Bis zum Mond und wieder zurück ursprung

Der Mond übt seit alters her eine mystische Anziehung auf die Menschheit aus. Er fasziniert bis heute, weil er noch viele Geheimnisse birgt. Nach und nach entschlüsseln Forscherteams die Rätsel und damit die Geschichte der Planeten in unserem Sonnensystem.

  • Vor allem die USA und China wollen wieder zum Mond reisen. Aber auch Japan, Indien und Europa haben bereits verschiedene Missionen geplant. Unbemannte sowie bemannte.
  • Am 24. November 2020 plant China mit seiner Mission Chang'e 5, vor Ort Proben zu sammeln und diese zur Erde zurückzubringen. Frühstens 2030 will man Menschen zum Mond fliegen.
  • Die USA wiederum planen ihre Rückkehr zum Mond für das Jahr 2024 mit der Artemis-Mission. Mit ermöglichen könnte die Reise das private Raketenunternehmen SpaceX.
  • Ebenfalls geplant: das Space Gateway. Die Station soll – ähnlich wie die ISS – ein Außenposten der Menschheit im All sein. Allerdings soll sie nicht die Erde, sondern den Mond umkreisen.
  • Der Erdmond ist der einzige natürliche Satellit der Erde. Die mittlere Entfernung des Mondes beträgt rund 385 000 Kilometer, sein Durchmesser gut 3500 Kilometer.

01 MONDSÜCHTIG Am Morgen des 20. April 1961 fand der amerikanische Vizepräsident Lyndon Baines Johnson Post in Form eines Memorandums auf seinem Schreibtisch vor.

Sie kam vom Chef persönlich.

Von John F. Kennedy, Präsident der USA von 1961 bis 1963, stammen die nachhaltigsten Visionen und Leitbilder der Zeit, die bis heute andauert. Kaum jemand kann ihm bis heute das Wasser reichen, wenn es darum geht, die Grundbestandteile von Leitbildern - Idee und Vision, Organisation und Motivation - so zu mixen, dass es schmeckt.

Was Johnson an diesem Morgen vorfindet, ist die Grundlage dessen.

Ohne Anrede kommt Kennedy direkt zur Sache: Sie sind doch Vorsitzender des Weltraum-Ausschusses, dann erstellen Sie mir doch mal eine Übersicht, wo wir in Sachen Raumfahrt gerade stehen. Haben wir eine Chance gegen die Russen? Sind wir in der Lage, einen Menschen auf den Mond zu bringen und sicher wieder zurück? Arbeiten wir an diesem Ziel 24 Stunden lang? Wenn nein, warum nicht? Und falls nein, unterbreiten Sie mir Vorschläge, wie wir schneller werden können. Machen wir die größtmöglichen Fortschritte? Verwenden wir die richtige Technik? Gibt es Alternativen dazu? Erreichen wir unsere Ziele und womit? Ich möchte die Antworten darauf zum schnellstmöglichen Zeitpunkt. Ende der Durchsage. Unterschrift.

Dalli, dalli.

Lyndon B. Johnson machte sich extrem zügig an die Arbeit. Wenige Tage später hatte Kennedy die Antwort, und nur wenig später hielt er seine berühmte Rede ans amerikanische Volk, die den Satz enthielt: "I believe, that this nation should commit itself to achieving the goal, before this decade is out, of landing a man on the moon and returning him safely to the earth." Dieser Satz wird beharrlich nur unvollständig ins Deutsche übersetzt, meistens ungefähr so: "Wir sollten bis zum Ende des Jahrzehnts einen Menschen auf den Mond bringen und wieder sicher zurück zur Erde." " Kennedy sagte aber: "this nation should commit itself" - verpflichten sollte sich die Nation also.

Was man verspricht, muss man auch halten.

Und mit einem Mal war vergessen, was vorher geschah: der Sputnik-Schock von 1957. Die Tatsache, dass amerikanische Raketen nur selten abhoben, dafür aber umso lieber am Boden explodierten. Die ärgerliche Geschichte vom April 1961, als der sowjetische Leutnant Juri Gagarin zum ersten Mal die Welt umrundete, und zwar im Orbit und in 108 Minuten. Vergessen auch, dass Nikita Chruschtschow den Amerikanern empfahl, es doch mal mit Schimpansen zu versuchen, wenn sie schon selbst nicht hochkommen würden. Und auch, dass einige Leute in der Nasa meinten, dass das gar keine so schlechte Idee sei.

02 DIE ENTSCHEIDUNG Im Leben kommen immer wieder Tage, an denen man sich entscheiden muss. Von Grund auf neu anzufangen. Oder sich weiter zum Affen zu machen.

Für ein Leitbild braucht man ein Problem.

Den Mut, es zu erkennen. Den Willen, es zu lösen. Die Kraft, ein Ziel zu beschreiben. Die Verpflichtung, es zu erfüllen. Das leitet zu einem Ziel, einer Vision, die so klar ist, dass man sie verstehen kann - bildhaft.

Das ist alles.

Rund 400 000 Menschen und zeitweilig bis zu 20 000 Unternehmen wurden im Apollo-Programm zwischen 1961 und 1969 koordiniert. Es waren Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Branchen kamen, aus Wissenschafts- und Produktionsbereichen, die sich zuvor nie berührt hatten. Für jeden Einzelnen von ihnen gab es ein exaktes Pflichtenheft, einen strammen Terminkalender und eine Gewissheit: Man hatte ein Versprechen einzulösen, eine Verpflichtung. Das hatten die Amerikaner einander versprochen.

Das Versprechen kam zur richtigen Zeit.

Das Mann-auf-dem-Mond-Leitbild mobilisierte ein zutiefst verunsichertes Land, das sich seit anderthalb Jahrzehnten im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion befand. Noch war Hochtechnologie nicht das zentrale Leitbild der USA. Sicher: Die Menschen begeisterten sich für Unterhaltungselektronik, vor allem kleines technisches Spielzeug, das dank Transistoren fast überall verfügbar war. Doch echte Hochtechnologie, die zu etwas nütze war, gab es kaum außerhalb des Militärs. Aber: Die Bürger liebten Science-Fiction-Filme. Irgendwie war das Land ohne Grenzen eng geworden.

Die wirtschaftliche Lage war angespannt. Die Sonderkonjunktur nach dem Krieg näherte sich ihrem Ende. In Deutschland dauerte das Wirtschaftswunder noch einige Jahre an, doch in den USA zeigten sich bereits die ersten Krisen in der Maschinenbau-Industrie, im Stahlgeschäft. Die Autoindustrie machte Bekanntschaft mit einem bis dahin unbekannten Phänomen - der Marktsättigung. Es war keine Blut-Schweiß-Tränenkrise. Es war eher eine Art Katzenjammer.

Zudem waren die alten Werte grundlegend erschüttert worden. Eine Zeit lang konnte man sie nach Ende des Krieges noch für richtig erachten. Fast nahtlos ging der Zweite Weltkrieg in den Kalten Krieg mit dem Ostblock über. Doch im Inneren hatte die McCarthy-Ära Anfang der fünfziger Jahre die Nation gespalten. Wenn unter den alten amerikanischen Werten auch politische Hexenjagden veranstaltet werden konnten, was taugten sie dann? Die technische und intellektuelle Elite zweifelte erstmals am American Way of Life.

Die ihn noch vor sich hertrugen, waren aus anderen Gründen geschockt. Über die technischen Erfolge der Sowjets in Weltraum und Rüstung. Und, noch viel mehr, über den Wandel im eigenen Lande. Während der Sputnik 1957 seine Runden drehte, begannen die ersten massiven Auseinandersetzungen, die die junge Bürgerrechtsbewegung mit dem Ziel der Emanzipation der Schwarzen führte.

Das Selbstbewusstsein war lädiert, die weißen Amerikaner nicht nur durch den Sputnik-Schock aus der Bahn geworfen, sondern auch durch die zeitgleich erstarkenden Bürgerrechtsbewegungen, die seit Ende der fünfziger Jahre die spießige Welt der weißen angelsächischen Protestanten auf den Kopf stellten. Vielleicht musste man erst auf den Mond fliegen, um festzustellen, wie weit dahinter man bisher gelebt hatte.

Die ökonomischen technischen Ergebnisse der Apollo-Missionen sind bekannt: das Internet, der PC, die Halbleiter-Revolution, die Miniaturisierung von elektronischen Baugruppen, Mikrowellen-Funktechnologien, auf denen das Handy aufbaut, neue, heute selbstverständliche Kunststoffe, wesentliche Bereiche der Recycling-Technik, die Solarzelle und, nicht zu vergessen, ein neues Welt-Bild: Als die Crew der Apollo 11 von ihrem Mond-Landeplatz aus im Mare Tranquillitatis, dem Meer der Ruhe, die Erde fotografierte, sahen die Raumfahrer und ihre Auftraggeber zum ersten Mal die Welt, in der sie lebten, in voller Schönheit. Viele erklärten diesen Ort zum wichtigsten Reiseziel aller Missionen.

Planet Earth.

Die Außenansicht schärfte den Blick.

Die Umweltbewegung erhob das Bild vom blauen Planeten zur Ikone. Er bestätigte aber vor allem, was viele im Lauf der Zeit wieder verlernen sollten: Den Tüchtigen gehört die Welt.

Das kann man sogar sehen.

03 TICKEN Der Mond hat viele Gesichter.

Welches davon passt zu uns?

Bis vor einigen Jahrzehnten war das klar.

Die erste Etappe, die frühe Industrialisierung, war vom Leitbild des aufstrebenden Bürgertums getrieben, das sich gegen despotische wie trottelige Aristokraten durchsetzen musste. Die Leitbilder der neuen Klasse hießen Leistung und Arbeit für den Aufstieg, für Anerkennung, für grundlegende Rechte.

Damit allein aber war die industrielle Revolution nicht zu machen, es brauchte noch mehr.

Der wichtigste Konkurrent, Großbritannien, hatte nicht nur einen langen Vorsprung, sondern setzte auch die Qualitätsstandards der Industrialisierung. Um vorwärts zu kommen, mussten die Deutschen besser sein als der Konkurrent. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war Großbritannien vom Vorbild, das es zu kopieren galt, zum Maßstab geworden, den man übertreffen musste. Qualitätsarbeit wurde zum neuen Leitbild.

Was für Kohle, Stahl und Maschinenbau galt, war auch für die Chemie Programm. Dazu kam aber eines noch: der Kampf gegen Krankheit und Hunger.

Justus von Liebig ist das Vorbild, aus dem die in kurzer Zeit zum Weltmarktführer aufsteigende deutsche Chemie ihre Kraft bezieht. Er entwickelt den Kunstdünger, die wahrscheinlich wichtigste Erfindung aller Zeiten. Sie besiegt den Hunger, indem sie die Ernteerträge vervielfacht. Der Erfolg ist unübersehbar. Länder, in denen Liebigs Verfahren nicht angewandt werden, verlieren in Hungersnöten noch auf Jahrzehnte hinaus einen Teil ihrer Bevölkerung, während der Rest, der noch kann, emigriert.

Andere, wie die Siemens-Brüder oder Emil Rathenau, der Gründer der AEG, hatten sich der neuen Schlüsseltechnologie der Elektrizität verschrieben. Strom war für sie nicht nur eine faszinierende Energie, mit der man viel Geld verdienen konnte. Strom war sauber, hygienisch und weit sicherer als die Energiequellen, die er ablöste.

Eine neue, bessere Welt durch Technik war das erklärte Leitbild der Deutschen. Verlässlich und gut. Bis weit ins vergangene Jahrhundert taugt dieses Leitbild, dem sich Arbeiter und Unternehmer verpflichten. In allen Schichten sind die Menschen stolz auf ihre gute, solide, Sinn stiftende Arbeit. Doch dann schiebt sich der Mond vor die Sonne. Es wird dunkler.

04 WEITERE ANFORDERUNGEN Jahre später, das Leitbild ist längst lädiert. Oder ist das Folgende heute vorstellbar?

Stellen wir es uns nur für einen Moment vor: An einem ganz normalen Morgen findet die Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn eine Aktennotiz des Kanzlers auf ihrem Schreibtisch: Weil sich die Zeiten in den vergangenen 40 Jahren etwas geändert haben, schreibt Gerhard Schröder "Liebe Edelgard" als Anrede. Aber dann dalli, dalli.

Als Bundesforschungsministerin bist du für die Entwicklung der wichtigsten Leitbilder in Wissenschaft und Technik verantwortlich. Bitte erstelle mir doch mal eine Übersicht, wo wir im Bereich Wasserstoff-Technologie gerade stehen. Haben wir eine Chance gegen die Japaner? Sind wir in der Lage, unsere Energieerzeugung hundertprozentig auf Wasserstoffbasis umzustellen? Arbeiten wir an diesem Ziel 24 Stunden lang? Wenn nein, warum nicht? Und falls nein, unterbreite mir bitte Vorschläge, wie wir das ändern können. Verwenden wir die richtige Technologie? Gibt es Alternativen dazu? Wenn ja, welche? Ich möchte die Antworten zum schnellstmöglichen Zeitpunkt. Freundschaft, dein Gerhard. (PS: Jürgen soll mitarbeiten.) Am selben Tag würde ein solches Memorandum auch bei Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt auf dem Tisch liegen, fast mit genau demselben Text, nur dass dabei eben nicht von Wasserstoff die Rede wäre, sondern von Gesundheit.

Sind wir in der Lage, ein effizientes und leistungsfähiges Gesundheitssystem zu erstellen, das Vorbild für alle entwickelten Staaten ist? Ist es möglich, ein solches System zum Markenzeichen unseres Landes zu machen?

Arbeiten wir 24 Stunden daran? Verwenden wir das richtige System? Gibt es Alternativen dazu? Wenn ja, welche etc., usw. Dein Gerhard Und es gäbe noch weitere Memos. An Bundesfamilienministerin Renate Schmidt, mit der Frage, ob sich für das Problem der immer älter werdenden Gesellschaft mittlerweile eine Lösung abzeichnet. Nämlich eine, der dem Rest der Welt vorlebt, wie man anständig mit älteren Menschen umgeht, wie man sie nicht nur in Würde alt werden lässt, sondern ihr Wissen und ihre Erfahrung nutzt. In Deutschland, das könnte das Leitbild dann sein, kann man nicht nur älter werden, sondern ist als alter Mensch noch gefragt - auch wenn mal keine Wahlen sind.

Telefone, Kommunikationssysteme, Arbeitsformen für Altere würden hier erdacht, entwickelt, gebaut, in alle Welt verkauft.

Arbeiten wir 24 Stunden am Tag daran, dass die Menschen in diesem Land selbstständiger werden?

Arbeiten wir 24 Stunden am Tag daran, dass aus Deutschland die besten Mobilitätskonzepte kommen und nicht mehr nur die begehrtesten Autos?

Arbeiten wir 24 Stunden am Tag daran, dass die besten Maschinenbauer der Welt die besten Nanotechniker der Welt werden?

Arbeiten wir 24 Stunden am Tag daran, dass wir die besten Physiker, Chemiker, Pharmazeuten, Gentechniker haben?

Und wenn nein, warum nicht?

Und falls nein, wie können wir das ändern?

Alle Minister, Staatssekretäre, Verbandschefs, Manager, jeder Bürger bräuchte morgens so ein Memo auf dem Tisch. Und keiner von ihnen würde mit dem alten Geschwätz antworten können. Keine Ausreden. Keine Ausflüchte. Keine Bedenkenträgerei. Keine Lügen. Sag, was möglich ist, wann, mit wem. Das ist deine Pflicht.

Oder verzieh dich hinter den Mond.

Es ist nicht schwer zu erraten, was dabei herauskäme. Mehr, viel mehr als jetzt. Vielleicht ein Mondprojekt, vielleicht auch zwei. Marktführer bei Biotechnologie, Wasserstoff, Nanotechnologie, Umwelttechnik.

Gentechniker haben ein klares Leitbild, und deshalb gelingt ihnen auch viel. Das Human Genome Project bündelte Forscher aus aller Welt unter diesem Leitbild - ein klares Pflichtenheft, ein straffer Zeitplan, ein unmissverständliches Ziel: alle Buchstaben des Gen-Alphabets zu entschlüsseln, um weiterforschen zu können, durch Gentechnik Menschenleben zu retten. Oder Nahrungsmittel zu konstruieren, die den Hunger bekämpfen, der sich durch schöne Sprüche gutmenschelnder Mitteleuropäer partout nicht aus der Welt scharfen lässt.

Was könnte alles aus so einem Memo werden!

Klassenbester in angewandter Sozialtechnik zum Beispiel. Ein Umgang mit Alten und Kranken, der den leidigen Spieß der Vergreisung umdreht, weil wir das wollen. Nicht nur Altern in Respekt, sondern in Tätigkeit, nicht integriert und verhätschelt, sondern ganz normal - in einer Gesellschaft, die so klug ist, die Besten und Weisesten nicht ständig zum Problemfall zu machen. Was für eine Wirkung hätte so ein Memo, gleich mehrmals neuer Kunstdünger des Herrn Liebigs für die Welt.

05 LEKTIONEN FÜR LEITBILDER Doch gestern ist nicht heute, und die Sache wird nicht leichter. Es genügt nicht zu sagen: Das machen die nie. Wenn die, die es sollen, ihr Memo nicht lesen, ist das keine Ausrede für den Rest. So leicht darf man es niemandem machen - sich selbst schon gar nicht. Wenn die Regierung kein Leitbild zu entwickeln im Stande ist, dann tun wir das eben selbst.

Die erste Lektion dabei lautet: viel Spaß und alles klar! Leitbilder müssen alle verstehen, die damit in Berührung kommen. Da genügt es nicht, wenn in katastrophalem Deutsch lieblos Rechenschaftsberichte darüber geschrieben werden, wie toll etwa der Forschungszweig der Nanotechnologie gefördert wird. Dem Apple-Gründer Steven Jobs kommt das Verdienst zu, die Menschen, die Computer nur vom Hörensagen kannten, dafür zu begeistern, was man mit einem persönlichen Rechner alles anstellen kann. Sein eigenes Wissen scharfen. Waffengleichheit mit den Großen. Das ist ein Leitbild oder das, was William Hewlett und David Packard groß machte. Sie verbesserten mit früher Elektronik die Tonqualität von Walt-Disney-Filmen. Wer im Vergleich dazu die Texte zur Innovationsoffensive liest, ahnt Trostloses. Unverständlich und jeden Zusammenhang zu einer praktischen und erfreulichen Zukunft vermeidend, mäandern sich endlose Sätze um die eigentliche Frage herum: Wem nützt es, was wir da machen, und wer hat Freude daran?

Wie das Amen in der Kirche tauchen unzählige Male Wörter auf wie Innovation, Zukunft, Bildung, Chancen, ohne auch nur einmal geständig zu sein: Was wollen wir wozu?

Und wieder: Nicht die traurigen Verfasser sind zu schelten, dass es ihnen nicht gelingt, großartige Gentechnik und wunderbare Nanotechnik so darzustellen, dass die Bürger dieses Landes Lust auf mehr bekommen. Sondern wir, die wir uns diesen beschämenden Umgang mit Sprache, Wissen und Zukunft gefallen lassen.

Nicht nur bei Großtechnologien. Nicht nur bei wichtigen Leitbildern der Technologie. Sondern immer wieder auch ganz knapp vor unserer Nase.

Doch welche Leitbilder lassen wir uns heute eigentlich verkaufen? Dinge, die gar nichts mit einem Leitbild zu tun haben.

Was früher mal das Amen im Gebet war, ist heute das Bekenntnis zu "nachhaltigem Wirtschaften". Doch was heißt das? Dass man darauf achtet, dass man nicht mehr Schaden anrichtet, als Nutzen stiftet? Dass man, wenn man das nicht tut, vorsätzlich teuren Rohstoff einkauft und vergeudet? Nachhaltigkeit war immer schon ein Kriterium guter Ökonomie. Was bedeutet dann das Lippenbekenntnis? Nicht viel. Eine Zeile ist gefüllt. Das geht auch mit dem Satz: "Wir wollen innovative Produkte schaffen." Wollte man, andersherum, vielleicht vorher veraltete Produkte vom Fließband nehmen? Hatte da jemand die Idee, uralte Kontruktionspläne von Ladenhütern zu Hauen, um damit nach vom zu kommen? Genauso geht es dem frommen Wunsch nach "der Nutzung kreativer Potenziale" - niemand dachte in der Wirtschaftsgeschichte daran, schöpferische Kräfte nicht zu verwerten - vorausgesetzt natürlich, sie waren vorhanden.

Dann fehlt noch ein Bekenntnis zum Team, also dem exakten Gegenteil der individuellen Verpflichtung, und fertig ist das Leitbild. Im Übrigen wollen wir alle gut sein.

Aber wo wollen wir hin?

Womit?

Wodurch?

Wer macht was? Bis wann?

Da herrscht im Team meist nachhaltiges Schweigen.

Winfried Berner, Unternehmensberater aus München, weiß, dass nicht jedes Leitbild so toll sein muss, damit man damit auf den Mond kommt. Andererseits hat Berner, der nach vielen Jahren bei der Boston Consulting Group seit knapp zehn Jahren die Leitbildfrage als selbstständiger Berater pflegt, seine Erfahrungen. Leitbilder wie die oben taugen nichts, klar. Aber das sollen sie auch gar nicht.

Für Berner sind die meisten heute entwickelten Leitbilder Schönwetter-Themen, die vor allen Dingen in "verwöhnten Unternehmenskulturen entstehen, denen es über Jahrzehnte zu gut gegangen ist. Niemand weiß mehr so recht, wozu man eigentlich noch nütze ist. Es gibt eine gewisse Orientierungslosigkeit, aber wenn nicht schon der Kittel brennt, dann behilft man sich halt mit schönen Sprüchen, die vor allem eines sein müssen: losgelöst von der geschäftlichen Realität".

So liest und staunt sich Berner berufsbedingt seit vielen Jahren durch Schriften, die vorgeben, ein Leitbild zu sein, indem sie sich zu allem bekennen, was ganz selbstverständlich ist, zum Beispiel Bernauers Liebling, der Satz vom "Wir gehen offen und vertrauensvoll miteinander um - reine Geisterbeschwörung, Voodoo ohne besonderen Wert", befindet er.

Nun ist es nicht so, dass der Berater Leitbilder für ausgemachten Unsinn hält. Im Gegenteil: "Die Orientierungslosigkeit ist überall wahrnehmbar - sie ist in den Betrieben wie in der Gesellschaft allgegenwärtig. Da wäre es nicht so übel, wenn man klar sagen würde: Da stehen wir, da wollen wir hin, das ist unser Ideal, und hier steht jetzt auch, wie wir dahin kommen, mit Name, Adresse und Aufgabe. Leitbilder brauchen klare Indikatoren, sonst sind sie nichts wert." Wie wichtig die Dinger sind, kann Berner recht einfach nachweisen: Je dezentraler die Wirtschaft werde, desto schwieriger würde es auch sein, die Energien in eine Richtung zu bündeln. Beim Mittelständler könne der "Chef seinen Mitarbeitern notfalls noch in den Hintern treten, wenn nicht alle an einem Strang ziehen". Doch was ist mit Konzernen? Was mit Unternehmen, die nicht nur eine Zentrale, sondern Filialen, Betriebsstätten, Partnerschaften haben, die also in Netzwerk-Strukturen arbeiten? Da wird, meint Berner, ein gutes Leitbild zur Frage des Überlebens - der Stiefel des Chefs im Hintern des Mitarbeiters muss durch eine klare Orientierung ersetzt werden. " Führung durch Kontrolle stößt immer mehr an ihre Grenzen. Und Führung durch Aufsicht lassen sich die Leute zu Recht nicht mehr bieten. Was bleibt, ist Führen durch Ziel und Sinn. Wenn das nicht unverbindlich passiert, ist es auch die einzige Chance, voranzukommen." Leitbilder sind Orientierung, klar. Doch Orientierung heißt Führung. Nun wird's, findet Berner, wieder eng. Viel zu viele Führungskräfte seien zu harmoniesüchtig und zu verwöhnt, um sich noch klaren Führungsaufgaben zu stellen. Sie ließen lieber Leitbilder in gruppendynamischen Prozessen " abstimmen" - laut Bemer und der erprobten Praxis so ziemlich das Dümmste, was man rund um das Leitbild anstellen kann: "Damit ist im Prinzip alles im Eimer. Orientierung ist eine Managementaufgabe, die wichtigste überhaupt. Wozu braucht man einen Chef, wenn der nicht mehr die klaren Linien vorgibt? Das ist seine Pflicht, das ist sein Job." Dass Pseudo-Führung zu Pseudo-Leitbildern, zum vagen Wischi-Waschi verhätschelter Eliten fuhrt, scheint eigentlich recht einsichtig zu sein. So viel zur Pflicht der Leitbilder. Doch was ist mit der Kür, dem Ideal, der Vision, die man sich greifen will?

Meinolf Dierkes hat sein ganzes Leben mit der Suche nach der Mechanik des Leitbildes verbracht. Der Professor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung lehrt in Berkeley und in Schanghai. In China entwickelt er das, was hier zu Lande auch nicht so schlecht wäre, wenn es Gegenstand eines Memos wäre: ein Mobilitätskonzept für das Land auf der Grundlage einer Wasserstoff-Gesellschaft. Die rasch expandierende chinesische Ökonomie wird ihre Energie- und Mobilitätsbedürfnisse mit einer Benzingesellschaft nicht mehr decken können. Folgerichtig besteht der chinesische Mondflug von heute in der Entwicklung einer handfesten irdischen Technologie, die verhindert, dass die schnelle Entwicklung des Milliardenreiches plötzlich zum Stehen kommt.

Dierkes hat vor zwölf Jahren mit Kollegen das Buch " Leitbild und Technik" geschrieben. Es gilt als eines der bedeutendsten Grundlagenwerke zum Verständnis, woraus und womit sich Leitbilder entwickeln. Das größte Problem sei, sagt der Professor, dass wir zu wenig Hunger nach Neuem haben, zu wenig "Neugierde auf neue Situationen. Ein Leitbild muss ein Vakuum ersetzen, ein großes Loch. Wir können heute nur mehr Lücken schließen. Das ist nicht genug." Dabei geht es nicht um große, pathetische Würfe. Dierkes arbeitet etwa an ganz profanen, aber umso nützlicheren Leitbildern. In weiten Teilen der Welt ist Wasser knapp, wird zur immer teureren und wichtigeren Ressource. " Wasser ist ein Lebensmittel. Würden Sie mit einem Lebensmittel Ihre Toilette spülen?" Hier mag das noch funktionieren, in Kalkutta etwa sieht die Sache aber deutlich anders aus. Dort fehlen in weiten Teilen Wasserleitungen und Abwassersysteme. Frisches Wasser ist rar. Deshalb denkt Dierkes über ein technisches Leitbild einer Öko-Toilette nach. Darüber wird sich vielleicht kein Hollywood-Film drehen lassen. Aber Millionen Menschen hätten etwas davon.

Und so sollen die Leitbilder aussehen, immer: "Sie sollen aus einem Problem eine konkrete Möglichkeit machen. Und sie sollen die Herzen und Seelen der Menschen erreichen." So viel zur Mindestflughöhe - egal, ob zum Mond oder sonst wo hin.

Dann spielt es auch keine Rolle, ob Öko-Toiletten oder Wasserstoff-Kraftwerke entstehen, Mondlande-Fähren oder Biotech-Revolutionen. Denn was uns leiten sollte, ist ein guter Grund. Und davon muss - und kann - sich jeder ein Bild machen. Literatur: Meinolf Dierkes/Ute Hoffmann/Lutz Marz: Leitbild und Technik - Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen. Edition Sigma, 1992; 176 Seiten; 14,90 Euro