Wer ist der Chef von Tschechien?

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TschechienRegierungskrise in Prag weitet sich aus

Die Regierung in Tschechien steckt in der Krise. Zehntausende sind in Prag in dieser Woche auf die Straße gegangen. "Die Verfassung ist kein Stück Klopapier", skandieren sie, weil sie finden, dass der Präsident seine Befugnisse überschreitet. Doch der zeigt sich unnachgiebig.

Wer ist der Chef von Tschechien?

Demonstranten tragen Masken von Finanzminister Babis und Staatspräsident Zeman. Die Sozialdemokraten, aber auch die konservative Opposition fordern den Rücktritt des Finanzministers. (AFP/Michal Cizek)

Es sind dramatische Töne, die im tschechischen Abgeordnetenhaus nicht jeden Tag zu hören sind:

"Ihr könnt mich auch töten, aber ich werde nicht zurücktreten", sagt Finanzminister Andrej Babis.

Dem milliardenschweren Chef der Protestpartei ANO weht der politische Wind ins Gesicht. Es geht nicht mehr nur um den Vorwurf, vor ein paar Jahren bei der Steuer getrickst zu haben. Es geht jetzt um mehrere Tonaufnahmen, die seit Tagen im Internet kursieren. Sie legen nahe, dass der Finanzminister und Medienunternehmer seine eigenen Zeitungen dazu genutzt hat, um Pressekampagnen gegen politische Gegner zu lancieren.

"Das ist eine Sache, die in der zivilisierten Welt reichen würde, einen Politiker sofort zu disqualifizieren", sagt Miroslav Kalousek, der Chef der konservativen Oppositionspartei Top 09. Babis verschiebe Tschechien mit Unterstützung des Präsidenten in die Richtung einer Bananenrepublik.

"Ich habe eine saubere Karriere und trete nicht zurück."

Ministerpräsident Bohuslav Sobotka und seine Sozialdemokraten, aber auch die konservative Opposition fordern den Rücktritt des Finanzministers. Der weist alle Vorwürfe von sich:

"Ich habe eine saubere politische Karriere. Ich bedauere, dass Sie eine solche Kampagne gegen mich führen. Ich habe alles erklärt. Es gibt keinen Grund für meinen Rücktritt."

Weil Babis nicht von sich aus gehen will, hatte Ministerpräsident Sobotka den Staatspräsidenten Milos Zeman ersucht, den Minister zu entlassen. Der Präsident muss laut Verfassung dem Gesuch stattgeben. Zeman verlangt aber nun, dass erst einmal der Koalitionsvertrag gekündigt wird.

"Nach dem Koalitionsvertrag ist die Zustimmung des Vorsitzenden von ANO nötig, um Herrn Babis abzuberufen, und das ist Herr Babis."

Der Finanzminister teilt die Sicht des Präsidenten, aber die Sozialdemokraten wollen im Prinzip an der Koalition festhalten.

"Ich möchte, dass die Regierung ihr Mandat bis zum Schluss wahrnimmt und im Parlament die restlichen Gesetze durchbringt. Danach sollen die Wähler im Oktober entscheiden."

Senatoren bereiten Verfassungsklage vor

Aber der Präsident lässt sich nun sowieso Zeit. In diesen Tagen tourt er durch Nordböhmen, anschließend reist er für zehn Tage nach China. Diese Verzögerung bringt wiederum Mitglieder des Senats in Rage. Sie werfen dem Präsidenten vor, damit gegen die Verfassung zu verstoßen. Senatspräsident Milan Stech, auch ein Sozialdemokrat, und mehrere Kollegen denken deshalb über juristische Schritte nach:

"Wenn der Präsident die Verfassung so interpretiert, ist das eine ernsthafte Situation. Einige Senatoren werden in den nächsten Wochen eine Verfassungsklage vorbereiten."

Für Ministerpräsident Sobotka, den viele so kämpferisch noch nicht erlebt haben, geht es, wie er in einem Zeitungsinterview darlegte, inzwischen ums Grundsätzliche - ob ein Bündnis von Zeman und Babis die Tschechische Republik in eine autoritäre Richtung führe oder ob es bei dem pro-westlichen europäischen Kurs bleibe, für den er stehe.

So ist denn in Prag im Moment alles in der Schwebe. Ob sich Sobotka durchsetzt, ob sich die Regierungskrise zu einer Verfassungskrise ausweitet, ob die Koalition durchhält oder ob sie vollends auseinanderbricht und die Neuwahlen vorgezogen werden - nichts erscheint unmöglich.

Bis vor einigen Monaten war der Verfassungsartikel 66 wahrscheinlich nur Politikwissenschaftlern und Juristen bekannt, heute ist er ein gängiges Gesprächsthema in der tschechischen Öffentlichkeit. Seine Aktivierung, die nach Ansicht von Mitgliedern des Oberhauses des tschechischen Senats unvermeidlich ist, wäre eine offizielle Bestätigung lang gehegter Befürchtungen: Dass der tschechische Präsident Miloš Zeman aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, sein Amt auszuüben. Und er deswegen entmachtet werden soll. 

Zeman ist schwer krank

Der 77-jährige sozialdemokratische Politiker liegt derzeit auf der Intensivstation des Militärischen Universitätskrankenhauses Prag. Nach Angaben von Journalisten leidet er an einer Lebererkrankung, die auch psychische und neurologische Probleme verursacht: von leichter Verwirrung bis zum Koma. 

Genauere Informationen über den ernsten Gesundheitszustand Zemans kamen kurz nach den Parlamentswahlen, nach denen der Präsident der Republik eine wichtige Rolle spielt: Er nimmt den Rücktritt der scheidenden Regierung an und ernennt einen neuen Premierminister. 

Komplizierte Situation nach den Wahlen

Wenn der Präsident nicht in der Lage ist, sein Amt auszuüben, wie von Ärzten am Montag bestätigt, haben die Mitglieder beider Häuser des Parlaments die Möglichkeit, seine Befugnisse auf zwei andere hochrangige Verfassungsbeamte zu übertragen: auf den Regierungschef und den Präsidenten der Unterhauses (Poslanecká sněmovna). Dies ist in der Geschichte der Tschechischen Republik bereits zweimal geschehen.

Alle Macht dem Senatspräsidenten

Der Präsident des Senats wird nach Lage der Dinge die Schlüsselfigur für die weitere Entwicklung sein, denn die Verfassung sieht vor, dass im Falle der Entmachtung des Präsidenten der Vorsitzende des Unterhauses den neuen Regierungschef ernennt. Der Senat wird jetzt von einer Koalition aus konservativ-liberalen Parteien dominiert (einschließlich der ODS Partei), die bisher die Opposition zur Regierung Babiš gebildet haben. Es ist im Moment noch nicht klar, wer zum Präsidenten des Unterhauses gewählt werden könnte. Lediglich Markéta Pekarová Adamová von der liberalen Partei TOP09 hat ihre Kandidatur angekündigt. Die erste Sitzung ist für den 8. November geplant. 

Abstimmung über Entmachtung Zemans

Erst danach wird Artikel 66 möglicherweise aktiviert werden. Beide Kammern müssten ihm zustimmen. Die Vertreter des Senats kündigten schon am Dienstag an, dass die Abstimmung über die Entmachtung Zemans voraussichtlich am 5. November stattfinden wird. In der Zwischenzeit wollen die Gesetzgeber weitere Bulletins über den Gesundheitszustand von Zeman prüfen. Es ist daher zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss, ob der Staatsoberhaupt tatsächlich seine Schlüsselkompetenzen verlieren wird. 

Wer kann einen neuen Premier ernennen?

Sollte Zeman seines Amtes enthoben werden, könnte der neue Chef oder die neue Chefin des Unterhauses einen neuen Premierminister und dessen Regierung ernennen. Miloš Zeman hatte ursprünglich Babiš versprochen, ihn zum Regierungschef ernennen zu wollen, obwohl dessen Partei bei den Wahlen nur auf dem zweiten Platz landete. Nach Artikel 66 der tschechischen Verfassung ist dies jedoch nicht möglich.

So würde der Chef einer neuen Regierung, aller Wahrscheinlichkleit nach Petr Fiala, dann anstelle von Zeman die Geschäfte des Präsidenten übernehmen. 

Mögliche Szenarien

Und was könnte als nächstes passieren? Sollte sich der Präsident erholen, könnte Artikel 66 erneut zur Anwendung kommen. Im Falle seines Rücktritts oder seines Todes müsste innerhalb von zehn Tagen zu einer Neuwahl des Präsidenten aufgerufen werden. Diese Wahl müsste dann zwingend in den nächsten drei Monaten erfolgen. Zeman könnte sich jedoch auch gegen Artikel 66 vor dem Verfassungsgericht wehren. Das wäre ein Szenario, das es in der Tschechischen Republik noch nie gegeben hat.

In der Zwischenzeit untersuchen Polizei und Geheimdienste das Verhalten von Zemans engsten Vertrauten, die lange verheimlicht haben, wie schlecht es dem Staatschef geht. Sie laufen daher Gefahr, wegen krimineller Handlungen gegen die Republik belangt zu werden.

Wem gehört Tschechien?

Die heutige Tschechische Republik entstand am 1. Januar 1993 mit der friedlichen Teilung der Tschechoslowakei. Sie ist seit 1999 Mitglied der NATO und seit 2004 Mitglied der Europäischen Union. Tschechien ist ein Industriestaat.

Hat Tschechien zur Sowjetunion gehört?

Die Tschechoslowakei war 1920 Gründungsmitglied des Völkerbunds, 1945 der Vereinten Nationen, 1949 des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe und 1955 des Warschauer Paktes und trat 1991 dem Europarat bei. Sie war von 1924 bis 1938 mit Frankreich und Großbritannien und ab 1935 mit der Sowjetunion verbündet.

Wer bildete mit Tschechien einen Staat?

Die Tschechoslowakei entstand als Staat 1918 durch den Zerfall Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs. Rechtliche Grundlage war das Gesetz über die Errichtung des selbstständigen tschechoslowakischen Staates vom 28. Oktober 1918.

Wer wohnt in Tschechien?

2020 lebten offiziell 21.479 Deutsche in Tschechien sowie etwa 20.000 weitere Deutschsprachige. Die größte Bevölkerungsgruppe sind die Tschechen (etwa 90 % der Bevölkerung), gefolgt von den Mährern (4 %) und den Slowaken (2 %). Weitere Minderheiten kommen aus Polen, Ukraine, Vietnam und Russland.