Kann es Russland mit der NATO aufnehmen?

Stand: 30.09.2022 17:44 Uhr

Unmittelbar nach der Annexion von vier Gebieten durch Russland will die Ukraine einen beschleunigten Beitritt zur NATO beantragen. Verhandlungen mit Kremlchef Putin schloss Präsident Selenskyj aus.

Als Reaktion auf die Unterzeichnung von Abkommen in Moskau zur Annexion von vier ukrainischen Regionen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Antrag zur zügigen Aufnahme seines Landes in die NATO unterzeichnet. "Wir unternehmen einen entschlossenen Schritt, indem wir die Bewerbung der Ukraine um beschleunigten Beitritt zur NATO unterzeichnen", sagte Selenskyj einem Video, das nur wenige Minuten nach der Unterzeichnungszeremonie im Kreml verbreitet wurde.

"De facto haben wir bereits Kompatibilität mit Standards der Allianz bewiesen", teilte er mit. "Sie sind für die Ukraine real - real auf dem Schlachtfeld und in allen Aspekten unserer Interaktion. Wir vertrauen uns gegenseitig, wir helfen uns gegenseitig, und wir beschützen uns gegenseitig. Das ist die Allianz."

Formale Bedingungen nicht erfüllt

Welche Folgen der Antrag hat, ist bisher unklar. Damit ein Land dem Militärbündnis beitreten kann, müssen alle Nato-Mitgliedsländer zustimmen. Allgemein gilt als Voraussetzung für einen NATO-Beitritt, dass der Beitrittskandidat nicht in internationale Konflikte und Streitigkeiten um Grenzverläufe verwickelt sein darf. Die Ukraine ist am 24. Februar von Russland überfallen worden und verteidigt sich seitdem gegen den Angriffskrieg. Zudem hat Russland bereits 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim annektiert.

Selenskyj: Keine Verhandlungen mit Putin

Zugleich erteilte Selenskyj dem vom russischen Präsidenten Wladimir Putin kurz zuvor formulierten Appell zu Verhandlungen über Beendigung des Ukraine-Kriegs eine Absage. Die Ukraine werde keine Verhandlungen mit Russland führen, solange Putin an der Macht sei, sagte der ukrainische Staatschef. Die Ukraine werde dann mit Russland verhandeln, wenn es dort einen "neuen Präsidenten" gebe.

Putin hatte in einer Ansprache zur Annexion der vier ukrainischen Regionen Kiew zur umgehenden Einstellung aller Kampfhandlungen aufgefordert. Der russische Präsident rief die ukrainische Regierung auf, "an den Verhandlungstisch zurückzukehren".

Hat der Westen in der Frage der NATO-Ost-Erweiterung Russland hinters Licht geführt? Und liegt in diesem „gebrochenen Versprechen“ die Ursache der russischen Militäraggressionen gegen Georgien und die Ukraine? Diese Fragen erhitzen seit geraumer Zeit die Gemüter. Die Sicherheitsexpertin Oxana Schmies hat einen instruktiven Sammelband herausgegeben, in dem sich sowohl Zeitzeugen als auch Analytiker mit dem Verhältnis des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses zu Russland auseinandersetzen. Boris Jelzin weckte am 20. Dezember 1991 hohe Erwartungen, als er einen russischen NATO-Beitritt zum „langfristigen politischen Ziel“ erhob. Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er von diesem Plan halte. Solche Äußerungen wirken heute wie aus der Zeit gefallen. Mittlerweile erblickt die NATO in Russland die „Hauptbedrohung“ für die nächsten zehn Jahre.

Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Der Kreml hatte die Ost-Erweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet und diese Formulierung 2015 noch einmal bekräftigt. Am Anfang der russischen Jeremiaden über die NATO steht James Bakers berühmte Formulierung „Not one inch eastward“, die am 9. Februar 1990 in einem Treffen mit Gorbatschow fiel. Damals verzichtete Gorbatschow allerdings auf eine schriftliche Fixierung dieser Aussage, die von amerikanischer Seite als Verhandlungsposition und von russischer Seite als Zusicherung aufgefasst wurde.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion drangen zahlreiche osteuropäische Staaten auf eine Mitgliedschaft im westlichen Verteidigungsbündnis. Die NATO war sich allerdings uneinig. Im Sommer 1993 wurden in Washington intensive Diskussionen geführt. Das Pentagon war gegen eine Ost-Erweiterung, die Regierung dafür. Am Ende stand ein Kompromiss, in dem den osteuropäischen Ländern eine „Partnership for Peace“ angeboten wurde. Allerdings präzisierte Präsident Clinton bereits im Januar 1994, dass die Frage eines NATO-Beitritts für diese Länder nur eine „Frage des Wann und Wie“ sei. Eine entscheidende Rolle spielte in Washington, London und Paris der Jugoslawien-Krieg, der allen die Notwendigkeit eines starken Militärbündnisses in Europa klar vor Augen führte.

Man kannte Moskaus Empfindlichkeiten, war aber bereit, eine Abkühlung der Beziehungen in Kauf zu nehmen. Clinton bezeichnete Russland als „unglaubliches Chaos“: Der Kreml hatte gerade eine tiefe Verfassungskrise durchgestanden, in Tschetschenien kündigte sich ein Krieg an, die Wirtschaft befand sich im freien Fall. In der Frage der NATO-Erweiterung spielten auch Rivalitäten zwischen den westlichen Bündnispartnern eine Rolle: Großbritannien blickte skeptisch auf eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland, Frankreich hielt überhaupt vorsichtige Distanz zur NATO, und Deutschland wollte seine östlichen Nachbarn nicht verärgern. Auf beiden Seiten des Atlantiks war man sich einig, dass das schwankende Russland „kostengünstig“ stabilisiert werden müsse. Die Administration Clinton hätte sogar eine Aufnahme Russlands in die NATO unterstützt, wenn es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.

Wer ist stärker Russland oder die NATO?

Russland verfügte zum gleichen Zeitpunkt über 850.000 aktive Soldatinnen und Soldaten, die Gesamtsumme des militärischen Personals liegt bei 1,35 Millionen. Bei fast allen hier aufgeführten militärischen Ausrüstungen ist die NATO rein zahlenmäßig überlegen.

Warum darf Russland der NATO nicht beitreten?

Im Gegenzug wurden Russland gegenüber der NATO Privilegien eingeräumt, wie sie kein anderer Nicht-Mitgliedstaat vorweisen konnte. Beide Seiten bekannten sich zum Verzicht auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt, zu gegenseitigen Konsultationen und friedlicher Beilegung von Konflikten.

Was passiert wenn ein NATO Land angegriffen wird?

Gem. Art. 5 des NATO-Vertrages kann der Bündnisfall festgestellt werden, wenn ein Mitglied der NATO von außen angegriffen wurde. Die Konsequenz einer solchen Feststellung ist, dass alle anderen Mitgliedsstaaten zum Beistand verpflichtet sind.

Wann greift die NATO Russland an?

Als Zeichen für die einzigartige Rolle Russlands im euro-atlantischen Sicherheitsgefüge haben die NATO und Russland 1997 die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit unterzeichnet, in deren Rahmen der Ständige Gemeinsame NATO-Russland-Rat geschaffen wurde.