Gaponenko marjana wer ist martha handlung

Das Sprichwort vom Tod, der uns gewiss ist, zu kennen ist eine Sache. Was aber, wenn es ans Sterben geht? Nachdem er eines Sonntagnachmittags einen Unheil verkündenen Anruf entgegengenommen hat, spürt Luka Lewadski am ganzen Körper, dass er nun an der Reihe sein wird. Die besorgte Stimme des Arztes und dessen Aufforderung, Lewadski möge sich aufgrund schlechter Werte unverzüglich im Krankenhaus einfinden, sickern zögerlich ins Bewusstsein des emeritierten Ornithologen, ballen sich mit dem bestehenden Verdacht auf ein Lungenkarzinom zu einem wüsten Gedankenfuror und schlagen Lewadski dermaßen auf den Magen, dass der alte Herr mitsamt dem Ekel, der Wut und dem Schmerz über die sich allmählich verfestigende Einsicht in seinen nahenden Tod erst einmal seine „sündhaft teure und höchst unpraktische“ Druckknopfprothese auskotzt.

Mit einem furiosen, präzise choreographierten, tragikomischen Trommelwirbel bringt Marjana Gaponenko ihren zweiten Roman „Wer ist Martha?“ in Fahrt, für den sie in diesem Jahr mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet wird. Die 1981 in Odessa geborene Autorin lebt nach einem Studium der Germanistik in Odessa und Stationen in Dublin, Krakau und Frankfurt am Main heute in Mainz. Sie schreibt seit ihrem sechzehnten Lebensjahr auf Deutsch, der Sprache, die sie in der Schule zu lernen begann und die sie der anderen Fremdsprache, Englisch, vorzog. Die Autorin schreckt dabei nicht vor Pauken und Trompeten, vor einem opulenten Umgang mit den Worten zurück, und es ist wohl kein Zufall, dass der Titel von Gaponenkos Vorgängerbuch, ihrem Romandebüt „Annuschka Blume“ (2010), sich nicht nur als Reminiszenz an Kurt Schwitters’ dadaistisch-wildes Liebesgedicht „An Anna Blume“ verstehen lässt, sondern eben auch an das Schmückende, das Blumen und Worten gemeinsam ist.

Wären Frauen doch wie Vogelweibchen

Dennoch läuft Gaponenko in ihren Romanen kaum Gefahr, ins Ästhetizistische abzugleiten. Bereits mit ihrem Erstling, einem Briefwechsel zwischen der einsamen alten Dorflehrerin Anna Konstantinowna und dem Journalisten und Weltenbummler Piotr Michailowitsch, den sich die Lehrerin mit großem Ernst vielleicht nur als Rettung aus der Einsamkeit schreibend zusammenphantasiert, hat die Autorin ihr feines Gespür für das Wechselverhältnis von Humor und Ernst, von Überschwang und Lakonie, von den großartigen Möglichkeiten und Grenzen der Sprache an den Tag gelegt. In „Wer ist Martha?“ stellt sie dieses Gespür aufs Neue unter Beweis und verbindet es einmal mehr mit warmer Sympathie für ihre Hauptfigur. Vom ersten Moment an, in dem Lewadski die Todesbotschaft empfängt, bleibt der Roman ganz nah an dessen Innenleben, seinen Träumen und Gefühlen. Zugleich arrangiert Gaponenko in „Wer ist Martha?“ ihren Stoff so theatralisch und humorvoll, reichert sie ihn so geschickt mit detaillierten und skurrilen ornithologischen Recherchen an, dass Lewadskis Denken und Tun so singulär wie beispielhaft wirken, so glaubwürdig wie seine erste körperliche Reaktion auf den Anruf des Arztes.

Als der Sechsundneunzigjährige einigermaßen Herr seiner neuen Situation geworden ist, beginnt er, Bilanz seines Lebens zwischen den Welten zu ziehen. 1914 als Sohn einer Wiener Ornithologin und eines galizischen Försters und Vogelpräparators in das alte Österreich-Ungarn hineingeboren, hat der Alte den Aufstieg und Fall der Sowjetunion überlebt, ohne selbst in große politische Verwicklungen zu geraten. Auch persönlichen Verwicklungen ist er aus dem Weg gegangen, hat stattdessen seine Aufmerksamkeit der Tierwelt gewidmet, seine Meriten im Artenschutz des Waldrapps verdient und sinnlichere Freuden des Daseins geflissentlich ignoriert: „Frauen hätten ihn mehr interessiert, wenn sie nicht dauernd betonten, dass sie anders seien als Männer. Wären sie wie die Vogelweibchen eine Spur grauer und leiser als die Männchen, dann hätten sie sein Interesse vielleicht zur rechten Zeit geweckt.“

Marjana Gaponenkos Roman „Wer ist Martha?“ erzählt von der Schönheit des Lebens

Von Clemens Götze

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch wie eine Anleitung zum Überleben im Alter, das einem ein bisschen den Schrecken vor dem Altwerden oder Altsein nimmt. In ihrem zweiten Roman „Wer ist Martha?“ erzählt die Autorin von dem 96-jährigen Ornitologen Luka Lewadski, der nach der Diagnose eines unheilbaren Lungenkarzinoms alles auf eine Karte setzt und seine Ersparnisse hernimmt, um nach Wien zu reisen, um dort im legendären Hotel Imperial luxuriös zu sterben.

Im Grunde kann man fragen: Ist das nicht fast jedermanns Traum? Lewadski hat sein Leben gelebt, und doch gewinnt man den Eindruck, dass er trotz seines hohen Alters bis zu dieser Diagnose davon ausging, er würde noch mindestens fünfzig Jahre leben. Und auch wenn viele Attribute den Protagonisten als alten Mann ausweisen, so scheint seine Figur stellvertretend für alle Menschen zu stehen, gleich welchen Alters. Damit ist die Botschaft klar: es geht um das Leben, das es zu genießen gilt, um eine Liebeserklärung an das Leben allgemein.

Insidern war die aus der Ukraine stammende Autorin schon durch ihren 2010 erschienenen Erstling „Annuschka Blume“ ein Begriff, eine Liebesgeschichte in Briefen, bei der das Thema des Alterns bereits anklingt. Das neue Werk der Autorin macht dieses Thema jetzt zum Mittelpunkt. In Zeiten des allgegenwärtigen Jugendwahns eine solche Geschichte zu schreiben, ist nicht nur mutig und bemerkenswert, sondern zeugt vor allem von einem Gespür für latente Bedürfnisse des Publikums. Dass sich eine junge Frau wie die Autorin dabei nicht zwangsläufig in Klischees verlieren muss, davon legt der Roman eindrucksvoll Zeugnis ab.

Absurdität, Schwermut, Lebenssehnsucht, Ironie und Unterhaltung stehen hier eng beieinander und sorgen für ein äußerst kurzweiliges Lesevergnügen. Dabei erscheint die Frage, wieso eine junge Autorin über einen alten Mann schreibt – wie sie derzeit gern von Journalisten bemüht wird – vollkommen irrelevant, denn sie impliziert Unverständnis und belegt nur mangelnde Kenntnis des Gegenstandes. Denn wer das Buch gelesen hat, versteht, warum Gaponenko diese Geschichte geschrieben hat. Es geht ums Leben. Dieses Thema war ein immer wiederkehrendes Motiv bei Bernhard, an den man bei der Lektüre mithin erinnert wird. Auch Gaponenkos Protagonist ist alt, ein wenig verschroben und doch liebenswert. Genau wie Thomas Bernhard lehnt sich die Autorin von „Wer ist Martha?“ gegen das Beschreiben einer Geschichte auf, auch sie versteht sich letztlich als „Geschichtenzerstörerin“, wenn sie in einem Interview zu ihrem neuen Werk sagt, sie wolle keine Handlung und nicht unterhalten: „Ich möchte eine Klarheit, die nicht benannt werden muss, um zu sein.“

Diese Klarheit schafft Gaponenko mit ihrem Buch mühelos. Poetisch ist ihre Sprache, an keiner Stelle pathetisch, weil ihre Figuren voller Selbstironie und Witz stecken. Die Bedeutung der Sprache erhält in diesem Roman besonders Gewicht, denn es kommt weniger auf die erzählte Geschichte an, als auf Szenen, Stimmungen, Dialoge und skurrile Charaktere. Trotzdem ist die Geschichte logisch konzipiert und keinesfalls konstruiert. Sie zu lesen ist in jedem Falle ein Gewinn. Nicht nur im Hinblick auf den Topos der Altersnarren und die Typologie des Sprachkunstwerkes erinnert der Roman mitunter an den späten Bernhard, auch der selbstironische Auftritt der Autorin als Romanfigur führt ein tradiertes Element der zeitgenössischen Literatur fort, das derzeit offenkundig wieder Hochkonjunktur besitzt: die Verschmelzung von Autorenpersönlichkeit und fiktionaler Romanfigur. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Beispiele wie „Das bin doch ich“ von Thomas Glavinic oder den neuesten Roman von Clemens J. Setz, „Indigo“.

Wenn auch die Frage, wer Martha sei, sich auch am Schluss des Romans nicht vollends klären lässt, man nimmt es der Autorin nicht übel, weil es darum letztlich auch nicht geht. Vielmehr spannt sich ein Netz aus Stimmungen und Bildern vor dem geistigen Auge des Lesers und führt ihm die Schönheit des Lebens vor Augen. Wer dies in Krisenzeiten manchmal vergessen mag, dem sei dieses Buch wärmstens ans Herz gelegt. Wer will da noch wissen, was es mit dieser ominösen Martha auf sich hat? Insofern ist der Titel mit seiner Frage vielleicht auch metaphorisch zu verstehen – als ein Aspekt, der stets unbeantwortet bleibt, weil man ihm immer zu viel Bedeutung beigemessen hat, während die wirklich wichtigen Momente an einem vorbeiziehen. Und ein ironisches Zwinkern der Autorin wird ja wohl noch erlaubt sein. In diesem Buch stimmt einfach alles, die Komposition ist ein Gesamtkunstwerk, das man am Ende nur schweren Herzens zuschlägt, wenn man die Lektüre beendet hat.

Mit ihrem Buch trifft Gaponenko definitiv den Nerv der Zeit, was sich nicht zuletzt an den übrigen Neuerscheinungen 2012 ablesen lässt. Suhrkamp versorgt sich seit geraumer Zeit mit jungen Nachwuchsautoren wie etwa Clemens J. Setz oder Sebastian Polmans. Gaponenko zählt zu diesen neuen, jungen Stimmen, die als Nachfolgegeneration der Popliteraten den Buchmarkt erobert. Zu Recht, wie man sagen muss. Marjana Gaponenko ist die Entdeckung des Buchherbstes 2012, von der man noch hören respektive lesen wird. Ihr neuer Roman ist die ideale Lektüre für die kürzer werdenden Tage und den beginnenden Herbst. Und auch wenn es die Autorin vielleicht nicht gern hört: Er unterhält auf höchstem Niveau.