Wer ist moses im christentum

Indes: Nachdem sich Jahwe, im ersten Jahrtausend vor Christus, vom Wettergott, Vulkangott und Stammesgott der Hebräer zu einem allumfassenden, alleinherrschenden Schöpfergott hochgearbeitet hatte, wurden im Prinzip alle Menschen gleichwürdige Brüder und Schwestern. Jeder Mensch gewann die Auszeichnung, vom Allerhöchsten als eines seiner Geschöpfe bejaht zu sein. Da sie fortan moralisch letzten Endes nur seinen Geboten unterworfen waren, erreichten die »Kinder Gottes« schon bald eine gewisse Freiheit gegenüber jeglichem Absolutheitsanspruch irdischer Herrscher. Allerdings hat die Umsetzung dieses emanzipatorischen Urprogramms dann viele Jahrhunderte gedauert. Und dauert immer noch an.

Dahinter steckt also kein Übermut von sogenannten Ungläubigen, sondern ein religiöses Urmotiv. Das aber beruht auf Mose. Der Religionsphilosoph Martin Buber sieht Mose als dominante »Symbolfigur« der Befreiung des Menschen vom »ewigen Pharaonentum« des Staates. Abraham ist nur genealogisch der Erste.

Mose, der große Held des Alten Testaments, der die Hebräer aus dem ägyptischen »Sklavenhaus« führt: Auch der Koran erzählt diese Story, für ihn ist Mose der bedeutendste vorislamische Prophet, er erwähnt »Mussa« an nicht weniger als 136 Stellen. Zuweilen mit dem Hinweis, Mussa habe das Kommen des Propheten Mohammed vorausgesagt.

Wer war nun dieser frühantike Superstar der Wüste eigentlich? Sah er aus wie jene stämmige Würdegestalt »mit gedrückter Nase, einem geteilten Bart, weitstehenden Augen und breiten Handgelenken«, die Thomas Mann 1943 in der Erzählung »Das Gesetz« beschrieben hat, offensichtlich frei nach der Mose-Skulptur Michelangelos? Der Bildhauer der Renaissance prägt bis heute das Mose-Bild stärker als Charlton Heston, der in Cecil B. DeMilles pathetischem Hollywood-Schinken »Die Zehn Gebote« (1956) Mose mimt; stärker auch als der jugendlicher wirkende Dougray Scott in Robert Dornhelms dreistündigem TV-Film »Die Zehn Gebote«, den Sat.1 Karfreitag gesendet hat.

Der Name »Mose« ist ursprünglich ägyptisch, abgeleitet von »gebären, Sohn« ("msj"), »Der Gott ... hat ihn geboren«; »Ra-messes«, Ramses, ist zum Beispiel der Sohn des Gottes Ra. Den Gott, der Mose geboren hat, verrät sein ägyptischer Name nicht - weil er kein richtiger Ägypter war?

Die Kurzform »Mose« entspricht dem hebräischen »Mosche«, und Hebräisch ist die Sprache des Alten Testaments - Luther hat aus der griechischen Version übersetzt, dort heißt der Prophet »Moosäs« ("Moses").

Mose war ein Hitzkopf, der gern wütend die Fäuste schüttelte, wenn ihm wieder einmal die Worte fehlten - er war »schwer von Sprache«; ein Sohn hebräischer, vielleicht beduinischer Sklaven, die in Ägypten, im 13. Jahrhundert vor Christus, auf der Suche nach Wasser und Nahrung hängengeblieben waren und für den bauwütigen Pharao Ramses II. schuften mussten. Das Herrenvolk gab den Sklaven gern ägyptische Namen.

Dass eine solche Bausklavenabteilung sich der Fron entziehen wollte und von Ägyptern mit Streitwagen verfolgt wurde, sei »historisch nicht unwahrscheinlich«, schreibt der Münchner Alttestamentler Eckart Otto, 61, in seinem neuen Buch »Mose - Geschichte und Legende"*. Im Zuge späterer Legendenbildung sei dann, so Otto, »ganz Israel in Gestalt der nach den Söhnen Jakobs benannten zwölf Stämme aus Ägypten« ausgezogen, dabei sei das durch umschlagende Winde in sumpfigem Terrain verursachte »Meerwunder« mit »geheimnisvollen« Attributen gesteigert worden. Mose kam also erst nachträglich ins Spiel, so dass die Wogen schließlich auf seine Weisung hin zur Seite wichen und seine Mannen trocken durchs Meer gelangten, während die ägyptischen Verfolger ertranken.

Der historische Mose, womöglich ein Mann des 12. vorchristlichen Jahrhunderts, hat mit den Zehn Geboten nichts zu tun. Sie wurden erst rund 600 Jahre nach ihm, vielleicht im babylonischen Exil oder während der Exil-Demütigung, von zurückgebliebe-

nen Gelehrten in Jerusalem schriftlich fixiert. Aber das ändert nichts daran, dass für das Gedächtnis der Menschheit die biblische Verbindung der Mose-Gestalt mit den Geboten unauflöslich bleibt.

Die Mose-Story dürfte, wie Homers »Ilias« und »Odyssee« oder das mittelhochdeutsche »Nibelungenlied«, eine Legende mit historischem Kern sein. Komplett legendär ist schon die Rettung des Kindes im wasserdicht gemachten Korb auf dem Nil. Der Pharao hatte befohlen, den Israeliten, die sich stark vermehrt hatten und aus deren Reihen er ein Attentat befürchtete, die männlichen Erstgeborenen wegzunehmen und diese zu töten (dieses Motiv wird, bezogen auf Herodes, im Neuen Testament variiert).

Als die levitische Sklavin ihren drei Monate alten Sohn, so schreibt das Alte Testament, vor den ägyptischen Häschern »nicht mehr verborgen halten konnte, nahm sie ein Binsenkästchen, dichtete es mit Pech und Teer ab, legte den Knaben hinein und setzte ihn am Nilufer im Schilf aus. Die Tochter des Pharao kam herab, um im Nil zu baden«. Der Knabe weinte, sie bekam Mitleid mit ihm. »Und sie sagte: Das ist ein Hebräerkind.« Sie akzeptierte ihn als Sohn und nannte ihn Mose.

Diese Anfangserzählung erinnert an die Sargon-Legende, einen »zentralen Text der neuassyrischen Herrscherlegitimation« (Eckart Otto). Er beginnt so: »Sargon, der starke König von Akkad bin ich ... Mein

Geburtsort ist Azupiranu, der am Euphratufer liegt. Meine Mutter, eine Hohepriesterin, wurde mit mir schwanger und gebar mich im Verborgenen. Sie legte mich in ein Schilfkästchen. Mit Bitumen dichtete sie meine Behausung ab und setzte mich am Ufer des Flusses aus, der mich überspülte. Der Fluss trug mich fort ... Akki, der Wasserschöpfer, zog mich heraus ... zog mich als Adoptivkind groß.« Sargon wird Gärtner, die Göttin Ischtar verliebt sich in ihn, er wird König.

Exilhebräer könnten durchaus diese assyrische Geschichte aus dem 1. Jahrtausend vor Christus zum Vorbild ihrer Mose-Erzählung genommen haben. Sargon ist ein uneheliches Kind, seine Mutter von hohem Adel. Das spricht für eine Variante, die nicht von der Bibel, aber von Thomas Mann, nach außerbiblischen Quellen, genüsslich im Altväter-Tonfall erzählt wird: »Ramessu's, des Pharao's, zweite Tochter, ergötzte sich mit dienenden Gespielinnen ... in dem königlichen Garten am Nil. Da wurde sie eines ebräischen Knechtes gewahr, der Wasser schöpfte, und fiel in Begierde um seinetwillen ... für Pharao's Tochter war er ein Bild der Schönheit und des Verlangens, und sie befahl, dass man ihn zu ihr einlasse in einen Pavillon; da fuhr sie ihm mit dem kostbaren Händchen ins schweißnasse Haar, küsste den Muskel seines Arms und neckte seine Mannheit auf, dass er sich ihrer bemächtigte, der Fremdsklave des Königskindes.« Wenig später wird der Liebhaber getötet, doch nach neun Monaten bringt die Tochter des Pharaos einen Jungen zur Welt, den die dienenden Frauen erst im Schilf verbergen und dann wiederfinden.

Der im Haus des Pharaos Großgewordene erschlägt eines Tages einen Ägypter, weil der einen Hebräer, vielleicht einen Bauleiter, verprügelt hat. Die Tat kommt dem König zu Ohren, er will Mose umbringen lassen. Mose flieht in die Wüste nach Midian. Dort verteidigt er an einem Brunnen die Töchter des Priesters Reguël, die von fremden Hirten angepöbelt und belästigt werden. Der Vater der Mädchen zeigt sich dankbar und gibt Mose eine seiner Töchter zur Frau, die schöne Zippora. Sie haben bald einen Sohn: Gerschom.

Neben Zippora gibt es noch eine dunkelhäutige Geliebte, Tharbis, irgendetwas zwischen Prinzessin und Kurtisane. Sie soll Mose später die staubige Exodus-Qual in der Wüste versüßt haben. Thomas Mann: »Zweifellos hatte sie schon manchen Mann erkannt, und dennoch nahm Mose sie an sich als Bettgenossin. In ihrer Art war sie ein prachtvolles Stück, mit Bergesbrüsten, rollendem Augenweiß, Wulstlippen, in die sich im Kuss zu versenken ein Abenteuer sein mochte, und einer Haut voller Würze.« Moses Familie, besonders Zippora, hasste die »Bett-Mohrin« (Thomas Mann).

Mose hütet fortan das Vieh seines Schwiegervaters, bis sich ihm eines Tages Gott im brennenden Dornbusch offenbart: »Ich bin, der ich bin.«

Was ist über dieses galaktische, auch galaktisch einfache Wort alles spekuliert worden. Jahwe offenbare sich als »der Seiende schlechthin«, heißt es etwa in Mircea Eliades »Geschichte der religiösen Ideen«, Jahwe, der alles, was ist, umfasse, schaffe und repräsentiere. Eigentlich besagt der einer heidnischen Zauberformel nicht unähnliche, tautologische Spruch bloß: Komme mir nicht zu nahe, ich entziehe mich dir und jeder bildhaften oder namentlichen Eingrenzung. Es steckt in diesem »Ich bin, der ich bin« auch ein trotziges »und nichts anderes": »Ich bin Jahwe, und keiner sonst«, heißt es entsprechend beim Propheten Jesaja.

Der lodernde Dornbusch-Jahwe fährt fort: »So sag zu den Israeliten: Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt.« Mose erhält den Auftrag, die Hebräer »aus dem Elend Ägyptens herauszuführen ... in ein Land, in dem Milch und Honig fließen«. Der Auftrag der Aufträge: Die Hebräer-Identität stützt sich auf diesen Exodus aus Ägypten. Mose kehrt denn auch nach Ägypten zurück. Sein redegewandter Bruder Aaron wird sein Pressesprecher: sein Propagandist.

Mose und Aaron bedrängen den Pharao, dem Volk die schwere Arbeit am Bau

zu ersparen, zunächst für einige Tage, an denen es seinem Gott Opfer darbringen wolle. Als der Pharao ablehnt, wird er schließlich mit den zehn Plagen erpresst, die Jahwe, der Schutzgott der Hebräer, ihm schickt: Frösche, Stechmücken, Heuschrecken, Krätze, Hagel, Finsternis, Blut im Nil und anderes, bis Jahwe schließlich, weil der Pharao stur bleibt, als »Verderber« die männlichen Erstgeborenen der Ägypter tötet. Das religiöse Israel gedenkt dieser Bestrafungsaktion, vor der die Erstgeborenen der Hebräer durch Lämmerblut an Türpfosten geschützt werden, im Pessachfest und verwandelt so eine uralte Frühlingsfete von Hirten in ein Ereignis der Heilsgeschichte.

Der Ägypterkönig gibt endlich nach. Mose bezwingt den Pharao, führt sein Volk durch das Meer und, immerhin 40 Jahre lang, durch die Wüste.

Die stolzen Mose-Leute - was für ein elender Haufen! Das »heilige Volk« war lange versklavt und ist ganz und gar wild und grob. Thomas Mann: »Vorläufig waren sie nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch bekundeten, dass sie ihre Leiber einfach ins Lager entleerten, wo es sich treffen wollte.« Hier tritt Mose dann als der mythische Erzieher auf, der dem Sklavenvolk die - nach dem Sinn für den »Unsichtbaren« und der Erfindung der Schrift - drittwichtigste Grundlage der Kultur beschert: Hygiene. Neben dem Jahwe-Gott wird die Vorschrift, sauberer zu sein (und nur Entsprechendes zu essen) als andere, ein elementares Motiv der hebräischen Auserwähltheit.

Über den Auszug der Hebräer aus Ägypten berichtet der römische Historiker Tacitus (etwa 55 bis circa 116 nach Christus) sehr viel nüchterner als die Bibel. In seinen berühmten »Historiae« ist zu lesen: Ägypten wird von einer Seuche heimgesucht, die körperliche Missbildungen zur Folge hat. Pharao Bokchoris befragt das Orakel, ihm wird befohlen, das Land von jener fremden Rasse ("genus"), die den Göttern verhasst sei, zu »reinigen«. Die Juden werden in die Wüste gejagt.

Mose hält den Haufen zusammen und organisiert die Etablierung des Jahwe-Glaubens als Gegenreligion ("novus ritus"), festigt damit auch den eigenen Führungsanspruch, bringt die Vertriebenen nach Palästina und gründet Jerusalem. Tacitus charakterisiert die neue Religion so: »Die Ägypter verehren viele Tiere und monströse Bilder; die Juden kennen nur einen Gott und diesen nur mit dem Geist. Sie betrachten solche, die Bilder von Gott nach menschlichem Vorbild herstellen, als unfromm: Das höchste und ewige Wesen ist für sie undarstellbar und unendlich.«

Als Ägypter steht Mose - diese Version bevorzugt Sigmund Freud in seinem Buch »Der Mann Moses« (1939) - in dem dringenden Verdacht, er habe den im 14. Jahrhundert vor Christus von Pharao Amenophis IV., der sich selbst »Echnaton« nannte, durchgesetzten bilderfeindlichen Aton-Kult wiederbelebt - eine monotheistische, esoterisch-sinnliche Lichtreligion. Aton, symbolisiert durch die abstrakte Sonnenscheibe ("Aton"), galt bereits als Schöpfergott, der durch Licht und Zeit »alles Bestehende erschafft«. Kanaan war zur Echnaton-Phase ägyptisch verwaltet.

Freud nimmt an, das Volk habe, Mose zum Trotz, den rustikalen Kriegsgott Jahwe dem vergeistigten Aton vorgezogen, der dann aber doch, bedingt durch die spätere Verklärung des Mose, das Verständnis von Jahwe nachträglich veredelt habe. Für Freud gehört auch dies zur typischen »Wiederkehr des Verdrängten«.

Der Berliner Ägyptologe Rolf Krauss ("Das Moses-Rätsel«, 2001) versucht zu beweisen, dass hinter wesentlichen Zügen der Mose-Gestalt der ägyptische Empörer-Prinz Amun-masesa steckt. Daraus habe dann ein »national-religiöser Dichter«, der »Jahwist«, den Gründungsmythos der jüdischen Religion und des »heiligen Volkes« gebastelt. Krauss: »Als der Jahwist über den ägyptischen Empörerkönig Amun-masesa alias Moses stolperte, musste er dem gebürtigen Ägypter eine hebräische Abstammung andichten.« Einen gebürtigen ägyptischen Prinzen hätten die Juden nicht als Freiheitshelden akzeptiert.

In der Religionshistorie durchgesetzt hat sich diese Theorie nicht. Immerhin bestreitet nicht einmal Krauss, der so vieles an der Mose-Geschichte »erdichtet« findet, dass es den Propheten Mose gegeben hat.

Nach dem Durchzug durchs Meer ruft Mose: »Wer ist wie du unter den Göttern, Jahwe?« Daraus folgt: Das erste Gebot ("Ich bin Jahwe« gilt im Judentum schon als erstes Gebot, sonst meist Präambel), keine anderen Götter zu verehren, schließt die Existenz dieser anderen Götter nicht grundsätzlich aus. In dieser frühen Phase seiner Entwicklung ist der jüdische Glaube zwar exklusiv auf Jahwe gerichtet, aber noch kein echter Monotheismus.

Das wurde er erst im babylonischen Exil, als Kompensation für den Verlust von Tempel und Königtum: Als der Prophet literarisch Umrisse gewann, hatte die babylonische Großmacht gerade, um 586 vor Christus, Tempel und Stadt Jerusalem zerstört und das Davidsche Königtum abgeschafft. Die Judäer dieses Jahrhunderts blieben ihrem Jahwe trotzig treu, obwohl im alten Orient die Gottheit des Siegers vom Verlierer übernommen werden musste. Als der letzte Garant ihrer nationalen und geistigen Identität wurde Jahwe nun zum Allein-Gott der Juden.

Die wiederholte biblische Rede vom »Sklavenhaus« Ägypten und seinem Pharao zielt zu der Zeit, in der sie niedergeschrieben wird, mehr auf die aktuellen Unterdrücker als auf die zeitlich eher entrückten Herren vom Nil. Ägypten dient längst »verdeckt« als »Synonym für Assyrien«, wie Eckart Otto belegt.

Mose darf zwar Gottes Gesetz in Empfang nehmen, und das gleich zweimal - die erste Tafel-Edition hat er, im Zorn über das Goldene Kalb, das seine Leute in seiner Abwesenheit errichteten, zerschmettert, es gibt danach noch eine zweite; aber das Gelobte Land darf der charismatische Führer nur noch sehen, nicht mehr betreten.

Nachdem er es vom Berg Nebo aus, über den Jordan hinweg, geschaut hat, muss er sterben. Entweder bringen ihn die eigenen Leuten um, so Freuds Version - nach 40 Jahren mehr oder weniger irrer Wüstenwanderung und ständiger spiritueller Überforderung nicht verwunderlich. Oder er wird gerichtet »durch den Mund Gottes«, einen göttlichen Kuss, wie es in einer Quelle heißt. Weil er am Ende doch zu oft seinem Gott misstraut hat? Weil ein mystischer Asket, ein auf sich zentrierter Geist einfach nicht an das Ziel seiner Sehnsucht gelangen darf?

Der Mythos des Asketen könnte erklären, wieso ausgerechnet des Allerhöchsten Musterknabe am Ende so abgestraft wird. Michelangelos Mose-Skulptur hat diesen ernsten Rätselblick in die Ferne, ins Gelobte Land und auf den baldigen eigenen Tod wunderbar eingefangen. Es ist der Blick des Geistes.

Moses General Josua soll Jericho dann erobern. O-Ton Jahwe: »Mein Knecht Mose ist gestorben; mach dich also auf den Weg, und zieh über den Jordan, hier mit diesem ganzen Volk in das Land, das ich ihnen, den Israeliten, geben werde.«

Josua zögert nicht. Da sich der Jordan stromaufwärts vor der Bundeslade staut, jenem Wanderheiligtum mit den Gesetzestafeln, gelangen Josuas Leute trockenen Fußes durch das Flussbett (wie beim Exodus durch das Meer). Sie umstellen Jericho. Niemand kann heraus oder hinein. Josuas Männer rennen mit Kriegsgeschrei, während die Priester ihre Widderhorn-Posaunen blasen, gegen die älteste befestigte Stadt der Welt. Und siehe da: Die Mauern stürzen in sich zusammen. Nachhilfe durch ein kleines Erdbeben?

»So eroberten sie die Stadt. Mit scharfem Schwert weihten sie alles, was in der Stadt war, dem Untergang, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Rinder, Schafe und Esel.« Die Einwohner werden mit-

samt ihren Haustieren hingemetzelt und verbrannt. Bis auf die Hure Rahab und ihre Angehörigen. Die Frau hatte vor der Eroberung zwei Kundschaftern Josuas Unterkunft gewährt.

Die ungewöhnliche Brutalität dieser Ankunft im Gelobten Land, kein gutes Omen für Israel, erklärt sich nicht etwa daraus, dass Mose nicht mehr auf Josua aufpassen kann. Mose selbst war nicht zimperlich: Unter seiner Führung befördern die wandernden Juden, als sie zur Oase Kadesch kommen, deren männliche Bewohner ins Jenseits; und als Mose, nach 40 Tagen Gottesmeditation auf dem Berg Sinai, die heidnische Bescherung im Tal, das Anbeten des Goldenen Kalbs samt Wein, Weib und Gesang, beenden und bestrafen will, befiehlt er seinen Gefolgsleuten: »Jeder lege sein Schwert an. Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten.« Und es fielen, resümiert die Bibel kühl, »an jenem Tage gegen dreitausend Mann«.

Die wackere Mose-Schar führt keinen gewöhnlichen, sondern einen »heiligen Krieg«. In Wahrheit ist es ja Jahwe, der für Israel viele Völker aus dem Weg räumt: Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter, Jebusiter. »Wenn der Herr, dein Gott, sie dir ausliefert und du sie schlägst, dann sollst du sie der Vernichtung weihen. Du sollst keinen Vertrag mit ihnen schließen, sie nicht verschonen.« Der Gott des jeweils Besiegten wird namentlich nicht mehr erwähnt: »Denn ich bin ein eifersüchtiger Gott.«

Mose, der Mordbrenner, der zugleich den Menschen feierlich das Verbot zu morden überbringt - ein erstaunlicher Widerspruch. Das Buch Exodus gebietet: »Wer einen Menschen so schlägt, dass er stirbt, wird mit dem Tod bestraft.« Mit Todesstrafe werden auch Menschenraub (er ist ursprünglich mit dem Gebot »Du sollst nicht stehlen« gemeint), Sodomie und Verfluchung der Eltern geahndet. Auch »eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen«. Fast kurios wirkt diese Vorschrift: »Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau so stößt, dass der Betreffende stirbt, dann muss man das Rind steinigen, und sein Fleisch darf man nicht essen; der Eigentümer des Rinds aber bleibt straffrei.«

Wer ein Rind steinigt, bestraft es und spricht ihm damit eine gewisse Fähigkeit zu, das Unglück zu verantworten. Im Gebot, den Sabbat zu heiligen, zeigt sich ein Respekt vor Tieren: Auch Rind und Esel sollen am siebten Tag der Woche »keine Arbeit tun«.

Der siebte Tag galt ursprünglich nur zur Erntezeit als Ruhetag, zwischen der Gerstenernte (Ostern) und der Weizenernte (Pfingsten). Hier verraten die Zehn Gebote deutlich ihre Herkunft aus einer bäuerlichen Kultur. Sie sollen helfen, die Grundlagen des stolzen Landlebens zu sichern. Dem dient auch das Gebot, die Eltern zu ehren und - in erweiterter Fassung - die Alten zu versorgen.

Das Sabbatgebot bildet die Brücke zwischen dem direkten Bekenntnis zu Gott und dem Verhaltenskodex gegenüber den Menschen. Die fünf eindeutig mitmenschlichen Vorschriften - nicht morden, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht verleumden, das Eigentum des Nächsten respektieren - sind ursprünglich ein einziges »Wort« der Nächstenliebe (Dekalog heißt auch: »zehn Worte"). Warum wurden aus diesen sechs schließlich doch zehn?

Dahinter wirkt die Magie der Zahl Zehn: zehn Finger! Der griechische Philosoph Aristoteles (384 bis 322 vor Christus) nennt zehn »Kategorien«, die das, was ist, prinzipiell umgrenzen, etwa »Substanz« und »Quantität«, »Ort« und »Zeit«. Die Pythagoräer halten die Zehn für eine ideale Zahl und damit für einen entscheidenden Baustein des Wirklichen. Was diese antiken Denker fasziniert: Die Zahl Zehn enthält die gesamte Natur der Zahlen. Wir zählen bis zehn und beginnen wieder mit der eins: 11. Für die alten Griechen spiegelt die in zwei gleichwertige Hälften teilbare Zehn die Symmetrie des Universums.

Die Zehn ist das Merkmuster, der Ordnungsschlager schlechthin: Troja wird von den Griechen zehn Jahre belagert; Mose weilt nach seinem Sieg über die Äthiopier zehn Jahre in deren Land; den Ägyptern schickt sein Schutzgott Jahwe zehn Plagen. Wenn die Zahl Zehn also ein Baustein des Weltgebäudes ist, dann ist der Dekalog ein Weltgesetz.

Spätere Deuter der Bibel sagen, die Zehn Gebote seien dem Menschen »ins Herz geschrieben« (Eckart Otto). Thomas von Aquin, der große Philosoph des hohen Mittelalters, meint sogar, der Dekalog, der alle Sittengebote des Alten Testaments zusammenfasse, entspreche dem Naturrecht.

Das Judentum findet die Zehn Gebote nicht wichtiger als die ganze Tora mit ihren 613 Lebensvorschriften. Aber indirekt zeigt man dann doch Respekt vor der Zehn-Zahl: In den 613 (hebräischen) Buchstaben der Zehn Gebote sind nach alter Rabbinerlehre die 613 Gebote der Tora vorgezeichnet. Und was ist die Quersumme von 613? Zehn.

Auch der Koran kennt, in der 17. Sure, ähnliche Gebote. Darunter diese: »Setze neben Gott keinen anderen Gott«; »Erweist den Eltern Güte«; »Gib dem Verwandten, ebenso dem Armen und dem Reisenden«; »Lasst euch nicht auf Unzucht ein«; »Und tötet niemanden - es sei denn zu Recht«; »und wandle nicht in Übermut auf der Erde«. Inhaltlich entsprechen die meisten Koran-Gebote denen der Bibel, doch die Form, die Zahl Zehn, gilt nicht als wesentlich.

Im chinesischen Daoismus, der ethisch mit dem Buddhismus eng verwandt ist, gibt es fünf Gebote und zehn gute Taten, durch die der Gläubige, ein Anhänger des aktiven Nichthandelns, Unsterblichkeit erlangt. Zu den zehn guten Taten zählt die Pietät gegenüber den Eltern, das Mitleid mit allen Dingen und Lebewesen. Dieser Dekalog zielt nicht auf den »Bund« mit einem persönlichen Gott, sondern auf gesellschaftliche Harmonie und die Unsterblichkeit des »Berufenen«.

Der Berufene meidet, das fordert eines der fünf Gelübde, »das Heftige«, »das Üppige«, »das Großartige«. Der hitzige Mose wäre kein Berufener gewesen. Wer sich gegen ihn stellt, der wird meist »mit dem Tod bestraft«; den verfolgt Jahwe mit seiner Rache bis in die vierte Generation. Die höchste Strafe ist der »Zorn des Herrn«, der den Delinquenten auch vernichtet.

Es droht Strafe, aber es lockt auch Lohn, »damit du lange lebst und es dir gutgeht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt«.

Gott verspricht Bleibe und Wohlergehen an einem Ort, den die Hebräer immer wieder heftig vermissen werden: in der Heimat.

In der vom Verfasser des Matthäus-Evangeliums ein halbes Jahrtausend später komponierten »Bergpredigt« spricht Jesus, dessen Gestalt und Auftreten in manchem der Mose-Figur nachgezeichnet ist, ausdrücklich die Gebote des Propheten durch. Er bestätigt sie: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben.« Und doch ändert er einiges.

Jesus verbietet, anders als Mose, die Ehescheidung, außer wegen »Unzucht«. Denn wer seine Frau entlässt, der ist schuld, wenn ein anderer die Ehe mit ihr bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe. Kühner begründet der Evangelist Markus das Scheidungsverbot: »Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen« - denn der Schöpfergott habe »Mann und Frau« als Paar »geschaffen«. Die Schärfe dieses Scheidungsverbots erklärt sich auch daraus, dass die ältesten Propheten die Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk im Bild des Ehebundes ausgedrückt haben. Es geht in der Rede vom Ehebund eben um mehr als um den Ehebund.

Jesus nimmt das Sabbatgebot nicht übermäßig ernst (er heilt am Sabbat einem Kranken die Hand), untersagt das Schwören generell, nicht bloß den Meineid (wie Mose), und distanziert sich auch von etlichen Tora-Vorschriften zu reiner und unreiner Nahrung. Das Mordverbot des Mose dagegen verschärft Jesus, indem er bereits die Emotion zu zähmen versucht, die eine Gewalttat auslösen kann: »Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt«, der muss vors Gericht. Er solle sich mit seinem Gegner vertragen.

Am weitesten geht Jesus über Mose hinaus, wenn er dem vom Propheten geforderten Kernkodex, Gottesglaube und Nächstenliebe, die Feindesliebe hinzufügt. Wie Luther übersetzt: »Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.« Und »wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar«. Evangelist Lukas ergänzt: »Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. Was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.«

Mit der Bergpredigt »transzendiert« Jesus »die vorgegebene Tora« der Juden deutlich, so der Erlanger Neu-Testamentler Jürgen Roloff. Aber nur, um ihre ursprüngliche Unbedingtheit wiederzubeleben. Diese Radikalisierung Jesu erklärt sich, so Roloff, aus der fiebrigen Erwartung, die »Gottesherrschaft« stehe unmittelbar bevor. Die Bergpredigt formuliert eine Utopie: ein »von der unmittelbaren Gegenwart Gottes bestimmtes Miteinander« der Menschen. Zu Jesu Zeiten haben dem allenfalls seine Jünger nachgeeifert.

Für den vom Ende der Geschichte noch etwas entfernten Alltag ist der Dekalog des Mose weit praktikabler als die ziemlich radikale Bergpredigt. Vom Verbot, die Feinde einfach umzubringen, profitieren diese schon genug. Müssen sie auch noch geliebt werden?

Eine geheimnisvolle Fibel steht dem Geist der Zehn Gebote erstaunlich nahe: das »Ägyptische Totenbuch«, dessen Sprüche viele Jahrhunderte vor dem Alten Testament formuliert wurden und zur Grabausstattung wohlhabender Bürger gehörten. Vor der Reise durch die Unterwelt muss der Gestorbene, im Angesicht von Totengott Osiris und 42 messerbewehrten Richtergottheiten, bekennen, welche Sünden er nicht begangen hat:

»Wohlan, ich habe das Leben dazu genutzt, das Gute zu vollbringen ... ich habe Speise gegeben denen, die bedürftig waren ... Beim Träger der Kher-Aha-Flammen, ich habe nicht gestohlen! Bei der Nase von Hermopolis, ich habe nicht betrogen! Beim Verschlinger der Schatten, ich habe keinen Menschen erschlagen! ... Meine Eltern habe ich in ein Leichentuch gehüllt ... Die Geier des Himmels habe ich gespeist, denn es sind heilige Tiere ... Ich habe an Orten der Reinheit keine Unzucht getrieben.«

Nicht stehlen, nicht lügen, keine Menschen erschlagen, die Eltern ehren, den Armen geben - hier wie dort formulieren die ethischen Texte der alten Hochkulturen ähnliche Prinzipien. In wesentlichen Zügen

geht es dabei um die Bedingungen eines halbwegs zivilen Zusammenlebens von Menschen in einer entwickelten Gemeinschaft. Sie würde am nackten Wolfsverhalten zugrunde gehen.

Umso brisanter, und bis in unsere Tage folgenreicher, sind die Unterschiede bei anscheinend gleicher Grundüberzeugung. Am ehesten tolerieren der Koran und das Alte Testament, obwohl sie das Morden verbieten, das Töten sogenannter Gesetzesbrecher.

Wie Mose im Äthiopien-Feldzug und nach dem Auszug aus Ägypten durch das großzügige Beseitigen von Nahrungskonkurrenten und Bewohnern begehrter Orte um sich schlägt, so erobert der Kaufmann Mohammed, »der Gepriesene«, im Jahr 630 nach Christus von Medina aus seine Heimatstadt Mekka: Sie wollte vorher seine Lehren nicht hören. Er nimmt die Kaaba in Besitz, bis dahin wohl auch von Christen genutzt und fortan die zentrale heilige Stätte der Muslime, zu der sie einmal in ihrem Leben pilgern müssen. Solange er in Medina lebt, rechtfertigt Mohammed auch die regelmäßigen Überfälle auf Karawanen der Mekkaner. Schon das ist »Dschihad«, Kampf um Beute für die eigenen Leute; der Begriff meint auch den Kampf um die Herrschaft des Einzelnen über seine Sinne.

Nach dem Sieg über Mekka ist Mohammed ein Herrscher, der ein größeres Heer befehligt, die Steuern festlegt, gutes Essen, angenehme Gerüche und schöne Frauen liebt; er verfügt über einen prächtigen Harem mit Ehefrauen und Sklavinnen. Seine Lieblingsfrau Aischa ist neun Jahre alt, als er sie heiratet, die Tochter eines alten Freundes.

Die Liebe zu Frauen - das Paradies schaut Mohammed »zu Füßen der Mütter« - gibt er in reduzierter Form an seine Gefolgsleute weiter. Sie dürfen bis zu vier Frauen heiraten, müssen sie allerdings auch versorgen können. Es sind kriegerische Zeiten mit großem Männermangel. Die Tötung neugeborener Mädchen, damals häufig, verbietet er ebenso wie die Verheiratung eines Mädchens gegen dessen Willen. Den Zölibat, die Pflicht zur Ehelosigkeit, lehnt Mohammed ab: »Sooft ihr das Werk des Fleisches verrichtet, so oft gebt ihr ein Almosen.«

Mohammed, zunächst ein Kamelhirte, ist durch die Heirat einer 15 Jahre älteren Kaufmannswitwe in die Oberschicht von Mekka aufgestiegen und hat als Kaufmann reichlich Gelegenheit zu reisen, auch nach Palästina, wo er die Lehren der Juden und Christen hört (lesen kann er sie nicht). In einer Berghöhle offenbart ihm der Erzengel Gabriel die ersten Koranverse.

Zu Tieren ist Mohammed zartfühlend: Tierliebe ist teilweise Pflicht, wie im Buddhismus (Jesus kümmert sich, anders als Mose, nicht um Tiere). Eines Tages strebt Mohammed fort zum Gebet. Auf einem Ärmel seines Gewandes schläft eine Katze. Mohammed schneidet sich den Ärmel halb ab. Er will die Ruhe des schönen Tieres nicht stören.

Er war ein eifriger Krieger, aber, nach dem Sieg über Mekka, immerhin milde gegen seine Feinde von früher. Der islamische Gottesstaat, den er etablierte, erstreckte sich unter seinen Nachfolgern bis Syrien, Ägypten, Persien, Südspanien, im 16. Jahrhundert gerieten auch große Teile Indiens unter den Halbmond und 1683 um ein Haar Wien.

Bei der Rechtfertigung oder Ablehnung der Gewalt ist der Koran so widersprüchlich wie das Alte Testament. Es gibt wie im Dekalog das Verbot, Menschen zu töten. »Wer einen umbringt, nicht um zu vergelten oder weil dieser Verderben auf der Erde anrichtete, so sei es, als habe er alle Menschen umgebracht. Wer andererseits eines einzigen Menschen Leben rettet, sei angesehen, als habe er das Leben aller Menschen erhalten.« Dieser Ausspruch wird regelmäßig als Beleg dafür genommen, dass der Islam den Mord verbiete. Das Töten als »Vergeltung« und das Töten »verderblicher« Existenzen, wer das auch sein mag, werden immerhin gestattet.

»Der wahre Muslim ist derjenige, dessen Zunge und dessen Hand kein Muslim zu fürchten hat.« Ähnlich der Nächstenliebe des Alten Bundes, kippt in diesem Prophetenwort Friedfertigkeit, die primär bezogen bleibt auf Glaubensgenossen, um in Aggression gegen Außenstehende. Im Blick auf »Ungläubige« heißt es martialisch: »Tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt.« Allah selbst übt vernichtend »Vergeltung« an dem, der ihn beleidigt.

Mohammed, dessen Himmelfahrt von Jerusalem aus geschieht, betrachtet Jesus ("Issa") als Propheten, der auch beim Jüngsten Gericht auftreten wird. Doch wird Jesus, so eine Version, den muslimischen Glauben annehmen, heiraten und neben Mohammed in Medina begraben. Danach haben die »Ungläubigen« wirklich nichts mehr zu lachen: Ihnen bleibt nur die Wahl zwischen dem Islam und dem tödlichen Schwerthieb.

Prophet Mohammed ist, wie Mose und Jesus, ein Nachfahre des Stammvaters

Abraham ("Ibrahim"). Abraham zeugte mit seiner ersten Frau Hagar, einer ägyptischen Sklavin, Ismael, den Ahnherrn der arabischen Stämme; seine zweite Frau Sara gebar ihm Isaak, den Ahnherrn der jüdischen Stämme. Wahrhaftig eine einzige, uralte Familie, die sich in Palästina zurzeit wieder die Köpfe einschlägt.

Allah, die arabische Übersetzung für »Jahwe«, ist der einzige, wahre, ewige, unteilbare Gott, groß und barmherzig. »Unser Gott und euer Gott ist ein einiger Gott«, sagt Mohammed (Sure 29, 46) zu den Christen, dem »Volk der Schrift«, mit dem Muslime schon deshalb »nicht streiten« sollen, weil auch Jesus, wie Mose, Muslim ist, einer, der dem Islam (wörtlich: »Ergebung in Gott") zugehört. Allah zeigt sich gnadenlos vor allem gegen die Vielgötterei heidnischer Araber. An den Christen wird kritisiert, dass sie Gott in drei Personen aufteilen; dass sie sich, über Jesus, ein Bild von Gott machen und damit sogar gegen das dritte der eigenen Zehn Gebote verstoßen. Bestritten wird zudem, dass Jesus gekreuzigt wurde. Die meisten islamischen Länder haben aber christliche Kulte stets toleriert. Christen hatten ihr eigenes Recht, mussten indes Steuern zahlen, und das war nützlich, da Muslime traditionell von Steuern befreit sind.

Wie ist es zu erklären, dass seit den barbarischen Kreuzzügen im Mittelalter das heilige Dreieck zwischen Judentum, Christentum und Islam nicht mehr zur Ruhe kommt? Dass immer wieder Diffamierung, Misstrauen, Hass, Mord und Totschlag ebendort zum Alltag gehören, wo eigentlich die höchste Moral der Nächstenliebe Gesetz wurde und gepredigt wird? Ist »Feindliche Brüder« eben doch die Steigerung von »Feinde«?

Der Religionshistoriker Mircea Eliade sieht es so: »Die Intoleranz und der Fanatismus, die für die Propheten und Missionare der drei monotheistischen Religionen charakteristisch sind, haben ihr Vorbild und ihre Rechtfertigung im Beispiel Jahwes.« Eliade hat recht, bis auf die Rede von »Missionaren«. Denn die Juden, anders als Christen und Muslime, wollten nie andere Völker missionieren.

Aber ihr Gott ist »eifersüchtig«, er duldet keinen anderen neben sich. Ebendies hat Allah von Jahwe gelernt. Also gilt die Kampfmoral: Ich oder die anderen. Mein Gott ist allmächtig und einzig, also bin ich es auch gewissermaßen. Das Volk, das sich als »besonderes Eigentum« seines Gottes versteht, besitzt, so war es anfänglich, umgekehrt auch diesen Gott exklusiv. Ihm aber gehört die Welt, die er schuf.

Was folgt daraus? Wenn nicht die Weltherrschaft, dann zumindest eine religiöse Allmachtsphantasie, ein spiritueller Größenwahn. Sobald die Anhänger einer konkurrierenden Religion wie des Islam genau so ausschließend auftreten, folgt daraus leicht ein einziges Hauen und Stechen. Die Kinder der jeweiligen Allein-Götter verfolgen einander nach dem Motto »Denk wie ich oder stirb!«; Voltaire zitiert es als den Leitspruch aller Fanatiker.

Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, 67, hat in seinem wegweisenden Buch »Moses der Ägypter - Entzifferung einer Gedächtnisspur« (1998) die »mosaische Unterscheidung« zwischen wahr und unwahr in der Religion, zwischen Juden und Gojim, später dann Christen und Heiden, Muslimen und Ungläubigen für eine Welt »voller Konflikt, Intoleranz und Gewalt« verantwortlich gemacht. Er sah diese Figuration im ägyptischen Echnaton-Kult, der die anderen Götter verwarf, vorgezeichnet. Daraufhin wurde er verdächtigt, er mache, da er den Himmelsmonopolisten Jahwe für den Hass gegen ihn in die Pflicht nehme, die Juden selbst für den Antisemitismus verantwortlich. Somit sei er - die naheliegende Suggestion - tendenziell selbst Antisemit.

So argumentierte in einem Zeitungsbeitrag der Berliner Judaist Peter Schäfer. Der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf, 57, geht in seinem neuen Buch »Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze« nicht so weit*. Aber Assmann, meint er, übersehe, dass religiöse Symbolsprachen »sehr viel fluider, variationsreicher und deutungsoffener« seien, als die These vom militanten »Trennungsdenken« Jahwes behaupte. Der Mose-Gott sei kein Mono-Block, sondern sehr wohl »pluralismusfähig«.

Aber was ist, wenn Graf die Liberalität der Monotheisten über- und das Freund-Feind-Denken des Mose-Gottes unterschätzt? Dann liegt der Ägyptologe doch sachlich richtig. Dann wiederum ist auch ein neues Kapitel aufgeklärter Religionskritik fällig, vergleichbar jener marxistischen, die im 19. Jahrhundert zu Recht beklagte, das christliche Heilsversprechen fürs Jenseits sei »Opium des Volks«, das sich ausbeuten lasse.

Die marxistische Religionskritik hat die Religion am Ende kaum geschwächt, son-

dern zu einem subtileren Verständnis des Himmelreichs gezwungen: Es wurde zu einer innerweltlichen Heilsdimension, die nicht erst im Jenseits, nach dem Tod, relevant ist. »Himmel« meint ein spirituelles Einssein mit sich, Gott und der Welt, das der Mensch nach christlicher Meinung als göttliches »Seelenfünklein« (Meister Eckart) von Anfang an in sich trägt, aber nur allzu leicht an die vielen Reize dieser Welt verliert. Dieses Fünklein kann schon im Leben zünden. Im Tod könnte es, so der Glaube, ein ewiger Zustand werden.

Eine der marxistischen Religionskritik ähnliche Attacke hat kürzlich der französische Philosoph Michel Onfray, 46, mit der Streitschrift »Wir brauchen keinen Gott - Warum man jetzt Atheist sein muss« geführt*. Über das Mordverbot schreibt er: Allein mit diesen Worten könne man »schon eine ganze Ethik gründen: Gewaltlosigkeit, Frieden, Liebe, Vergebung, Milde, Toleranz, ein ganzes Programm unter striktem Ausschluss von Krieg, Gewalt, Armee, Todesstrafen, Schlachten, Kreuzzügen, Inquisition, Kolonialismus, Atombomben, Mord ... alles Dinge, die von den Anhängern der Bibel jedoch seit Jahrhunderten praktiziert werden, und zwar ungeniert und sogar im Namen dieser berühmten Heiligen Schrift«.

Onfray sagt, das Mordverbot meine bloß: »Du als Jude sollst keine Juden töten.« Das Massaker der Mose-Mannen etwa bei der Eroberung Jerichos könne man »als ersten Völkermord der Geschichte bezeichnen«. Und Jesus, dieser »geißelschwingende Choleriker«, sei

kaum besser als Mose: Bei der im Johannes-Evangelium beschriebenen Tempelreinigung würden »die« Juden als Geldwechsler und Viehhändler von ihm verunglimpft, geschlagen und verjagt. Diese Passage habe auch Hitler gemocht.

In einem Punkt hat Onfray, ein amüsanter »Philosoph der Lebensfreude«, durchaus recht: Christentum, Judentum wie Islam enthalten jede Menge irritierender Widersprüche und haben recht unbedenklich den »gerechten Krieg« (Augustinus) gegen Feinde gerechtfertigt, die im Grunde nur Andersdenkende waren.

Gewiss darf auch ein Gottesgläubiger sich kriegerisch gegen Welteroberer wie Dschingis Khan oder Adolf Hitler verteidigen. Aber von dieser außergewöhnlichen Sorte waren nur die wenigsten »gerechten Kriege« der Geschichte. Der spanische Philosoph Fernando Savater meint in seinem Buch »Die Zehn Gebote im 21. Jahrhundert« zu wissen**: In 5500 Jahren Historie gab es 14 513 Kriege, in denen 1240 Millionen Menschen massakriert wurden. Und »ein Großteil« dieser Kriege habe »Anfeindungen aufgrund unterschiedlichen Glaubens« zum Grund gehabt, wobei Religion fast immer nur »Vorwand« für Machtinteressen gewesen sei.

Wer vor diesem Hintergrund auch Korrekturen

am Gottesverständnis des orthodoxen Judentums fordert, und sei es nur im Sinne der Sanftmut des Rabbi Jesus, ist bestimmt nicht gleich ein Antisemit. Er macht sich bloß Gedanken über einen möglichen Weltfrieden, den die Religionen mitbegründen, aber eben leider auch immer neu verhindern können.

Das hat Jan Assmann versucht. Er schwärmt vom prinzipiell mit Gott und der Welt versöhnten, optimistisch gestimmten »Kosmotheismus« der Ägypter, dem Glauben an die Welt als Körper Gottes oder der Götter. Der von Juden, Christen und Muslimen verteufelte antike Polytheismus ist, so Assmann, wegen der »gegenseitigen Übersetzbarkeit« seiner Gottheiten eine große kulturelle Toleranzleistung. In der Tat haben ja die Römer nicht etwa den obersten Griechengott Zeus abgesetzt und seine Anbeter totgeschlagen, sie haben bloß gesagt, Zeus sei Jupiter.

Etwas von dieser listigen Toleranz steckt in der »Erklärung zum Weltethos«, die auf Betreiben des Schweizer Theologen Hans Küng 1993 in Chicago formuliert wurde, im Namen eines »Parlaments der Weltreligionen«. Aus den moralischen »Kernwerten« aller großen Religionen wurde ein gemeinsamer Bestand gebildet, der, so hofft Küng, eine neue, friedlichere »Weltordnung« vorbereiten könne. Die konkreten Verbote des Dekalogs (abgesehen vom Bilderverbot) werden aktualisiert (es gibt ein Sachlichkeitsgebot für Massenmedien) und teilweise auch gemildert, wenn etwa das Ehebruchverbot sich verwandelt in die »Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung« und der »Partnerschaft von Mann und Frau«. »Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden«, heißt es zu Beginn dieses Tugendkatalogs. Es gibt auch eine »Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung«.

Alles gut und schön. Aber braucht man für Regeln dieser Art überhaupt eine religiöse Begründung? Wohl nicht. Diesem »Weltethos« kann jedermann zustimmen, der - mit dem Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804) - den Menschen als »vernünftiges Wesen« betrachtet, als »Zweck an sich selbst«, dessen »Würde« alle »bloßen Naturwesen« überragt, die ja als Mittel zu Zwecken benutzt, die geschlachtet und gegessen werden dürfen. Die praktische Vernunft ist es, die sich selbst das »Grundgesetz« (Kant) des Kategorischen Imperativs gibt: »Handle so, dass

die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«

Mord, Diebstahl, Ehebruch, Elternmissachtung sind einfach nicht verallgemeinerungsfähig für Menschen, die sich als »vernünftige Wesen« verstehen. Mag Kant auch Gott als moralisches »Postulat« durch die Hintertür wieder hereinbitten; Religion ist seitdem im Streit um die richtige Moral nicht mehr der stärkste Mitspieler. Wozu aber überhaupt noch Religion?

Die drei großen monotheistischen Religionen sind Wüstenprodukte. »Nichts versperrt dort den Blick zum Himmel«, wie Gerhard Staguhn schreibt ("Gott und die Götter«, 2003). Die karge Umwelt ist die ideale Kulisse für die Hinwendung zu einem fernen, unsichtbaren Gott, der Askese verlangt - psychische Selbstverwüstung.

Das lateinische Wort für Gott, »deus«, hängt mit dem altindischen Wort »deva« und dem indoeuropäischen »deiwos« zusammen. Diese Worte heißen so viel wie Himmel, Licht, Tag, Höhe, Vaterschaft. In den Religionen, die davon geprägt sind, gilt der Blitz als göttlich, als das Feuer vom Himmel.

Eigentlich liegt es nahe, dass der Mensch instinktiv nach oben, in die Weiten des Kosmos, guckt, um herauszufinden, was das Ganze denn nun sei und solle. Ebenso nahe liegt es, dass er das Grundrätsel seiner Existenz - warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? - mit dieser Metaphorik positiv oder, falls er Melancholiker ist, apokalyptisch codiert. Nachdem ihm klargeworden ist, dass er rational das Rätsel nicht lösen kann. Wer so reagiert, ist schon religiös.

Menschen, die einen offenen Existenzhorizont fragend ertragen, ohne sich an irgendeiner altehrwürdigen Erzählung festzuhalten, sind nun mal selten. Man nannte sie früher »Philosophen«, Liebhaber der Weisheit, dass wir nichts wissen.

Die wärmende Glaubensgewissheit, die von den großen Religionen rettend dagegengehalten wird, wäre legitimer, wenn die Gläubigen sich dabei weniger »eifersüchtig« gegen konkurrierende Heilsbotschaften benähmen.

Aber es gibt Hoffnungsgeschichten. Eine passierte im Januar 2002. Der polnische Papst Johannes Paul II. lud die Abgesandten von zwölf größeren Religionen nach Assisi ein, um mit ihnen gemeinsam für den Frieden zu beten. Es kamen muslimische Großmuftis, jüdische Rabbiner, Katholiken, Orthodoxe, Protestanten, Buddhisten und Hindus und sogar Naturreligiöse. Sie beteten auf unterschiedlichen Plätzen, aber alle im Geburtsort jenes heiligen Franziskus, der mit den Vögeln und Fischen sprach.

Im Rückblick auf die Anschläge vom 11. September des Vorjahrs sagte Johannes Paul II.: »Niemand darf im Namen Gottes töten«, jegliche Art von »terroristischen Gewaltakten« im »Namen von Religionen« seien abzulehnen. Aus dem Kreis der anwesenden Religionsbotschafter hat keiner widersprochen. Ob sie auch im Stillen alle zugestimmt haben?

Wie weit Teile der islamischen Welt von der Assisi-Episode entfernt sind, belegt das Beispiel jenes Abdul Rahman, der kürzlich nach etlichen Jahren im Ausland, wo er zum Christentum übergetreten war, nach Afghanistan zurückkehrte. Weil er es dort ablehnte, wieder Muslim zu werden, drohte ihm die Hinrichtung. Ein Fortschritt gegenüber dem Debattenstand des Jahres 1779 war da kaum spürbar. Damals vollendete der sächsische Pastorensohn Gotthold Ephraim Lessing sein berühmtes Weltanschauungsdrama »Nathan der Weise«. Dessen Botschaft: Die Vorurteile, die aus der Verschiedenheit der unduldsamen Religionen erwachsen, lassen sich nur überwinden, wenn jede Religion die andere achtet. Weil ihre Repräsentanten einsehen: Es gibt keine Wahrheitsbesitzer, nur Wahrheitssuchende.

Thomas Mann nennt das »Bündig-Bindende«, das ewig »Kurzgefasste« der mosaischen »Grundweisung« den »Fels des Menschenanstandes unter den Völkern der Erde«. Er schrieb seine Mose-Erzählung im US-Exil als Antwort auf »Hitlers Krieg gegen das Sittengesetz«. Hitler wollte gegen »die so genannten Zehn Gebote« die »Tafeln eines neuen Gesetzes aufrichten«. Diesen Kampf gewann schließlich doch jener knorrige Mann, der vielleicht nie gelebt hat, mit dessen imponierender Gestalt sich aber ein sehr altes, wunderbar einfaches, wunderbar einleuchtendes Gesetz verbindet wie der Stein mit der Schwere: Mose. MATHIAS SCHREIBER

* Szene aus dem Film »Die Zehn Gebote«, mit Charlton Heston (1956). * Verlag C. H. Beck, München; 128 Seiten; 7,90 Euro. * Gemälde von Uriel Birnbaum. * Verlag C. H. Beck , München; 100 Seiten; 12 Euro. * Piper Verlag, München; 320 Seiten; 14 Euro. ** Verlag Klaus Wagenbach, Berlin; 160 Seiten; 16,50 Euro.