Ist das Gedicht der Virus von Heinz Erhardt?

Anscheinend schon fast seit Beginn der Pandemie wird in den sozialen Netzwerken immer wieder ein Gedicht herumgereicht, das angeblich von Heinz Erhardt stammen soll. Zum Glück habe ich das erst jetzt entdeckt, so muss ich mich vielleicht nur einmal aufregen und nicht immer wieder. Wie blöd kann man denn sein, auch nur auf die Idee zu kommen, dieser Text könnte aus der Feder Heinz Erhardts stammen?

„Weil wir doch am Leben kleben,
muss man abends einen heben.
So ein Virus ist geschockt,
wenn man ihn mit Whisky blockt.
Auch gegorner Rebensaft
einen gesunden Körper schafft.
Auch das Bier in großen Mengen
wird den Virus arg versengen.
Wodka Rum und Aquavit
halten Herz und Lungen fit.
Calvados und auch der Grappa
helfen Mutti und dem Papa.
Ich will hier nicht für Trunksucht werben
doch nüchtern will ich auch nicht sterben.“

Ich habe natürlich sofort recherchiert und bin recht schnell auf einen Blogger gestoßen, der der Falschbehauptung zuerst auch aufgesessen ist, aber Zweifel hatte und beim Carlsen-Verlag und Erhardts Nachlassverwaltung nachgefragt hat, die die Urheberschaft dementierten.
Zurecht. Selbst, hätte Erhardt diesen Text in einer besoffenen Stunde zusammengezimmert, er hätte ihn wohl niemals veröffentlicht.

Das erste, was auffallen sollte, ist das Reimschema. Ja, Erhardt benutzt auch manchmal Paarreime, doch sehr viel seltener als Kreuzreim und freiere Reimschemen. Was man bei Erhard aber praktisch nie antrifft sind solche geschlossenen Doppelzeilen, die jeweils auf einem Punkt enden und in denen weder eine Idee noch der Rhythmus in die folgende Zeile überleitet. Jeweils zwei Zeilen mit geschlossener Sinneinheit und Mini-Pointe, die dann jeweils in folgenden Zeilen nur mit neuen Worten sinngemäß wiederholt werden (die ersten 6 Paare haben jeweils die gleiche Aussage), das ist für Erhardt sehr untypisch.

Des Weiteren sollte die Wortstellung stutzig machen. Erhardt ist, auch wenn manche Hochliteratur-Snobs ihn für zu seicht halten mögen, ein handwerklich starker Dichter. Ja, es gibt bei ihm Zeilen, in denen eine ungewöhnliche Wortstellung regiert. Doch für gewöhnlich nicht, um zwanghaft am Ende der Zeile einen Reim zu platzieren. Sondern um genau durch diese Wortstellung entweder auf etwas aufmerksam zu machen oder sogar den Blick in ironisierender Weise auf zwanghafte Versuche, einen Reim zu platzieren, zu lenken. Wenn Erhardt einen Reim zwingen muss, macht er das elegant, per Zeilensprung.
Ein ohne jede Selbstironie präsentiertes Verspaar wie “Auch gegorner Rebensaft / einen gesunden Körper schafft” wäre Erhardt nicht untergekommen.
Das gleiche gilt für offenkundige Füllworte. In diesem angeblichen Erhardt-Werk etwa steht: “Calvados und auch der Grappa / helfen Mutti und dem Papa.”
Wirklich? „… auch der Grappa / … und dem Papa?“ Erhardt wäre mindestens auf so etwas gekommen: Campari, Calvados und Grappa / helfen Mami, helfen Papa“. Aber ach was – ch, überhaupt zwei Worte aufeinander zu reimen, deren zweite Silbe die unbetonte ist, was den Lesefluss praktisch auf Null bremst – das würde Erhardt nie passieren oder nur, wenn er damit etwas zeigen möchte.

Neben der Wortstellung ist auch die Wortwahl vollkommen untypisch für Heinz Erhardt. Es stimmt, dass Erhardt manchmal scheinbar unpassende Worte in einem Gedicht verwendet. Etwa „down“ sein in einem Text mit klassischem Thema. Auch hier wird dadurch aber immer die Sprache selbst Thema. Der Fremdkörper spricht. Er hat eine Aussage, die sich auf das gesamte Gedicht und vielleicht sogar auf das Dichten insgesamt bezieht. Ein Wort wie „blocken“ im Zusammenhang mit der Wirkung von Alkohol auf einen Virus würden wir bei Ehrhardt höchstwahrscheinlich nicht finden. Das ist nicht nur ein sehr unpoetisches Wort (ebenso „versengen“), man zieht es für gewöhnlich auch aus dem Sportbereich und da vor allem aus dem amerikanischen Sport. Oder eben aus dem Bereich Social Media, den Erhardt noch gar nicht kennen konnte. Ich wüsste nicht eine amerikanische Sportmetapher bei Erhardt zu nennen und ich kenne viele Gedichte, da ich den Autor schon als Kind gelesen habe, auswendig.
Was dagegen hier vollkommen fehlt sind die Wortspiele und des Weiteren die Spiele mit dem Versmaß, besonders durch Zeilensprünge, für die Erhardt so berühmt geworden ist.

Man mag Texte Erhardts finden, die selbst einzelner dieser Schwächen „schuldig“ werden. Diese Häufung aber spricht sehr gegen Erhardt als Autor.

Am entscheidendsten aber: Durch fast alle Gedichte Erhardts zieht sich eine Idee, die vom Beginn bis zum Schluss entwickelt wird und dort in eine Pointe ausläuft, die für gewöhnlich weit mehr ist als ein einfaches Statement zum Thema des Gedichtes. Es gibt ja durchaus ein berühmtes Alkohol-Gedicht von diesem neben Goethe heute wahrscheinlich berühmtesten deutschen Dichter. Und da kann man all diese stilistischen Mittel in Aktion erleben Und besonders auch das Entwickeln der Idee beobachten.

“Wo bleibt denn bloß der Sonnenschein?
Liegt’s an den Isobaren?
Ach, soll’s doch ruhig trübe sein –
wir trinken unsern Klaren!”

Hier geht es also erst einmal gar nicht vom Alkohol. Stattdessen steht das Wetter im Mittelpunkt, der Alkohol wird sozusagen als Lösung in der letzten Zeile der ersten Strophe eingeführt. Es wird die Spannung Trübe-Klar aufgebaut.

„Schön eisgekühlt stürzt er zu Tal,
es wird uns heiß und heißer …
Der trübe Himmel kann uns mal,
und wo er kann, das weiß er.“

In der zweiten Strophe dann wird der Alkohol zum Protagonisten. Der Blick wendet sich von Außen nach Innen. Der Witz dabei: Auch dieser ist eiskalt, klingt an die Trübe an, doch vermag uns trotzdem heiß zu machen. Nun wird die Trübe wieder aufgegriffen und mit einer bösen Beleidigung belegt, die aber wie immer in solchen Fällen nicht ausgesprochen wird, sondern hinter einem recht pfiffigen Reim (heißer/weiß er) versteckt wird.
Das ganze Gedicht bis hier hat selbst einen stürzenden Charakter, man kann nicht anhalten, sondern wird von jeder Zeile in die nächste, von jeder Strophe in die nächste gerissen. In der letzten Strophe wird das Thema weiterentwickelt und die Trübe vom Wetter in die Psyche verlegt:

„Das Trübsalblasen ist ein Graus
und schädlich ohne Zweifel!
Kommt, lacht den trüben Himmel aus –
Alkohol ihn doch der Teufel!“

Es folgt die Pointe, die sicherlich nicht eine von Erhardts besten ist, aber doch durch ein typisches Wortspiel („Alkohol ihn doch der Teufel“) mit einiger Kraft serviert wird.

Die beiden Texte haben ganz ähnliche Themen, was in dem einen das Virus ist, ist in dem anderen das Trübsalblasen, doch die Art, wie das umgesetzt wurde, ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Hätte man unbedingt am Text belegen müssen, warum das herumgereichte Social-Media-Gedicht nicht von Heinz Erhardt ist? Wahrscheinlich nicht, der Fall ist so eindeutig. Aber viele haben sich täuschen lassen, und ich denke es ist immer sinnvoll, zu zeigen, dass so etwas möglich ist: Qualitative Unterschiede in der Kunst zumindest plausibel herauszuarbeiten. Und es ist ein guter Anlass, Heinz Erhardts durchaus feinsinnigen Humor, der sich in ebenso feinsinnigen Versen zeigt, ein wenig wertzuschätzen.

Bild: Pixabay.

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