfer zeichneten Schatten an die Wand. Danny blickte aus dem Fenster und sah ihm nach, bis er verschwand. »Das ist ein Toyota Corolla!«, erklärte er triumphierend und blätterte wieder zum heutigen Tag zurück. Schwerfällig trug er seine Beobachtung auf der linken Seite ein. Annie Carton ging zum Bett und begann die Decke glatt zu streichen. »Danny«, bat sie, »zeig ihnen die Seite, die sie sehen möchten.« Danny blätterte wieder zurück. »Montag, 18. Mai«, begann er, 802

als er die Seiten umschlug. »Sonntag, 17. Mai; Samstag, 16. Mai... Ich hab drei verschiedene Datums an diesem Tag gesehn.« Er setzte seine bedächtige Suche fort. »Donnerstag, 14. Mai... 18.30 Uhr, ein großer Mann und ein junges Mädchen haben am Trafohäuschen in der Mercers Road gestanden.« Molloy unterbrach ihn. »Das stimmt, Danny. Das waren ich und eine Bekannte. Wir haben etwas gesucht.« Danny tupfte auf seinen Mundwinkel. »Dort verstecken die Mädchen ihre Schultaschen.« Clarke blickte zu Molloy hinüber. Er sah die Aufregung des anderen. Nun stand fest, dass Danny Cartons Tagebuch sowohl akkurat als auch detailgenau war. »Montag, 11. Mai.« Danny legte eine kurze Pause ein und hielt die Seiten näher ans Gesicht, seine Augen wanderten hin und her, als er seine Eintragungen vorlas: »21.47 Uhr, Schreie aus dem Sandymount Park. 22.11 Uhr, ein Mädchen schreit.« Clarkes Herz begann zu hämmern. »22.23 Uhr, Mann rennt von der Seite aus dem Sandymount Park auf die Mercers Road.« Molloy unterbrach ihn. »Sind Sie da ganz sicher, Danny? Es ist wichtig. Sie haben einen Mann aus dem Park in diese Richtung und dann die Straße hinunterlaufen sehen?« Danny wischte sich den Mundwinkel ab, blickte nochmal auf die Seite und legte das Heft nieder. Er sah sehr müde aus. »Ja, das hab ich geschrieben.« Clarke rutschte näher und griff nach einer Hand des Jungen. »Das haben Sie großartig gemacht, Danny. Können Sie sich erinnern, ob das Mädchen da noch geschrien hat? Ob überhaupt noch jemand geschrien hat?« Danny blickte nicht auf seine Eintragungen. »Nein. Es war ganz still geworden. Daran erinnere ich mich genau.« Er blickte wie803

der auf das Heft. »Der Mann ist schnell davongefahren. Ich hab gehört, wie die Reifen quietschten.« Molloy fasste Annie Carton an den Schultern und drückte sie ganz fest. »Sie kennen sich sehr gut mit Autos aus, Danny, Sie kennen offenbar alle Typen. Haben Sie auch eingetragen, was es für ein Wagen war?« Danny hob das Schreibheft vor die Augen. »Ich hab es nicht gekannt. Ich würd sagen, es war eine amerikanische Marke. Es war groß und schwer. Es hat einen starken Motor gehabt.« Molloy runzelte die Stirn. »Wieso ein amerikanischer Wagen?« Danny warf ein nasses Papiertaschentuch in den Plastikeimer und blickte aufgeregt hoch. »Ich hab hingeschaut. Das Lenkrad war links.«

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8.37 Uhr Dienstag, 19. Mai Der Goon wartete wieder. Joan saß auf einer Metallbank an der Haltestelle Sydney Parade Avenue in Sandymount. Das Licht der Morgensonne wurde durch die Bäume gefiltert, und es war noch verhältnismäßig kühl. Auf den Seitenstraßen herrschte dichter Verkehr, und es roch nach Dieselöl. Die Bahn traf pünktlich ein, eine kleine Gruppe von Angestellten und Geschäftsleuten stieg aus. Die Frauen trugen leichte Blusen, die Männer Nadelstreifenanzüge. Sie redeten in ihre Handys und bemühten sich, wichtig auszusehen. Joan Armstrong stieg mit drei Klassenkameradinnen in die Bahn. Sie unterhielten sich angeregt über die Schule, über Jungs, über Prüfungen, über Jungs, über die Sommerferien, über Jungs. Ein Mädchen begann über seine Pickel zu klagen, und die Übrigen 804

begutachteten sie der Reihe nach und erteilten gute Ratschläge. Sie fühlten sich unbeschwert und fröhlich. Sogar Joan Armstrong. Bis sie den Goon entdeckte, der in denselben Wagon eingestiegen war. Wie meistens strich er mit der Zungenspitze über seinen Schnurrbart. Joan versuchte nicht in seine Richtung zu blicken. Sie setzte sich auf einen anderen Platz, mit dem Rücken zu ihm, und interessierte sich scheinbar für Hockey, ein Spiel, von dem sie kaum etwas verstand. Der Goon ging an ihr vorbei, dann drehte er sich um und blickte sie mit einem schiefen Grinsen an. Eine seiner vielen Angewohnheiten, die Joan nicht ausstehen konnte. Der Zug erreichte die Haltestelle Blackrock, wo die Mädchen der Klosterschule gewöhnlich ausstiegen. Joan bemühte sich, durch die Menge zu schlüpfen, aber brutale Finger umklammerten plötzlich ihr linkes Handgelenk und ließen sich nicht mehr abschütteln. Während die Fahrgäste den Bahnsteig entlanggingen, zerrte der Goon das Mädchen zur Seite. »Mo will mit dir reden, Joan. Er hat mich geschickt, damit ich dich zu ihm bring.« Er bemerkte plötzlich, dass Joans Mitschülerinnen ihn anstarrten, und ließ sie los. Joan Armstrong rannte davon und versuchte ihre Angst unter übertriebenem Lachen zu verbergen. »So ein aufdringlicher Reporter!«, rief sie, als sie sich in Sicherheit wähnte. »Er bildet sich ein, ich wüsste noch was über Jennifer, was ich nicht gesagt hab.« Der Spott der Mädchen verfolgte den Goon. Sie sahen nicht, wie er vor Wut die Fäuste ballte.

10.12 Uhr »Er ist noch nicht so weit.« »Wir müssen aber mit ihm reden!« 805

»Sie können mit ihm reden, so viel Sie wollen, ich kann nur nicht garantieren, dass Sie vernünftige Antworten bekommen.« Jim Clarke hatte Patrick Dillon am Telefon. »Es wurde ohne Zweifel ein zweiter Mann gesehen!« Clarke versuchte seine Aufregung zu unterdrücken. »Jemand rannte auf der hinteren Seite aus dem Park hinaus und fuhr in einem schweren Wagen davon. Ihre Theorie hat was für sich.« »Freut mich zu hören.« »Es ist nur, Kelly ist der einzige Verdächtige hinter Gittern. So wie es aussieht, wird er nicht mehr aus dem Gefängnis rauskommen.« »Er wird nicht mehr aus dem Krankenhaus rauskommen«, berichtigte Dillon ihn sofort. »Aber wir können mit ihm reden, wie Sie sagten?«, Clarkes Erregung wuchs. »Wenn ich dabei bin, ja.« Dillon legte die Regeln fest. »Und es darf jeweils nur einer von Ihnen zu ihm.« »Okay.« »Keine Kugelschreiber und kein Papier. Wenn Sie sich etwas merken

wollen,

sollten

Sie

ein

Diktafon

benutzen.«

»Einverstanden.« »Oder lieber«, fügte Dillon hinzu, »eines dieser kleinen Mikroföne, die er nicht sehen kann. Er ist so paranoid, dass er sofort weglaufen würde, wenn er glaubte, Sie versuchten seine Gedanken aufzuzeichnen.« Clarke notierte es sich. »Sonst noch was?« »Wir müssen vorgehen, wie es sich gerade ergibt. Er ist immer noch verwirrt und benommen. Vielleicht erinnert er sich an etwas, vielleicht auch nicht.« 806

»Okay.« Der Verkehr durch die nördlichen Stadtteile von Dublin war dichter als üblich, weil die Straßen für neue Gasleitungen aufgerissen waren. Kurz vor der Schnellstraße hielt sie ein Laster auf, der Erdhaufen von einem Loch zum anderen transportierte. Clarke und Molloy, die im Fond saßen, sahen ihm zu und bemühten sich, ihre Ungeduld zu zügeln. »Man könnte meinen, sie haben mit voller Absicht bis heute gewartet, bloß um uns zu ärgern«, jammerte Molloy. »Zumindest sind die Straßen trocken«, rief Kavanagh über die Schulter, um den Lärm der schweren Maschinen zu übertönen. Der Morgen hatte mit blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein begonnen. Wohltuende Wärme vertrieb die Kälte der Nacht. Es versprach ein schöner Tag zu werden. In seiner Zelle im Rockdale Hospital saß Micko Kelly auf dem Bett und starrte durch das vergitterte Fenster. Er fuhr mit der Rechten durch die ersten Millimeter seines nachwachsenden Haars und betastete die Bartstoppel an seinem Kinn. Hunger und Durst waren die ersten Anzeichen, dass es ihm besser ging. Er trug einen frischen Krankenhauspyjama, der ihm sogar verhältnismäßig gut passte. Um besser hinaussehen zu können, stellte er sich auf das Fußende des Bettes und seufzte tief. Er wollte raus aus der engen Zelle. Er musste urinieren, und eine alte Gewohnheit führte ihn zum Waschbecken, obwohl es ein Klosett in der Ecke gab. Unwillkürlich blickte er in den Spiegel über dem Waschbecken und staunte über sein verändertes Aussehen. Er erkannte sich kaum. Sein langes, strähniges Haar war verschwunden, sein Gesicht rasiert, nur seine Augen waren noch eingefallen und hatten denselben Gelbstich. Er musterte seine Hände und 807

wunderte sich, wie kurz und sauber seine Nägel waren. Einen Moment lang freute er sich darüber, doch dann wurde er verwirrt und misstrauisch. Wo waren seine Nägel und sein Haar? Wer hatte sie ihm weggenommen? Warum hatte man sie ihm weggenommen? Er schlurfte die wenigen Meter zwischen Tür und Wand hin und her, als Schlüssel rasselten. Abrupt setzte er sich. »Da ist dein Frühstück.« Ein stämmiger Wärter schob ein Wägelchen in die Zelle und stellte ein Plastiktablett auf das Bett. »Ich lasse die Tür offen, dann kannst du rein- und rausgehen, wie du willst. Aber keine Verrücktheiten wie gestern!«, fügte er hinzu. Kelly hielt die Augen gesenkt. Der Wärter schob das Wägelchen zu der nächsten Zelle. Kelly blickte auf das Tablett. Es gab das Gleiche wie fast jeden Tag: Cornflakes in einer Plastikschale, in der ein Plastiklöffel steckte, einen Plastikbecher voll Milch. Bereits mit Butter bestrichener Toast auf einem Plastikteller, in einem Plastikschälchen Marmelade, die mit einem Plastikmesser aufgetragen werden konnte. Hunger drängte Kelly zu essen, aber er hatte Angst. Der gestrige Morgen war die Hölle gewesen. Als er auf die Cornflakes hinuntergeschaut hatte, war da ein Gesicht gewesen. Nein, nicht ein Gesicht, sondern viele Gesichter und alle gleich. Auf jeder einzelnen Flocke das Gesicht eines jungen Mädchens mit weit aufgerissenem Mund, als schreie sie. Sie hatte dunkles Haar. Er kannte das Gesicht nicht, und trotzdem war etwas daran vertraut. Das beunruhigte ihn noch mehr. Er hatte die Schale ignoriert, bis der nagende Hunger in seinen Eingeweiden so groß war, dass er essen musste. Er hatte den Blick von den Flocken abgewandt und 808

die Milch darüber gegossen. Aber da war Blut aus dem Plastikbecher geflossen. Warmes, blubberndes, dickes, klebriges Blut. Er hatte schreien wollen, doch der Schrei war ihm in der Kehle stecken geblieben. Das Blut hatte sich über die winzigen Gesichter in der Plastikschale verteilt und sie herumgewirbelt. Die mit dunklem Haar eingerahmten und mit weit aufgerissenem Mund schreienden Gesichter waren bald blutbedeckt. Kelly hatte den Löffel aus der Schale zum Mund geführt. „Koste ihr Blut!« Vor Angst schreiend, hatte er die Schale mit Cornflakes und Milch auf seine Schlafanzughose fallen lassen. »Es ist ihr Blut! Es ist ihr Blut!« Er raste auf den Korridor und versuchte sich von der Masse zu befreien, die an seinem Pyjama klebte. »Ich steck in ihrem Blut!« Er hatte sich den Schlafanzug vom Körper gerissen und sich von Panik erfüllt in einer Ecke zusammengekauert. Der Wärter hatte vierzig Minuten lang sanft auf ihn einreden müssen, um ihn schließlich ruhig zu stellen. Jetzt spähte Kelly auf die Cornflakes und erwartete schon fast, wieder Gesichter zu sehen. Doch nur knusprige goldene Flocken drängten sich arglos in der Schale. Er zwang sich, einen Blick in den Becher zu werfen, und stellte erleichtert fest, dass er voll weißer Flüssigkeit war. Jetzt verschlang er endlich sein Frühstück, genoss den Geschmack und war glücklich, dass alles normal war. Die Stimmen in seinem Kopf waren weniger einschüchternd, weniger oft zu vernehmen und erschreckten ihn nicht mehr wie sonst. Seine Halluzinationen ließen nach, doch seine Paranoia war noch wach. Wenn er die Zelle verließ, blickte er immer misstrauisch über die Schulter, und sein Blick war unstet. 809

Er mied Annäherungsversuche, und seine einzigen Worte waren »ja« oder »nein« oder »fuck off«. Seine Mitpatienten gaben auf, sich mit ihm zu unterhalten, und erzählten ihre verrückten Ideen anderen. Die Wärter bemerkten Fortschritte, und Kelly nahm seine Antidepressiva und auch die Medikamente gegen seine Drogenabhängigkeit, ohne sich dagegen aufzulehnen. Er stabilisierte sich. Er sah besser aus. »Ich muss mit Ihnen reden.« Patrick Dillon setzte sich auf die Bettkante und bemühte sich, Blickkontakt herzustellen. Aber Kellys Blick flackerte überall hin, nur nicht zu dem Gesicht des Mannes ihm gegenüber. »Er ist kein Freund, Michael. Er will deine Seele!« Dillon kam näher, und Kelly fuhr zurück wie vor heißem Stahl. Er kroch vom Fußende des Bettes in eine Ecke, zog die Knie an und schlang die Arme um sie. »Fuck off!«, rief er furchtsam. »Fuck off!« Dillon wartete einen Moment. »Michael, ich muss mit Ihnen reden. Etwas Schreckliches ist passiert, und Sie haben vielleicht damit zu tun.« »Fuck off!« Dillon wartete fünf Minuten. Er blickte auf seine Uhr. Es war fast Mittag. Er hatte ein Treffen um zwölf Uhr im äußeren Garten vereinbart, wo Kelly sich vielleicht weniger eingeschüchtert fühlen würde, wie er meinte. Die Wärter hatten ihn gewarnt, nicht zu viel zu erwarten. Sie waren nicht glücklich darüber, dass Kelly so früh schon befragt werden sollte. Ein Sonnenstrahl erhellte die Zelle. Draußen schien die Sonne, und Schäfchenwolken zogen über den Himmel. Die Luft war warm. »Möchten Sie ein bisschen ins Freie gehen, um sich die Beine in der Sonne zu 810

vertreten?« Kelly blickte ihn zum ersten Mal an. Aus seinen Augen sprach eine Mischung aus Argwohn und Erwartung. Er schwieg. Der Psychiater stand auf, streckte sich und gähnte. Er trat an das vergitterte Fenster und schaute hinaus. »Da draußen ist ein schöner Garten. Gehen wir doch ein wenig spazieren, wir können uns dann auch auf einer Bank etwas ausruhen.« Er verließ die Zelle und sprach zu einem der Wärter. Kelly vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete, dann schlich er auf Zehenspitzen zum Fenster. Er blickte hinunter auf die Grünfläche. Das Rockdale Hospital war um einen Garten herum erbaut worden. Es hatte vier Flügel, einen in jeder Himmelsrichtung. Von allen Einzelzellen konnte man in den Garten sehen, die Verbindungskorridore erstreckten sich entlang der Außenwände. Der Garten war ziemlich groß, etwa dreihundert Quadratmeter Rasen und Büsche mit plätschernden Bächen und dekorativen kleinen Wasserfällen. Über einen der Bäche führte eine schmale Brücke. Diese Szenerie sollte das Gefühl von Ruhe und Harmonie vermitteln. Die Grasflächen wurden von Patienten gepflegt, denen man Gartenwerkzeug und Rasenmäher anvertrauen konnte. Einmal, in den fünfziger Jahren, war einer der Insassen allerdings falsch beurteilt worden. Er hatte einem Mitpatienten eine Heugabel in den Hals gerammt. Seither gab es keine scharfen und spitzen Werkzeuge mehr. Während Kelly hinunterschaute, schwand sein Wille, sich zu widersetzen. Er sehnte sich danach, aus der Station und der kleinen Zelle herauszukommen, fort von den verhassten Mitpatienten. Er drückte sich dichter an die Gitterstäbe, um mehr sehen zu können. Der blendende Sonnenschein verwirrte ihn. Er war zor811

nig und unsicher, wusste nicht, warum er hier war und ob er je wieder hinauskommen würde. Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, was geschehen war, bemühte sich, seine Situation zu verstehen. Zwar schössen plötzlich kurze klare Erinnerungen durch seinen schmerzenden Kopf, aber es klafften große Lücken. Es wollte ihm einfach nicht einfallen. Blut blockierte sein Gedächtnis. Dickes, klebriges, sickerndes, leuchtend rotes Blut. Kelly konnte es beinahe riechen. »Kommen Sie?« Dillon war zur Tür zurückgekehrt. »Er hat dein Haar und deine Nägel gestohlen. Er wird dir auch die Seele stehlen!« Kelly blickte ihn düster an. »Wir lassen nicht viele ins Freie«, sagte Dillon. »Das könnte Ihre einzige Chance sein.« Er ging den Korridor entlang und steckte einen Schlüssel in das zugesperrte Tor. Ein misstrauischer und wütender Micko Kelly schlich aus seiner Zelle. »Warte, du Arschloch!«, brüllte er. »Ich komme.« Ein Wärter folgte ihm im Abstand von zehn Schritten. Das Trio ging durch die hohen Korridore, durch schnell aufgesperrte und hinter ihnen ebenso schnell wieder versperrte Türen, vorbei an Isolierstationen und Behandlungszimmern. Verwirrte Gesichter starrten zu ihnen heraus. Sie erreichten das Erdgeschoss. Als Dillon auf den Rasen trat, hielt Kelly erschrocken an. Misstrauisch ließ er den Blick schweifen. Der Wärter wartete geduldig. Vorsichtig trat schließlich auch Kelly auf die Grünfläche. Die warme Landluft überraschte ihn. Er sog sie ein und genoss die unterschiedlichen Düfte. In seinem Kopf warnten Stimmen, aber er war so freudig erregt, dass er sie verdrängte. Dillon schlenderte gemächlich zu einer quadratisch angelegten Kiesfläche in der Mitte, wo zwei Holzbänke standen. Er gab sich betont entspannt, als er sich auf 812

eine setzte. Seine Bewegungen warfen schwache Schatten auf den Rasen. Er legte beide Hände hinter den Nacken und verschränkte sie. Mit zufriedenem Seufzen schloss er die Lider und genoss die warme Sonne. Der paranoide Kelly beobachtete ihn abwartend vom Rand des Rasens aus. »Kommen Sie her. Es ist herrlich warm in der Sonne.« Dillon achtete wachsam auf plötzliche Bewegungen hinter seinem Rücken. Sein Schutzinstinkt war nie schärfer gewesen. Man hatte ihn davor gewarnt, unnötige Risiken mit Kelly einzugehen. Er war immer noch als gefährlich und unberechenbar eingestuft. Kelly trottete nun über den Rasen. Er staunte über die Eindrücke, die seine Füße in dem schwindenden Tau hinterließen. Er trug immer noch seinen

Krankenhauspyjama, dazu ein Paar

abgetragene Slipper, die ihm viel zu groß waren. Alle drei oder vier Schritte blieb er stehen, und es schien, als lauschte er fernen Geräuschen, dann rieb er beide Hände über die Haarstoppeln auf Kopf und Kinn und bewegte sich vorsichtig weiter. Schließlich scharrte er mit dem rechten Fuß in der weichen Rasenerde wie ein Stier vor einem Angriff. Dann rannte er blitzschnell zu einer der Bänke, kauerte sich auf den Sitz und starrte Dillon misstrauisch an. Die abgehackten Bewegungen überraschten den Psychiater,

und

seine

entspannte

er sich,

Wachsamkeit

als

Kelly das

wuchs.

Doch

Gesicht der

dann Sonne

entgegenstreckte und die Augen schloss. Sie hörten Jim Clarke herbeikommen, lange bevor sie ihn sahen. Das Nachziehen eines Beins und das Knirschen der Krücke auf dem Kies ließen sie aufhorchen. Kelly blickte ihm argwöhnisch entgegen. Clarke ließ sich neben Dillon auf die Bank fallen und streckte sein kaputtes Bein aus. 813

»Pass auf diesen Bastard auf, Michael. Du darfst ihm nicht trauen.« Die Paranoia kehrte zurück. Die Stimmen in Kellys Kopf redeten wirr durcheinander. Er stand auf und begann aufgeregt um die Bank herumzugehen, dabei blieb er immer wieder stehen und lauschte. Erneut rieb er seine Haar- und Bartstoppeln mit beiden Handflächen. Dieses bizarre Benehmen hielt mindestens fünf Minuten lang an. »Michael«, begann Dillon. Kelly hatte sich wieder auf die Bank gesetzt. »Ich muss mit Ihnen reden. Dieser Mann«, er deutete auf Clarke, »ist gekommen, um Ihnen zu helfen.« Dillon beugte sich nach vorn, beide Ellbogen auf die Knie und das Kinn auf die Handteller gestützt. »Wir sind uns nicht sicher. Wir wissen nicht, ob Sie etwas getan haben, aber Sie waren dort, daran besteht kein Zweifel. Wir hätten gern, dass Sie uns erzählen, was passiert ist.« Kelly starrte auf den Kies. Plötzlich sprang er hoch und stolperte erregt um die Bank herum. Abrupt setzte er sich wieder. Er blickte zu Dillon hinüber. »Fuck off!« Es war wenig Kraft in seiner Stimme, keine Überzeugung in seinem herausfordernden Benehmen. Es klang unsicher. Dillon schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. In der Ferne sprang der Motor eines Traktors an und scheuchte Krähen in die Luft. Aus den Zellenfenstern starrten Patienten mit leeren Augen herunter. »Können Sie sich an irgendetwas erinnern, bevor Sie hierher kamen?«, fragte Dillon. »Ein junges Mädchen wurde ermordet. Eine Achtzehnjährige wurde in einem Park erstochen.« Kelly fing zu zittern an. »Sie waren zur selben Zeit im Park. Alle geben Ihnen die Schuld. Wir brauchen Ihre Hilfe, um die Wahrheit herauszufinden.« 814

Dillon beugte sich vor. »Was ist in jener Nacht passiert? Was ist mit Jennifer Marks passiert?« Jennifer, Jennifer. Die Brüllerin! Schweiß perlte auf Kellys Stirn. Seine Gliedmaßen zitterten. Er legte die Hände um beide Beine und versuchte verzweifelt seiner Erregung Herr zu werden. »Wer hat sie erstochen? Wer war außer Ihnen noch dort? Sie müssen sich erinnern. Es ist Ihre einzige Hoffnung, hier herauszukommen.« Dillon schaute sich um. »Sonst werden Sie in diesem Krankenhaus bleiben müssen. Für immer!« Kelly ging erneut um die Holzbank herum. Er fing an, mit sich zu reden, es war eine Mischung aus nervösem Lachen und wütendem Knurren. Sein Blick huschte zur Seite. Dillon stand auf und drückte ihn zurück auf die Bank. »Was ist in jener Nacht geschehen?« Er fasste ihn an den Schultern. »Wer war bei Ihnen? Wer hat Jennifer Marks getötet?« Kelly blickte auf seine Hände hinunter. Sie waren voller Blut. Das Blut troff von jedem Finger. Er rieb sie heftig an seinem Schlafanzug ab, um sie säubern. Aber sein bisschen Verstand gönnte ihm keine Erleichterung. »Wer hat Jennifer Marks getötet?«, schrie Clarke. In Kellys Kopf herrschte Aufruhr. Er bebte heftig am ganzen Körper. »Wer hat Jennifer Marks getötet?« Die Schreie hallten von den Granitwänden wider, und noch mehr Patienten drängten sich an die Fenster, um zuzuhören. »Wer war bei Ihnen?« Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl! Einen flüchtigen Moment lang erinnerte sich Micko Kelly an alles. Er sah ein Gesicht, hörte die Schreie eines jungen Mädchens und das wütende Brüllen eines Mannes. Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl! Er sah ein Messer in der Nachtluft blitzen. Dann rannte er. Er rannte von 815

einem Ende des Gartens zum anderen, hin und zurück, hin und zurück. Doch es gab keinen Platz, an dem er sich in Sicherheit bringen konnte. Die Wärter brauchten dreißig Minuten, um ihn zu erwischen und ruhig zu stellen. Clarke brauchte bei weitem nicht so lange, um zu erkennen, dass er Probleme hatte. Große Probleme.

12.27 Uhr Vierundzwanzig Kilometer entfernt hatte Linda Speer ihre Koffer gepackt und in einer Ecke ihres Apartments in der Nähe des Mercy Hospitals abgestellt. Sie checkte ihr Flugticket DublinAmsterdam, das auf einen falschen Namen ausgestellt war. Es war vereinbart, dass die Aktien sofort verkauft würden, sobald ihr Richtpreis auf 22,50 US-Dollar gestiegen war. Verkaufen, verkaufen, verkaufen! Cynx-Aktien würden wie Konfetti auf den Geldmarkt geworfen werden. Sie hatte alles bis ins Letzte geplant. Außer was Frank Clancy betraf. Er konnte nicht aufgespürt werden. Das beunruhigte sie. Er wusste zu viel. Aber sie arbeiteten daran, hatten einen Hinweis. Speer blickte auf die Uhr, dann zündete sie sich ihre sechste Mentholzigarette innerhalb einer Stunde an. Morgen um neunzehn Uhr würde alles vorbei sein. Dann hieß es goodbye, Dublin. Und goodbye, Frank Clancy, du wirst bald ein toter Mann sein!

14.32 Uhr »Es bleibt nur noch dieser Mann.« Auf dem Sandymount Polizeirevier berichtete Tony Molloy über die neueste Entwicklung. Kavanagh und Clarke saßen bei ihm. Die drei hatten das Zimmer für sich und betrachteten gerade drei 816

vergrößerte Aufnahmen, die Molloy an eine Wand geheftet hatte. Es handelte sich um Fotos der Neugierigen, die sich am Morgen, nachdem Jennifer Marks' Leiche gefunden worden war, an das Parkgitter gedrängt hatten. »Wir haben die Namen zu den Gesichtern gefügt und zweimal überprüft. Dieser Mann«, Molloy deutete mit der Spitze seines Kugelschreibers auf eine schattenhafte Gestalt, »ist der Einzige, den wir nicht aufspüren konnten.« Er griff nach einem Blatt Papier und überflog es. »Zwei Personen, ein dreiunddreißigjähriger Lehrer und eine achtzehnjährige Büroangestellte standen, als die Aufnahme gemacht wurde, neben beziehungsweise hinter ihm. Sie sind sicher, dass er ein schwarzes Toupet trug und eine Sonnenbrille. Außer ihm hatte niemand eine Sonnenbrille auf, denn so hell war es zu dem Zeitpunkt nicht.« »Wir müssen ihn finden«, sagte Clarke. Er stieß mit seiner Krücke nach einem Stuhl. »Lassen Sie fünfzig Kopien machen und diese verteilen. Er muss aufgespürt werden!« Er klopfte Kavanagh auf die Schulter. »Wer ist Ihr Freund bei der Post, ich meine den Gerichtsreporter?« »Barry Nolan.« »Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, dass wir nach einem zweiten Verdächtigen suchen, dass Kelly nicht der einzige ist.« »Großer Gott, Chef«, warnte Kavanagh. »Das ist, als stocherten wir in einem Wespennest herum. Die Zeitungen werden durchdrehen.« Clarke ignorierte die Besorgnis seines Betreuers. Er hinkte zu dem Bild und betrachtete angespannt auf allen drei Bildern den unbekannten Mann. Durch die Vergrößerungen waren sie grobkörnig geworden, trotzdem ließen sich genügend Einzelheiten 817

erkennen. Er nahm ein Vergrößerungsglas vom Tisch, betrachtete damit alle drei Bilder, die ihm dieselbe kleine Gruppe aus verschiedenen Perspektiven zeigte. Molloy beobachtete ihn mit einem amüsierten Lächeln. Clarke winkte ihn näher heran. »Fällt Ihnen auf, wie groß er im Vergleich zu den anderen ist?« Molloy sah sich die drei Bilder noch einmal eingehend an. »Ja.« »Sehen Sie auch, dass er immer geradeaus blickt?« Sein Zeigefinger wanderte von einer Vergrößerung zur nächsten. »Schauen Sie sich die anderen Gesichter an. Merken Sie, dass sie sich bewegt haben, dass sie sich umsehen?« Molloy studierte die Bilder nun in einem anderen Licht. Jedes hatte einen unterschiedlichen Augenblick eingefangen, spiegelte die Bewegungen der Zuschauer wider, ihre veränderte Haltung, die Drehung ihres Kopfes, die zum Gesicht gehobene Hand. Nur bei einem war es anders. Auf allen drei Bildern hatte der unbekannte Mann mit dem Toupet und der Sonnenbrille die gleiche Haltung. Sein Blick war unbewegt geradeaus gerichtet. »Scheuchen wir den Bastard auf!«

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Boston, Massachusetts, 10.00 Uhr Ortszeit Frank Clancy wartete im sechsten Stock des Springton Hospitals auf Dr. Harry Walters. Auf der ganzen Etage wurden Blutkrankheiten erforscht und behandelt. Clancy erkannte gleich bei seinem Eintreffen die vertraute Einrichtung. An die Krankenzimmer schloss sich das Laboratorium an. Patienten unterhielten sich gedämpft, während andere, an IV-Tropf-Ständern angeschlossen 818

und Bluttransfusionsbeutel haltend, gelangweilt herumspazierten. Er beneidete das Personal, weil sich alles auf demselben Stockwerk befand, denn er hasste es, im Mercy Hospital ständig zu den Labors ins Untergeschoss und wieder hinaufeilen zu müssen. »Dr. Walters wird gleich hier sein.« Eine zierliche dunkelhaarige Sekretärin bot ihm einen Stuhl an. »Eine Tasse Kaffee?« »Nein, danke, ich habe ziemlich spät gefrühstückt. Aber falls Sie Eiswasser haben?« Clancy fühlte sich in seinen Jeans, dem TShirt und den Joggingschuhen zu leger gekleidet. Springton war ein regelrechter Schock für jemanden wie ihn, der gedacht hatte, er fühle sich in jedem Krankenhaus sofort wie daheim. Es war hier so ganz anders als in Chicago. Der Komplex bestand aus drei massiven, zehn Stockwerke hohen Stahl-Glas-Blöcken, die eng beisammen auf einem etwa achttausend Quadratmeter großen Grund

standen.

ununterbrochene

Die

Energie

Aktivität

des

waren

Personals

irgendwie

und

die

enervierend.

Niemand schlenderte, alle gingen entweder sehr schnell oder rannten. Bremsen ankommender Notarztwagen kreischten. Hier trug das weibliche Personal keine Röcke, sondern lange weiße Hosen unter kurzen weißen Kitteln. Jeder hatte einen laminierten Krankenhausausweis an einem Band um den Hals hängen. Die Gesichter wirkten grimmig, als wäre gerade etwas sehr Unangenehmes

verkündet

worden.

Sicherheitsleute

pa-

trouillierten, und Clancy bemerkte, dass innerhalb von fünf Minuten zwei Personen überprüft wurden. Die Angehörigen des Sicherheitsdienstes trugen dunkelgraue Uniformen, schwarze Schirmmützen und dunkle Brillen, und einige, die rote Streifen an den Ärmeln hatten, sogar Schusswaffen. Sein Versuch, diese 819

Arbeiterameisen anzuhalten, um sich den Weg zeigen zu lassen, wurde erstaunt und mit eiligen Entgegnungen quittiert. Er verlief sich zweimal und erreichte um drei Minuten vor zehn schwitzend und atemlos sein Ziel. Den großen braunen Umschlag hatte er unter den Arm geklemmt. Während er darauf wartete, sich vorzustellen, erklärte die dunkelhaarige Sekretärin jemandem am Telefon, dass Dr. Walters erst Ende nächster Woche einen Termin freihaben würde. Clancy befürchtete, dass das Gespräch mit ihm schon enden würde, kaum dass es begonnen hatte. »Guten Morgen, Dr. Clancy. Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Harry Walters, Chefarzt der Hämatologie im Springton Hospital, war ein beeindruckend aussehender Mann, hoch gewachsen, stahlgraues Haar und ebenso stahlgraue buschige Brauen über auffallend blauen Augen. Seine Nase war fleischig und rot geädert. Er trug einen leichten blauen Anzug, dazu ein weißes Hemd mit feinen roten Streifen und eine marineblaue Fliege. Aus seiner Jackentasche spitzte ein steifes weißes Tüchlein. Wie bei allen anderen hing ein laminierter Ausweis um seinen Hals. Clancy schätzte ihn auf Anfang sechzig, seinem Ausweis nach war er jedoch jünger. Walters lächelte zuvorkommend, als er Clancy die Hand gab, aber sein Blick schweifte ruhelos umher. »Haben Sie mein Fax erhalten?« Clancy fiel mit der Tür ins Haus. »Ja, aber ich kann nicht behaupten, dass ich daraus sehr schlau werde.« Der Akzent erinnerte Clancy an Dan Marks. Tiefe Stimme, leichter New-England-Tonfall. Das »Ich« betont. Walters saß in einem hohen Sessel hinter einem breiten Schreibtisch. Das Sprechzimmer war geschmackvoll in beruhigenden und diskreten blassgrünen und -gelben Tönen eingerichtet. Ein kleiner Strauß 820

dunkelroter Rosen in einer geriffelten Vase bildete einen angenehmen Kontrast. Clancy saß ihm gegenüber in einem schmaleren Sessel. »Nein, das hatte ich auch nicht erwartet.« Er legte den braunen Umschlag auf den Schreibtisch und begann Dokumente herauszuziehen. Walters schaute ihm zu. Ein verwundertes Stirnrunzeln hatte sein Lächeln abgelöst. »Als Erstes möchte

ich

Ihnen

meine

Identität

beweisen.«

Walters'

Stirnrunzeln vertiefte sich. »Das ist meine Approbationsurkunde des Irish Medical Council.« Er schob ein dickes, geprägtes Dokument über den Tisch. Walters betrachtete es kurz. »Das ist die bei uns in Irland vorgeschriebene Versicherungskalte, die bestätigt, dass mir Rechtsschutz in Fällen von angeblichen Kunstfehlern oder Fahrlässigkeit zusteht.« Er legte eine laminierte Karte in Ausweisformat auf den Tisch. »Das ist eine bestätigte Kopie meine Vertrags als fest angestellter Hämatologe am Mercy Hospital.« Zwei DIN-A4-Seiten mit Mercy-Hospital-Briefkopf und -Stempel folgten. »Und das ist mein Reisepass.« Walters betrachtete alles und blätterte im Reisepass zum Lichtbild. Dann blickte er auf Clancys Frisur und blinzelte ungläubig. »Und als Letztes«, fuhr Clancy fort, »meine American-Board-ofHaematologists-and-Oncologists-Urkunde.« Er fügte hinzu: »Ich habe meine Examen in Chicago gemacht.« Walters hob eine Hand und drehte seinen Sessel ein wenig. »Dr. Clancy, Sie bewerben sich nicht um eine Stellung. Was hat Sie veranlasst, in solcher Eile von Irland hierher zu kommen?« Frank Clancy hatte seinen Text den ganzen Morgen lang gepaukt. Er wollte seine Karten nicht sofort aufdecken, jedoch so schnell wie möglich zur Sache kommen. Vor allem wollte er seinen Hals 821

nicht zu weit vorstrecken, ohne sich ein Bild von Walters' Reaktion gemacht zu haben. »Könnten Sie mir sagen, ob Ihnen in den letzten Jahren eine ungewöhnliche Häufung von Agranulozytose-Fällen aufgefallen ist?« Walters lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte den jüngeren Mann gegenüber. »Sie haben den weiten Weg auf sich genommen, um mich das zu fragen?« »Das und noch vieles mehr.« »Und das hätte nicht auf dem üblichen Weg geklärt werden können: per Telefon, Fax, E-Mail? Aus medizinischen Zeitschriften und Statistiken?« Walters rollte seinen Sessel ungeduldig hin und her. »Wenn ich mich nach Fällen in Ihrem Krankenhaus in Dublin erkundigen wollte, glauben Sie, dass ich dann an einem Arbeitstag in Ihrem Büro erscheinen und erwarten würde, dass Sie Ihre Krankenakten für mich durchschauten?« »Nein«, antwortete Clancy, »aber das ist kein gewöhnliches Ersuchen.« »Da muss ich Ihnen Recht geben«, bestätigte Walters. »Ich darf das Risiko nicht eingehen, dass jemand anderer davon erfährt«, versuchte Clancy zu erklären. Ihm war sofort bewusst, dass es merkwürdig klang. »Und ich muss mit den Fakten morgen vor achtzehn Uhr zurück in Dublin sein.« Die Gegensprechanlage summte. Dr. Walters griff nach dem Hörer und lauschte. »Versichern Sie Dr. Goldstein, dass ich gleich für ihn Zeit haben werde. Bieten Sie ihm Kaffee an. Danke, Marlene.« Er legte auf und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich gebe Ihnen noch fünf Minuten, die Sache verständlich zu erklären!« »Okay.« Clancy hatte die Augen halb geschlossen und versuchte 822

sich auf das Allerwesentlichste zu konzentrieren. Lieber Gott, gib mir ein Zeichen, dass ich Recht habe. Gib, dass ich mich nicht lächerlich mache. »Auf meiner Station gab es pro Jahr vielleicht einen Fall von Agranulozytose. Der Grund dafür ließ sich leicht feststellen. Sie kennen die Auslöser selbst, ich brauche sie also nicht aufzuzählen.« »Danke, dass Sie mir das ersparen.« Walters' Finger spielten mit den Tasten der Sprechanlage. »In den vergangenen Monaten hatte ich drei neue Fälle. Ich habe alle drei Patienten verloren. Es war mir nicht möglich herauszufinden, weshalb. Deshalb bin ich hier.« Walters blickte ihn scharf an. »Sie sind wegen eines Gesprächs über die Behandlung von Agranulozytose nach Boston gekommen?« »Nein«, erwiderte Clancy ruhig. »Ich bin hier, um zu erfahren, ob Sie eine ähnlich große Anzahl solcher Krankheitsmerkmale hatten.« Er beugte sich vor und blickte sein Gegenüber durchdringend an. »Und ich möchte wissen, ob sich die Fälle von Agranulozytose wieder auf das normale Maß verringert haben.« Walters verschränkte die Hände und rieb die Knöchel unter dem Kinn. Er zog seine Schleife zurecht, dann drückte er aufs Sprechgerät. »Marlene, noch fünf Minuten. Tut mir Leid.« Er wandte sich wieder seinem Besucher zu. »Dr. Clancy«, sagte er. »Ich kenne die Etikette in Irland nicht, ich habe nie dort gearbeitet. Aber Sie haben in den Staaten studiert und müssen sich mit der hier üblichen Schweigepflicht auskennen, wenn es um vertrauliche Unterlagen geht.« Clancy entgegnete sofort: »Ja, natürlich. Aber ich breche mit der Tradition. Ich bin bereit, die Regeln zu missachten, um Fakten zu 823

bekommen. Ich muss wissen, ob es in diesem Krankenhaus eine ungewöhnliche Häufung von Agranulozytose-Fällen gegeben hat und ob diese Serie ebenso mysteriös geendet hat, wie sie begann.« »Warum Boston?«, fragte Walters. Sein ablehnender Ton war freundlicher geworden. Er saß jetzt hoch aufgerichtet in seinem Sessel. »Warum nicht Chicago, wo Sie doch gearbeitet haben? Warum nicht New York, Los Angeles oder auch Denver?« Er zupfte wieder an seiner Fliege. »Warum Boston?« Okay, dachte Clancy, jetzt ist es so weit. Wage es! »Ich versuche eine mögliche Verbindung zwischen dieser Serie von AgranulozytoseFällen und der Ankunft von Dan Marks, Linda Speer und Stone Colman in unserem Krankenhaus zu finden.« Walters' Gesicht verfinsterte sich plötzlich. »Sie gehen zu weit, Dr. Clancy. Viel zu weit!« Er drückte auf eine Taste an der Sprechanlage. »Ich komme jetzt, Marlene. Entschuldigen Sie sich in meinem Namen bei Dr. Goldstein für die Verzögerung. Und geben Sie Dr. Clancy Kaffee, und rufen Sie ihm ein Taxi.« Er machte eine Pause. »Wo sind Sie abgestiegen? Vielleicht möchten Sie lieber ein öffentliches Verkehrsmittel nehmen?« Frank Clancy langte über den Tisch und schaltete die Sprechanlage aus. Walters blickte empört auf. Sein Gesicht lief rot an. Er versuchte den Schalter wieder zu drücken, aber Clancy hinderte ihn daran. »Dr. Clancy...«, rief er entrüstet. »Gehen Sie jetzt!« Clancy schob Walters in seinen Sessel zurück. Er drehte sich zur Seite. »Wenn ich dieses Zimmer ohne die Informationen, die ich benötige, verlasse, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Medien auf die Sache hinzuweisen. Ich fliege erst am Spätnachmittag ab. Bis dahin kann ich noch eine Menge Interviews geben.« Walters 824

funkelte ihn wütend an. »Wovon zum Teufel reden Sie ? Ich könnte Sie von der Polizei abführen lassen für das, was Sie gerade getan haben.« »Das ist mir verdammt egal!« Clancy lehnte sich über den Schreibtisch und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich habe nicht den weiten Weg auf mich genommen, um mit leeren Händen heimzukehren. Ich brauche Antworten!« Walters funkelte ihn noch immer an. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Vielleicht wird das Ihr Gedächtnis auffrischen.« Clancy schüttelte seinen braunen Umschlag aus und eine kleine blaue Tablette fiel auf den Schreibtisch. »Erkennen Sie das?« Walters strich seine Jacke glatt, griff nach der Pille und betrachtete sie. Er las die Buchstaben CYN auf der einen und XP auf der anderen Seite. Dann schob er sie zurück. »Nein. Sie haben eine Minute, um zu verschwinden, sonst rufe ich den Sicherheitsdienst.« Clancy hatte sich alle Möglichkeiten, wie das Gespräch verlaufen könnte, gründlich durch den Kopf gehen lassen und seine Reaktion geprobt. Er sah sich nun der Möglichkeit Nummer drei gegenüber. Walters' Ablehnung. Es war an der Zeit, mehr preiszugeben. »Dr. Walters«, sagte er, als er sich wieder setzte, »behandeln Sie mich nicht wie einen Idioten. Glauben Sie, ich wäre auf einen irren Verdacht hin von Dublin hierher geflogen? Ich bin mir der Konsequenzen meiner Vermutungen durchaus bewusst. Aber ich weiß viel mehr darüber, als ich bisher erwähnt habe.« Er bluffte. »Ich habe harte Fakten.« Die Wahrheit war, dass er nach Boston gekommen war, um sie sich zu beschaffen. »Und jemand ist mir gefolgt, hat mein Haus durchwühlt und wichtige Unter825

lagen gestohlen. Ich fürchte, dass mein Leben in Gefahr ist. Ich rede nicht von medizinischen Kunstfehlern oder falscher Diagnose. Ich rede von Mord!« Er brach ab, weil ihm klar wurde, dass er schrie. Walters stützte das Kinn auf die Handflächen. Seine Lippen bewegten sich, doch es kam kein Ton heraus. »Wann beabsichtigen Sie zurückzufliegen?«, erkundigte er sich abrupt. Clancy runzelte die Stirn, er hatte keine Ahnung, was sein Gegenüber bezweckte. Er schaute auf seine Uhr. Es war jetzt halb zwölf. »Ich habe einen Delta-Direktflug für fünfzehn Uhr gebucht.« «Nehmen Sie einen späteren«, riet Walters. Er griff nach einem Telefon und wählte. »Wenn Sie Antworten haben wollen, schlage ich vor, dass Sie am Nachmittag wiederkommen.« Am anderen Ende der Leitung meldete sich jemand. »Stellen Sie mich bitte zu Ken Foss durch. Sagen Sie ihm, Dr. Harry Walters vom Springton Hospital ruft an, und auch, dass es sehr dringend ist.« Er legte die Hand über die Sprechmuschel, während er wartete. »Kenneth, wie geht es Ihnen? Gut. Hören Sie, Ken, etwas sehr Interessantes hat sich in unserem gemeinsamen medizinischen Problem ergeben ... ja, genau das ... stimmt.« Er blickte über den Tisch. »In meinem Sprechzimmer sitzt ein Arzt, mit dem Sie sich unterhalten sollten.« Pause. »Siebzehn Uhr, okay?« Walters legte auf und drückte sofort auf die Sprechanlage. »Marlene, Dr. Clancy hat einen Direktflug nach Dublin mit Delta um fünfzehn Uhr vom Logan Airport gebucht.« Er blickte Clancy fragend an. »Buchen Sie bitte einen späteren Flug für ihn. Aber nicht vor zwanzig Uhr.« Verärgertes Gemurmel war aus der Sprechanlage zu hören. Walters ignorierte es. »Und Marlene, sagen Sie alle Termine für heute Nachmittag ab. Dann sehen Sie zu, dass Sie 826

Sam Bawden so rasch wie möglich an den Apparat kriegen. Danke, Marlene.« Er schaltete das Sprechgerät aus und stand auf. »Ich habe eine Menge zu tun, und diese Diskussion hat mich ziemlich aufgehalten.« Er ging zur Tür und drückte auf die Klinke, dann drehte er sich noch einmal um. »Ihre Drohgebärden beunruhigen mich, Dr. Clancy. Ehe wir wieder miteinander sprechen, muss ich mir rechtlichen Rat holen.« Er öffnete die Tür. »Und ich würde Ihnen dringend raten, das Gleiche zu tun.«

33

Dublin, 19.10 Uhr Barry Nolans Exklusivbericht in der Evening Post sorgte nicht nur bei der Polizei für Aufregung. Die Reportage auf der Titelseite war von Fotografien und Hintergrundinformation aus Polizei- und Krankenhausquellen vervollständigt, und auf den Innenseiten fünf, sechs und sieben wurden weitere »erstaunliche neue Enthüllungen« geboten. Es gab mehrere inoffizielle Äußerungen. Allein die Schlagzeile garantierte, dass diese Ausgabe binnen kürzester Zeit vergriffen war. JENNY: EIN WEITERER VERDÄCHTIGER? Nolan berichtete, wie die Ermittlungen in dem »SchulmädchenMord« eine dramatische Wendung genommen hätten. Es gab einen Insiderbericht über Micko Kellys fortgesetzte Unzurechnungsfähigkeit, begleitet von einem alten Polizeifoto. Namentlich nicht genannte Wärter von Rockdale bestätigten, dass er nach einem »zweiten Mann« befragt worden war. Eine weitere Quelle goss Öl ins Feuer mit der Aussage, dass »es ohne Zweifel nicht Kelly war, sondern ein anderer Mann, der aus dem Sandymount 827

Park rannte«. Das Sensationsblatt putschte seine Leser noch mit einer möglichen Schlussfolgerung auf: IST KELLY UNSCHULDIG? Nolan fügte hinzu, dass Presseagenturen auf der ganzen Welt die Story aufmerksam verfolgten. Fernsehcrews von Sky, CNN und zwei größeren US-amerikanischen Sendern hatten ihr Lager in Dublin aufgeschlagen und übermittelten laufend Updates, während sie auf die weitere Entwicklung warteten. Der Reporter eines New Yorker Kabelkanals begann seine Reportage mit den Worten »Amerika fordert Gerechtigkeit!« Jim Clarke wurde vom Commissioner zu einer dringenden Besprechung gerufen. Ehe sie die Innenstadt erreichten, gerieten sie in einen Stau. Clarke vertrieb sich missmutig die Zeit damit, seine ebenfalls im Stau steckenden Mitbürger durch das verschmierte Rückfenster zu beobachten. Einige aßen Hamburger, junge Frauen frischten ihr Make-up auf, und Mütter ärgerten sich über ihre gelangweilten Kinder. Dass er nicht selbst hinter dem Lenkrad sitzen musste, gestattete ihm, die Menschen ringsum zu mustern, und je mehr er sah, desto weniger gefiel ihm. Es war ihm schon seit einiger Zeit bewusst, dass der ständige Schmerz durch sein versehrtes Bein ihn verbittert und griesgrämig machte. Er hatte immer

gesagt,

dass

er

nicht

beabsichtigte,

aus

Gesundheitsgründen in Frühpension zu gehen, weil die Dubliner Unterwelt dann womöglich das Gefühl hätte, den Sieg davongetragen zu haben. Seit kurzem dachte er jedoch darüber nach, ob das die Sache wert war. Wenn dieser Fall gelöst ist, versprach er sich, während der Wagen nun endlich das Polizeihauptquartier erreichte, werde ich doch um meine 828

Pensionierung ersuchen. Ich möchte Zeit für die Familie haben, vor allem für Katy. Ich sehe sie ja kaum noch. Sie wächst so schnell. Ja, das werde ich tun. Noch heute Abend. Commissioner Murphy war nicht in der Stimmung für Diskussionen. »Setzen Sie sich, Jim. Ich möchte das so rasch wie möglich hinter mich bringen.« Clarke wurde ein Stuhl an einem großen, runden Tisch aus dunklem Holz in Zimmer elf angeboten. Gesundheitsminister John Regan und sein Kabinettskollege Justizminister Paddy Dempsey begrüßten ihn mit finsterer Miene. Donal Murphy, in dunkelblauer Hose und kurzärmeligem, am Hals offenem Hemd, war offensichtlich in düstere Gedanken versunken und vermied jeden Blickkontakt. Dempsey trug einen schlecht sitzenden Tweedanzug, und sein Stiernacken drohte den um gut zwei Zentimeter zu engen Hemdkragen zu sprengen. Im Gegensatz zu ihm sah John Regan, in lose sitzender Hose und einem gelben ärmellosen Pullover über einem dunkelblauen Hemd, wie aus dem Ei gepellt aus. »Ich musste mir eine Beschwerde darüber anhören, wie die Ermittlung im Mordfall Jennifer Marks geführt wird«, begann Murphy. Er hob einen Zeigefinger, um Unterbrechungen gar nicht erst aufkommen zu lassen. »Nach Ihrer Befragung erregte sich die bedauernswerte Annie Marks offenbar so sehr, dass ihr Mann aus dem Operationssaal geholt werden musste. Sie steht unter Beruhigungsmitteln.« Clarke witterte Schwierigkeiten. »Dan Marks war so erzürnt, dass er offiziell Beschwerde beim Ministerium einlegte.« Endlich blickte Murphy ihn an. »Minister Dempsey setzte sich heute Vormittag mit mir in Verbindung und hielt sich mit seiner Kritik nicht zurück.« Clarke entging das 829

selbstgefällige Lächeln auf der gegenüberliegenden Tischseite nicht. Er sah, dass John Regan ihn fixierte. »Ich habe mich zu dieser Besprechung bereit erklärt, um die Lage zu sondieren«, fuhr Murphy fort und ignorierte Clarkes Bestürzung. Er ordnete einen kleinen Stoß Papiere vor sich auf dem Tisch. »Und«, fuhr er fort, »ich habe den Herren Ministern versichert, dass die Ermittlungen gut vorankommen. Michael Leo Kelly ist nach wie vor unser Hauptverdächtiger, und wir beabsichtigen Anklage gegen ihn zu erheben, sobald das medizinische Team in Rockdale seine Zustimmung gibt.« Clarke hörte mit unterdrückter Wut zu. Er umklammerte den Tischrand so fest, dass seine Nägel in das Holz drangen. Am liebsten hätte er laut hinausgebrüllt, um die Worte, die er hörte, aufzuhalten. »Da die polizeiliche Untersuchung mehr oder weniger abgeschlossen ist, möchte ich Ihnen einen längeren Urlaub vorschlagen, Jim.« Murphy fixierte ihn. »Ich habe Minister Dempsey erklärt, wie schwierig das Leben seit dem Bombenanschlag für Sie ist, und er hat sich bereit erklärt, Ihnen einen zusätzlichen Monat bezahlten Urlaub zu gewähren.« Jetzt sprach Dempsey zum ersten Mal. Er lehnte sich schwer auf den Tisch und blickte hinüber, vermied jedoch, Clarke ins Gesicht zu sehen. Seine wulstigen Lippen bewegten sich. »Ich glaube, dass Sie sich bei diesem Mordfall nicht mehr auf Ihr Urteilsvermögen verlassen können. Der Artikel in der heutigen Post ist lächerlich. Wie kommt der Berichterstatter an diese Informationen? Die Theorie, dass ein zweiter Mann beteiligt war, ist nichts weiter als das sinnlose Gefasel eines geistig zurückgebliebenen Jungen. Wir haben unseren Schuldigen!« Er lehnte sich so abrupt wieder zurück, dass der Stuhl auf dem gewachsten 830

Boden ein Stück nach hinten rutschte. »Dublin ist voller Reporter, die vor den Kameras posieren und Unsinn ins Mikrofon quatschen. Wenn das so weitergeht, stehen wir wie Idioten da. Kelly ist gesehen worden, wie er vom Tatort floh, und das Blut des Mädchens klebte an ihm. So ist es. Aus!« John Regan warf ein: »Und ich glaube nicht so recht an seine so genannte Geisteskrankheit. Das ist eine Masche, die man sehr rasch nutzte. Es wird vor Gericht keine Einsprüche wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit geben, wenn ich es verhindern kann.« Er blickte Clarke strafend an. »Und keinen mitleidigen Psychiater, der ihm hilft.« Er beugte sich über den Tisch, ein Bild plötzlich erwachten Mitgefühls. »Nehmen Sie regelmäßig Schmerzmittel? Vielleicht ist etwas dabei, das Ihr Urteilsvermögen trübt?« Clarke explodierte fast, nur der Einwand des Commissioners bewahrte ihn davor. »Danke, Gentlemen, ich finde, Sie haben genug gesagt. Superintendent Clarke hat es nicht verdient, dass man ihn derart beleidigt.« Regan knurrte. »Superintendent Clarke hat die Herz-Stiftung in den Schmutz gezogen. Das Personal hat sich furchtbar über die Art und Weise empört, wie er Annie Marks verhört hat.« Sein Blick schien Clarke durchbohren zu wollen. »Ich halte morgen Abend eine entscheidende Pressekonferenz ab. Ein Scheck über zwanzig Millionen Pfund soll als EU-Zuschuss für das MercyHospital-Projekt überreicht werden. Und zwar vor den Augen der Weltpresse. Ich werde diese Summe nicht durch das Verbrechen eines kleinen Messerstechers in Gefahr bringen und beabsichtige bekannt zu geben, dass die Staatsanwaltschaft Anklage gegen diesen Junkie erhebt.« Er stand auf. »Die Ermittlungen in diesem Fall sind abgeschlossen!« Er stürmte aus dem Zimmer und 831

knallte die Tür hinter sich zu. Ein vor sich hin murmelnder Dempsey folgte ihm. Donal Murphy machte sich daran, seine Unterlagen in eine Aktentasche

zu

stecken.

Clarke

konnte

sich

nicht

mehr

zurückhalten. Er hatte lange genug geschwiegen, und sein Zorn drohte ihn zu überwältigen. »Commissioner, ich ersuche hiermit um meine sofortige Freistellung in den Ruhestand. Mein schriftlicher Antrag wird in etwa einer halben Stunde auf Ihrem Schreibtisch liegen.« Sein Gesicht war kreidebleich, er zitterte unmerklich. Er war gedemütigt worden, ohne die Gelegenheit bekommen zu haben, sich zu rechtfertigen. Er fühlte sich verraten und verkauft. Die Unterstützung seines Vorgesetzten in letzter Minute war nicht der Rede wert gewesen. Er wollte nichts wie weg von hier und irgendwo allein sein. Murphy legte seine Aktentasche auf den Tisch. »Ich will nicht, dass Sie ausscheiden. Ich will den Mörder dieses Mädchens! Wenn Sie glauben, dass ein anderer beteiligt war, dann beweisen Sie es besser vor Regans Pressekonferenz.« Er stand auf, um zu gehen. »Kelly ist der Einzige, der weiß, was in jener Nacht passiert ist. Sie sind von diesem Fall entbunden, also sehen Sie zu, dass Sie diesen Psychiater Dillon dazu bringen, Ergebnisse vorzuweisen.«

20.12 Uhr Im Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte arbeitete Patrick Dillon an diesen Ergebnissen. Man hatte ihn vom Polizeihauptquartier aus angerufen und ihn über John Regans Pressekonferenz unterrichtet. Das machte ihm sehr zu schaffen. »Alles andere als hilfreich«, war sein Kommentar gewesen. Ihm war 832

auch bewusst geworden, welche Unruhe die Medien stiften konnten. Die Morduntersuchung war immer noch der Leitartikel der meisten Zeitungen. Seine Rolle wurde via Fernsehen von selbst ernannten medizinischen Experten analysiert, die sich am grünen Tisch mit Psychiatrie beschäftigten. Er war jetzt schon so wichtig wie sein Patient. PSYCHO-JUNKIES SEELENKLEMPNER, wie ein US-amerikanisches Sensationsblatt ihn nannte. Er hatte darüber gelacht. Aber er hatte nicht mehr gelacht, als ein Fernsehanwalt mit viel Blabla meinte, das Einzige, woran dieser Dr. Dillon interessiert sei, sei Kelly von der Mordanklage auf Grund verminderter Zurechnungsfähigkeit freizubekommen. Schlimmeres folgte. Ein amerikanischer Gerichtspsychiater, der sich einen Namen bei einem sensationellen Mordfall gemacht hatte, stellte bei einem internationalen Nachrichtensender die Behauptung auf, Dillon wolle Kelly nur deshalb länger als nötig in seinem Krankenhaus haben, um später einen Bestseller über seinen Fall zu veröffentlichen. »Genau wie ich es gemacht habe«, gab er freimütig zu. Darüber hatte Dillon sich furchtbar aufgeregt. Er hasste es, im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu stehen; er hasste die so genannten Sachverständigen des Fernsehens, die ihm selbstherrlich irgendwelche unlauteren Motive unterschoben. Er beschloss, die Dinge ein wenig voranzutreiben. Jetzt saß er Micko Kelly in einem kleinen Zimmer an einem quadratischen Tisch gegenüber. Auf dem Korridor des Sicherheitstrakts brannten Halogenlampen. Das drei Meter lange und drei Meter sechzig breite Zimmer wurde für Befragungen von Insassen benutzt und um sie nach Tobsuchtsanfällen verbal zu beruhigen. Es lag neben der Gummizelle. Eine nackte Vierzigwatt833

Birne brannte an der Decke, und auf dem Tisch zwischen ihnen stand zur besseren Sicht eine Tischlampe. Dillon hatte eine Auswahl von Zeitungsausschnitten ausgelegt. Jeder hatte mit dem Mord an Jennifer Marks zu tun, viele mit Bildern des Mädchens. Er schob einen der Ausschnitte zu Micko Kelly hinüber. »Das ist der Sandymount Park. Erinnern Sie sich, dass Sie dort waren?« Kelly betrachtete das Bild und schüttelte den Kopf. Er strich mit der tätowierten Hand über die Haar- und Bartstoppeln. »Nee.« Dillon überflog die Ausschnitte, dann gab er Kelly einen anderen hinüber. Es war die Titelseite der Daily Post mit einer Großaufnahme von Jennifer Marks. Die Schlagzeile war weggeschnitten. Zuerst blickte Kelly ohne Interesse auf das Bild, dann betrachtete er es näher. »Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl!« Die Stimme knirschte und verstummte. Kelly wirkte momentan wie gelähmt, dann nahm er die Seite und studierte jede Einzelheit. »Wissen Sie, wer sie ist?«, fragte Dillon. Kelly ließ die Seite zurück auf den Tisch fallen. »Nee.« Dillon merkte sich seine Reaktion. »Denken Sie genau nach. Es ist wichtig für Sie. Versuchen Sie sich zu erinnern. Sie war in jener Nacht mit Ihnen im Park. Etwas Furchtbares ist mit ihr passiert.« Kelly schüttelte heftig den Kopf. »Nee. Ich kann mich nicht erinnern. Glauben Sie mir doch, ich kann mich einfach nicht erinnern. Hören Sie doch auf mich zu quälen. Ich kann mich nicht erinnern.« Er schob den Stuhl zurück und begann im Zimmer hin und her zu laufen. Dillon beobachtete ihn genau. »Ihr denkt alle, dass ich verrückt bin«, schrie Kelly wütend. »Aber ich bin nicht verrückt!« Er deutete mit einem nikotinbraunen Zeigefinger auf seine rechte Schläfe. »Ich war in Ord834

nung, bis ich in dieses Loch gekommen bin. Jetzt bin ich von Verrückten umgeben.« Seine Handbewegungen waren ruckartig, er rollte die Augen. Seine Lippen bewegten sich heftig, auch wenn er nicht sprach. Ruckartig setzte er sich wieder an den Tisch. »Holen Sie mich raus aus diesem abgefuckten Loch!«, knurrte er. Dillon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich würde Sie noch heute Nacht rauslassen, wenn ich sicher wäre, dass Sie nichts anstellen.« »Scheiße, ich weiß nicht, was Sie wollen.« Kelly war wieder aufgestanden und hatte sich in eine dunkle Ecke gekauert. »Hörn Sie mich? Scheiße. Ich sollt nicht hier sein bei diesen Irren.« Später trug Dillon seine Beobachtungen in die Krankenakte ein. »Michael Kellys Zustand bessert sich langsam. Seine Halluzinationen lassen nach. Auch sein körperlicher Zustand hat sich dank der besseren Ernährung und des Umstands verbessert, dass er keinen Zugang mehr zu harten Drogen hat. Während sein Langzeitgedächtnis gut ist, lässt sein Kurzzeitgedächtnis noch zu wünschen übrig. Das macht ihm sehr zu schaffen. Er neigt zu aggressiven Ausbrüchen und weist immer noch paranoide und schizoide Symptome auf. Beurteilung: Noch keine ausreichende Verbesserung des Zustands, die rechtfertigen würde, ihn in den offenen Trakt zurückzubringen.« Als Dillon das geschrieben hatte, blieb er nachdenklich an seinem Schreibtisch sitzen. Kellys wirres Denkmuster konnte noch Wochen unverändert anhalten. Der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses war das größte Problem. Wenn wir seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, könnte die Wahrheit ans Licht kommen, folgerte Dillon. Ist er ein psychotischer Mörder oder ein 835

Geistesgestörter, der als Sündenbock benutzt wird? Es gibt nur eine Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen. Aber die ist riskant. Es könnte ins Auge gehen, und ich wäre meinen Ruf als seriöser Arzt los. Er hörte einen wütenden Schrei. Micko Kelly wurde für die Nacht eingeschlossen. Ich werde es tun. Morgen. Noch vor dieser Pressekonferenz.

34

Boston, 15.07 Uhr Ortszeit Frank Clancy war unruhig. Er saß auf einem Stuhl aus Metallgeflecht in der Cafeteria im Westflügel des Museum of Fine Ans an der Huntington Avenue und kaute an einer Scheibe Roggenbrot mit Tunfisch. Er hatte keinen Appetit, das Brot schmeckte wie Sägemehl. Vor zwanzig Minuten hatte er seine Frau Anne von einer Telefonzelle aus im überfüllten Foyer angerufen. »Wo bist du, Frank?«, hatte sie ihn angeschrien. »Alle suchen dich!« »Was meinst du damit?« »Der Krankenhausverwalter hat gefragt, wo du bist. Er ist wütend, weil du so lange wegbleibst.« »Woher hat er deine Nummer?« »Ich habe das Krankenhaus angerufen, um mit dir zu reden. Dort hat man mir gesagt, dass du zu Hause bist.« Jetzt brüllte Clancy: »Ich habe dir doch gesagt, dass du mich nicht anrufen sollst!« »Mir blieb nichts anderes übrig. Die Kinder wollen heim. Ich will heim. Wir wollen zurück in unser Haus!« »O Gott!«, stöhnte Clancy und schlug sich vor die Stirn. »Wo 836

bist du, Frank? Was geht hier eigentlich vor? Ich bin schon ganz krank vor Sorgen. Auch die Kinder sind völlig durcheinander.« Clancys Gedanken überschlugen sich. »Seid ihr zu Hause?« »Nein, wir sind noch bei meiner Mutter.« Erleichtert atmete er durch. »Anne, ich kann es dir noch nicht erklären. Nur bleibt unbedingt, wo ihr seid. Kehrt unter keinen Umständen in unser Haus zurück. Unter gar keinen Umständen. Ich muss mich darauf verlassen können.« Schweigen. »Frank, was geht eigentlich vor? Wo bist du?« Nach kurzem Zögern antwortete er: »Ich bin in Boston.« Schweigen. »Frank.« Annes Stimme war eisig und voll Misstrauen. »Was machst du in Boston? Wer ist bei dir?« Clancy verlor die Beherrschung. »Es ist verdammt niemand bei mir. Ich bin hier in der Hämatologie-Abteilung des Springton Hospital und versuche etwas herauszufinden.« Noch während er redete, war Clancy klar, dass die Wahrheit nicht überzeugend klang. »Was versuchst du herauszufinden, Frank? Warum hast du mich angelogen?« O Gott, hört das denn nie auf? Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird sie die Polizei anrufen, ja vielleicht sogar im Hospital Bescheid geben. Meine Stellung steht auf dem Spiel. Linda Speer wird alles erfahren. Sie wird sämtliche Spuren beseitigen. Ich darf es Anne nicht sagen! »Anne«, er sah sich um und hoffte, niemand würde mithören. »Ich liebe dich, und ich liebe die Kinder. Du musst mir ganz einfach vertrauen, auch wenn das Ganze sehr seltsam klingt.« »Und ob es das tut!«, fauchte Anne. »Ich erkläre dir alles, wenn ich morgen heimkomme. Nur sag niemandem etwas, hörst du? Versprich es mir.« Schweigen. 837

»Anne, bist du noch da?« Schweigen. »Anne, ich weiß, dass du noch dran bist. Erzähl niemandem was! Und kehr nicht nach Haus zurück! Hörst du? KEHR NICHT IN UNSER HAUS ZURÜCK!« Schweigen. »Ich liebe dich, Anne. Sag den Kindern, dass ich sie liebe. Ich werde alles erklären, wenn ich zurück bin.« Am anderen Ende der Leitung wurde aufgelegt. Clancy ging hinaus in den hellen Sonnenschein. Es war warm und feucht. Er spürte, wie ihm das Hemd am Rücken klebte. Es war Zeit, zurück nach Irland zu fahren. Aber zuvor musste er noch dieses Gespräch hinter sich bringen.

Boston, 17.03 Uhr »Dr. Clancy, ich möchte Sie mit Ken Foss bekannt machen.« Dr. Harry Walters hatte selbst geöffnet. Die dunkelhaarige Sekretärin war nicht zu sehen gewesen, so hatte Clancy, statt zu warten, an die Tür zum Sprechzimmer geklopft. Er sah außer Walters zwei Herren, die sich stehend, mit den Köpfen dicht beieinander, unterhielten. »Und das ist Sam Bawden.« Sie schüttelten einander rasch die Hand, als wären sie in Eile und wollten schnell zur Sache kommen. Clancy fiel auf, dass weder Foss noch Bawden die hier beim Personal üblichen laminierten Ausweise um den Hals hängen hatten. »Ken ist der Rechtsberater des Springton Hospitals«, erklärte Walters. Foss hatte eine sehr hohe Stirn, war groß und schlank und trug einen zweireihigen Anzug. Er lächelte höflich und setzte sich in einen Sessel nahe dem Fenster, von dem aus man den gesamten Krankenhauskomplex überblickte. »Sam ist unser Sicherheitschef.« Bawden war dunkelhäutig und massig. Es sah 838

aus, als hätte er sich in das leichte Jackett über einem offenen Hemd und die dunkle Hose hineinquetschen müssen. Dazu trug er bequeme Schuhe mit Gummisohle. Er bewegte sich auf einen Stuhl an der Längsseite des Raums zu. Für Clancy wurde ein weicher Sessel hinter einem Garderobenständer herbeigerückt. Erst nachdem er Platz genommen hatte, setzte Walters sich in seinen Drehsessel. Verlegenes Schweigen machte sich breit, als wüsste niemand, wie das Gespräch in Gang gebracht werden sollte. Walters blickte die beiden von ihm hinzugezogenen Männer an. »Dr. Clancy...« »Nennen Sie mich Frank«, bat Clancy. »Okay.« Walters nickte. »Dann also Frank.« Er lockerte seine Fliege. »Ich habe den Grund Ihres Besuchs in Boston bereits erklärt.« Clancy bemerkte, dass er jetzt im Mittelpunkt stand, und fühlte sich verlegen wegen seiner ungewöhnlichen Frisur und der allzu legeren Kleidung. »Ken und Sam interessieren sich sehr für das, was Sie uns zu sagen haben. Ich muss allerdings gestehen, dass mich Ihre Fragen heute Vormittag einigermaßen verblüfft haben. Ich weiß ja nicht, wie das in Dublin üblich ist, aber wir hier in New England sind in Rechtsangelegenheiten äußerst vorsichtig. Niemand würde hier ohne Anwalt eine Auskunft erteilen, die ihn rechtlich in Schwierigkeiten bringen könnte.« Ken Foss übernahm das Wort. Seine Stimme war so dünn wie seine Figur. »Frank, Sie haben da einige ungewöhnliche Behauptungen vorgebracht...» »Keine Behauptungen«, berichtigte ihn Clancy, »sondern Hypothesen, von deren Richtigkeit ich überzeugt bin. Ich hoffe, bald Beweise erbringen zu können, und werde dann die Polizei 839

einschalten. Doch ehe es so weit ist, muss ich meinen Verdacht bestätigt bekommen.« »Das ist ja alles gut und schön«, entgegnete Foss, »doch Ihre Hypothesen sind sehr schwer wiegend und könnten daher weit reichende Folgen haben. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass Sie sich täuschen, und wenn das der Fall ist, können Sie sich auf teure und langwierige Prozesse gefasst machen, in die wir keinesfalls verwickelt werden wollen.« »Das ist mir klar«, versicherte ihm Clancy. Er drückte seinen braunen Umschlag fest an sich. Alle drei blickten ihn an. »Also, ehe wir weiter darüber sprechen, sollten Sie uns wohl in die Fakten einweihen, die Sie Harry gegenüber erwähnt haben.« Clancy drückte den Umschlag noch fester an sich. »Nein«, sagte er fest. Foss blickte Walters und Bawden an. »In diesem Fall, Frank, fürchte ich, dass wir unsere Zeit vergeuden.« Er schaute auf seine Armbanduhr. »Lassen Sie sich nicht durch uns von Ihrem Rückflug aufhalten.« Harry Walters schaltete sich ein. »Okay, hören wir auf mit dem Herumgerede. Sie wollen Information von uns, Frank. Nun, wir wollen Information von Ihnen.« Clancy wusste, dass nun ein Anfang gemacht war. »Fragen Sie.« «Gut«, sagte Walters. »Welche Verbindung besteht zwischen Ihren Fällen von Agranulozytose und Dan Marks, Linda Speer und Stone Colman?« »Jeder der betroffenen Patienten war entweder von Marks, Speer und Colman behandelt worden, ehe sich die Blutkrankheit bei ihm entwickelte.« 840

Walters zog die Brauen hoch. »Das ist eine sehr dürftige Verbindung.« »Es ist nicht alles«, deutete Clancy an. »Was noch?«, fragte Foss. Sam Bawden kritzelte in einem Notizbuch. Clancy zuckte betont mit den Schultern. »Nichts weiter von mir, ehe ich nicht etwas von Ihnen bekommen habe.« Walters grinste. »Okay.« »Hatten Sie in den letzten Jahren ungewöhnliche Häufungen von Agranulozytose-Fällen?«, fragte Clancy. »Nein«, erwiderte Walters entschieden. Clancy war wie betäubt. Foss und Bawden blickten zu Boden. »Nein?« Clancy war wie betäubt. Was ging hier vor? »Nein, Frank«, wiederholte Walters. »Nicht mehr Agranulozytose-Fälle als sonst. Wir mussten jedoch eine außergewöhnliche Zunahme von Blutkrankheiten verzeichnen. Gewiss, Agranulozytose war eine davon. Aber wir hatten auch zahlreiche Fälle von hämolytischer Anämie.« Clancys Gedanken überschlugen sich. Bei hämolytischer Anämie versagten die Blutzellen, und die Konstitution des Patienten wurde zunehmend schwächer. Genau wie bei Agranulozytose gab es auch für hämolytische Anämie viele Ursachen. Ganz oben auf der Liste stand eine aus dem Rahmen fallende Reaktion auf eine verordnete Medikamententherapie. Er bemühte sich, seine Verwirrung zu verbergen. »Hat diese Ansammlung von Blutkrankheiten Sie überrascht?« »Und wie.« Walters zog seinen Drehsessel dicht an den Schreibtisch, stützte die Hände auf, legte das Kinn auf die Handknöchel und fixierte Clancy. Man hätte meinen können, der Dubliner Arzt 841

befrage ihn im Zeugenstand. »Begannen Sie zu vermuten, dass die auftretenden Blutkrankheiten mit dem Kardiologenteam zusammenhingen, das zu der Zeit hier ordinierte?« »Beantworten Sie das nicht, Harry«, riet ihm Foss. Er stand mit dem Rücken zum Fenster. »Welche Information haben Sie sonst noch?« Er blickte Clancy an. »Gefälschte Eintragungen in Krankenakten.« Clancy griff in das braune Kuvert und holte einen Hefter hervor. »Ein Mittel im Versuchsstadium, das weder hier noch in Irland zugelassen ist.« Foss runzelte die Stirn. »Sonst noch etwas?« Seine dünne Stimme klang tiefer. »Informationsaustausch«, erinnerte ihn Clancy. Es war fast achtzehn Uhr. Er musste vor zwanzig Uhr auf dem Flughafen sein, das bedeutete, dass er nicht mehr lange bleiben konnte. Aber er hatte noch nicht genügend Informationen. »Was ist in Springton vorgefallen? Sie wissen, dass wir in meinem Krankenhaus eine ähnliche Entwicklung haben. Also warum machen wir nicht reinen Tisch?« »So einfach ist das nicht, Frank«, sagte Foss. Er war zu Bawden hinübergegangen. »Wir haben...« Clancy unterbrach ihn verärgert. »Ich bin überzeugt, dass Sie hier in dieser Stadt einen gewissen Journalisten namens Chuck Henning kennen.« Es wurde still im Zimmer. Chuck Henning war der Gerichtsreporter des Boston Globe. Clancy hatte seinen Namen aus der heutigen Ausgabe, in der sein Artikel über betrügerische Manipulationen in Bostoner Finanzkreisen stand. »Nun«, log er, »ich habe vor zwei Stunden mit Mr. Henning ge842

sprochen, und er scheint sehr daran interessiert zu sein, sich eingehender mit mir zu unterhalten. Er wittert eine sensationelle Story.« Bluff. Ken Foss wollte etwas sagen, doch Harry Walters kam ihm zuvor. »Ich glaube nicht, dass auch nur einer von uns über unsere gemeinsamen Schwierigkeiten in den Zeitungen lesen möchte.« Er stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus. »Mögen Sie Ihre Arbeit, Frank? Ich meine damit, empfinden Sie bei Ihrer Tätigkeit als Arzt so etwas wie persönliche Befriedigung?« Clancy antwortete nicht. »Nun, ich liebe dieses Krankenhaus«, fuhr Walters fort. Er öffnete das Fenster einen Spaltbreit, und in der Ferne wurde das Sirenengeheul eines Notarztwagens laut. »Ich arbeite schon seit über zwanzig Jahren hier.« Er drehte sich mit hängenden Schultern und mattem Blick um. »Ich weiß, dass es kein architektonisches Wunder und auch keine perfekte Institution ist. Kein Krankenhaus ist das, und ich habe in vielen gearbeitet.« Er ging zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich auf die Kante. Clancy überlegte, ob dieser Mann sich seine Sorgen von der Seele redete oder ihm gekonnt etwas vormachte. »Aber es ist mein Krankenhaus, und ich tue hier, was ich kann. Meine Patienten brauchen mich, damit ich ihnen helfe, aber ich brauche sie auch. Ihre Hoffnungen und Träume, ihr Leben und ihre Familien sind mir so wichtig wie meine eigenen. Ich teile ihr Leid, wenn ihr Zustand sich verschlechtert, und ich bin glücklich mit ihnen, wenn sie gesund werden.« Er nahm seine Fliege ab und fuhr mit dem Finger unter den Kragen. »Wenn ihre Beschwerden gottgegeben oder durch einen Unfall verursacht sind oder es sich um eine ungewöhnliche Infektion handelt, komme ich damit zurecht. 843

Aber wenn jemand eine Krankheit aus keinem anderen Motiv als aus finanziellem Gewinnstreben heraus erschafft, macht mir das ungemein zu schaffen.« Er hielt inne und wandte sich an Bawden. »Erklären Sie ihm unsere Position, Sam. Es wird Zeit, diese furchtbare Sache zu beenden.« Bawden klappte sein Notizbuch zu.

»Dr.

Clancy«,

begann er,

»in

unserem

Krankenhaus werden Ermittlungen über eine Anzahl von Todesfällen durchgeführt.« Er sprach mit leicht gutturalem Ton. »Sie ist über das Stadium einer medizinischen Untersuchung wegen möglicher Kunstfehler hinausgegangen. Wir vermuten, ich sage das nicht gerne, ein oder mehrere vorsätzliche Verbrechen. Das Motiv ist Gewinnsucht.« Clancy rutschte aufgeregt in seinem Sessel hin und her. Endlich wurde es interessant. Ken Foss warf ein: »Tut mir Leid, wenn das etwas vage klingt. Ich habe zur Vorsicht geraten bei allem, was hier gesagt wird.« Bawden fuhr fort: »Das Krankenhaus hat mit acht größeren Prozessen zu rechnen. Es könnten auch mehr werden.« Endlich ist es so weit, dachte Clancy. Er nahm seine Uhr vom Handgelenk und hielt sie in der Linken. Es war jetzt achtzehn Uhr sechs. Beeilt euch, dachte er, sonst bekomme ich mein Flugzeug nicht mehr! »Jemand hat hier Medikamente im Versuchsstadium ausprobiert, und das ohne die Einwilligung oder auch nur das Wissen der Patienten.« Bawden las aus seinem Notizbuch vor. »Zwischen April 1996 und Januar 1997 hatten wir acht Todesfälle wegen Blutkrankheiten,

hauptsächlich

Agranulozytose.

Jeder

der

Betroffenen wurde ohne sein Wissen oder das des Krankenhauses mit einem Medikament behandelt, das noch im Versuchssta844

dium war. Alle starben daran.« Er blickte Clancy an. »Die blaue Tablette, die Sie haben, ist nicht identisch mit der, die hier benutzt wurde. Die eingeprägten Buchstaben CYN sind jedoch eine Bestätigung, dass sie von derselben Pharmafirma stammt.« »Cynx Pharmaceuticals?«, fragte Clancy. Weitere Puzzlestücke. Foss hüstelte. »Woher wissen Sie das?« Clancy ignorierte die Frage. »Was wissen Sie über Cynx?«, wandte er sich an Bawden. »Cynx ist eine kleine pharmazeutische Firma hier in Boston«, erklärte Bawden. »Alles andere als beeindruckend. Sozusagen ein Nichts in dieser Branche. Vor etwa fünf Jahren wurde sie von einem ehrgeizigen Konsortium aus New York gekauft, das beabsichtigte, sie groß zu machen und an die Börse zu bringen.« Er brach ab und blickte zu Foss hinüber. Der nickte. »Dr. Linda Speer gehörte zu den Investoren.« Ich wusste es, dachte Clancy. Verdammt, ich habe es gewusst! Wieder rutschte er in seinem Sessel hin und her, während er zuhörte. »Wir glauben, dass Cynx irgendwann begann, sich mit neuen Herzmitteln zu befassen«, fuhr Bawden fort. »Denn da gibt es das große Geld zu verdienen. Die Firma steckte ihre gesamten Forschungs- und Entwicklungsgelder in ein Produkt. Aber es fehlte ihr an den nötigen Mitteln, Standardversuche bezahlen zu können.« »Da hatte die Speer eine Idee«, meinte Clancy. »Das können wir nicht beweisen«, wehrte Bawden ab. »Wir haben alle drei Spezialisten unter die Lupe genommen, als sie Boston überraschend verließen.« »Wir vermuten, dass sie sich in Sicherheit bringen wollten«, warf 845

Walters ein. Er saß wieder in seinem Drehsessel. »Die Ermittlungen konzentrierten sich auf sie, nachdem mein Misstrauen geweckt war und ich unsere Anwälte darauf aufmerksam machte. Ich persönlich glaube, dass ihnen im Springton Hospital der Boden zu heiß unter den Füßen wurde.« Clancy knirschte mit den Zähnen. »Marks, Speer und Colman machten also mit ihren Versuchen weiter, obwohl sie wussten, dass einige Patienten an den Nebenwirkungen starben?« »Nach allem, was Sie uns erzählt haben, scheint das der Fall zu sein«, sagte Walters. »Ich glaube, sie veränderten laufend die Molekularstruktur der Verbindung, um die richtige Formel zu finden, die ohne tödliche Nebenwirkungen helfen würde.« »Und wie viele Patienten müssen sterben, bis sich die richtige Zusammensetzung herausgestellt hat?« Walters schaukelte mit seinem Sessel vor und zurück. »Das weiß ich nicht, Frank. Aber Ihr Hiersein lässt darauf schließen, dass sie noch nicht weitergekommen sind.« »Und«, fügte Ken Foss hinzu, »Cynx dürfte das Geld ausgehen. In der Branche hört man von einem Übernahmeangebot durch einen der größeren multinationalen Pharmakonzerne. Ich nehme an, dass sie falsche Forschungsergebnisse vortäuschen, um den Kaufpreis hochzutreiben. Jedenfalls notieren die Cynx-Aktien an der New Yorker Börse seit kurzem so hoch wie nie zuvor.« Clancy blinzelte auf die Uhr. Es war achtzehn Uhr fünfundvierzig. Er würde sich überschlagen müssen, um das Flugzeug noch zu erwischen. Er wandte sich an Walters. »Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb die Speer bei bestimmten Herzoperationen assistiert? Und was die Verbindung zwischen der Erprobung des Mittels und diesen Operationen sein könnte?« »So wie ich es 846

sehe«, erwiderte Walters, »wurde dieses Mittel sowohl in den Labors als auch auf den Krankenstationen bei schweren Fällen von Arteriosklerose getestet. Ich glaube, die Speer hat danach heimlich die geschädigten Blutgefäße an sich gebracht. Deshalb assistierte sie bei Bypass-Eingriffen. So konnte sie sich an Ort und Stelle vergewissern, dass es sich bei den operativ entfernten Blutgefäßen um ideale pathologische Muster handelte. Sie holte sie aus den Operationsabfällen, legte sie auf Eis und ließ sie über Nacht in den Cynx-Laboratorien testen.« »Mit Dan Marks' Billigung?«, fragte Clancy. Walters schüttelte den Kopf. »Das könnte ich nicht mit Sicherheit sagen. Gewiss, Marks und die Speer hatten ein ziemlich stürmisches Verhältnis, solange sie hier waren.« Clancys Brauen schossen hoch. »Sie wissen doch, wie das ist, Frank.« Walters verzog das Gesicht. »Diese Chirurgen sind mächtige Männer. Große Egos, gesteigerter Sextrieb. Er ist mit einer Invalidin verheiratet. Es ist unvermeidlich, dass er fremdgeht.« Die Sache wurde kompliziert. Frank Clancy wischte sich die schwitzende Stirn am Ärmel seines T-Shirts ab. »Was war mit Stone Colman?« »Wir wissen nichts Genaues über ihn«, warf Bawden ein. »Speers Rolle, was die Versuche anlangt, scheint festzustehen. Über die beiden anderen gibt es keine Gewissheit.« Er steckte sein Notizbuch ein. »Linda Speer hatte schon seit Jahren versucht, sich einen Namen in der Kardiologie zu machen. Sie war sehr verbittert, dass sie bei Ernennungen und so weiter zu Gunsten männlicher Kollegen übergangen wurde. Vielleicht entschied sie sich für einen anderen Weg zur Spitze. Sie dachte 847

wahrscheinlich,

sie

könnte

das

Herzmittel der

Zukunft

produzieren.« »Wissen Sie, Frank«, sagte nun Ken Foss, »im Gegensatz zu Ihnen haben wir kaum greifbare Beweise, die unseren Verdacht bestätigen. Dass an den Kopien der Krankenakten etwas verändert wurde, ist sicher, aber wir haben die Originale nicht. Was die Tabletten betrifft, steht auch noch nichts fest. Wir haben nur eine einzige in die Hand bekommen, sie wird momentan chemisch untersucht.« Er zupfte an seiner Jacke, um die Falten zu glätten. »Beunruhigender ist, dass jemand in unsere Datenbank eingedrungen ist. Wenn jemand die Daten manipuliert, sind die ursprünglichen Diagnosen, Behandlungspläne und festgestellten Nebenwirkungen für immer verloren.« Clancys Gedanken überschlugen sich. War das in Dublin bereits geschehen? »Sie werden einen schweren Stand haben, Ihre Erkenntnisse zu beweisen, wenn der Schuldige die Spuren gelöscht hat«, endete Foss. Sam Bawden zog seine Jacke aus und hängte sie über seinen Stuhl. Er wandte sich an Clancy. »Wir verfolgen die Ermittlungsergebnisse im Mordfall Jennifer Marks.« Er sagte es beiläufig, aber es wurde plötzlich ganz still im Zimmer. Clancy schaute von einem zum anderen und spürte die plötzlich entstandene Spannung. »Und?« »Es ist eine furchtbare Sache«, murmelte Bawden. »Jahh«, erwiderte Clancy gedehnt. Was zum Teufel kommt als Nächstes? »Wirklich furchtbar.« »Sie glauben nicht, dass es da möglicherweise eine Verbindung gibt?« Bawden klang verlegen. 848

Clancy riss unwillkürlich den Mund auf. »Glauben Sie das?« »Nein, nein, nein«, versicherte ihm Bawden hastig. Es klang nicht überzeugend. »Vielleicht ist es mein angeborenes Misstrauen.« Er versuchte zu lächeln, um seine Unsicherheit zu verbergen. Es gelang ihm nicht. »Vergessen Sie, was ich gerade gesagt habe.« Er blickte auf die Uhr. »Sie werden zu spät zum Flughafen kommen.« Frank Clancy sprang auf. Noch drei Minuten! Er konnte nur hoffen, dass sein Flug Verspätung haben würde. Er wusste, dass er Linda Speer noch vor der Pressekonferenz stellen musste. Der EU-Zuschuss hing von den Ergebnissen der Herz-Stiftung des Mercy Hospitals ab. Doch für Clancy war nun alles unglaubwürdig, was aus jenem obersten Stockwerk kam. Man konnte keinem Ergebnis trauen. Alles war durch Habgier gefärbt und manipuliert. Und durch Mord. Harry Walters besorgte einen Notarztwagen des Springton Hospitals, der Clancy mit Sirenengeheul zum Flughafen bringen sollte. »Seien Sie vorsichtig, Frank«, ermahnte er ihn, während die Tür geschlossen wurde. »Der Einsatz in diesem Spiel ist sehr hoch. Wer immer dahinter steckt, kann nicht mehr zurück. Schauen Sie lieber einmal zu viel als zu wenig über die Schulter.« Clancy tat es den ganzen Weg über zum Logan Airport. Soweit er sehen konnte, wurde der Wagen nicht verfolgt. »Wo sind sie?«, schrie er seine Schwiegermutter an. Er stand in einer Telefonzelle am Flughafen. Er hatte seinen Flug nicht mehr bekommen und auf eine Virgin-Atlantic-Maschine nach London mit Anschluss an einen Aer-Lingus-Flug nach Dublin umbuchen müssen. 849

»Frank Clancy«, wurde er scharf zurechtgewiesen, »wie kannst du es wagen, mich so anzuschreien. Weißt du, wie spät es ist?« Clancy murmelte eine Entschuldigung. Er hatte nicht an die Zeitverschiebung gedacht. Sein Herz hämmerte vor Erregung oder Anstrengung oder beidem, er war sich nicht sicher. Er hatte das Gefühl, als wollte es sich aus seiner Brust lösen. »Sie sind nach Hause zurückgekehrt.« O nein, stöhnte Clancy. »Wann?« Unwillkürlich brüllte er wieder. »Nachdem du angerufen hast.« Seine Schwiegermutter ließ ihn ihre selbstgerechte Entrüstung spüren. »Und ich will dir gleich sagen, Frank, dass sie dir nach dem, wie du dich benommen hast, nicht erlauben werden, zu ihnen zu kommen ...« Clancy hängte ein und wählte seine Telefonnummer zu Hause, so schnell seine zitternden Finger es zuließen. Im Hintergrund hörte er den letzten Aufruf für den Flug Boston-London. »Hi, hier ist die Nummer von Frank und Anne. Tut uns Leid, dass wir Ihren Anruf jetzt nicht entgegennehmen können, aber ...« Er hängte ein, als er den Anrufbeantworter hörte, überlegte verzweifelt, dann wählte er noch einmal ihre Nummer. »Hi, hier ist die Nummer von Frank und Anne ...« »Anne, Anne«, schrie Clancy in das Telefon. Eine Dame, die in der Schlange vor der Zelle gestanden hatte, entfernte sich und starrte dabei beunruhigt auf den Rücken des brüllenden Mannes. »Wenn du mich hörst, Anne, dann nimm bitte den Hörer ab. Ich beschwöre dich! BITTE!« »... wenn Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer hinterlassen … In der Abflughalle wurde der Lautsprecher wieder eingeschaltet. »Passagier Frank Clancy, der einen Virgin-Atlantic-Flug nach 850

London gebucht hat, wird gebeten, sofort zu Flugsteig siebzehn zu kommen. Dies ist der letzte Aufruf für Fluggast Frank Clancy. Bitte begeben Sie sich sofort zu Flugsteig siebzehn ...« Clancy unternahm einen letzten verzweifelten Versuch und wählte die Verwaltung des Mercy Hospitals. Das Mädchen in der Vermittlung entschuldigte sich. »Tut mir Leid, aber in der Verwaltung antwortet niemand. Es ist noch sehr früh am Morgen, wissen Sie.« Clancys Herz wurde noch schwerer. »Sind Sie Frank Clancy?« Er wirbelte herum. Ein Mädchen des Virgin-Bodenpersonals blickte ihn an, als befürchte sie, es mit einem Irren zu tun zu haben. Clancy bemühte sich um eine entspannte Miene. »Ich komme.« Er sprintete zu Flugsteig siebzehn.

35

Mittwoch, 20. Mai, 2.37 Uhr Als Frank Clancy sich an Bord des Virgin-Atlantic-Jets begab, steuerten in Dublin die Ereignisse auf einen Höhepunkt zu. Drei Kilometer südlich des Mercy Hospitals und jenseits des schwarzen Liffey arbeitete der Goon bis in die frühen Morgenstunden hinein in einer Privatgarage. Sein metallicschwarzer Lincoln war an der linken hinteren Stoßstange leicht eingebeult. Er hatte an der Haltestelle zu unvorsichtig gewendet, weil es ihm nicht gelungen war, Joan Armstrong mitzunehmen. Das hatte ihn furchtbar in Wut gebracht. Und Mo war noch wütender gewesen, als er ohne das Mädchen zurückgekehrt war. Mo hatte dem Goon klargelegt, wie sehr er sich Gedanken um Joan Armstrong machte. Der Goon war gar nicht glücklich, wenn Mo verärgert 851

war. Und dieser Dr. Frank Clancy machte ihm das Leben noch schwerer, er konnte den anscheinend spurlos verschwundenen Arzt einfach nicht finden. Das gefiel ihm absolut nicht. Mo gefiel es erst recht nicht. Überhaupt nicht. Der Goon fand, genug war genug. Es war an der Zeit, drastischere Schritte zu unternehmen. Jetzt klopfte er die Delle behutsam aus und sprühte Lack darüber. Bewundernd betrachtete er seine Arbeit im Licht einer Zweihundertwatt-Birne, die von einem Deckenbalken herabbaumelte. Perfekt! Er öffnete den Kofferraum und überprüfte sein Handwerkszeug. Vier Rollen dickes schwarzes Klebeband. Das müsste genügen, um die Opfer am Schreien zu hindern und ihnen Arme und Beine zu fesseln. Schwarze enge Lederhandschuhe, zwei Paar, falls eines in dem Handgemenge verloren ging, eine Walther PPK 38er Automatikpistole mit vollem Magazin. Er nahm es ab, um sich zu vergewissern, dass es auch wirklich noch voll war, dann schob er es zurück. Er drückte auf einen verborgenen Schalter im Kofferraum und verstaute die Waffe sowie die Klebebandrollen in einem Geheimfach. Aus seiner Hosentasche brachte er ein Schnappmesser zum Vorschein und drückte auf dessen Knopf. Eine dünne, rasiermesserscharfe Klinge von fünfzehn Zentimeter Länge sprang heraus. Der Goon bewunderte den im Licht glitzernden Stahl. Zufrieden ließ er die Klinge wieder zurückschnellen. Er hatte beschlossen, sich der Schusswaffe nur im Notfall zu bedienen. Sie machte zu viel Krach. Der Goon zog die tödliche Stille des Messers vor. Er blickte auf die Uhr. Mo hatte gesagt, dass alles bald vorüber sein würde. Mo hatte ihn beauftragt, sich schleunigst um alles, was noch nicht erledigt war, zu kümmern. Joan Armstrong. Frank Clancy. Clancys Familie, falls nötig. Darüber hatte der Goon sich gefreut, das wäre eine 852

seiner leichtesten Übungen. Nur dass er Clancy und seine Familie aus den Augen verloren hatte. Bis vor ein paar Stunden, als er bemerkt hatte, dass im Haus wieder Licht brannte. Jetzt konnte er mit den Aufräumarbeiten beginnen. Er rollte einen extra breiten schwarzen Sack aus besonders festem Plastik aus und legte ihn sorgfältig auf den Boden des Kofferraums, und zwar so, dass die Ränder etwas hochstanden. Der Goon hasste es, wenn Blut auf den Läufer oder gar die Polsterung kam. Er hatte den Rücksitz so weit wie möglich nach vorn geschoben, damit auch eine größere Leiche, für die der Kofferraum zu klein war, Platz finden würde. Als Letztes versteckte er einen Baseballschläger und zwei Kanister Benzin hinter dem Beifahrersitz. Der Goon war bereit für das Finale.

3.02 Uhr Schweiß strömte über Joan Armstrongs Gesicht und Körper. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bett und starrte abwechselnd an die Decke und auf ihren Wecker auf dem Nachttisch. Die Zeit schien stillzustehen, die Minuten tickten entsetzlich langsam dahin. Alles an ihr schmerzte, und sie zitterte am ganzen Leib. Immer wieder wälzte sie sich auf dem schweißnassen Laken herum, und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte einfach nicht schlafen. Sie zog die Knie an, legte die Arme um sie und drückte sie fest an die Brust. Sie brauchte unbedingt einen Schuss! Wild rieb sie an den Einstichspuren der Ellenbeuge und versuchte sich vorzustellen, wie die Nadel eindrang und wie dieses Glücksgefühl das Gehirn erreichte. Sie brauchte Mo. Und zwar ganz dringend. Mo würde ihr geben, was immer sie wollte. Sie würde Mo geben, was immer er wollte. In ihrer Verzweiflung wünschte 853

sie sich sogar den Goon herbei.

4.47 Uhr Der Goon schnitt die Telefonleitung zu Frank Clancys Haus durch. Er hatte den Lincoln hinter den beiden anderen Wagen in der gepflasterten Einfahrt geparkt. Es war ziemlich eng geworden und fast ein Meter dreißig des metallicschwarzen Wagens ragte auf den Bürgersteig hinaus. Aber was solls, dachte er, es ist ja bloß für ein paar Minuten. Er durchtrennte auch die Alarmanlage, dann schnitt er ein Stück Glas aus der Tür hinter dem Haus, langte hindurch und öffnete sie. Einen Augenblick lang blieb er stehen und lauschte. Nichts. Langsam schlich er durchs Haus nach vorn zur Diele und hielt inne. Er lauschte abermals. Nichts. Er schnitt drei Stücke vom Klebeband ab. Zwei waren in etwa gleich lang, eines etwas kürzer. Auf Zehenspitzen stahl er sich in das erste Zimmer und hob den achtjährigen Martin aus dem Bett. Der schlafende Junge rührte sich kaum, als er ihm das Klebeband um die

Fußgelenke

wickelte.

Erst

als

der

Goon das

Sammelalbum von Manchester United aus seiner Hand löste, wachte er auf. In der Dunkelheit versuchte Martin sich gegen das Klebeband zu wehren, doch ein Fausthieb an den Kopf schickte ihn wieder in den Schlaf zurück. Fünfzig Sekunden später lag er mit umwickelten Händen und Füßen und verklebtem Mund auf der Seite. Das Sammelalbum hatte sich im Klebeband verfangen. Drei Minuten später wurde Frank Clancys vierjährige Tochter, die sich ebenfalls vergebens gewehrt hatte, neben ihren Bruder gelegt. Die von Furcht erfüllten Augen des kleinen Mädchens weiteten sich, während es den Kopf hin und her bewegte und sich verzweifelt bemühte, sein Gesicht von dem Klebeband zu 854

befreien. Voll Entsetzen sahen die Kinder zu, wie der große Mann die Treppe hinaufrannte, wo ihre Mutter schlief. Tränen strömten, aber das Schluchzen war durch das Klebeband gedämpft. Anne Clancy war schon halb aus dem Bett, als der Goon die Tür öffnete. Sie fing zu schreien an. Ein Fausthieb an die Schläfe betäubte sie. Das Schnappmesser schnellte hervor, die Stahlklinge schimmerte in der Dunkelheit. Der Goon schnitt drei Streifen Klebeband ab und verschnürte ihre Hände und Füße. Halb betäubt blickte sie auf. Ihr Schrei wurde von dem schwarzen Band um ihren Mund erstickt.

5.06 Uhr Anne Clancy und ihre Kinder lagen verschnürt in der Küche und zappelten verzweifelt, um sich zu befreien. Der Goon war wütend, weil er Frank Clancy nicht finden konnte, und stellte das ganze Haus auf den Kopf. »Wo ist der Scheißkerl?«, knurrte er der jungen Frau ins Gesicht. Die Messerklinge bewegte sich bedrohlich nah vor ihrem Hals hin und her. Er löste das Klebeband von ihrem Mund, damit sie antworten konnte. »Bei der Arbeit«, log Anne unter verängstigtem Schluchzen. »Er ist im Hospital.« Der Goon trat wütend die hintere Tür ein. Glas splitterte. »Auch gut, dann kommt ihr mit mir, bis er auftaucht.« Er schaute hinaus, um sich zu vergewissern, dass er es nicht mit einem hilfsbereiten Nachbarn zu tun bekommen würde. Die Straße war verlassen, die Gardinen an den Fenstern der Nachbarhäuser noch zugezogen. Er öffnete den Kofferraum seines Wagens und die rechte hintere Tür. 855

5.09 Uhr Laura wurde als Erste in den Kofferraum gesteckt und danach der zappelnde Martin gegen den Rücksitz gedrückt. Eine drohende Faust hieß ihn sich ruhig zu verhalten. Angstvoll aufgerissene Augen beobachteten, wie der Kofferraum geschlossen wurde.

5.11 Uhr Die sich windende Anne Clancy wurde auf den Boden zwischen den Vorder- und Rücksitzen gezwängt. Verzweifelt stieß sie mit den verklebten Füßen zu, als die Tür einschnappte, doch das Einzige, was sie damit erreichte, war, dass sie sich ihre linke große Zehe an der Türfüllung brach. Sie wand sich vor Schmerz. Der Goon ließ den Motor so leise wie nur möglich an und lenkte den Lincoln auf die Straße. Er schaute sich um. Alles war still, in den Nachbarhäusern rührte sich noch nichts. Er lächelte, dann schnitt er noch ein Stück Klebeband ab, um die stumpfen Tritte der verklebten Füße zu beenden. Sieben Minuten später befand er sich auf einer von Dublins Hauptverbindungsstraßen. Auch hier war es noch verhältnismäßig ruhig. Der Goon hielt an jeder Ampel bei Rot an und achtete darauf, nicht zu schnell zu fahren oder durch zu häufiges Fahrbahnwechseln aufzufallen. Mo hatte ihn gewarnt, ja keine Aufmerksamkeit zu erregen. Als er den Liffey überquerte und an den Kiosken vorbeifuhr, in denen die Morgenzeitungen ausgepackt wurden, fühlte er sich richtig gut. Alles würde nach Plan verlaufen. Mo würde sich freuen. Und das Ganze würde bald vorüber sein. Ein erster Sonnenstrahl spiegelte sich auf einem der Stahl-Glas-Gebäude des International Financial Centers. Es verspricht ein schöner Tag zu werden, 856

dachte der Goon. Ja, es könnte ein sehr guter Tag werden.

6.07 Uhr Anne Clancy und ihre Kinder wurden nacheinander aus dem Auto gehoben und im Keller von Mos Haus auf den Boden gelegt. Der Goon keuchte vor Anstrengung, und Schweißperlen bildeten sich auf seinen Brauen und dem Schnurrbart. Er stellte zwölf Plastikbecher mit Wasser auf den Boden um sie herum. Aus jedem Becher ragte ein langer Strohhalm. Dann vergewisserte er sich, dass nichts in Reichweite war, womit sie ihre verklebten Gliedmaßen befreien könnten. Jetzt riss er die Klebebänder vom Mund der Kinder und ignorierte, wie sie vor Schmerz zusammenzuckten. »Ihr könnt schreien, so viel ihr wollt.« Er schob sein schwitzendes Gesicht dicht vor das von Anne Clancy. »Niemand wird euch hören.« Er griff an eine Ecke des Klebebands über ihrem Mund und zog es behutsamer ab als bei den Kindern. Anne Clancy spuckte ihn an. Verblüfft wich der Goon zurück, dann grinste er. »Sie sollten etwas netter sein. Ich könnte Ihnen vor den Augen Ihrer Kinder den Hals umdrehen.« An der Kellertür hielt er an. Sie war aus gehärtetem Stahl. »Bis später.« Er zog sie zu, und es wurde dunkel in dem kleinen Raum.

9.00 Uhr Der Gerichtspsychiater Patrick Dillon teilte Jim Clarke mit, dass er jetzt das Risiko eingehen würde. »Sonst könnte es sich noch Wochen hinziehen«, erklärte er am Telefon. Clarke war fertig angezogen und schon halb aus der Tür, als Dillons Anruf kam. Maeve hielt sich im Hintergrund und versuchte mitzuhören, was 857

gesprochen wurde. Sie hatte ihren Mann davon abhalten wollen, arbeiten zu gehen, nachdem sie von der Konfrontation mit Murphy und den Ministern gehört hatte. Clarke dachte gar nicht daran, auf sie zu hören. »Das ist ein Fall, den ich zu Ende führen muss«, hatte er beim Frühstück geknurrt. Das missbilligende Stirnrunzeln seiner Frau hatte er ignoriert. »Er muss heute vor achtzehn Uhr geklärt sein. Kelly ist entweder der Alleinschuldige oder nicht.« Trotzdem hatte der Anruf aus Rockdale ihn überrascht. »Ich habe im Sandymount Park eine Rekonstuktion des Tathergangs arrangiert«, hatte ihn Dillon informiert. »Heute um fünfzehn Uhr.« Clarke hatte nachgesehen, ob er sich die Zeit nehmen konnte, und hatte sein Kommen zugesichert. »Es könnte so und so ausgehen«, hatte der Psychiater gewarnt. »Garantie kann ich keine geben. Es ist ein Risiko, aber ich bin bereit, es einzugehen.« Clarke murmelte seine Bedenken. »Was haben wir sonst für eine Wahl?«, fragte Dillon. Clarke schwieg. »Regan wird Kelly heute Abend vor der ganzen Welt des Mordes bezichtigen. Es ist unsere letzte Chance, die Wahrheit herauszufinden.« Um zehn nach neun hatten sie sich auf die Vorgehensweise geeinigt. Clarke ließ seine Vormittagsvorhaben fallen und entschloss sich, bis dahin zu Hause zu bleiben und sich auszuruhen. Es liegt jetzt sowieso nicht mehr in meiner Hand, dachte er. Es hängt alles von Dillon ab. Und von Kelly. Er setzte sich an den Küchentisch zurück und schenkte sich eine frische Tasse Tee ein. Maeve lächelte ihm zu, und er brachte sogar ein schwaches Lächeln als Erwiderung zu Stande. »Heute Abend wird alles vorbei sein«, versprach er. Er schnallte seinen Revolver ab und versteckte ihn 858

in einer Keksdose. Ich werde ihn heute nicht brauchen.

36

10.17 Uhr Frank Clancy hatte das Gefühl, als hätten sich Gott und die Welt gegen ihn verschworen. »Hier spricht noch einmal Ihr Flugkapitän.« Die Passagiere im Virgin-Atlantic-Jet stöhnten auf. Die vorhergesehene Ankunftszeit in London-Heathrow war zehn Uhr gewesen. Während der vergangenen Stunde waren immer wieder

durch

Schlechtwetter

und

Probleme

mit

der

Flugsicherung bedingte Verzögerungen durchgesagt worden. Eine dichte Nebeldecke erstreckte sich über Südengland. Zu allem Überfluss hatten spanische Fluglotsen völlig unerwartet einen eintägigen Streik beschlossen, was noch zusätzlich zu beachtlichen Verzögerungen geführt hatte. Viele Flüge mussten nach und von Heathrow, Gatwick und Stansted umgeleitet werden. Eine größere Zahl von Flugzeugen wartete auf Landeerlaubnis. »Wir haben leider keine guten Neuigkeiten aus Heathrow. Die Nebeldecke ist dicht, und die Flugsicherung befürchtet, dass sie sich nicht so bald auflösen wird. Ich habe die Anweisung, noch eine Weile zu kreisen. Sie werden wieder von mir hören, sobald ich Neues erfahren habe. Versuchen Sie bitte, sich inzwischen zu entspannen. Ich habe die Flugbegleiter gebeten, Ihnen noch einmal den Film vorzuführen.« Das führte nur zu noch lauteren Beschwerden. Alle ahnten, dass die Verzögerung länger als angedeutet dauern würde. Frank Clancy auf seinem Sitz fast ganz hinten im Flieger machte sich immer größere Sorgen. Er kaute an seinen Nägeln. Alles wird in 859

Ordnung sein, versuchte er sich zu beruhigen. Sobald ich von Bord gehe, rufe ich zu Hause an. Ich weiß ganz einfach, dass alles in Ordnung ist. Der Optimist in ihm machte jedoch keinen sonderlich starken Eindruck auf den Pessimisten. Etwas stimmt nicht, ich weiß es. Er trank seine fünfte Tasse Kaffee innerhalb von vierzig Minuten. Seine Blase rebellierte. Er entschuldigte sich und stellte sich in die Schlange vor der Toilette. Durch ein Bullauge konnte er sehen, wie die Sonne in einer wirbelnden Wolkenmasse badete. Im Spiegel der winzigen Toilette betrachtete er sich kritisch. Sein Haar war verschwitzt und stand in alle Richtungen ab, sein Gesicht war von Sorge und Schlafmangel gezeichnet. Sein T-Shirt wies Schweißflecken auf. Er roch ungewaschen. Dunkle Bartstoppeln verunstalteten ihn noch mehr. Ich sehe aus wie ein Irrer. Er kehrte zu seinem Sitz zurück und wartete ungeduldig. Dreißig Minuten später. »Hier ist wieder Ihr Flugkapitän.« Köpfe reckten sich, Kopfhörer wurden von den Ohren gerissen. »Ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir nach Bristol umgeleitet werden.« Lautes Stöhnen, frustrierte Rufe. »Heathrow kann frühestens in zwei Stunden eine Landung garantieren. So lange reicht jedoch unser Treibstoff nicht. Deshalb riet man uns zur Landung in Bristol. Im Namen meiner Crew und Virgin Airlines entschuldige ich mich für diese Ungelegenheit, aber Umstände wie diese entziehen sich unserer Kontrolle.« Die Geschichte meines Lebens, dachte Frank Clancy. Umstände, gegen die ich machtlos bin! Lieber Gott, ich hoffe, Anne und die Kinder sind okay.

860

10.58 Uhr Anne Clancy bemühte sich in der Dunkelheit des Kellers, ihre Kinder vor einer Panik zu bewahren. Zuerst hatte sie sie auf ihre übliche ruhige, beherrschte Art besänftigen können. »Komm, Martin, du bist hier der Mann, du musst tapfer sein für uns alle. Ich möchte nicht, dass Laura hört, wie du dich aufführst, also reiß dich zusammen!« So hatte sie schon andere Ausbrüche, hauptsächlich von Eigensinn herrührende, erfolgreich unterbunden. Es funktionierte auch diesmal. Laura konnte die Furcht ihres Bruders zwar nicht sehen, dazu war es zu dunkel, aber sie spürte sie. Und sie spürte sie in ihrer Mutter. Sie schluchzte heftig. »Ich will zu meinem Daddy!« Das machte die Situation nur noch schlimmer. »Daddy wird bald hier sein, um uns zu befreien«, log Anne tapfer. »Und dann kann der böse Mann sich auf etwas gefasst machen. Er wird ihm einen Fausthieb geradewegs auf die Nase verpassen.« Die Kinder kicherten. »Kommt, wie wärs mit einem Lied?« Sie begannen zaghaft Beils zu singen. Doch Laura sang nicht so laut wie ihr Bruder. »Mummy, mir ist so heiß.«

12.37 Uhr »Ich würde Ihnen empfehlen, den Zug zu nehmen. Es gibt Verbindungen mit Anschluss an den Express nach Holyhead. Dort setzen Sie mit der Fähre nach Dublin über.« Die Ankunftshalle des Bristoler Flughafens war überfüllt. Frank Clancy hatte den Eindruck, dass jeder Flug mit dem ursprünglichen Ziel Heathrow zu diesem kleinen Flughafen in Westengland umgeleitet worden war. Offenbar wollten alle Angekommenen Auskunft, wie sie 861

ihre Reise fortsetzen konnten. Er hatte inzwischen den Kopf der Schlange vor der Information erreicht und erklärte einer gestressten jungen Brünetten in blauer Uniform seine Zwangslage. »Wann werde ich in Dublin eintreffen?« Die Brünette studierte Zug- und Fährfahrpläne. »Sieht ganz so aus, als würden Sie frühestens um neunzehn oder zwanzig Uhr ankommen.« Clancy fluchte. »Das ist zu spät.« Die Brünette schob die Fahrpläne zur Seite und begann in ihren Computer zu tippen. Fünf Minuten später hatte sie eine andere Route zu bieten. »In fünfzig Minuten gibt es einen Flug nach Paris. Ich kann Ihnen noch einen Platz buchen. Sie könnten dann ...« Tip, tip, tip auf der Tastatur. »... mit Air France nach Dublin fliegen. Ein Flug startet von Orly aus um sechzehn Uhr zehn, und Sie würden kurz nach siebzehn Uhr in Dublin sein.« Clancy brauchte nicht zu überlegen. »Ich nehme ihn.« Tip, tip, tip. Die Daten wurden eingegeben, die Flüge gebucht. Er rannte zu den Telefonen und reihte sich in eine weitere Schlange ein, in der verärgerte Fluggäste aus Europa und Nordamerika Freunde, Verwandte und Kollegen anrufen wollten, um zu erklären, wohin es sie verschlagen hatte. Nach qualvollen zehn Minuten hinter einem heftig

gestikulierenden

Italiener,

der

nicht

nur

seine

Flugverbindungen und sein Gepäck verloren hatte, sondern auch ein

Multimillionen-Lire-Geschäft,

durfte

Clancy

endlich

telefonieren. Er steckte seine Karte in den Spalt und wählte seine Privatnummer. Die Leitung war tot. Weder Besetzt- noch Freizeichen,

nichts.

Voller

Panik

drückte

er

auf

die

Wiederholtaste. Kein Zeichen. Wiederholtaste. Kein Zeichen. 862

Wiederholtaste. Kein Zeichen. Er wählte die Auskunft und ignorierte das verärgerte Brummein hinter sich. »Bedaure, Sir, die Leitung scheint gestört zu sein. Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Nummer haben?« Clancys Herz sank in Tiefen, die er nie für möglich gehalten hätte. »Ja, ja. Es ist meine Privatnummer.« Die Telefonistin erbot sich, es noch einmal zu versuchen. »Tut mir Leid, Sir, immer noch keine Verbindung. Ich werde es über Ihre lokale Zentrale versuchen.« Clancy zog sein T-Shirt hoch und wischte sich die Stirn ab. »Sehr gut, danke.« Die Schlange hinter ihm wurde immer erregter. Das Brummein war in wütendes Rufen und Fluchen übergegangen. Clancy bemühte sich, es zu ignorieren. »Tut mir Leid, Sir, die lokale Zentrale kommt auch nicht durch. Sie sagen, dass kein erkennbarer Ausfall verzeichnet ist. Sie werden einen Techniker hinschicken, um nachzusehen. Möchten Sie, dass ich Sie mit einer anderen Nummer verbinde?« Eine wütende Stimme brüllte in sein linkes Ohr. »He, Mann!« Clancy drehte sich um und erblickte einen erbosten jungen Mann mit dunklem Teint und Bürstenhaarschnitt. Er hatte seinen Platz in der Mitte der Schlange verlassen und war nach vorn gegangen, um die Sache zu beschleunigen. »Wir stecken alle in dieser verdammten Scheiße, also telefonieren Sie nicht mit der ganzen Welt. Zwei Anrufe sind das Maximum. Ihre Zeit ist um!« Er riss den Hörer aus Clancys zitternden Händen und gab ihn der Frau hinter ihm. Der Rest der Schlange klatschte Beifall. Clancy trat zurück. Er hatte gute Lust, dem Kerl einen Kinnhaken zu verpassen, beherrschte sich jedoch. Er musste schnell ein 863

anderes Telefon finden! Er sprintete zur Abflughalle. Sein Flug nach Paris startete in achtundzwanzig Minuten.

12.59 Uhr »Laura? Bist du okay?« Anne Clancy spürte das ungewohnte Schweigen ihrer Tochter. Wie eine Schlange bewegte sie sich näher an sie heran. Die Klebestreifen pressten ihre Hand- und Fußgelenke aneinander. Sie stupste ihr Gesicht an das des kleinen Mädchens und spürte sofort ihre hohe Temperatur. »Laura, bist du okay? Sprich mit mir, Laura!« Anne Clancy konnte ihre Angst nicht unterdrücken. Ihr Sohn erkannte es sofort. »Mummy, werden wir sterben?« Er begann zu schluchzen. »Nein, Martin, wir werden ganz bestimmt nicht sterben. Euer Daddy wird bald hier sein. Das weiß ich.« Anne schlängelte sich seitwärts zu den Bechern, hob einen mit den Zähnen an und schlängelte sich zurück. Dabei verschüttete sie das kostbare Wasser. Das bisschen, was übrig geblieben war, kippte sie über Lauras Gesicht. »Nicht, Mummy«, wimmerte das Kind. »Ich bin so müde. Lass mich in Ruhe.« Anne Clancy streckte sich neben ihrem Töchterchen aus und fing leise zu singen an. Sie spürte, wie das kleine Herz raste, fühlte, wie schnell die Brust sich hob und senkte. Viel zu schnell. »Martin«, befahl sie. Ihre Stimme war wieder beherrscht und fest. »Versuch einen dieser Becher mit den Zähnen zu fassen, und stoß dich vorsichtig zu mir herüber.« Sie ahnte, dass der 864

Junge aufmerksam zuhörte. »Dann gieß das Wasser über Lauras Gesicht. Schaffst du das?« Martin bewies, dass er der Lage gewachsen war. »Ja, Mum.« Er fing an, sich zu schlängeln. Anne Clancy begann zu beten.

13.04 Uhr Frank Clancy war wieder am Telefon, diesmal in der Abflughalle, am Flugsteig zu seiner Maschine nach Orly. Zuerst rief er seine Schwiegermutter an. Keine Antwort. Verzweifelt überlegte er, wie seine Nachbarn in der Greenlea Road hießen. Kein einziger Name fiel ihm ein. Er hörte die tadelnde Stimme seiner Frau. »Frank, du steckst so tief in deiner Arbeit, du würdest nicht einmal merken, wenn das Haus rund um dich herum abbrennt. Du hast nicht den geringsten Versuch unternommen, hier irgendwelche Kontakte zu knüpfen. Für dich gibt es nur Arbeit, Arbeit und Arbeit. Du hast außerhalb dieses Hospitals keinerlei Interessen. Ich wette, du weißt nicht einmal, wie unsere direkten Nachbarn heißen.« Jetzt bekam er die Quittung dafür. Er blätterte durch Telefonbücher. Schließlich wählte er die Nummer des Polizeireviers von Clontarf. »Clontarf Polizeistation. Was kann ich für Sie tun?« Clancy holte tief Luft. Er erklärte, wo er sich befand und welche Schwierigkeiten er hatte, seine Familie zu Haus zu erreichen. »Sollten Sie sich nicht eher an die Telefonzentrale wenden?«, meinte der Polizist am anderen Ende der Leitung. »Das habe ich längst«, entgegnete Clancy. Er versuchte verzweifelt, beherrscht zu klingen, damit nicht der Eindruck entstand, er sei nicht zurechnungsfähig. »Darum mache ich mir ja solche Sorgen, dass 865

meiner Frau und meinen Kindern etwas zugestoßen ist. könnten Sie bitte jemanden im Haus nachsehen lassen?« Der Polizist schwieg kurz, ehe er fragte: »Und was, glauben Sie, könnte ihnen zugestoßen sein?« Clancy befürchtete, dass der Mann nicht sehr viel von seiner Bitte hielt. »Das weiß ich nicht«, gestand er. »Es ist nur so ein Gefühl.« Im Hintergrund wurde sein Flug aufgerufen. »Wie war nochmal Ihr Name?«, fragte der Polizist. Clancy rasselte seinen Namen, seine Adresse, seine Stellung als Krankenhausarzt und seine ungefähre Ankunftszeit in Dublin herunter. »Und Sie kommen aus Paris?« »Ja.« »Aber Sie rufen jetzt von Bristol aus an?« O Gott! Kannst du nicht deinen Hintern bewegen und nachsehen? Spielt es eine Rolle, von woher ich komme, und wenn es vom Mond wäre? »Ja. Mein Flug wurde umgeleitet. In Heathrow sind bei dem Nebel weder Starts noch Landungen möglich. Die einzige Möglichkeit für mich, heimzukommen, ist über Orly.« Endlich schien der Polizist auf ihn einzugehen. »Haben Sie nicht daran gedacht, den Zug und dann die Fähre zu nehmen? Die Anschlüsse zu dem neuen Seacat-Schiff sind wirklich gut. Es braucht von Holyhead nur eine Stunde.« Clancy konnte sich nur schwer zurückhalten. Mit zusammengebissenen Zähnen erklärte er die Schwierigkeiten. Wieder wurde er über die Lautsprecheranlage ausgerufen. »Letzter Aufruf für Passagier Frank Clancy, sich an Bord des British- Airways-Flugs nach Orly zu begeben.« »Hören Sie«, schrie Clancy ins Telefon. »Ich muss an Bord. Können Sie das Haus checken lassen?« 866

»Wird gemacht, Dr. Clancy. Rufen Sie uns bei Ihrem nächsten Zwischenstopp an. Bis dahin kann ich Ihnen schon etwas sagen.« »Danke.« Clancy griff nach seiner Reisetasche und sprintete los.

37

13.27 Uhr Micko Kelly wurde nach dem Lunch am frühen Mittwochnachmittag, 20. Mai, aus seiner Zelle gebracht. Er trug frische Kleidung: eine dunkelblaue Jogginghose, eine knallrote Joggingjacke, ein weißes T-Shirt, weiße Socken und weiße Joggingschuhe. Seine Haarstoppeln sahen nun schon fast wie ein Bürstenhaarschnitt aus, und sein Gesicht war am Vormittag rasiert worden. Seine hoch gewachsene Gestalt war nicht mehr ganz so dürr wie bei seiner Ankunft im Rockdale Hospital. Seine Augen waren eine Spur klarer, und er lächelte seine Mitinsassen sogar hin und wieder an. »Wohin gehst du denn, Micko?«, fragte der rothaarige Serienmörder drei Zellen weiter. Kelly schüttelte verwundert den Kopf. »Scheiße, wenn ich das wüsste.« Dillon hatte die Oberaufsicht und erteilte die Befehle. Er trug eine lange Hose aus leichtem Stoff, ein kurzärmeliges, am Kragen offenes Hemd und leichte Schuhe. Zwei Wärter in dunkelblauen Trainingsanzügen kamen mit einem Satz Ketten und Hand- sowie Fußschellen herbei. Kelly, der sich inzwischen gut auskannte, streckte seine Arme aus, und die Handschellen mit Kette wurden ihm angelegt. Der zweite Satz Ketten schloss sich um seine Fußknöchel. Sie waren nun so dicht aneinander geket867

tet, dass Kelly nur kleine Schritte machen konnte. Kräftiger orangegelber Sonnenschein fiel durch die vergitterten Fenster entlang des Korridors. »So ein Glück wie du möcht ich auch haben, dass ich rausdarf, du Scheißer«, brummte ein Insasse. Ein schwarzes Zahnstummelgrinsen war die einzige Antwort. Die kleine Gruppe schlurfte an den offenen Zellen vorbei zu dem Eisentor, das den Sicherheitstrakt verschloss. Schlüssel klirrten und rasselten, als es auf- und wieder zugesperrt wurde. »Jesses«, murmelte Kelly, »ne große Chance hat man nicht, da rauszukommen.« Dillon lächelte. »Das hängt ganz vom Gesundheitszustand ab.« Kelly blieb stehen und schaute zurück. »Ich weiß nicht, was ich getan hab, dass ich hier drin bin, aber ich muss hier raus, bevor ich einen Dachschaden krieg.« Die Wärter grinsten spöttisch. »Ich will nicht in dieses Loch zurück.« Dillon ignorierte seinen Ausbruch. Ketten rasselten, als Kelly vorwärts geschoben wurde. Die Gruppe blieb vor einer weiteren mehrfach verschlossenen Tür stehen. Wieder klirrten Schlüssel. Kelly wurde hindurchgeschubst und betrat die weiß geflieste Eingangshalle. Einer der Wärter wählte einen extra großen Schlüssel, der in das Schloss der Haustür glitt. Zwei schnelle Drehungen, und die Tür wurde weit aufgerissen. Sonnenschein flutete

herein.

Kelly

versuchte

seine

Augen

vor

dem

ungewohnten blendenden Licht zu schützen, doch die Fesseln gestatteten es nicht. Er senkte den Kopf und schlurfte der Helligkeit entgegen. Die Wärme der Luft, die ländlichen Gerüche, das Summen von Insekten, das alles überschwemmte seine Sinne, und er blieb stehen, um den Augenblick zu 868

genießen. Einer der Wärter stupste ihn in den Rücken. »Weitergehen!« Die Ketten rasselten aufs Neue. Nicht weit vom Vordereingang entfernt parkten drei zivile Polizeiwagen, jeder mit Fahrer und bewaffnetem Kriminalbeamten. Alle Augen richteten sich auf die angekettete Gestalt im Jogging-anzug. Ein schwarzer Kleinbus fuhr vor, und seine Seitentür glitt zurück. Im Innern befanden sich eine lange Bank und am Boden davor Befestigungen für die angeketteten Hand- und Fußgelenke. Kelly erstarrte. Er beobachtete alles mit größtem Misstrauen. »Sie werden dich für immer wegbringen. Sie haben dir dein Haar genommen und deine Nägel und deine Sachen. Sie wollen dich, Michael!« Die Stimme zischte durch seinen Kopf wie eine aufgescheuchte Ratte. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang hörte Kelly sie, dann war sie weg. Sie hatte ihn aufgewühlt und nervös gemacht. Er wollte nicht in den Wagen einsteigen. Er erinnerte ihn an einen anderen Tag. Einen schlimmen Tag, einen sehr schlimmen Tag. »Ich steig da nicht ein!«, schrie er und wich zurück. Vier kräftige Arme hielten ihn fest. Dillon trat neben ihn und redete ihm gut zu. »Entspannen Sie sich. Es ist in Ordnung, es wird Ihnen nichts passieren.« Kelly knurrte die Polizisten an, die ihn beobachteten. Die Hitze brachte alle

ins

Schwitzen,

und

sie

fächelten

sich

mit

ihren

Schirmmützen Kühlung zu. Wagentüren standen offen, um Luft hereinzulassen, Fenster waren heruntergelassen. Es war dreizehn Uhr achtundvierzig. Kelly wurde um fünfzehn Uhr im Sandymount Park erwartet. Je nach Verkehrslage würden sie mindestens eine Stunde bis dorthin brauchen. »Michael«, sagte Dillon, »wenn Sie hier herauswollen, müssen Sie in diesen 869

Wagen steigen.« Keine Regung. Dillon trat noch näher an seinen Patienten. »Ich gebe Ihnen drei Minuten, danach lasse ich Sie in Ihre Zelle zurückbringen.« Er drehte Kellys Kopf herum, damit er die grauen, einschüchternden Mauern und den Dachfirst des Hospitals sehen konnte. Kelly schaute nur kurz hinauf, dann stieg er endlich mühsam ein. Die Ketten wurden an den Ringen im Boden festgemacht. Die beiden Wärter im Trainingsanzug setzten sich neben ihn auf die Bank. Dillon nahm vorne auf dem Beifahrersitz Platz. Er schaute über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass der Sicherheit Genüge getan war. »Okay, fahren Sie los.«

14.08 Uhr Zwei uniformierte Polizisten standen vor Frank Clancys Haus in der Greenlea Road. Sie trugen kurzärmelige Hemden mit offenem Kragen und hatten ihre Schirmmützen unter den Arm geklemmt. Beide waren jung, groß, mit kurzem, ordentlich gekämmtem und gescheiteltem Haar. Die Sonne stand hoch am fast wolkenlosen Himmel. Vögel zwitscherten fröhlich auf den nahen Bäumen. Die beiden hatten gute Laune, es schien weniger Verbrechen zu geben als sonst. Sie hatten die Fahrt vom Revier hierher über Vorortstraßen genossen. Der Tag war dadurch nicht so langweilig für sie. Die Greenlea Road war eine breite Allee mit Reihenhäusern an beiden Seiten. Es gab wenig Verkehr, sodass die Jugendlichen sogar auf der Straße Fußball spielen konnten. Einer der Polizisten läutete an der Haustür, während der andere sich mit dem Rücken gegen ein Fensterbrett lehnte. Sie bewunderten die Gegend, während sie warteten. Aber niemand machte auf. Der Polizist drückte wieder auf den Klingelknopf. 870

Auch jetzt tat sich nichts. Er öffnete den Briefschlitz und rief hinein. Nichts. Die beiden schlenderten zur Rückseite und entdeckten das zerbrochene Glas. Die Tür mit eingeschlagenen Scheiben stand offen. Vorsichtig schob einer sie auf und spähte hinein. Nichts. Er rief: »Hallo, ist wer zu Hause?« Keine Antwort. Rasch schauten sie sich im Parterre um. Sie sahen nichts Ungewöhnliches. Ein Polizist rannte die Treppe zum ersten Stock hinauf und entdeckte die zerwühlten Betten. Er rief. Immer noch nichts. Er nahm ein Familienfoto von einem Regal und betrachtete die lächelnden Gesichter. Dann eilte er die zehn Stufen zum Arbeitszimmer auf dem Speicher hinauf. Leer. Wieder rief er. Nichts. Er drückte auf die Knöpfe seines Handys. Ihm war klar, dass der beschauliche Tag vorüber war.

14.58 Uhr Jim Clarke humpelte am äußeren Gitter des Sandymount Parks entlang. Tony Molloy saß in einem Zivilfahrzeug, das daneben geparkt war. Weiße Spuren auf seinen Lippen verrieten, dass er wieder ein Magenmittel eingenommen hatte. Er massierte den aufgeblähten Bauch. Molloy hatte den Polizeifunk eingeschaltet. Man vermisste eine Familie, hörte er gerade. Eine Anne Clancy und ihre beiden Kinder von acht und vier Jahren. Beschreibung und Einzelheiten wurden wiederholt und überall in Dublin gesendet. Molloy prägte sich die Durchsage ein. Zwei Streifenwagen versperrten die Straße am Sandymount Park entlang, sie standen quer an ihrem Anfang und Ende. Eine Meute aus Reportern, Fotografen und Fernsehcrews drängte sich um die vorteilhaftesten Plätze. Uniformierte Polizisten patrouillierten mit 871

Walkie-Talkies. Die Männer wirkten nervös, als erwarteten sie jeden Moment einen Überfall. Drei Wagen standen in der Nähe eines offenen Parktors. Sie waren leer, die Türen weit aufgerissen. Bewaffnete Kriminalbeamte, deren Schusswaffen sich unter den Jacken abzeichneten, marschierten auf und ab. Immer wieder wischten sie sich in der nachmittäglichen Hitze den Schweiß von der Stirn. Sie wurden kurz abgelenkt, als Moss Kavanagh an einem Kontrollpunkt durchgelassen wurde und vorfuhr. Er ließ das Fenster herunter und strahlte Clarke an. »Das Baby ist da!«, erklärte er glücklich. Clarke schüttelte ihm die Hand. »Ah, Mossy, das ist ja wunderbar.« Er freute sich mit ihm, aber plötzlich ärgerte er sich über sich selbst. Er hatte völlig vergessen, nach dem Befinden von Caroline, Kavanaghs Frau, zu fragen. »Wann?« Kavanagh grinste über das ganze Gesicht. »Heute Morgen um drei. Die Wehen fingen gestern um achtzehn Uhr an. Die Fruchtblase platzte um dreiundzwanzig Uhr, und der kleine Alexander kam um drei auf die Welt. Es ist ganz schnell gegangen, sagten die Ärzte.« Clarke schüttelte ihm noch einmal die Hand. »Mossy, ich freue mich ehrlich für Sie beide. Ich weiß, wie lange Sie warten mussten, aber das ist es doch wert gewesen, nicht wahr?« Die Freude war ansteckend, und beide Männer grinsten. Kavanagh zuckte mit den Schultern. »Nun, beim dritten Mal hat es endlich geklappt. Die beiden Fehlgeburten haben uns fast das Herz gebrochen. Doch der Winzling lässt das alles vergessen.« »Ja, das ist wunderbar.« Clarke erinnerte sich an den Tag, als er Katy nach Hause gebracht hatte. »Was wiegt er denn?« »Viertausendzweihundertvierundachtzig Gramm!« Molloy rief: »Wir sollten lieber Platz machen, die Show beginnt gleich.« 872

Ein schwarzer Kleinbus hatte an einer der Straßensperren angehalten. Ein Kopf streckte sich halb aus dem Beifahrerfenster, eine Hand gestikulierte. Einer der blockierenden Wagen wurde zur Seite gefahren, und der Kleinbus rollte langsam in die überwachte Zone. Clarke, Molloy und Kavanagh beobachteten ihn. Nur der gedämpfte Verkehrslärm Dublins störte die Stille. Die Seitentür des Kleinbusses wurde von innen aufgeschoben. Patrick Dillon rutschte vom Beifahrersitz und streckte sich. Micko Kellys Wärter stiegen aus und zupften an ihren verschwitzten Trainingsanzügen. Kameras surrten. Dillon lehnte sich in den Bus hinein und brachte ihn dadurch ein wenig zum Schaukeln, dann trat er zurück. Ein weißer Joggingschuh berührte das Pflaster, schließlich stand Micko Kelly im blau-roten Jogginganzug auf dem Gehsteig. Seine Handgelenke waren noch festgekettet, seine Fußgelenke jedoch frei. Das Surren der Fernsehkameras wurde intensiver. Einige der Fotografen und Kameraleute riefen Kelly zu, er solle in ihre Richtung blicken. Kelly wollte es tun, er wurde jedoch vorwärts geschoben und stolperte durch das offene Tor in den Sandymount Park. Die Luft roch nach Regen. Wind war aufgekommen. Es wurde kühler, weniger schwül. »Jetzt kommt der spannende Moment«, murmelte Molloy. Dillon berief sofort eine Besprechung ein. Jene, die er dabeihaben wollte, durften näher kommen, der Rest musste zurückweichen und wurde abgeschirmt. Kelly stand zwischen seinen Wärtern und schaute interessiert zu. Er wischte sich über die Stirn -die einzige Bewegung, die seine Ketten gestatteten. Dillon und Kelly, Clarke und Molloy bildeten jetzt eine Gruppe. »Sobald ihm die Handschellen abgenommen werden, möchte ich, dass 873

sich alle zum Parkgitter zurückziehen«, bestimmte Dillon. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. »Niemand darf näher kommen, ehe ich es erlaube.« Er machte eine Pause. »Er steht offiziell immer noch unter meiner Aufsicht. Er ist ein Patient, kein Gefangener. Ist das klar?« Seine Stimme klang beschwörend. Clarke blickte auf die Gestalt im rot-blauen Jogginganzug. »Durchaus.« Dillon fuhr sich mit einem weißen Taschentuch über seine Stirn. »Wenn das hier vorüber ist«, fügte er hinzu, »möchte ich, dass er ins Hospital zurückgebracht wird, ohne dass wir von Fotografen verfolgt werden.« Clarke winkte sofort Moss Kavanagh zu sich. »Darauf haben Sie mein Wort.« Dillon holte sein Diktiergerät aus einer Hosentasche, schob eine Mikrokassette ein und vergewisserte sich, dass die Batterien in Ordnung waren. »Ich nehme alles selbst auf«, erklärte er, »und kann mithören.« Er klopfte leicht auf die Hosentasche, aus der ein winziges Mikrofon ragte. »Damit Ihnen nichts entgeht, habe ich Kopfhörer für Sie mitgebracht.« Er händigte sie aus. Clarke steckte einen in sein rechtes Ohr und drehte ihn so lange, bis er richtig saß. Molloy tat es ihm gleich. Die Minikopfhörer waren mit kleinen Antennen von Walkmangröße verbunden, die an den Hosengurten befestigt wurden. Dillon fädelte ein dünnes schwarzes Kabel durch sein Hemd, klemmte ein Mikrofon in ein Knopfloch und drehte es so, dass niemand es sehen konnte. Das Kabel steckte er in das Diktiergerät und schaltete es ein. »Okay«, sagte er, »fangen wir an.« 874

Clarke und Molloy zogen sich zehn Meter zurück. Micko Kelly wurden die Handschellen abgenommen. Er rieb sich die Haut, wo sie eingeschnitten hatten, dann sah er sich um. Er schien unsicher, verwirrt zu sein. Kameras surrten im Hintergrund. Dil-lon checkte noch einmal sein Diktiergerät, dann führte er seinen Patienten zu dem hölzernen Unterschlupf. »Das ist es«, sagte er. »Das ist unsere letzte Chance, die Wahrheit herauszufinden.« Molloy und Clarke justierten die Lautstärke ihrer Kopfhörer. Der Unterschlupf war nach Dillons Anweisungen hergerichtet worden. Er sah fast so aus wie in der Nacht des 12. Mai. Das verrottete Holz, die Graffiti, die abblätternde Farbe waren unberührt. Leere Bierdosen, Saftflaschen und Zigarettenstummel hatte man auf gut Glück verteilt. Eine blutrote Injektionsspritze war strategisch unter den ramponierten und aufgeschlitzten Sitz gelegt worden. »Setzen Sie sich dort hin«, befahl Dillon. Kelly schlurfte schwerfällig zu einem Ende des halbrunden Sitzes. Dillon wartete, dann nahm er am anderen Ende Platz. »Möchten Sie eine Zigarette?« Kellys Augen leuchteten auf. Er nickte. Dillon holte eine vorbereitete selbst gedrehte Zigarette hervor. Kelly steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an dem angebotenen Streichholz an. Das Zigarettenende begann zu glimmen. Gierig zog er daran. »Scheiße, ist das gut.« Er lehnte sich zurück und rauchte zufrieden. »Erinnern Sie sich an diesen Ort hier?«, fragte ihn Dillon, als die Zigarette zu einem Stummel geschrumpft war. Er bot eine zweite an. Kelly inhalierte tief. Als eine Spur Tabak auf seiner Zunge haften blieb, spuckte er aus. Desinteressiert sah er sich in dem 875

Unterschlupf um. »Nee.« »Sie waren schon einmal hier. In der Nacht, als Jennifer Marks ermordet wurde, waren Sie mit ihr hier.« Kelly schaute sich benommen um. Er deutete mit einem Finger auf seine Brust. »Ich? Hier?«, fragte er verwundert. Wieder blieb ein wenig Tabak auf seiner Zunge kleben. Er löste es mit einem Finger und betrachtete es eingehend. »Jennifer Marks?« »So hieß sie.« Jim Clarke nestelte an seinem Kopfhörer herum. Er drehte sich zur Seite. Der Empfang wurde besser. »Mit mir? Hier drin? Sind Sie sicher?« Es schien Kelly nicht sonderlich zu interessieren. »Ganz sicher. Sie wurden mit ihr gesehen.« Dillon rückte das Mikrofon in seinem Knopfloch zurecht, Kellys Reaktionen machten ihn nervös. Er blickte hinaus. Die Polizisten standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich leise miteinander. Die Sonne kam kurz hinter einer Wolke hervor und blendete mit ihrer Helligkeit. Dann lag der Park wieder im Schatten. »Sie hatten sich gerade Stoff besorgt und hingen hier herum. Dann haben sie getrunken und sich wahrscheinlich einen Schuss gesetzt.« »War ich high?« »Das möchten wir herausfinden. Wie high Sie in jener Nacht waren.« Kelly nahm einen Lungenzug und schaute sich um. »Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl.« Die Stimme verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Jennifer Marks? Ist das das Mädchen auf dem Bild, das Sie mir 876

gezeigt haben?« »Ja.« »Nein, Mo, nein. Ich wollte doch nichts tun.« Die Stimmen kehrten zurück. Kelly konnte zwei unterscheiden. Eine schrie wütend. Sehr wütend. »Dunkelhaariges Mädchen, nicht wahr? Sie sagten, sie war ein dunkelhaariges Mädchen?« »Stimmt. Langes, pechschwarzes Haar. Ein sehr hübsches Mädchen.« »Geben Sie mir noch nen Glimmstengel.« Kellys Hände zitterten, als Dillon die Zigarette für ihn anzündete. Er inhalierte, hustete, dann nahm er einen noch tieferen Zug. »Was ist mit ihr passiert?« Sogar durch die Kopfhörer war der veränderte Ton seiner Stimme zu erkennen. Kelly war erregt. »Sie wurde erstochen.« Dillon rückte näher an Kelly heran. »Sie war hier in diesem Unterschlupf mit Ihnen. Hatten Sie Streit? Hat sie vielleicht etwas gesagt, das Ihnen nicht gefiel? War es das?« Kelly zitterte. Schweiß tropfte von seinem Kopf. Er versuchte ihn abzuwischen. » Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl.« »Ich hab versucht, ihr zu helfen, ehrlich.« Sein Kopf sank nach vorn. Tabakstückchen und Speichel hingen an seiner Unterlippe. »Erzählen Sie mir, was passiert ist?« Dillons Stimme war beherrscht. Er blickte auf seine Uhr. Es war fünfzehn Uhr fünfunddreißig. Sie waren schon fast fünfzehn Minuten in dem Unterschlupf. »Ich kann mich nicht erinnern«, schrie Kelly plötzlich. »Es will einfach nicht kommen. Hören Sie auf, mich zu quälen.« »Es war also noch jemand anderes hier, nicht wahr? War es einer Ihrer Kumpel?« Dillon war wieder ein wenig näher gerückt. Er konnte 877

Kellys heißen Atem spüren. »Wer war es?« »Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl.« Die Worte kamen wieder, wütende, drohende Worte. Gehässige Worte. Kelly begann erregt herumzustapfen. Am Parkgitter machte einer der Wärter im Trainingsanzug einen Schritt vorwärts, dann blieb er stehen. Dillon hatte beruhigend eine Hand gehoben. »Warum haben Sie sie erstochen? Hat Sie Ihnen einen Deal versaut?« Dillons Stimme wurde lauter. »Warum haben Sie sie getötet?« Kelly blickte zu ihm. Schaum bildete sich um seine Lippen. »Ich wollte ja gar nichts tun. Es war der große Bastard, der angefangen hat.« Clarke und Molloy rempelten einander fast an. Aufgeregt legten sie die Hand an den Kopfhörer. Dillon setzte sich wieder. »Was für ein großer Bastard?« »Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl.« Wieder dieselben Worte. Kelly blieb stehen. Er senkte den Kopf, stöhnte, dann schlang er beide Hände um den Körper. Schweiß strömte von seinem Gesicht, tropfte vom Kinn auf das T-Shirt. Plötzlich riss er sich die rote Joggingjacke vom Leib und warf sie auf den Boden. »Lass mich raus!« Er rannte hinaus zum Park, als wollte er fliehen. Da sah er es. »Jesses!«, brüllte er. »Was hast du mit ihr gemacht?« Auf dem grünen Gras des Sandymount Parks lag ein blutender Körper. Kurzer schwarzer Rock und rot beflecktes T-Shirt, dazu blaue Socken und weiße Joggingschuhe. Das Gesicht umrahmt von dunklem Haar. Rote Lippen. Der Körper lag genau an der Stelle, wo Jennifer Marks gelegen hatte, als sie vor zehn Tagen nie878

dergestochen worden war. Eine Schaufensterpuppe, die genau nach Dillons Anweisungen gekleidet und hergerichtet war. Kelly versuchte in den Unterschlupf zurückzuweichen, doch Dillon hielt ihn von hinten fest. »Was ist mit dem Mädchen passiert? Wer hat sie getötet?« Kelly wimmerte vor Angst. Er versuchte den Blick von dem Körper abzuwenden. »Warum haben Sie sie umgebracht?«, brüllte Dillon. »Sie haben von Anfang an gelogen. Sie haben das Mädchen getötet. NICHT WAHR?« »Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl.« Die Stimme hallte wie ein Pistolenschuss in Kellys Kopf. »Ich wollte ihr doch nichts tun.« Seine Stimme wurde zu einem gebrochenen Wispern. »Ich wollte ihr nichts tun.« Dillon ließ ihm keine Ruhe. »Was ist passiert?« Er deutete auf die Puppe. »Was ist Jennifer Marks passiert?« Alle Stimmen kehrten gleichzeitig zurück. Eine Kakofonie aus Flüchen und wildem Gebrüll machte sich in Kellys Gehirn breit. »Nein, Mo. Ich wollte doch nichts tun!« Die Erinnerung kehrte zurück. Kellys Kopf wurde klar, und er sah die schreckliche Szene wieder vor sich. »Es waren zwei.« Er sackte in die Knie. Tony Molloy blickte auf seine Uhr. Es war sechzehn Uhr fünfzehn. Er wusste, dass die Schulen in dieser Gegend ihre Pforten für heute geschlossen hatten. Er wusste auch, dass viele der Schüler die Straße am Park entlang benutzten und jetzt an den Kontrollpunkten aufgehalten wurden. Er befürchtete, dass sie sich laut beschwerten und Kelly dadurch abgelenkt würde. Macht schon, macht schon! »Wer waren sie?«, fragte Dillon angespannt. »Nein, Mo, nein. 879

Bitte, nein!« »Ich weiß nicht. Ich hab sie noch nie zuvor gesehen. Aber sie hat sie gekannt. Scheiße. Sie hat sie gekannt.« Es war, als wäre ein Schleier vor Kellys Gedächtnis weggezogen worden, ein dichter, in Blut getauchter Schleier. Er klang ruhiger. »Wir waren in diesem Unterschlupf, und sie sind reingekommen. Sie wusste, wer sie waren.« »Was ist passiert?« »Ich bin geblieben. Ich wusste nicht, wer sie waren. War mir auch scheißegal. Sie is mit ihnen raus, um zu reden.« »Was ist dann passiert?« Kelly schüttelte den Kopf. »Weiß ich nicht. Ich hab diese Schreie gehört, sie hat nach mir geschrien.« »Reden Sie weiter«, bat Dillon. »Ich bin rausgestolpert, um zu schauen, was los war.« Er brach ab, als das Bild schwand und wiederkehrte. »Einer von ihnen hat gesagt, ich soll verschwinden. Der große Bastard wars. Sogar im Dunkeln hat er riesengroß ausgesehen.« »Was haben sie gemacht?« »Sie haben sich um was gestritten.« Kelly fuhr mit den Armen durch die Luft. »Sie hat sie angebrüllt, dass sie sie in Ruhe lassen sollen. >Ich hab mir nichts dabei gedacht< hat sie geschrien. Oder so was Ähnliches.« »Nein, Mo, nein. Ich hatte nicht vor, was zu tun, ehrlich.« »Was haben Sie getan?« Kelly fuhr sich durch das kurze Haar, er fühlte, dass es nass war, und rieb den Schweiß an seinem T-Shirt ab. »Ich hab ein Messer gehabt.« Dillon erstarrte. Zehn Meter entfernt erstarrten auch Clarke und 880

Molloy. »Was haben Sie mit dem Messer getan?« Dillon bemühte sich, seine Fragen klar und ruhig zu stellen. Er spürte, dass er nun kurz vor dem Durchbruch stand. »Ich bin auf den großen Kerl losgegangen.« »Nein, Micko, nein!« »Was ist dann geschehen?« »Sie hat versucht, mich aufzuhalten.« Kelly schüttelte verärgert den Kopf. »Das dumme Luder.« »Was dann? Ich muss alles wissen.« Kelly sah die Bewegungen im Dunkeln, die Abwehr, die auf ihn einschlagenden Hände. »Sie hat angefangen, mich zu schlagen. Ich wollt an den großen Bastard ran, aber sie war im Weg. Sie hat versucht, mir das Messer wegzunehmen.« Kelly zitterte heftig. »Ich hab die Wut gekriegt und nach ihr gestochen. Zweimal.« Er würgte und presste die Hände gegen den Bauch. »Ich wollt dem kleinen Luder nichts tun. Sie is mir bloß in die Quere gekommen.« Er versuchte sein Gesicht abzuwischen. »Ich wollte sie hochheben, aber sie war so voll Blut, dass sie mir aus den Händen gerutscht ist.« Zitternd sackte er ins Gras. Dillon setzte sich neben ihn. »Was haben die anderen getan?« Kelly zog die Knie an die Brust. »Sie haben sie weggezerrt. Sie wollten sie. Der große Bastard is wieder auf mich losgegangen.« »Gib mir das Scheiß Messer, du Dreckskerl.« »Was haben Sie getan?« »Ich? Weggerannt. Ich hab das Scheiß Messer fallen lassen und bin weggelaufen.« Er erinnerte sich an die letzten Augenblicke. Er hatte sich mit blutigen Händen am Gitterzaun festgehalten. Und er hatte zurückgeschaut. Die schattenhaften Gestalten zerr881

ten das junge Mädchen davon. Er hörte laute, wütende Schreie und Verwünschungen. Dann sah er, wie sein eigenes Messer blitzte. Die Klinge stieß heftig zu. »Sie haben auf sie eingestochen, als sie am Boden lag.« »Wer waren sie?« »Nein, Mo! Ich werde nichts tun.« Kelly wischte sein Gesicht ab. »Sie hat immer wieder >Mo< geschrien. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Mo, Mo, Scheiß Mo.« Er schnauzte sich die Nase am T-Shirt. »Das andere Luder müsst es wissen.« Dillon blickte ihn an. »Welches andere Luder?« »Das andere Luder im Pub. Sie hat mit dem großen Bastard geredet. Sie kennt ihn.« Molloy flüsterte zu Clarke: »Das ist Joan Armstrong. Er kann nur sie meinen. Sie hat es die ganze Zeit gewusst.« Clarke winkte Moss Kavanagh zu sich. »Wo wird sie jetzt sein?« Molloy blickte auf seine Uhr. »Sie dürfte gerade an der Haltestelle Sydney Parade Avenue aussteigen.« Clarke humpelte dem näher kommenden Kavanagh entgegen und bedeutete ihm, mit ihm zum Tor zu gehen. »Lassen Sie Kelly zurückbringen«, rief er über die Schulter, »und folgen Sie mir. Wenn die Armstrong etwas weiß, will ich es sofort von ihr hören.« Während Molloy fieberhaft Anweisungen erteilte, drängte sich etwas in sein Gedächtnis. Er kramte in seinen Hosentaschen, bis er ein zerknittertes Stück Papier ertastete. Es war sein rasch am Telefon mitgekritzelter Bericht über neue Beweise, die man am Vormittag aus dem Labor der Gerichtsmedizin durchgegeben hatte. Die am Tatort gefundenen Fasern hatten endlich identifiziert werden können. Es handelte 882

sich um Mohair. Mo. Mohair. Er wagte nicht zu glauben, was er daraus schloss. Mo. Mohair. Niemals! Verrückt! Zu gefährlich! Er sprintete zu seinem Wagen, um Clarke zu folgen.

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16.34 Uhr Der Goon war zuerst da. Joan Armstrong stieg an der Haltestelle Sydney Parade Avenue aus. Sie nestelte an ihrer Schultasche, ließ anscheinend unabsichtlich Bücher fallen, hob sie wieder auf, ließ sich Zeit. Sie wartete, bis ihre Mitschülerinnen den Bahnsteig verlassen hatten. Verstohlen hielt sie Ausschau nach dem Goon, ja, sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er da sein oder zumindest noch kommen würde. Sie wusste nicht, wie sie es heute überhaupt geschafft hatte, so lange durchzuhalten. Während sämtlicher Unterrichtsstunden war sie zappelig und gereizt gewesen, kaum im Stande, an etwas anderes zu denken als an weißes Pulver, eine Glasampulle und eine saubere Spritze. Sie brauchte unbedingt einen Schuss. Ah, da war der Goon ja! Er war ganz in Schwarz gekleidet. Schwarze Jacke, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, schwarze Joggingschuhe. Das Haar straff nach hinten. Wie üblich lehnte er am zweiten Laternenpfahl von Ailesbury Gardens. Sie vergewisserte sich, dass niemand ihr folgte, und nahm die Eisenbrücke über die Schienen zur anderen Seite. Sie schlenderte so gleichmütig wie möglich. Das war die übliche Vereinbarung mit Mo. Wenn der Goon an dem Laternenpfahl lehnte, stand der geparkte Wagen mit Mo in der Nähe. Dann waren sie und Jenny 883

zu ihm gegangen. Sie verstanden, dass Mo nicht gesehen werden durfte, er war so berühmt. »Wo ist Mo?« Sie ging am Goon vorbei, anscheinend ohne auf ihn zu achten. Er ließ sie ein paar Meter weiter gehen, schaute sich um, ob jemand hersah, dann folgte er ihr. »Er konnte nicht kommen. Ich soll dich zu ihm nach Hause bringen.« Joan Armstrong drehte sich um. »Ich kann nicht, das weißt du doch. Ich muss spätestens um sechs daheim sein!« Der Goon blickte auf seine Uhr. »Kein Problem. Ich setze dich rechtzeitig hundert Meter vor deiner Haustür ab.« »Wo ist der Wagen?« »Um die Ecke.« Joan Armstrong hatte ein ungutes Gefühl. Der schwarze Wagen mit den von außen undurchsichtigen schwarzen Scheiben war gewöhnlich ganz in der Nähe geparkt. »Wo um die Ecke?« Der Goon fasste sie grob am Arm. »Um die nächste. Jetzt mach schon, los!« Der metallicschwarze Lincoln stand am Ende einer stillen Sackgasse, das Heck ihnen zugewandt. Der Goon zog Joan die letzten zwanzig Meter. Sein Griff war fest wie eine Schraubzwinge. »Du tust mir weh!«, protestierte sie. »Dann komm, sonst schaffen wir es nicht rechtzeitig. Schließlich hast du gesagt, du willst um sechs zu Hause sein.« In der Ferne heulte eine Polizeisirene. »Na, komm!« Der Goon drückte auf die Fernbedienung. Die Alarmanlage wurde ausgeschaltet. Die Rücklichter blinkten zweimal. Die Türschlösser klickten, der Kofferraumdeckel öffnete sich leicht. Der Goon schob das junge Mädchen zum Kofferraum. »Du kannst deine Schultasche da reintun.« Joan Armstrong blickte ängstlich hoch. »Warum muss ich meine Tasche in den Kofferraum tun?« Angst lag in ihrer Stimme. Mit einer Hand riss der Goon den Deckel ganz auf. Joan 884

Armstrong drehte sich um. Als sie die schwarze Plastikplane sah, fing sie zu schreien an. Der Goon versetzte ihr einen Hieb, und sie sackte zusammen. Mit einer raschen Bewegung packte er sie an den Fußgelenken und hob sie hinein. Er blickte sich um. Die Straße war leer, nichts rührte sich. Er überflog auch die Fenster. Niemand. Das Sirenengeheul kam näher. Er öffnete das eingelassene Fach und holte eine Rolle Klebeband heraus. In Sekundenschnelle war Joan Armstrong an den Knöcheln gefesselt. Sie stöhnte, war jedoch zu benommen, um zu begreifen, was geschah. Wieder wurde Klebeband mit dem Schnappmesser abgeschnitten, dann klebte der Goon ihre Hände zusammen. Das Ende des breiten Bandes heftete er an den Kofferraumdeckel, nahm Maß, schnitt einen kurzen Streifen ab und klebte ihn auf den Mund des stöhnenden Mädchens. Der Goon blickte nach links und rechts. Nichts. Dann wandte er sich wieder um und sah in die starrenden Augen des Mädchens. Grinsend schmetterte er den Deckel zu. Der Goon ließ sich auf den Fahrersitz links im Auto fallen. Das Sirenengeheul hatte aufgehört. Es war reichlich Zeit. Er würde zu der abgelegenen Tiefgarage fahren, in der er sich zuvor umgeschaut hatte, und dem Mädchen die Kehle aufschlitzen. Dann würde er den Wagen innen und außen mit Benzin übergießen und ein Streichholz anzünden. Einfach. Wie einem Baby den Lutscher wegzunehmen.

16.57 Uhr Frank Clancy war ein nervöses Wrack. Von seinem Fensterplatz an Bord der Air-France-Maschine von Paris nach Dublin starrte 885

er hinaus auf die Wolken. Sein Herz hämmerte. Er schwitzte. Er hatte das Gefühl, dass ihm schlecht wurde. Seit dem Frühstück in der Virgin-Atlantic-Maschine von Boston nach Bristol hatte er keinen Bissen mehr gegessen. Sein Haar stand in alle Richtungen ab, sein T-Shirt war schweißgetränkt. Er wusste jetzt, dass irgendetwas mit seiner Familie passiert war. Clancy hatte von Orly aus angerufen. »Wann kommt Ihr Flug in Dublin an?« Der Dienst habende Sergeant im Polizeirevier Clon-tarf hatte sich allzu offensichtlich bemüht, ruhig zu klingen. »Siebzehn Uhr zehn. Warum?« »Wir werden Sie abholen.« »Warum? Was ist passiert?« »Wir wissen nicht, ob überhaupt was passiert ist, Dr. Clancy.« Der Polizist klang nicht überzeugend. »Es ist nur, dass Ihre Frau und die Kinder nicht zu Hause sind.« Clancy brach fast zusammen. Seine Finger krallten sich um den Hörer. »Sie wissen mehr, nicht wahr?«, schrie er. »Sie sagen mir nicht alles.« »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, ermahnte ihn der Sergeant. »Es gibt wahrscheinlich eine ganz einfache Erklärung für alles.« »Sie werden vermisst, nicht wahr?« »Nun, zu Hause sind sie jedenfalls nicht.« »O Gott, sie haben sie! Allmächtiger, sie haben sie!« Nach einer kurzen Pause fragte der Polizist: »Wer genau wäre das, Dr. Clancy? Wer, glauben sie, hat sie?« Clancy schlug sich frustriert gegen die Stirn. Wie soll ich das alles erklären? Wenn ich etwas von einem Komplott erwähne, wird man mich verhaften und vielleicht in eine Irrenanstalt bringen. Ich wette, er verdächtigt mich. Verbrechen in Familien werden fast immer von einem Angehörigen verübt. »Ich habe mehr Zeit, alles zu 886

erklären, wenn ich in Dublin ankomme. Jetzt muss ich mich beeilen, dass ich meinen Flieger noch bekomme.« »Ist gut, Dr. Clancy. Der Streifenwagen wird Sie auf der Rollbahn erwarten, und meine Männer werden Sie direkt vom Flugzeug abholen, dann brauchen Sie nicht durch die Ankunftshalle.« Das beunruhigte Clancy noch mehr. Entweder wollen sie mich verhaften oder sie wissen wirklich mehr, als sie sagen. Großer Gott! Dr. Harry Walters' ominöse Abschiedsworte in Boston gingen ihm nicht aus dem Kopf. »Seien Sie vorsichtig, Frank. Der Einsatz in diesem Spiel ist hoch. Wer immer dahinter steckt, kann nicht mehr zurück. Schauen Sie über die Schulter. Ich wiederhole, seien Sie bitte vorsichtig.« Ich war vorsichtig, aber nicht vorsichtig genug bei meiner Familie. Wenn Anne oder den Kindern etwas passiert ist, bringe ich dieses Miststück Speer um. Eigenhändig. Ich drehe ihr den Hals um, bis ich höre, wie die Knochen brechen. Er tätigte verzweifelt zwei weitere Anrufe. Seine Schwiegermutter nahm ab, auch sie war zutiefst besorgt. »Nein, sie sind nicht hier, Frank. Ich habe den ganzen Vormittag versucht, sie zu erreichen. Die Leitung ist tot. Anne war sehr erregt, als sie hier wegfuhr. Die Kinder weinten.« Ja, stochere nur mit dem Messer in der Wunde! »Ich weiß nicht, was du dir dabei denkst, aber...« Er hängte ein. Dann wählte er die Verwaltung des Mercy Hospitals. »Nein, es ist leider niemand hier, Dr. Clancy. Das halbe Krankenhaus hat sich freigenommen für die große Pressekonferenz heute Abend. Alle werden dort erwartet, um die Rede des Ministers zu hören.« Clancy fluchte laut, dann entschuldigte er sich. »Aber hier ist eine Nachricht für Sie.« Er schöpfte Hoffnung. Bestimmt ist sie 887

von Anne. Sie hat die Kinder irgendwo hingebracht und Einzelheiten hinterlassen. »Oh, ja? Wie lautet sie? Bitte schnell!« Das Mädchen am anderen Ende hüstelte nervös. »Sie werden morgen Vormittag zu einer Disziplinaranhörung erwartet. Punkt neun Uhr. Hier steht noch, dass Sie einen Rechtsbeistand mitbringen sollen. Die Anhörung findet im Sitzungssaal des Hospitals statt.« Für Frank Clancy brach eine Welt zusammen. Ich werde meine Stellung verlieren. Meine Frau und meine Kinder werden vermisst. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken sich umzubringen. Alles in einer einzigen Sekunde zu beenden. Doch dann biss er die Zähne zusammen. Noch nicht. Ich gebe mich noch nicht geschlagen. Er sprintete zum Flugsteig zu seiner Maschine nach Hause. Erst sorge ich dafür, dass du in der Hölle schmorst, Linda Speer!

39

17.15 Uhr Jim Clarke entdeckte den Lincoln als Erster. Moss Kavanagh war mit halsbrecherischem Tempo, heulenden Sirenen und Blaulicht vom Sandymount Park aus losgefahren. Er hatte Ampeln missachtet, auf Bürgersteigen überholt und an Kreuzungen ein Verkehrschaos verursacht. Vor der Haltestelle Sydney Parade Avenue hielt er schließlich mit quietschenden Bremsen an. Clarke erkannte sofort, dass sie zu spät kamen. Der Bahnsteig war verlassen und auf den nahen Straßen niemand zu sehen. Er wollte gerade aussteigen, um den Stationsvorsteher zu befragen, als er einen schwarzen Wagen rückwärts aus einer Straße kommen sah. Er raste gefährlich schnell über die Hauptstraße und 888

zwang einen Motorradfahrer, sich mit einem Sprung in eine Hecke zu retten. Alles an dem Wagen passte auf Danny Cartons Beschreibung. Clarke wusste, dass er seinen Mann endlich hatte. »Schnell, Mossy, treten Sie aufs Gas!« Sie holten den Lincoln auf der Merrion Road südlich der Innenstadt ein. Er war etwa zehn Wagen vor ihnen, schlängelte sich vorwärts, wechselte die Spur und drängte sich wieder in die Schlange. Verärgerte Fahrer hupten und drohten mit den Fäusten. Kavanagh benachrichtigte das Hauptquartier und beschrieb den Wagen. »Wir kriegen ihn, Chef. Irgendwo wird er nicht schnell genug weiterkommen, und dann schnappen wir uns den Kerl.« Plötzlich bog der Lincoln scharf in eine Nebenstraße ein. Kavanagh gab Gas und zwang die anderen Autos, an den Straßenrand auszuweichen. Er konnte gerade noch rechtzeitig abbiegen, um das Rücklicht des schwarzen Wagens über eine kleine, geschwungene Brücke verschwinden zu sehen. Dann bog er mit quietschenden Reifen nach links zum Fußballstadion an der Landsowne Road ab. »Dort ist er!« Clarke hatte sich zum Vordersitz vorgebeugt und schüttelte Kavanaghs Schulter. »Nach links!« Der Lincoln hatte eine Parallelstraße genommen und raste ohne Rücksicht auf den entgegenkommenden Verkehr hindurch. »Biegen Sie um Himmels willen nach links ab. Er hat uns entdeckt.« Mit heulender Sirene überholte Kavanagh auf einer schmalen Straße und bog dicht vor einem Kohlenwagen nach links ab. Er ignorierte die erschrockenen weißen Augen in russgeschwärzten Gesichtern. Der Polizeiwagen wurde von einem sich abmühenden 91er Toyota aufgehalten, dessen Auspuff dichten Rauch 889

spuckte. »Scheiße, wir haben ihn verloren.« Bis sie endlich vorbeikamen, war der Lincoln verschwunden. Kavanagh hielt mit quietschenden Bremsen an. Clarke stieß die Tür auf und plagte sich hinaus. Kavanagh wollte etwas sagen, doch sein Chef winkte verärgert ab. Sie befanden sich in einer stillen Seitenstraße. Die Gegend war erst vor kurzem erschlossen worden, neue, teure Apartmentblocks schlössen sich eng an alte Reihenhäuser aus rotem Backstein an. Ein hässliches vielstöckiges Parkhaus, das billige Dauerparkplätze anbot, erhob sich rechts von ihnen. Clarke lauschte angespannt. Er hörte schließlich das Kreischen von Rädern auf Beton und einen aufheulenden Motor. »Er ist im Parkhaus.« Kavanagh gab Vollgas bis zur Eingangsauffahrt. Eine rot-weiß gestreifte Schranke versperrte den Weg, bis ein Ticket mit Zeitaufdruck gezogen wurde. Neben der Schranke befand sich ein grüner Verschlag, in dem ein gelangweilter Jugendlicher saß, den Blick auf eine Reihe von Überwachungsmonitoren gerichtet. Kavanagh hielt den Wagen an und sprang hinaus. »Polizei«, rief er und fuchtelte mit seinem Ausweis. Der junge Parkhauswächter riss die Hände hoch. »Der große amerikanische Wagen, der eben durchfuhr, wo ist er?« Der Jugendliche schüttelte heftig den Kopf. »Schnell, welches Stockwerk?« Der Wächter wandte sich einer Monitorreihe zu und drückte auf verschiedene Knöpfe. Seine Hände bebten, er brachte vor Angst keinen Ton heraus. Verschiedene Ansichten der Parkplätze huschten über die Schirme. Kavanagh übernahm und drückte schneller. Atemlos sah Clarke zu. Ein Bild wirkte irgendwie vertraut, verschwand jedoch zu schnell. »Gehen Sie zurück!« Das körnige grauschwarze Bild zeigte eine 890

Reihe von Wagen. Es tat sich nichts zwischen den Reihen. »Können Sie näher rangehen?« Kavanagh schnaufte. Der Wächter deutete auf einen Joystick. Die Kamera richtete sich auf einen offenbar in Eile geparkten Wagen fast am Ende einer Reihe aus. Kavanagh zoomte so nahe, wie die Linse es erlaubte. Nichts wirkte ungewöhnlich, nichts rührte sich. Er wollte gerade die Einstellung verändern, als ein Schatten zu sehen war. Clarke deutete auf den Monitor, und Kavanagh bemühte sich, das Bild heranzuholen.

Der

Wagen

schaukelte

leicht,

und

die

schattenhafte Gestalt bewegte sich wieder. »Wir haben ihn!« Kavanagh zog seine Pistole und rannte auf die Rampe zu. »Welches Geschoss ist das?« »Tiefgeschoss, zwei Stockwerke hinunter.« Der junge Wächter riss die Augen auf. Clarke griff zum Telefon im Wächterhäuschen und forderte Verstärkung an. Dann folgte er Kavanagh. Er humpelte eine Rampe hinunter und entdeckte ein großes schwarzes Schild, auf dem mit weißen Buchstaben ERSTES UNTERGESCHOSS stand. Er blieb stehen und lauschte. Doch er hörte nur sein heftig pochendes Herz. Er stapfte auf die nächste Rampe zu und griff nach seinem Revolver. Seine freie Hand suchte erst an einer Seite seines Hosengurts, dann an der anderen. Plötzlich erinnerte er sich, dass er ihn zu Hause in die immer im Geschirrschrank stehende Keksdose gesteckt hatte. Scheiße! Er lehnte sich an eine Motorhaube. Ich warte auf die Verstärkung. Es hätte keinen Sinn, ohne Schusswaffe mein Leben zu riskieren. Der Trupp wird gleich hier sein. Ich warte. Er wischte sich über die Stirn. Da hörte er einen erschreckenden dumpfen Aufschlag. Ohne zu überlegen, humpelte er in die 891

Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Seine Krücke klopfte auf den Beton. Er blieb kurz stehen, um zu lauschen. Nichts. Wieder hinkte er ein Stück weiter die Rampe hinunter. Die Hälfte müsste ich inzwischen fast geschafft haben. Wieder blieb er stehen, um zu lauschen. Nichts. Er wollte weitergehen, als er ein polterndes, schaukelndes Geräusch hörte. Er kauerte sich hin, so weit sein Bein das zuließ, und spähte in die Dunkelheit. Das Geräusch kam von dem amerikanischen Wagen. Ganz sicher. Er wollte »Mossy« rufen, doch er wusste, dass das sinnlos sein würde. Kavanagh konnte bereits auf Verfolgungsjagd zwei Geschosse höher sein oder gar schon auf der Straße. Ich kehre um. Der junge Bursche muss auf den Schirmen alles gesehen haben. Er wird wissen, was passiert ist. Er machte sich daran, sich hochzustemmen, als das Schaukeln wieder zu hören war. Von einem leisen Tropfen abgesehen war es das einzige Geräusch in dem Untergeschoss. Clarke kauerte sich wieder tiefer und spähte zu dem Wagen. Nichts. Plötzlich brach das Looney-Tunes-Klingeln von Kavanaghs Handy die Stille. Es läutete hartnäckig. Clarke schlüpfte aus seiner Jacke, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Er tastete am Krückengriff nach den beiden Knöpfen, drückte sie und drehte den Griff. Er bewegte sich. Er drehte ihn weiter, bis er das Gefühl hatte, dass ihn noch eine Achteldrehung vom Krückstock lösen würde. Er hielt inne. Fast gleichzeitig hörte das Handy zu klingeln auf, und gespenstische Stille breitete sich aus. Clarke hielt den Atem an. Nichts. Er machte zwei zögerliche Schritte und erreichte das letzte Geschoss. Er drehte sich nach links und rechts, als bedränge ihn ein Angreifer. Nichts. Sein Blick schweifte die Wagenreihe entlang bis zu dem großen dunklen Modell. Keine 892

Bewegung. Gerade als er sich umdrehen wollte, begann das Schaukeln aufs Neue. Es war der Lincoln. Schweiß tropfte von seiner Stirn und trübte seinen Blick. Er wischte ihn weg. Dann ein ungewöhnliches Geräusch. Wie ein Kratzen. Er humpelte langsam darauf zu, blickte dabei immer wieder über die Schulter. Er war etwa drei Meter davon entfernt, als er eine frische Blutlache bemerkte. Dass sie frisch war, wusste er, weil sie größer wurde. Sie verlor sich um den Reifen eines grauen Mercedes. Als er den Zwischenraum zum nächsten Wagen erreichte, entdeckte er Moss Kavanagh. Der große Mann lag seltsam verrenkt zwischen den beiden Fahrzeugen, ein Arm in einen Türgriff geklemmt. Seine Beine waren unter ihm zusammengeklappt, sein Kopf lag reglos auf seiner Brust. Der Lincoln bewegte sich wieder, diesmal mit einem dumpfen Pochen. Clarke starrte auf den Wagen, er wagte kaum zu atmen. Er humpelte näher, den Griff seiner Krücke hielt er fest umklammert. Noch zwei Schritte, und er war unmittelbar hinter dem metallicschwarzen Monstrum. Er schaute nach beiden Seiten. Nichts. Doch dann hörte er erneut das Pochen - und ein Stöhnen. Er tastete sich an der rechten Seite entlang, wo mehr Platz war. Die Türen waren verschlossen. Der Fond schaukelte leicht. Irgendjemand versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er beugte sich hinunter, um ins Innere des Wagens sehen zu können. Aber die Fenster waren zu dunkel. Trotzdem wusste er mit dem sechsten Sinn des altgedienten Polizisten, dass das ArmstrongMädchen da drin war. Plötzlich bemerkte er aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung. Ein schwerer Schlag traf seine rechte Schulter. Er kam ins Taumeln und versuchte sich zu halten. Da krachte ein Stiefel gegen sein Bein. Der durchdringen893

de Schmerz ließ ihn aufschreien. Er wollte sich umdrehen, um sich seinem Angreifer zu stellen, vermochte sich jedoch nicht zu bewegen. Er rutschte und versuchte sich verzweifelt mit einer Hand festzuhalten, während die andere den Krückengriff fasste. »Sie wollen einfach nicht aufgeben.« Der Goon stand, den blutigen Baseballschläger in beiden Händen, über ihm. Er holte aus und schlug so fest zu, dass Clarke vor Schmerz fast ohnmächtig wurde. »Du bist wirklich lästig«, sagte der Goon mit leisem Lächeln. Clarke wollte sich hochstemmen, doch seine Kraft ließ nach. Der Goon schlug immer wieder zu. »Du willst mir meinen großen Tag vermasseln ...« Zack. »... du elender...« Zack. »... Bastard.« Der Schmerz in Clarks malträtiertem Bein hörte plötzlich auf, dafür spürte er eine warme Nässe. Sein Bewusstsein schwand und kehrte halb wieder. Er drehte den Krückengriff um den letzten halben Zentimeter, sodass er sich aus dem Stock löste. Der Goon wirbelte den Baseballschläger durch die Luft und schwang ihn abermals mit aller Kraft hinunter. Clarke konnte seinen Kopf im letzten Augenblick zur Seite ziehen, und der Schläger sauste rechts an seinem Ohr vorbei. Die Vibration des Hiebes war auf dem kalten Beton zu spüren. »Diesmal habe ich daneben getroffen.« Der Goon spuckte in beide Hände, um den Schläger besser halten zu können. »Aber das wird nicht mehr vorkommen.« Er hob den Baseballschläger. Trotz der Düsternis und der Schmerzen, die alle seine Sinne beeinträchtigten, konnte Clarke seinen Gegner über sich sehen. Dann ein schreckliches Krachen. Der Baseballschläger zerschmetterte Clarkes Bein. Knochen zersplitterten. Der Schmerz brannte wie Feuer. Wieder wirbelte der Baseballschläger hoch in der Luft. Das Gesicht des 894

Goon war wutverzerrt. Er holte aufs Neue aus. »Fahr zur Hölle, du Bastard!« Clarke drückte auf die Knöpfe des Krückengriffs und stieß nach oben. Er hörte das Zischen, als die Stahlklinge herausschoss, und ein überraschtes Ächzen, als sie in den Goon eindrang. Etwas Warmes überspülte sein Gesicht. Erneut begann Schwärze nach ihm zu greifen. Mit letzter Kraft drehte er die Klinge immer tiefer in das weiche Fleisch. Dann nahm die Schwärze ihm den Schmerz. Er sackte zurück und hieß die Dunkelheit willkommen.

40

17.37 Uhr Das Parkhaus wurde von bewaffneten Polizisten gestürmt. Sie hasteten Rampen hinunter, zwischen Automobilen hindurch, krochen über Lastwagen und kletterten Luftschächte hinunter. Tony Molloy führte den Trupp mit gezogenem Revolver an. Er keuchte vor Anstrengung. Sie wussten genau, wohin sie mussten. Der verstörte junge Wächter hatte mit den Überwachungskameras alles verfolgt. Sie fanden Clarke, ächzend und kaum noch bei Bewusstsein, in einer Blutlache liegend, neben ihm regungslos der Goon. Moss Kavanagh lag im Koma. Wie sie es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatten, legten sie ihn behutsam auf die Seite und lockerten seine Kleidung. Alle waren wie benommen angesichts der blutigen Szene, die sich ihnen bot, und verständigten sich im Flüsterton. Nur Molloy fluchte laut, weil sie zu spät gekommen waren. In der Ferne heulte die Sirene eines Notarztwagens. Der junge Parkhauswächter war so geistesgegenwärtig gewesen, die Ambulanz zu rufen. Durch das erregte Flüs895

tern hätte der Trupp fast den gedämpften Schrei aus dem Lincoln überhört. Molloy hob eine Hand. Plötzlich war es wieder ganz still im Untergeschoss. Der große schwarze Wagen schaukelte leicht. Dumpfes Klopfen kam aus dem Kofferraum, gefolgt von neuerlichem Ächzen. Drei Uzi-Maschinenpistolen und vier 459er Smith & Wesson wurden auf den Kofferraum gerichtet. Molloy durchsuchte die blutigen Taschen des Goon und fand die Wagenschlüssel. Er schaltete die Alarmanlage aus, sofort sprangen die Türverschlüsse hoch. Der Kofferraumdeckel öffnete sich. Vorsichtig ging er näher heran, den Revolver im Anschlag. Joan Armstrongs panikerfüllte Augen starrten ihm entgegen. Molloy stolperte rückwärts. »Großer Gott!« Kaum hatten sie ihr das Klebeband vom Mund abgezogen, begann sie hysterisch zu schreien. Sie schrie noch, als die Bänder um ihre Fuß- und Handgelenke durchschnitten wurden. Es dauerte ein paar Minuten, um sie einigermaßen zu beruhigen. Der Notarztwagen brauste mit heulenden Sirenen die Rampen hinunter und hielt mit quietschenden Bremsen. Vier Sanitäter sprangen heraus und begannen sich mit den Verwundeten zu beschäftigen. Molloy wickelte Joan Armstrong in eine Decke, um sie wegzubringen. Sie zitterte heftig am ganzen Körper und schluchzte. Molloy durchsuchte rasch den Kofferraum. Dann entdeckte er das Manchester-United-Album. Es klemmte in einer Ecke. Er schlug es auf und las die erste Seite. Selbst im Dämmerlicht des Parkhauses konnte er die kindliche Schrift erkennen: Martin Clancy, 8 Jahre 14 Greenlea Road Clontarf Dublin 896

Irland Europa Die Welt BERÜHREN BEI TODESSTRAFE VERBOTEN NIEDER MIT ARSENAL Er hielt inne und überlegte. Dann sah er sich um. Die Leiche des Goon lag, wo sie gefunden worden war. Gelbe Tatortbänder wurden zur Absperrung angebracht. Die Sanitäter hatten Clarke und Kavanagh inzwischen in den Notarztwagen gehoben und schlössen sie an den IV-Tropf an. Joan Armstrong wurde von einem Polizisten gestützt. Sie fror. Molloy las noch einmal die Adresse und erinnerte sich an die Vermisstenmeldung. Es war derselbe Name. »Wo wollte er Sie hinbringen?«, fragte er die zitternde Schülerin. Sie blickte auf. »Zu Mo.« Molloy betrachtete sie eingehender. Sie sah aus wie jemand, der durch die Hölle gegangen war. »Wo wohnt Mo?« Er wusste es bereits, aber er wollte es bestätigt haben. Joan Armstrongs Lippen zitterten. Tränen quollen aus ihren Augen. Sie bebte noch stärker als zuvor. »Wo wohnt Mo?« Die Sirene des Notarztwagens begann zu heulen und übertönte alles im Untergeschoss. »Wo wohnt Mo?«, brüllte Molloy. Er schob ihr einen Kugelschreiber und sein Notizbuch in die Hände. Mit zitternden Fingern kritzelte sie drei Zeilen. Molloy las sie, dann starrte er das Mädchen an. Sie weinte wieder. Er fragte sich, ob die Tränen ihr selbst oder Mo galten. 897

17.48 Uhr Frank Clancy saß im Fond des Streifenwagens, der ihn zum Polizeirevier von Clontarf brachte. Man hatte ihn gleich bei der Landung in Dublin am Fuß der Gangway abgeholt. Die drei Polizisten verrieten nichts. »Wir sollen Sie direkt zum Revier bringen«, erklärte einer. »Alle wollen mit Ihnen reden.« Clancy flehte: »Hat man schon etwas von meiner Familie gehört? Oder wird sie immer noch vermisst?« Keine Antwort. Sie erreichten das Ende eines Staus. Die Wagen mussten sich an einem stehen gebliebenen Bus vorbeischlängeln, der zwei Fahrbahnen versperrte. Plötzlich kam eine Durchsage über den Polizeifunk, doch die Störungen waren so stark, dass Clancy nichts verstehen konnte. Einer der Polizisten beugte sich vor, setzte Kopfhörer auf und flüsterte unmittelbar darauf dem Fahrer etwas zu, der sofort das Steuer herumriss und den Wagen zum Stehen brachte. Der Beifahrer sprang heraus und hielt den Verkehr an. Der Fahrer wendete, die Beifahrertür wurde zugeschmettert, die Sirene heulte los, und der Streifenwagen schoss mit quietschenden Reifen vorwärts. »Was ist passiert?«, fragte Clancy. Seine Besorgnis wuchs. »Was ist los?« Wieder keine Antwort. Der Wagen schlängelte sich an Lastern und Bussen vorbei, raste Fahrradwege entlang, wechselte abrupt von Spur zu Spur und ignorierte jede Ampel. Frank Clancy ahnte Böses. Sein Magen rebellierte, obwohl er lange nichts mehr gegessen hatte. Er drehte das Seitenfenster herunter, um Luft zu bekommen. Verschwommene Bilder sausten vorbei. Leute, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen, die Straßen fegten, Zeitungen verkauften; Frauen, die einen Schaufensterbummel machten. Das 898

Leben war normal für alle außer für Frank Clancy. Sie sind tot, ich weiß es. Anne, Michael, die kleine Laura. Man hat sie umgebracht. Meinetwegen. Er blickte auf und bemerkte, dass der Wagen den Liffey überquert hatte und ostwärts an den Kais entlangraste. »Wohin fahren wir?«, schrie er. Der Polizist auf dem Beifahrersitz drehte sich leicht um. Sein Gesicht war grimmig. »Das werden Sie in einer Minute sehen, wir sind fast da.«

18.02 Uhr Tony Molloy stand vor dem zweistöckigen Endreihenhaus am Fitzhill Square, etwa fünf Kilometer von dem vornehmen Zentrum Süddublins entfernt und in der Nähe eines größeren Geschäftsbezirks gelegen. Georgianische Häuser drängten sich rund um eine Grünfläche, es handelte sich sowohl um Wohn- als auch um Bürogebäude. Entlang der Bürgersteige standen Bäume in vollem Grün. Eine Rasenfläche war von einem kunstvollen Gitter umgeben. Unter Schildern »Nur für Anlieger« parkten Autos. Molloy wartete kribbelig vor Nummer fünf. Es war ein leuchtend gelb getünchtes Haus mit einer roten getäfelten Haustür. Eine blühende Clematis rankte sich um eine Ecke. Molloy hatte geläutet und geklopft. Niemand hatte geöffnet. Daraufhin hatte er den Police Commissioner Donal Murphy angerufen und ihm erklärt, wo er sich befand und weshalb. Der Commissioner glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er war bereits von dem Blutbad im Parkhaus unterrichtet worden. Molloys Worte erschütterten ihn zutiefst. »Verschaffen Sie sich Einlass, egal wie«, befahl er schließlich.

»Ich übernehme die

volle

Verantwortung.« Aber sämtliche Keller- und Parterrefenster waren durch Sicher899

heitsgitter geschützt. Es bestand nur die Möglichkeit, durch die Haustür einzudringen, die jedoch aus massivem Eichenholz und obendrein noch mit Stahl verstärkt war. Es hatte eine Verzögerung gegeben, weil er erst das »Einbruchsteam« hatte rufen müssen, das im selben Augenblick eintraf wie der Streifenwagen mit Frank Clancy. Clancy musste aussteigen und wurde zu der Gruppe geführt, die sich an der Haustür gesammelt hatte. »Wer ist das?«, fragte Molloy. Man sagte es ihm. Molloy musterte ihn. »Sie sind der Mann, dessen Familie vermisst wird?« Clancy nickte. Sein Mund war so trocken, dass er nicht reden konnte. »Warten Sie im Wagen, und drücken Sie die Daumen. Ich glaube, sie ist im Haus.« Clancy riss stumm den Mund auf. Er machte ein paar Schritte rückwärts, um das Haus besser sehen zu können. Ein Kleinbus hielt an, vier stämmige Männer in schwarzen Schutzanzügen sprangen heraus und griffen nach einer Ramme. Bewohner und Büropersonal der benachbarten Häuser hatten sich an die Fenster gedrängt, damit ihnen nur ja nichts entging. Nach fünf gewaltigen Stößen mit der Ramme löste die schwere Tür sich aus den Angeln. Sofort stürmten sechs bewaffnete De-tectives ins Haus, Molloy als Erster. Sie hatten rasch die von außen verriegelte, aber nicht verschlossene Kellertür entdeckt. Im Raum dahinter fanden sie Anne Clancy, die sich an ihre zwei Kinder drückte. Alle drei zitterten und wimmerten vor Angst. Becher lagen herum, auf dem Boden hatten sich Wasserlachen gebildet. Molloy wies ein paar Polizisten an, im Keller zu bleiben, während er mit den übrigen die Treppe hinaufrannte. Sie durchsuchten jedes Zimmer, bis sie im Obergeschoss eine verschlossene Tür erreichten, die mit drei Sicherheitsschlössern versperrt war. Mit vier Stößen hatte die 900

Ramme sie gesprengt. Molloy kletterte mit dem schussbereiten Revolver in der Hand über das zersplitterte Holz. Er winkte den anderen zu, draußen zu warten, und sie blieben vor der Türöffnung stehen. Es war ein großes Zimmer, etwa sechs Meter im Quadrat. In der Mitte thronte ein breites, mit altmodischem Messinggitter versehenes Bett. Am Fußende stand ein Stativ mit Videokamera. Zwei Scheinwerfer waren in die Ecken zurückgefahren. Von dem Messinggitter des Kopfendes hingen Handschellen, und ans Fußende waren schwarze Seidenschnüre gebunden. Ein Breitbildfernseher und ein Videogerät waren auf einem niedrigen Tisch befestigt. Daneben reihte sich eine größere Zahl Videokassetten. Molloy zog Schubladen heraus, in denen sich unzählige Injektionsspritzen in steriler Verpackung sowie eine Schachtel Ampullen mit sterilem Wasser und ein kleiner Spirituskocher befanden. Zuletzt entdeckte er noch zwanzig mit Klebeband verschlossene Beutelchen Heroin. Benommen setzte er sich auf den Bettrand, dann machte er sich daran, einen eingehenderen Blick auf die Videokassetten zu werfen. Auf einem der Etiketten standen mit rotem Kugelschreiber die Buchstaben J. M. Er schob sie in den Rekorder und schaltete den Fernseher ein. Es gab eine kurze Verzögerung, während ein unbespieltes Bandstück durchlief. Dann erschienen Bilder auf dem Schirm. Die Kamera war auf das Bett gerichtet, auf dem Molloy jetzt wieder saß. Er drehte sich um, um sich zu vergewissern. Ja, es war das Messinggitter des Kopfendes. Jetzt hatte sich auch der Ton eingeschaltet. Ein aufgeregtes Kichern war zu hören. Auf dem Bett lag der nackte Körper eines schwarzhaarigen jungen Mädchens. Es bewegte sich sehr langsam, wie unter 901

Drogeneinfluss. Molloy bemerkte etwas wie Heftpflaster in der Armbeuge. Das Mädchen drehte sich der Kamera zu und lächelte herausfordernd. Molloy hatte zwar damit gerechnet, trotzdem erschütterte es ihn: Es war Jennifer Marks. Plötzlich kam ein Mann ins Bild, mit dem Rücken zur Kamera. Er war groß und schlank und trug Jeans, doch sein Oberkörper war nackt. Der Mann setzte sich auf das Bett und begann einen Arm des Mädchens zu den Handschellen hinaufzuziehen und eine um das Handgelenk zu schließen. Das Gleiche machte er mit dem anderen Arm. Der Mann strich mit den Händen langsam den nackten Mädchenkörper entlang und zog die Fußgelenke auseinander. Einen flüchtigen Moment wandte er das Gesicht der Kamera zu. Molloy stoppte das Bild und erstarrte. Das Gesicht war unverkennbar. Er nahm die Kassette heraus und drückte auf sein Handy. Augenblicke später war er mit dem Commissioner verbunden. »Er ist es«, sagte er grimmig. »Es ist tatsächlich John Regan. Ich habe ihn sogar auf Band.«

18.15 Uhr Frank Clancy umarmte seine Frau und die Kinder. Er drückte sie so fest an sich, dass sein achtjähriger Sohn sich beklagte. Anne bedeckte sein Gesicht mit Küssen, Laura lag reglos und schweißüberströmt auf seinem Schoß. Sie wirkte schlaff, bemühte sich aber, ihren Vater anzusehen. Sie saßen in Decken gehüllt auf einer Couch im Wohnzimmer von John Regans Haus. Anne war noch immer im Nachthemd, und die Kinder trugen die Schlafanzüge, in denen der Goon sie verschleppt hatte. Die Tür war geschlossen, damit sie wenigstens ein paar Minuten allein 902

sein konnten. Danach sollten sie zur gründlichen Untersuchung ins Krankenhaus gebracht werden. Frank Clancy wurde mit Fragen überschüttet und konnte sie gar nicht schnell genug beantworten. Er war so erleichtert, dass seine Familie am Leben war, dass er sich ohnehin auf nichts anderes zu konzentrieren vermochte. Er wollte sie nur für immer festhalten. »Was ist mit deinem Haar passiert, Daddy?«, piepste Laura schließlich. Trotz ihres Fiebers, des leeren Magens und des Mangels an Bewegung erholte sie sich offenbar schon ein bisschen. Sie starrte ihren Vater an, als käme er von einem anderen Stern. Martin stand auf. »Yeah, was ist passiert?« Anne lehnte sich zurück, und auch sie schaute ihn an. Jetzt erst bemerkte sie die wirren Haarbüschel, die dunklen Bartstoppeln, die eingefallenen Wangen. »Was in aller Welt hast du gemacht}« Clancys schaute verschmitzt von einem zum anderen. »Ich habe gegen eine Bestie gekämpft.« Seine Frau brachte ein schiefes Grinsen zu Stande. »Nun, wer immer sie war, sie hat gewonnen.« Jemand klopfte an die Tür, und Tony Molloy trat ein. Sein Gesicht war aschgrau. Er zog Clancy zur Seite und erklärte ihm, was er entdeckt hatte. »Wir fahren jetzt und werden ihn festnehmen.« Clancy zögerte nicht. »Ich komme mit.« Seine Frau schrie sofort protestierend auf. »Nein, Frank, nein«, flehte sie ihn an. »Das ist nicht deine Sache. Überlass es der Polizei.« Frank Clancy drückte seine Familie wieder an sich. Er küsste sie der Reihe nach, dann drehte er das Gesicht seiner Frau zu sich. »Es ist meine Sache, Anne. Sie waren meine Patienten. Ich bin schon so weit gekommen, und es steht zu viel auf dem Spiel, als dass ich jetzt aufhören dürfte.« 903

Laura plagte sich hoch und hielt sich am Nachthemd ihrer Mutter fest. »Mummy«, rief sie, »du hast mir gesagt, dass der böse Mann sich auf etwas gefasst machen muss, dass Daddy ihm einen Fausthieb geradewegs auf die Nase verpassen wird. Ich finde, das sollte er jetzt tun.« Frank Clancy blickte auf seine Uhr. Es war fast achtzehn Uhr dreißig.

Die

Pressekonferenz

dürfte

bald

beginnen.

»Disneyland«, versprach er, »Disneyland. Sobald ich diesen bösen Mann fertig gemacht habe, buche ich gleich die Tickets.« Die Kinder jubelten. Anne Clancy seufzte resigniert.

41

18.51 Uhr »Guten Abend, meine Damen und Herren, ich möchte mich herzlich dafür bedanken, dass Sie so zahlreich erschienen sind.« John Regan sprach auf einem Podium zu den versammelten Medienvertretern. Der große Konferenzsaal der Regierung war überfüllt. Regan schätzte die Menge ab. Er war sehr zufrieden. Er zählte sechs Fernsehcrews, darunter zwei von den größten USamerikanischen Sendern. Der nationale Kanal RTE übertrug die Pressekonferenz live. Er wusste, dass sie für die von ihnen aufgenommenen Highlights der Veranstaltung bereits Verträge mit Sky, CNN, der BBC und mehreren europäischen Sendern abgeschlossen hatten. Eine Fernsehcrew aus Boston hatte sich dicht ans Podium gedrängt, und die Kameraleute suchten nach dem besten Blickwinkel. Zeitschriften- und Radioreporter hatten zum größten Teil nahe am Ausgang Platz genommen. Die vordersten Stuhlreihen waren vom Personal des Mercy Hospitals 904

besetzt, hauptsächlich aus dem obersten Stockwerk der HerzStiftung. Alle trugen zu diesem Anlass ihre besten Anzüge und Kleider. Der Krankenhausverwalter, ein großer, hagerer Mann mit dicht gekräuseltem grauen Haar, saß in der Mitte der vordersten

Reihe

und

lächelte

selbstzufrieden.

Die

Regierungspropaganda prangte wieder von großen Wandschirmen. Eine neue Regierung für ein neues Volk. Bilder von John Regan, wie er Hände schüttelte, engagiert lachte, Tränen aus den Augen wischte, einen Fußball kickte. Hinter Regan saß das Dreamteam. Linda Speer sah in ihrem Hosenanzug aus Leinen umwerfend attraktiv aus. Stone Colman trug über einem offenen Hemd einen einfachen blauen Blazer und dazu eine graue Kordhose. Dan Marks, in leichter Sommerhose und kurzärmeligem Hemd, hatte seine Jacke über die Rückenlehne gehängt. Er unterhielt sich mit Dr. Hans Mayer, dem deutschen EU-Kommissar, der für die Verteilung von Geldern aus dem EU-Fonds zuständig war. Dr. Hans Mayer war ein kleiner, dicker Mann in einem schlecht sitzenden Anzug. Sein dünnes, gelichtetes Haar hatte er strähnig über den Kopf verteilt. Er trug eine dicke Brille mit breiter Fassung und lächelte gönnerhaft. Hin und wieder langte er in seine Brusttasche und befingerte den Scheck der EU über zwanzig Millionen Pfund. Während der vergangenen halben Stunde hatte er sich wie die meisten Anwesenden gelangweilt Diagramme angesehen und Belehrungen über die Sterblichkeitsziffern bei ischämischen Herzkrankheiten angehört, auch wenn John Regan die Ergebnisse der ersten sechs Monate der Herz-Stiftung des Mercy Hospitals in gewohnt blendendem Stil vorgetragen hatte. Die Ergebnisse waren auch für Laien beachtlich. Die Todesrate bei Herzinfarkten 905

war um die Hälfte zurückgegangen und die Zahl der rechtzeitig erfolgten Bypass-Operationen um das Doppelte gestiegen. Die Wartezeit für Herzoperationen an Kindern unter einem Jahr konnte von zehn auf zwei Monate reduziert werden. Am überraschendsten aber kam die Ankündigung eines neuen Präparats gegen Herzkrankheiten. »In diesem Stadium möchte ich noch nicht zu viel darüber sagen«, erklärte Regan, »nur, dass ich nicht übertreibe, wenn ich behaupte, dass wir vor einem gewaltigen pharmakologischen Erfolg stehen.« Die Anwesenden hatten höflich geklatscht, angefangen hatte Regans PR-Berater Louis Flanagan. Er lehnte in der Mitte des Saals an der Wand, von wo aus er jede Reaktion der Medienvertreter überwachen konnte. »Ich möchte jetzt einen sehr bedeutenden Gast vorstellen«, verkündete Regan, »der uns allen Grund bringt zu feiern, wie ich glaube.« Regan wandte sich dem deutschen EU-Kommissar zu, der strahlend lächelte. Blitzlicht und Scheinwerfer erhellten den Saal. Dr. Mayer erhob sich. »Minister Regan«, begann Dr. Mayer, »darf ich als Erstes zu den beachtlichen Erfolgen der Herz-Stiftung gratulieren, für die Sie sich mit aller Kraft eingesetzt haben.« Mayers Englisch war perfekt, wenngleich es etwas abgehackt klang. »Da ich selbst Arzt bin...« Die hintere Saaltür wurde aufgerissen, und uniformierte Polizisten marschierten mit grimmigem Gesicht herein. Mayer blickte ihnen konsterniert entgegen, fuhr dann jedoch fort, als wäre er nicht unterbrochen worden. »... kann ich bestätigen, dass die Daten, die Sie heute Abend so prägnant präsentierten ...« Die 906

Polizisten schafften sich Zugang zum Podium und blieben davor stehen. John Regan blickte wütend zu ihnen hinunter und gab ihnen Zeichen, dass sie verschwinden sollten. »... den höchsten internationalen medizinischen ...« Police Commissioner Donal Murphy marschierte durch den Mittelgang. Er trug seine komplette

Uniform

mit

fest

über

die

Stirn

gezogener

Schirmmütze. Unmittelbar hinter ihm folgte Tony Molloy mit seinem Revolver in der Hand. Als Letzter kam Frank Clancy. Er reckte den Kopf über die beiden, um zum Podium sehen zu können. Er bemerkte sofort, dass die Seitentür zufiel. Der Stuhl, auf dem Linda Speer gesessen hatte, war leer. Dr. Mayer stellte bestürzt fest, dass die Polizisten unmittelbar unterhalb seines Platzes anhielten. Nervös blickte er zu Regan und zog den Scheck der EU aus seiner Brusttasche. »Nun«, murmelte er zögernd, »darf ich diesen Scheck jetzt...« »Warten Sie bitte.« Commissioner Murphy stand inzwischen auf dem Podium neben Regan. Vier weitere Polizisten postierten sich hinter Stone Colman und Dan Marks. Die beiden Herzspezialisten drehten sich erstaunt um und wollten aufstehen, wurden jedoch von energisch zupackenden Händen daran gehindert. Donal Murphy fasste Regan an der linken Schulter. Das Gesicht des Gesundheitsministers schien zusammenzufallen. »John Regan«, sagte Murphy laut. Die Kameraleute im Saal waren eifrig damit beschäftigt, alles einzufangen. »Ich verhafte Sie auf Grund der möglichen Beteiligung am Mord von Jennifer Marks am 11. Mai. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie nicht verpflichtet sind, darauf zu antworten, doch wenn Sie es tun, wird es zu Protokoll genommen und kann gegen Sie 907

verwendet werden.« Tony Molloy konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Im Saal brach ein Chaos aus. Kameraleute und Reporter kämpften sich nach vorne durch und schrien einander an. Sie warfen Stühle um und stießen alle, die ihnen im Weg standen, zur Seite. Journalisten versuchten verzweifelt mit ihren Handys ihre Chefredakteure zu erreichen. Das Personal des Mercy Hospitals blieb ungläubig und wie betäubt auf den Stühlen sitzen. Nur Frank Clancy behielt einen klaren Kopf. Er suchte immer noch nach Linda Speer und rannte von einem Zimmer zum anderen, aber sie war verschwunden. Er lief über die Parkplätze, blickte in jedes Fahrzeug. Nichts. Verärgert kehrte er in den Saal zurück. Der Tumult war ohrenbetäubend. John Regan wurde in Handschellen den Mittelgang entlanggebracht, sein Protest blieb ungehört. Von vier Polizisten flankiert, verschwanden Dan Marks und Stone Colman durch eine Seitentür, ohne von den Reportern gesehen zu werden. Dr. Hans Mayer stand noch immer mit dem Zwanzig-MillionenPfund-Scheck in der Hand auf dem Podium. Er öffnete und schloss den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Clancy erblickte den Krankenhausverwalter. Er saß zusammengesackt auf seinem Stuhl, den Kopf in den Händen vergraben, und schaukelte vor und zurück, als hätte er Schmerzen. Clancy fasste ihn am Kragen. »Wo ist die Datenbank des Hospitals?«, schrie er. Der Verwalter blickte ihn an, als wäre er ein Geist. »Sie ... Sie ... sollten zum Sitzungszimmer...«, stammelte er. Clancy schüttelte ihn heftig. »Wo zum Teufel ist die Datenbank des Hospitals?«, brüllte er erneut. »Muss ich Ihnen Ihre verdammte Zunge rausreißen?« Der 908

Verwalter schüttelte den Kopf. Er hatte Todesangst. »N-n-nn-nnein. Sie ist im Anbau neben dem Archiv.« Clancy ließ ihn fallen wie eine heiße Kartoffel.

19.43 Uhr Die Datenbank des Hospitals befand sich in einem großen Raum aus Ziegeln und Sicherheitsglas, der auf der Rückseite des Mercy Hospitals an das Archiv anschloss. Er hatte seinen eigenen Eingang, dessen zweiflügelige Stahltür nur zurückglitt, wenn eine Sicherheitskarte in einen Schlitz daneben eingeführt wurde. Die Wände zu beiden Seiten waren aus Sicherheitsglas, sodass jeder im Innern sogleich gesehen werden konnte. Der Raum war Tag und Nacht mit sieben Halogenlampen erhellt. In der Datenbank waren Computerinformationen aus allen Bereichen des Mercy Hospitals gespeichert, sowohl Patienten als auch Verwaltungsdaten. Egal, was an einem Tag in irgendeinen Computer innerhalb des Krankenhauses eingegeben worden war, es wurde um Mitternacht zusätzlich in dieser Datenbank gespeichert. Außerdem wurde automatisch eine separate Diskette angefertigt. Dadurch gab es immer noch die Originalfassung, falls irgendjemand die Patienten- oder Labordaten fälschte. Diese Disketten

wurden

täglich

angefertigt

und

von

einem

Riesencomputer in einen separaten Sicherheitscontainer geleitet und dort aufbewahrt. Jede Diskette war mit Datum versehen. Linda Speer suchte diesen Sicherheitscontainer. Um in den Raum zu gelangen, hatte sie sich einer Sicherheitskarte bedient, die sie bereits vor Monaten aus der Verwaltung entwendet hatte. Auf diesen Moment hatte sie schon lange hingearbeitet, aber die richtige Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Ständig waren zu 909

viele Sicherheitsbeamte in der Nähe gewesen. Doch heute, da sich alle auf der Pressekonferenz befanden, schien es ein Kinderspiel zu sein. Sie hatte sich in dem Moment aus dem Saal entfernt, als Dr. Mayer aufgestanden war, um seine Rede zu halten. Sie hatte nicht gesehen, dass Polizisten in den Saal gekommen waren, hatte nicht gesehen, wie John Regan und ihre beiden Kollegen abgeführt worden waren. Wie üblich verfolgte sie ihre eigenen Ziele. Jetzt stand sie in dem riesigen Raum und sah sich um. Die Stahltür war hinter ihr zugeglitten. Sie hatte sich zuvor durch einen Blick durch die Sicherheitsglaswände vergewissert, dass sich wirklich niemand hier aufhielt. Tatsächlich war kein Mensch da. Es würde einfach sein. In wenigen Minuten würde sie alle Beweise vernichtet haben. Sie ging um das gewaltige Elektronengehirn herum, das vom Boden bis zur Decke reichte. Alles war farblich gekennzeichnet. Patienten, Laboratorium, Verwaltung, Lagerung von Lebensmitteln etc. Sie trat einen Schritt näher, wagte einen Blick ins Innere des Systems. Einen Moment glaubte sie, ihren Augen nicht trauen zu können. Hier war alles völlig anders, als sie es aus Boston gewöhnt war. Dort hatte es Anzeigen und Schalter gegeben, mit denen sie sich rasch hatte vertraut machen können. Hier war nichts dergleichen. Nur Kunststoffgehäuse, durch die ein Summen und Surren zu hören war. Sie ging ein paar Schritte zurück, um zu überlegen. Wie komme ich an die Daten heran?

19.52 Uhr Frank Clancy war zu einem der Polizisten gerannt, die auf dem Parkplatz auf ihren Motorrädern warteten. »Fahren Sie mich so schnell Sie können zum Mercy Hospital.« Der Polizist hatte ihn 910

offenbar für einen aus dem Irrenhaus Entsprungenen gehalten, bis Clancy ihn dazu gebracht hatte, bei Tony Molloy nachzufragen. Dann rasten sie mit Blaulicht und heulender Sirene durch Dublin. Clancy trug immer noch sein verschwitztes TShirt, die Jeans und Joggingschuhe. Er erfror fast auf dem Soziussitz. Das Motorrad hielt vor dem Haupteingang des Krankenhauses mit kreischenden Bremsen an, und Clancy sprang herunter. Er blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Das Mercy Hospital war ein großer Komplex, und er wollte sich nicht in einer der Sackgassen verlaufen. Da entdeckte er das Schild: ARCHIV-ANBAU. Darauf rannte er zu.

19.18 Uhr Linda Speer hatte endlich herausgefunden, wie sie sich in den Computer einloggen konnte. Und sie hatte den versiegelten Container mit den Sicherheitsdisketten entdeckt. Ihre Karte hatte ihn geöffnet. Fieberhaft durchsuchte sie ihn nach den Disketten mit der Information, die sie in Teufels Küche bringen würde. Ihre Finger zitterten, und ihnen entglitt eine Diskette nach der anderen. Sie fing zu schwitzen an. In dem riesigen Raum wurde es unerträglich heiß. Die dicken Wände ließen keinen Luftaustausch zu. Sie begann nach Luft zu schnappen und zu husten. Endlich fand sie jene fünf Disketten, die auf gar keinen Fall entdeckt werden durften. Fünf Disketten, die alles beweisen und alles vernichten konnten, was sie so mühsam aufgebaut hatte. Sie schob die Disketten in ihre Jackentasche. Geschafft! Sie hatte wieder einmal gewonnen. Fuck you, Frank Clancy! Sie brauchte unbedingt eine Zigarette. Sie öffnete ein Päckchen 911

mit Mentholfilterzigaretten und sah sich um, um zu überprüfen, dass sie keine Spuren hinterlassen hatte. Dann machte sie sich daran, alle Oberflächen, die sie berührt hatte, abzuwischen. Schließlich schob sie die Karte in den Schlitz. Die Flügel der Stahltür glitten auf.

20.02 Uhr Frank Clancy hämmerte an die falsche Tür, als der Wächter vom Sicherheitsdienst sich von hinten wie ein Rugbyspieler auf ihn warf. Da er geglaubt hatte, die Datenbank befände sich im Archiv-Anbau, hatte Clancy sich gegen die verschlossene Tür geworfen und verzweifelt versucht, sie aufzubrechen. Plötzlich fand er sich auf dem Boden wieder, umklammert von zwei kräftigen Armen. »Lassen Sie los!«, brüllte er. »Das ist ein Notfall!« Der Sicherheitsmann drehte ihn auf den Bauch und hielt seine Arme fest. »Ich bin Arzt, lassen Sie mich los!« Der Wächter sah nur einen Kerl in schmutzigem T-Shirt und Jeans, dessen Haar in alle Richtungen stand. »Und ich bin der Mann im Mond«, entgegnete er schnaufend. Er griff nach seinem Walkie-Talkie. In diesem Augenblick schwang Clancy mit aller Kraft herum. Seine Faust traf die Nase des Wächters. Dessen Griff lockerte sich so lange, dass Clancy fliehen konnte. Er hörte die Alarmsirene schrillen, als er um die Ecke zum Datenspeicher bog.

20.05 Uhr Die Stahltür war offen. Die Dunkelheit lockte. Linda Speer hatte alles, was sie brauchte. Sie beabsichtigte, sich durch den Seiten912

eingang aus dem Krankenhaus zu stehlen und ein Taxi zum Flughafen zu nehmen. Ihre falschen Papiere sowie ihre Koffer warteten dort bereits bei der Gepäckaufbewahrung. In zwei Stunden würde sie schon über den Wolken Champagner schlürfen. Und bestimmt würde sie sich bald einen Millionär geangelt haben. Sie sah sich ein letztes Mal um, da bemerkte sie die Diskette auf dem Boden, eine von den unwichtigen, die ihr hinuntergefallen waren. Sie hob sie auf und überlegte, wo sie sie verstecken könnte. Doch dann beschloss sie, sie lieber mitzunehmen, als Zeit damit zu vergeuden, den Sicherheitscontainer noch einmal zu öffnen und zu schließen. Gedankenlos zündete sie ihre Zigarette mit ihrem goldenen Feuerzeug an. Plötzlich blinkte eine rote Lampe über der Stahltür auf, und eine Sirene heulte durch den Datenbankraum. Linda Speer stand wie angewurzelt da, dann ließ sie die Diskette fallen und rannte zur Stahltür. Als sie sie mit einer Hand berührte, glitten die Flügel zusammen. Gas füllte zischend den Raum. Linda Speer hämmerte verzweifelt an die Tür. Sie spürte einen ätzenden Geschmack im Mund, ihre Lunge brannte, und sie hustete heftig. Sie versuchte die Tür mit der Karte zu öffnen, doch diesmal reagierte sie nicht. Sie stolperte, und die Luft in ihrer Lunge brannte wie Feuer. Sie taumelte zu den Sicherheitsglasfenstern, hämmerte verzweifelt dagegen und schrie um Hilfe. Das Zischen des Gases erfüllte ihre Ohren, und sie sackte in die Knie. Plötzlich wurde auch von der anderen Seite gegen das Glas gehämmert. Sie blickte hoch und sah, dass Frank Clancy sie anstarrte. Sie spürte, wie der Raum sich verdunkelte. Wieder musste sie heftig nach Luft schnappen, keuchen und husten. Ihre Kraft versiegte. Frank Clancy war auf die Knie 913

gegangen und kratzte verzweifelt an dem Sicherheitsglas. Linda Speer brach zusammen, ihre Augen starrten sehnsüchtig in die Dunkelheit hinaus. Die Halogenlampen im Innern der Datenbank gingen langsam aus. Sie schloss die Augen. Wieder wurde heftig gegen die Fenster gehämmert. Zum letzten Mal blickte Linda Speer auf. Zum letzten Mal sah sie Dr. Frank Clancy. Er weinte, Tränen liefen über seine Wangen. Linda Speer streckte eine Hand aus und presste sie gegen das Sicherheitsglas. Der Raum wurde dunkel. Die Hand rutschte leblos herunter. Draußen schlang Frank Clancy die Hände um die Knie und weinte um das vergeudete Leben. Das auf so entsetzliche Weise vergeudete Leben. Und alles aus Habgier.

42

Sechs Tage später Tony Molloy begutachtete eine Birne: Er drückte sie in der Mitte und befand sie für zu weich. Mit gerunzelter Stirn wandte er sich der Obstschale zu, nahm sich grüne Trauben heraus, steckte sie in den Mund und begann zu kauen. Er saß auf einem für seine Statur zu schmalen Stuhl in Zimmer 26 des Privatflügels, der an das Mercy Hospital angebaut war. Es war mit seinen 4,50 mal 3,60 Metern verhältnismäßig groß. In einer Ecke gab es einen kleinen Farbfernseher, neben dem Bett an jeder Seite ein Tischchen mit Schubladen, und eine geschlossene Tür führte zu einer Toilette mit Dusche. In dem Zimmer stand nur ein Bett, in dem Jim Clarke lag, dessen Beinstumpf soeben neu verbunden wurde. Als er nach dem Blutbad im Parkhaus zur Notaufnahme des Mercy Hospitals gebracht worden war, hatte er sich in einem sehr 914

schlechten Zustand befunden. Man hatte sofort beschlossen, sein Bein zu amputieren, und man brachte ihn umgehend in den Operationssaal. Während er anästhesiert wurde, operierte man Kavanaghs Schädelbruch gleich gegenüber im neurochirurgischen Flügel. Der Baseballschläger des Goon hatte ihm das Stirnbein zerschmettert, doch glücklicherweise das Gehirn nicht beschädigt. Sowohl er als auch Clarke waren von der Intensivstation zur Rekonvaleszenz auf Privatzimmer verlegt worden. Auf dem Bett lagen Zeitungen und Zeitschriften aus Irland, England, vom Kontinent und aus den USA. Clarke hatte hauptsächlich die Schlagzeilen überflogen. REGIERUNG AM ENDE! ... SCHANDE FÜR DIE REGIERUNG! ... IRISCHES PARLAMENT AUFGELÖST ... Die internationalen

Medien

hatten

ihren

großen

Tag.

Die

Sensationsblätter schürten das Feuer. SEX-SKANDAL STÜRZT REGIERUNG!... MEINE HÖLLENNACHT MIT TEUFEL REGAN. Eine Menge junger Mädchen hatte sich gemeldet und erzählt, wie Regan sie missbraucht hatte. MINISTER FÜR SEX UND DROGEN. Dublin war voller Reporter, die herauszuholen versuchten, was sie nur konnten, und die Story brauchte nicht einmal aufgebauscht zu werden, sie hatte alles, was sie sich wünschen konnten: Habgier, Korruption, Sex und Drogen. Die Schlagzeilen garantierten Rekordumsätze. »Soll ich anfangen?«, fragte Molloy, als die Schwester sie endlich allein gelassen hatte. Clarke massierte den Stumpf. »Wissen Sie, es ist einfach großartig, endlich keine Schmerzen mehr zu haben. Ich wünschte bei Gott, sie hätten mir das verdammte Bein damals gleich abgenommen.« 915

Molloy grinste. »Sie sehen auch besser aus, Jim. Das Gesicht nicht mehr so eingefallen und abgespannt. Sie schienen immer zu leiden.« Clarke zog die Decke über den Stumpf und machte es sich bequem. »Okay, erzählen Sie mir alles.« Molloy schälte sich eine Banane. »Also, es war ursprünglich Linda Speer, die das Dreamteam überredete, nach Dublin zu kommen. In Boston war es offenbar zu heiß für sie geworden, und sie wollte unbedingt weg. Sie hatte heimlich Testversuche mit einem Herzmittel durchgeführt. Irgendjemand hatte da drüben Verdacht geschöpft und sich an die Behörden gewandt, die sofort damit anfingen, Beweise zu sammeln.« »Was war mit Marks und Colman?«, fragte Clarke. »Colman hatte absolut nichts damit zu tun, er wusste nichts davon«, fuhr Molloy fort. »Marks und Speer hatten eine Zeit lang eine heiße Affäre.« Er spuckte ein Stück Banane aus. »Er war ihr hörig, sie hatte ihn, sexuell gesehen, an der Kandare und riss ihn mit. Die Speer wusste auch von seinen Schwierigkeiten mit Jennifer.« Clarke blickte auf. »Was für Schwierigkeiten?« »Jenny betrieb in Boston ihre eigenen kleinen Geschäfte: Sex für Drogen. Sie hatte sogar drei ihrer Schulkameradinnen eingespannt.« »Himmel!«, entfuhr es Clarke. Er warf die Decke zurück. »Also«, fuhr Molloy fort, während er einen grünen Apfel beäugte. »Die Speer lernte Regan bei irgendeinem Herzkolloquium kennen, ehe er in die Politik ging. Sie jammerte ihm vor, dass sie es in den Staaten nie weiter bringen würde, weil sie bei Einstellungen und Beförderungen immer übergangen wurde. Sie behauptete, es läge daran, dass sie eine Frau sei. Sie brachte das 916

ganze sexistische Zeug aufs Tapet.« »Und das hat nicht gestimmt?« »Nein, nicht im Geringsten. Die Speer wurde übergangen, weil niemand ihren Forschungsunterlagen traute. Offenbar war sie dafür bekannt, dass sie die Ergebnisse fälschte, dass sie ihrer Arbeit einen wissenschaftlichen Hintergrund verlieh, den es gar nicht gab.« Eine Schwester betrat das Zimmer, und sie unterbrachen das Gespräch. Sie maß Clarkes Temperatur, Blutdruck und Puls. Molloy beobachtete sie. Als sie ging, schloss er die Tür hinter ihr. »Niemand misst je meinen Blutdruck«, beklagte er sich. »Was muss man tun, dass man hier durchgecheckt wird?« Clarke grinste. »Sich das Bein amputieren oder den Schädel einschlagen lassen.« Molloy verzog das Gesicht. »Dann verzichte ich wohl lieber darauf.« Er blickte auf die Obstschale und entschied sich für ein paar Trauben. »Na ja, wie auch immer«, er spuckte einen Kern aus, »Regan wusste das alles und trat später an die Speer heran. Er wollte sich im Gesundheitswesen einen großen Namen machen, und er zweifelte nicht daran, dass die Speer an die Spitze wollte. Beiden war jedes Mittel recht. Sie waren das perfekte Team. Die Speer durfte, um den EU-Zuschuss zu sichern, ihre Ergebnisse nach Bedarf fälschen, Regan ließ zu, dass sie ihr Mittel weiterhin heimlich testete.« »Wodurch geriet die Sache dann außer Kontrolle?« Clarke sah, wie seine Obstschale immer leerer wurde. »Durch Jennifer Marks. Sie war sehr clever, zu clever.« Molloy versuchte ein paar Tropfen Traubensaft von seinem Hemd zu wischen. Sein Bauch schien noch aufgeblähter zu sein als sonst. Er tastete nach einem 917

Antazidum. »Sie wusste, dass die Speer und ihr Vater sich mächtig ins Zeug legten. Sie beobachtete die beiden, wie Joan Armstrong aussagte. Eines Nachts belauschte Jennifer einen Streit zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater. Joan erzählte, dass Annie Marks noch betrunkener gewesen sei als sonst. Sie warf ihm alles vor, was sie über seine und Linda Speers Machenschaften wusste, und sie wusste eine Menge. Jennifer entging nichts. Ihr Vater hatte einen Schlüssel zu Linda Speers Wohnung. Jennifer fertigte einen Abdruck an und schaute sich eines Tages dort um. Dabei hat sie diese Tabletten entdeckt.« »Was nutzten sie ihr?«, wunderte sich Clarke. Es wurde warm im Zimmer, und er bat Molloy, ein Fenster zu öffnen. »Sie wusste sofort, was sie damit machen konnte.« Molloy plagte sich mit einem Riegel ab. Endlich ging das Fenster auf, und der Verkehrslärm der Stadt drang gedämpft herein. »Jennifer wollte Drogen. Sie hatte längst von Regans Ruf gehört. Sie wusste, dass er auf junge Mädchen scharf war und sie häufig dafür bezahlte, dass sie in sein Haus kamen. Alle in seiner Straße wussten davon. Nur war Regan so mächtig und gefährlich, dass nie jemand den Mut aufbrachte, ihm etwas anzuhängen.« Clarke schüttelte den Kopf. »Wenn ich bloß daran denke, dass dieser Bastard es gewagt hat, mich herauszufordern.« »Vergessen Sie es, Jim.« Molloy kaute an seiner Magentablette. »Sie werden bald hier heraus sein. Regan geht unter wie ein Stein. Er gehört der Vergangenheit an.« »Wie ist es Jennifer Marks gelungen, Regan reinzulegen?« »Indem sie versuchte, ihn zu erpressen. Sie nahm eine Hand voll der Tabletten mit, die Speer im Krankenhaus einsetzte, und sandte sie ihm anonym, jeden Tage eine, drei Tage hintereinan918

der. Am vierten Tag schrieb sie ihm ein paar Zeilen. Sie wollte eine Million Pfund in bar, dann würde sie den Mund halten.« »Woher wissen Sie das alles?« Clarke war beeindruckt. »Hauptsächlich von Joan Armstrong. Die beiden steckten unter einer Decke. Beide nahmen Heroin. Beide bezahlten dafür auf die einzige Art und Weise, die sie kannten, mit ihrem Körper. Als sie endgültig in dem Teufelskreis drin waren, konnten sie nicht genug bekommen.« »Also wurden sie habgierig?«, schloss Clarke. »Und dumm.« »Und was ist in jener Nacht im Sandymount Park tatsächlich passiert?« Clarke öffnete sein Schlafanzugoberteil und fächelte sich Luft zu. »Regan hatte seinen knallharten Helfer. Er nannte ihn den Goon. Ein Kerl, wegen dem die Wahlkampagne fast gescheitert wäre.« Clarke beugte sich ein wenig nach vorn. »Ja, ich erinnere mich vage.« Molloy öffnete einen Hemdknopf, um den Druck auf seinen Bauch zu mildern. »Regan schickte den Goon in Balfe's Pub, um Jennifer Marks zu holen. Nur war Jennifer bereits high und hing mit diesem Messerstecher Micko Kelly rum. Joan Armstrong erzählte, dass Jennifer dem Goon sagte, er solle auf der Stelle abhauen. Und Kelly stieß ins gleiche Horn.« »Ein gefährliches Szenario«, meinte Clarke. »Dynamit. Regan und sein Helfer folgten Jennifer und Kelly in den Park. Regan versuchte ihr zuzureden und sie zur Vernunft zu bringen, aber sie brauste auf. Da kam Kelly aus dem Unterschlupf, um nachzuschauen, was los war.« »Und dann brach die Hölle los«, warf Clarke ein. Er legte sich 919

erschöpft auf die Kissen zurück. Molloy spürte, dass es ihm zu viel wurde. Er stand auf, um zu gehen. Da sagte Clarke: »Ich habe gehört, Sie wussten, dass es Regan war, noch bevor Sie zum Haus fuhren. Woher?« Molloy setzte sich auf die Stuhlkante. »Die Fasern vom Tatort. Sie waren aus Mohair. Micko Kelly konnte sich nur an einen Namen aus dieser Nacht erinnern: Mo.« Er blickte Clarke an. »Verstehen Sie?« Clarke schüttelte den Kopf. »Mo. Mohair. Mo. John Regan. Alle kennen ihn als Mo Regan. Unser Champagner-Sozialist. Er trägt nur Anzüge und Pullover aus Mohair. Die Fasern, die an den Zweigen im Park hingen, waren von ihm.« »Der Bastard«, murmelte Clarke. »Dieser elende Bastard.« Molloy war aufgestanden. »Ich besuche Sie morgen wieder. Ich habe mit Maeve und Katy gesprochen. Sie wollen unbedingt, dass Sie in Pension gehen, und ich habe nicht vor, mich ihnen in den Weg zu stellen.« Clarke grinste. Er rutschte etwas tiefer und machte es sich bequem. »Bevor Sie gehen...« Molloy hatte die Tür schon einen Spaltbreit geöffnet. »... Wer ist dieser Frank Clancy, der in allen Zeitungen steht? Und was ist mit der Speer in diesem Datenbankraum passiert?« Molloy grinste. »Dieser Clancy hätte sich einen Orden verdient. Er hat im Hospital ganz allein Detektivarbeit geleistet. Er wird im ganzen Land wie ein Kriegsheld gefeiert. Die Medien suchen ihn wie verrückt.« Er knöpfte sein Hemd zu. »Die Speer ist das Opfer eines neuen Feuersensorensystems im Datenbankraum geworden. Offenbar reagiert es auf die kleinste Hitze- und 920

Rauchentwicklung. Sie hat sich eine Zigarette angezündet, darauf schaltete sich der Alarm ein, die Tür schloss sich luftdicht, und der Raum wurde mit Neongas geflutet.« Er bemerkte Clarkes Stirnrunzeln. »Neon entzieht dem Raum Sauerstoff und löscht Feuer in Sekundenschnelle aus. Und es hat auch die Speer ausgelöscht.« Clarke verzog das Gesicht, dann schob er sich ein weiteres Kissen unter den Kopf. »Und wo ist Clancy jetzt?« Molloy tippte sich auf den Nasenflügel. »Aber das sage ich nur Ihnen.« Er schloss die Tür. »Er ist in Disneyland.«

Epilog John Regan wurde wegen mehrerer Verbrechen vor Gericht gestellt, darunter Mord, Drogenhandel, Zuhälterei und schwerer Betrug. Er wurde zu einer Haftstrafe von zwanzig Jahren verurteilt, die er bereits angetreten hat. Innerhalb einer Stunde nach seiner Verhaftung und der Bekanntgabe des Todes von Linda Speer endete der Handel mit Aktien der Firma Cynx Pharmaceuticals an der New Yorker Börse, und Beamte des Betrugsdezernats nahmen eine Razzia bei dieser Bostoner Firma vor. Jim Clarke ließ sich aus Gesundheitsgründen pensionieren. Er arbeitet jetzt als Sicherheitsberater für mehrere multinationale Pharmakonzerne in Irland. Er benutzt einen Spazierstock und hat sich gut an seine Beinprothese gewöhnt. Moss Kavanagh erholte sich bald von seiner schweren Kopfverletzung und untersteht nun dem Polizeihauptquartier. Tony Molloy wurde zum Police Inspector befördert und leitet weiterhin das Dezernat für 921

Gewaltverbrechen. Auf Dr. Frank Clancy wartete bei seiner Rückkehr aus Florida ein großer Empfang. Das Direktorium des Mercy Hospitals gab zu seinen Ehren ein Bankett und bot ihm alle finanzielle Hilfe zum Ausbau seiner Abteilung an. Außerdem wollte man ihn zum Vorstandsmitglied ernennen. Für einen so jungen Mann wäre das ein schneller Aufstieg in der Krankenhaushierarchie gewesen, aber er lehnte diese Ehre höflich ab. Frank Clancy ist mit Leib und Seele Arzt. Er liebt seine Arbeit und den persönlichen Umgang mit seinen Patienten. Er wollte nicht durch ein Nebenamt abgelenkt werden, egal welche Ehren ihm das auch einbrächte. Er ist wieder zurück auf seiner Station im Mercy Hospital, kommt aber jetzt keinen Abend mehr später als neunzehn Uhr nach Hause. Er und seine Frau Anne erwarten ihr drittes Kind. Martin und Laura freuen sich schon sehr darauf. Dan und Annie Marks kehrten nach Boston zurück. Er arbeitet in einem Privatkrankenhaus und hat sich völlig aus dem staatlichen Gesundheitswesen und auch von seiner medizinischen Forschungstätigkeit zurückgezogen. Er hat die Scheidung eingereicht. Bei Dr. Stone Colman wurde durch die Ergebnisse der Ermittlungen in Dublin jeder Verdacht einer Beteiligung oder Mitwisserschaft ausgeräumt. Er ist in Dublin geblieben und arbeitet weiterhin im Mercy Hospital. Anfang Juli 1998 entließ Patrick Dillon seinen Patienten Micko Kelly aus dem Rockdale Hospital für kriminelle Geistesgestörte in die Sicherheitsverwahrung der Behörden. Am 30. Juli wurde Kelly des Mordes an Jennifer Marks angeklagt. Dillon erklärte, dass er geistig fähig sei zu verstehen, worum es gehe, und sich zu verteidigen. Drei Tage, bevor er zum ersten Mal vor Gericht er922

scheinen sollte, nässte Kelly die Betttücher in seiner Zelle und riss sie in Streifen. Er wartete, bis man vor dem Schlafengehen nach ihm gesehen hatte und die Wärter sich für die Nacht zurückzogen. Um 23.37 Uhr am 31. August fand man ihn erhängt am Fenstergitter seiner Zelle. Drei Minuten vor Mitternacht wurde er für tot erklärt. Schon am nächsten Tag saß ein Siebzehnjähriger in der Zelle, den man am Dubliner Flughafen mit drei Kilo Heroin geschnappt hatte. Es ging im alten Trott weiter.

Danksagung Den Ärzten Mein Dank für die fachmännische Beratung gilt Professor »Jack« Harbison,

Professor

für

Gerichtsmedizin

und

staatlicher

Gerichtspathologe der Republik Irland; dem Gerichtspsychiater Dr. Art O'Connor; dem Psychiater des nationalen Behandlungszentrums für Drogenmissbrauch in Dublin, Dr. John O'Connor; dem orthopädischen Chirurgen Paul McNamee und last but not least dem Hämatologen Dr. Rory O'Donnell. Den Polizeikräften. Dankbar bin ich auch Dr. James Donovan, dem Gründer und gegenwärtigen Leiter von Irlands Forensic Science Department, der immer noch von den Narben eines Attentatversuchs ge923

zeichnet ist; sowie den Angehörigen der Garda Siochana, Irlands größter

unbewaffneter

Polizeitruppe,

denen

ich

Hinter-

grundinformationen verdanke.

Und der Übersetzer bedankt sich herzlich bei Herrn Dr. med. Klaus Dietz, der so freundlich war, das Manuskript auf die Korrektheit der medizinischen Begriffe durchzusehen und erforderliche Fachausdrücke beizusteuern. 924

Für was darf man die Hupe außerorts benutzen?

Die Hupe darf immer als Warnsignal benutzt werden. Außerhalb geschlossener Ortschaften, darf damit auch eine Überholabsicht angekündigt werden. Als Rufzeichen darf sie nie verwendet werden.

Wann darf die Hupe verwendet werden?

Zusammengefasst bedeutet das: Innerhalb geschlossener Ortschaften dürfen Sie die Hupe nur als Warnsignal verwenden, außerhalb geschlossener Ortschaften ist sie zusätzlich als Hinweis auf Ihren Überholvorgang gestattet.

Was ist ein Rufzeichen Hupe?

Hupen außerorts als Überholsignal und zur Warnung Antwortmöglichkeit 1 Als Warnsignal ist daher richtig. Antwortmöglichkeit 2 Als Überholsignal ist ebenfalls richtig - allerdings dürft ihr die Hupe nur außerorts benutzen um ein Überholmanöver anzukündigen. Innerhalb von Ortschaften würde damit zuviel Lärm entstehen.