"Die Lehrer bezeichnen Lesen, Schreiben und Rechnen als Grundlagenfächer. In Wirklichkeit handelt es sich aber bei diesen Lehrstoffen bereits um sehr komplexe Prozesse, die sich nur bei einer einwandfreien geistigen Verarbeitung der durch die Sinnesorgane aufgenommenen Wahrnehmung erlernen lassen." A. Jean Ayres Show
Was nicht sein darf, kann nicht sein? Übergriffiges Verhalten findet in (fast) jeder Kita statt, so der Kinderrechtler Jörg Maywald. In seinem aktuellen Buch nimmt er sich des Themas an und zeigt Wege zu einem verantwortungsvollen Umgang auf. Gewalt gegen Kinder kann massiv sein oder auf leisen Sohlen daherkommen. Sie kann den Körper und/oder die Seele des Kindes verletzen oder sich als sexualisierte Gewalt in Form eines sexuellen Übergriffs oder Missbrauchs zeigen. Professionelles Fehlverhalten und Gewalt gegen Kinder durch pädagogische Fachkräfte kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Das Fehlverhalten kann offenkundig oder subtil sein. Es kann einmalig oder wiederholt auftreten, in aktiver oder passiver Form – durch Unterlassen einer notwendigen Fürsorgehandlung – geschehen. Die meisten Fälle sind strafrechtlich nicht relevant, oft geschieht das übergriffige Verhalten nicht bewusst, sondern entsteht im Vorbeigehen, aus ganz normalen Alltagssituationen heraus. Allen Formen von Gewalt gemeinsam aber sind der fehlende Respekt vor der Integrität eines Kindes und die Verletzung seiner Rechte auf körperliche und seelische Unversehrtheit und auf gewaltfreie Erziehung. Fallbeispiel: Emre will nur Nudeln essenDie Kita „Abenteuerland“ hat im Außenbereich einen kleinen Gemüsegarten angelegt. In einer Gemeinschaftsaktion unter Beteiligung der Kinder und einiger Eltern sind Beete angelegt, Pflanzen gesät, gesetzt und regelmäßig gewässert worden. Einige Wochen später können die ersten Früchte geerntet werden, darunter auch Zucchini. Während es die meisten Kinder kaum abwarten können, ihr eigenes Zucchini-Gemüse zu kochen und zu verspeisen, ist der 5-jährige Emre gar nicht begeistert. Auf die Frage seiner Erzieherin, ob er die ihm angebotenen Zucchini nicht wenigstens kosten möchte, antwortet er bestimmt: „Ich mag nur Nudeln. Gemüse schmeckt mir nicht, das habe ich dir doch schon gestern gesagt.“ Daraufhin die Erzieherin: „Gemüse ist gesund. Wer nicht wenigstens probiert, bekommt auch keinen Nachtisch.“ Kinder zum Probieren von ihnen möglicherweise unbekannten Speisen anzuregen und zu ermutigen sowie selbst hinsichtlich Vielfalt des Geschmacks ein gutes Vorbild zu sein und auf die Bedeutung gesunden Essens hinzuweisen, gehört zum Bildungs- und Erziehungsauftrag jeder pädagogischen Fachkraft. Eine eindeutige Grenze muss aber dort gezogen werden, wo ein Kind zum Essen bestimmter Speisen gedrängt oder gar gezwungen wird. Auch der Versuch, den Nachtisch an die Bedingung des Probierens von Gemüse zu knüpfen, überschreitet bereits diese Grenze und stellt eine Form psychischen Drucks dar. Was in diesem Fall getan werden sollteZwar wendet die pädagogische Fachkraft in dem geschilderten Fall keinen unmittelbaren Zwang zum Essen an, aber sie setzt den Jungen psychisch unter Druck, das Gemüse doch „wenigstens zu probieren“. Entlastend kann angeführt werden, dass sich die Fachkraft möglicherweise von der allgemeinen Begeisterung für das selbst gezogene und nun geerntete Gemüse hat mitreißen lassen und vor diesem Hintergrund kein Verständnis für die Weigerung des Jungen aufbringen kann. Dennoch sollte sie auf ihr Verhalten angesprochen werden, mit dem Ziel einer Einstellungs- und Verhaltensänderung. Da Zwang zum Essen und damit verbundener seelischer Druck häufig vorkommen, ist davon auszugehen, dass zahlreiche pädagogische Fachkräfte in ihrer eigenen Kindheit und Jugend diesbezüglich belastende Erfahrungen gemacht haben, verbunden mit der Gefahr, diese schlechten Erfahrungen in ihrer beruflichen Praxis (unbewusst) an die Kinder weiterzugeben. Warum wird Gewalt tabuisiert?Die insgesamt sehr lückenhafte Datenlage sowohl bei den Aufsicht führenden Behörden als auch bei den Trägern und Einrichtungen sowie die – abgesehen von wenigen Ausnahmen – unzureichende fachliche und mediale Thematisierung lässt vermuten, dass es sich bei dem Thema „Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen“ weitgehend um ein gesellschaftliches Tabu handelt. Wie aber kann dieses Stillschweigen erklärt werden? Warum wird in diesem Berufsfeld so wenig über mangelnde Professionalität gesprochen, obwohl doch ein gewisses Ausmaß an Fehlverhalten in jeder Berufsgruppe zu erwarten ist? Professionell mit Fehlverhalten umgehenGewalt und unprofessionelles Verhalten kommen in jeder Kindertageseinrichtung vor. Zwar kann eine Kita das Glück haben, von schweren Formen von Gewalt durch Fachkräfte (bisher) verschont worden zu sein. Leichtere Formen übergriffigen Verhaltens und der Missachtung von Kinderrechten lassen sich aber im Alltag jeder Kita beobachten. Ziel muss sein, dieses Fehlverhalten in den Blick zu nehmen, daraus Konsequenzen zu ziehen und die Gewalt in der Institution Schritt für Schritt immer weiter zurückzudrängen. Kinder nicht zum Essen zwingen
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